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MO NR.11|03_PDF VERSION 03.09.2003 12:55 Uhr Seite 36<br />

REISE<br />

REISE<br />

Fotos: Andreas Stocker<br />

Neujahrsfest in Burjatien<br />

Lenin im Moskauer Mausoleum sieht bedeutend schlechter aus, trotz aller aufwändigen Konservierungsmaßnahmen.<br />

Burjatische Nationalspeise: Rindfleisch in<br />

Teigbällchen<br />

Die Burjatische Republik erstreckt sich<br />

im Süden Ostsibiriens entlang des Baikalsees.<br />

Sie gehört zu den ärmsten Regionen<br />

Russlands. Im Süden grenzt Burjatien an<br />

die Mongolei. Der Fläche nach entspricht<br />

Burjatien der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Die Einwohnerzahl beträgt etwa eine<br />

Million, was einer Einwohnerzahl von drei<br />

Personen pro Quadratkilometer entspricht.<br />

400.000 der Einwohner leben in der<br />

Hauptstadt Ulan-Ude. Die vorherrschende<br />

Religion der burjatischen Bevölkerung ist<br />

der Buddhismus tibetischer Richtung (Lamaismus),<br />

daneben sind noch schamanistische<br />

Religionen anzutreffen.<br />

Nur 24% Prozent der Bevölkerung sind<br />

Burjaten, 68% Russen. Auf dem Gebiet<br />

des heutigen Burjatiens wurde Dshingis<br />

Khan geboren.<br />

36 <strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

Andreas Stocker, DAAD-Stipendiat, Irkutsk/Russland<br />

Sagaalganar! Sagaan haraar! Buddhistische Gesänge, endlose Steppe, Holzhäuser mit blauen<br />

Fenstern. Ich reiste in die burjatische Steppe, um dort mit einer Familie auf traditionelle Weise<br />

das buddhistisch-lamaistische Neujahr nach dem Mondkalender zu feiern.<br />

31.1.<br />

Um 6 Uhr morgens erreiche ich die Hauptstadt Burjatiens, Ulan-Ude, wo mich mein Bekannter Aldar<br />

erwartet. Die Begrüßung ist herzlich, aber kurz. Bei –20° Celsius und eisigem Wind verliert man nicht<br />

viele Worte. Im nahegelegenen Studentenwohnheim merke ich gleich, dass ich noch immer in<br />

Russland bin: Trotz Reservierung weiß hier niemand etwas was von meiner Ankunft, das Wohnheim<br />

ist voll belegt. Aldar schlägt vor, bei seinem Cousin in der Stadt zu übernachten. Kurz vor 10 Uhr treffen<br />

wir Aldars Mutter. Sie hat Teigbällchen dabei, mit denen wir uns das Gesicht abtupfen. Der Teig soll<br />

das Schlechte aufnehmen und den Körper vom Bösen reinigen. Auf ein Stück Papier schreiben wir<br />

unsere Wünsche und umwickeln damit den Teig.<br />

Am Abend fahren wir zum größten buddhistischen Kloster Russlands, Iwolginskij Dazan, das außerhalb<br />

Tibets als das wichtigste Zentrum des lamaistischen Buddhismus gilt. Hier findet die traditionelle<br />

Reinigungszeremonie statt, bei der der Körper von schlechtem Karma gereinigt werden soll. Wir<br />

umrunden im Uhrzeigersinn das Klostergelände und drehen die am Weg aufgestellten Gebetsmühlen,<br />

bis wir zum Iwolga Tempel gelangen. Im Inneren des Tempels erinnert wenig an die beschauliche<br />

Ruhe, die ich bei meinem ersten Besuch hier erlebt habe. Eine riesige Menschenmasse wälzt sich bzw.<br />

mich durch den Raum. Ich bin froh, als ich wieder an der frischen Luft bin, aber nicht lange – es hat –35°<br />

Celsius. Ohne Handschuhe, den Fotoapparat stets griffbereit, warte ich eine Stunde auf die Lamas. Als<br />

sie endlich aus dem Tempel kommen ist die Spitze meines Daumens erfroren. Die Lamas begeben<br />

sich zu einem Scheiterhaufen, auf dem sich jetzt die Teigbällchen befinden. Das Feuer wird entfacht, die<br />

Menschenmenge strömt auseinander, ohne zurück zu blicken. Ein Blick in die Flammen bringt Unglück.<br />

1.2.<br />

Am Vormittag erhalten wir bei Dugarow Tschimit-Dorshi, einem buddhistischen Arzt und Freund der<br />

Familie, einen Privattermin. Er fühlt meinen Puls. Über 300 verschiedene Arten davon gäbe es, meint<br />

er. „Man kann daraus den Zustand des Körpers spüren.“ Seine Schülerin packt mir Heilpulver in kleine<br />

Tütchen ab. Ich solle es als Tee trinken, meint sie, dann werde das mit dem Daumen schon wieder.<br />

Der Daumen hat sich danach mehrmals verfärbt und noch drei Wochen geschmerzt, ist jetzt aber<br />

wieder in Ordnung.<br />

Auch heute fahren wir wieder zum Kloster Iwolginskij Dazan. Dort wird der Leichnam eines Mönches<br />

ausgestellt, der seine Schüler beauftragt hatte, ihn 75 Jahre nach seinem Tod auszugraben. Sein Leichnam<br />

ist einwandfrei erhalten. Er sitzt in seiner tiefroten Gebetskleidung mit orangem Tuch in einem Glaskasten.<br />

Im Kloster treffen wir einen anderen Cousin Aldars, Bair Dondukow, in seiner kleiner Holzhütte. Er<br />

unterbricht sein Gebet und empfängt uns freundlich. Man fühlt sich bei ihm nicht nur wegen der warmen<br />

Stube wohl. Bair studiert seit drei Jahren im Kloster. Wir unterhalten uns über das Studium und die<br />

Schwierigkeiten des Buddhismus in Russland. „Aufgrund der Annäherung Chinas und Russlands ist die<br />

gegenwärtige Situation des Buddhismus schwierig“, meint er. Der Dalai Lama sei zuletzt 1991 hier gewesen,<br />

er erhalte schon seit einiger Zeit kein Visum mehr. Man wolle schließlich China nicht verärgern, so Bair.<br />

2.2., Neujahr<br />

Als ich um 5 Uhr aufstehe, betet Aldar schon vor dem Hausaltar. Noch vor den ersten Sonnenstrahlen des<br />

neuen Jahres wollen wir auf der Straße den Gott Paldan Lchamo treffen. Er fliege in diesen Stunden über<br />

die Häuser und bringe denjenigen ein gutes neues Jahr, die frühmorgens aufgestanden sind, erklärt<br />

Aldar. Die Schlafenden hielte der Gott für tot und übergehe sie. Damit er uns nicht übersieht, machen<br />

wir Feuer aus dem Müll, der überall herumliegt. Aldar opfert Tee mit Milch und spricht ein Gebet.<br />

Dann fahren wir zu Aldar nach Hause: nach einstündiger Busfahrt marschieren wir noch eine halbe<br />

Stunde durch die schneebedeckte Steppe. Von weitem sehen wir das neu erbaute Haus mit seinen<br />

typisch burjatischen blauen Fensterläden. Es erwarten uns schon Aldars Vater, seine Mutter und sein<br />

zwölfjähriger Bruder, alle in ihre farbenprächtigen Nationaltrachten gekleidet. Zuerst gehen Aldar und<br />

ich zum Altar und drehen an der Gebetsmühle. Während Aldar betet, schaue ich mich im Haus um.<br />

Es ist an einem Abhang gelegen und bietet einen atemberaubenden Blick über die endlose Weite der<br />

Steppe. Neben der Küche besteht das Haus nur noch aus einem großen Zimmer. Es ist Schlafzimmer<br />

für Kinder und Eltern, Wohnzimmer, Studierzimmer und Gebetsraum in einem. Ein Badezimmer suche<br />

ich vergebens. Telefon und fließendes Wasser gibt es hier nicht. Einmal in der Woche bringt ein<br />

Lastwagen frisches Wasser. Die Toilette ist in einem Häuschen im Garten. Ofen und Herd werden mit<br />

Holz beheizt, Birke natürlich. Die Familie gehört zur neu entstandenen Mittelklasse. Der Vater ist<br />

Zahnarzt, die Mutter arbeitet nicht, ein Zeichen des Wohlstandes.<br />

Erst nach dem Gebet erfolgt die Begrüßung. Ich lege meine Arme unter die ausgestreckten Arme der<br />

Gastgeber als Zeichen meiner Wertschätzung den Ältern gegenüber und spreche die Worte:<br />

„Sagaalganar! Sagaan haraar!“ – „Alles Gute zum Neujahr, zum weißen Monat.“ Wir setzen uns um den<br />

Tisch, der von Leckereien überquillt, Wodka wird gereicht. Der Reihe nach erheben sich die Männer,<br />

Trinksprüche folgen. Auf das Neujahrsfest, auf die Gesundheit, auf die Liebe und die Frauen. Dann<br />

wird gemeinsam die burjatische Nationalspeise zubereitet: Posi, kleine mit Rindfleisch gefüllte<br />

Teigbällchen, die dann ebenfalls verspeist werden.<br />

Auf dem Heimweg am Abend begleitet mich die ganze Familie. Sie singen burjatische Volkslieder. Die<br />

Sonne steht schon tief am Himmel und taucht die schneebedeckte Steppe in glühendes Rot. In der<br />

Ferne stehen vereinzelt kleine Holzhäuser mit rauchenden Kaminen. Ich blicke ein letztes Mal über<br />

die Steppe, bevor ich in den engen Kleinbus einsteige.<br />

Die Gastgeber in Nationaltracht

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