02.12.2014 Aufrufe

MitOstmagazin - MitOst e.V.

MitOstmagazin - MitOst e.V.

MitOstmagazin - MitOst e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

MO NR.11|03_PDF VERSION 03.09.2003 12:55 Uhr Seite 32<br />

FEUILLETON<br />

Ästhetik der Leere<br />

Ein Buch über moderne<br />

Architektur in Zentralasien<br />

Cornelia Dörries, Stadtsoziologin und Architekturkritikerin, Zeitungsund<br />

Buchpublikationen, Berlin<br />

Fotos: Anja Heß<br />

Die Glosse ist der Zeitschrift Novokult<br />

entnommen, die vor fast zwei Jahren in<br />

Nowosibirsk gegründet wurde. Die erste<br />

Ausgabe, die aus einer spontanen Idee<br />

entstand, enthielt Neuigkeiten aus<br />

Deutschland, Informationen über Studienund<br />

Stipendienmöglichkeiten, die Adressen<br />

der deutschen Organisationen in<br />

Novosibirsk und einen Kulturkalender.<br />

Nachdem die erste Ausgabe ein Erfolg war,<br />

haben sich der damalige Sprachassistent<br />

des Goethe-Institutes, Jan Helfer, und die<br />

Bosch-Lektorin Anja Heß daran gemacht,<br />

NovoKult regelmäßig herauszugeben. Es<br />

wurden Projektgelder bei verschiedenen<br />

Institutionen beantragt und weitere Leute<br />

zur Mitarbeit angesprochen. Aus den anfänglichen<br />

acht Seiten sind zwanzig geworden.<br />

Mittlerweile arbeiten auch die verschiedenen<br />

deutschen Kulturmittler im<br />

Redaktionsteam der Zeitung, russische<br />

Studenten und Kollegen schreiben Artikel<br />

und helfen beim Layout. Die Zeitung erscheint<br />

in einer Auflage von 1000 Exemplaren.<br />

Die Zeitschrift enthält verschiedene<br />

Rubriken wie „Neues aus Deutschland“,<br />

„Neue deutsche Literatur“, „Interviews“,<br />

„Schwerpunktthema“, „Kulturkalender<br />

Novosibirsk“, „Studieninformationen“ uvm.<br />

32 <strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

Kioski<br />

Jan Helfer, schreibt für Novokult, Goethe-Institut, Projektberater, Saratow/Russland<br />

Kioske gibt es auch in Deutschland. Man kann da Zigaretten oder Zeitschriften kaufen. Man geht zum<br />

Kiosk, weil man zum Beispiel Zigaretten kaufen will. Der Verkäufer sitzt in seinem Kiosk, lächelt glücklich –<br />

wahrscheinlich denkt er gerade: „Oh, ein Kunde! Wie schön!“ – und sagt: „Guten Tag. Was darf’s sein?“<br />

„Guten Tag. Bitte Zigaretten.“<br />

„Hier, bitte. Das macht drei Euro.“<br />

„Danke. Hier drei Euro. Bitte.“<br />

„Ja, danke und einen schönen Tag.“<br />

„Danke, ebenso.“<br />

Geht also ganz leicht, ist aber auch etwas langweilig. Und wer will schon immer Zeitschriften oder<br />

Zigaretten kaufen? In Russland ist das alles besser. An Kiosken kann man alles kaufen außer Waffen und<br />

Pinguinen. Es gibt Schokolade, Chips, Bier und Zigaretten. Man bekommt Waldmeisterlimonade und<br />

Erdbeersaft. Hunger? Schnell zum Kiosk, Fischkonserven kaufen. Es gibt sogar richtige kleine tote<br />

Fische und Kalmare. Taschentücher oder Kondome? Kein Problem. Sie benötigen Damenbinden? Im<br />

Kiosk liegen sie bereit (jetzt müsste man nur noch wissen, was Damenbinde auf Russisch heißt). Der Kiosk<br />

bei mir um die Ecke hat bis vor kurzem auch Blumentöpfe verkauft. Wohl ohne Erfolg, jetzt gibt es Kerzen.<br />

Spielzeug, Tee oder Kaffee? Gibt’s! Kugelschreiber? Gibt’s! Nagelscheren habe ich gesehen, Klopapier, Schuhcreme<br />

und Kleiderbürsten. Gibt es alles, meist 24 Stunden am Tag. Man muss nur wissen, wie es geht.<br />

Nehmen wir an, Sie sind neu in Nowosibirsk und Sie haben auf dem Heimweg Lust auf ein Bier. Ein<br />

freundlicher Abend, nur fünf Grad unter Null. Das Bier wird nicht sofort in der Flasche gefrieren. Da!<br />

Ein Kiosk! Doch es ist keine Verkäuferin zu sehen, der Kiosk hat keine Öffnung. Nach einigen Minuten<br />

entdecken Sie eine Klappe auf Bauchnabelhöhe. Wieder zwei Minuten später fassen Sie Mut. Sie<br />

klopfen. Die Klappe öffnet sich. Sie sind glücklich und warten auf das vertraute „Guten Tag, kann ich<br />

Ihnen helfen?“ Die Klappe schließt sich wieder. So funktioniert es nicht. Sie klopfen erneut, es wird<br />

geöffnet und jemand fragt genervt: „Was?!“ Lassen Sie sich nicht verunsichern. Nennen Sie schnell<br />

eine Biermarke, die Sie aussprechen können. Beugen Sie sich nicht zur Klappe hinunter, das sieht<br />

dämlich aus. Stecken Sie nicht den Kopf durch die Öffnung. Im Kiosk tut sowieso niemand so, als<br />

dächte er: „Oh, wie schön, ein Kunde!“ Dort denkt jemand: „Wer etwas kaufen will, soll sich kurz und<br />

klar artikulieren. Ich will hier nämlich in Ruhe rauchen. Außerdem kommt sonst kalte Luft in meinen<br />

Kiosk.“ Halten Sie sich daran, dann kriegen Sie auch Ihr Bier.<br />

Als ich neulich zu meinem Lieblingskiosk ging, war es schon dunkel und niemand auf der Straße. Ich<br />

beugte mich doch einmal zur Klappe hinunter. Im Kiosk saßen drei Frauen und rauchten. Ich<br />

brauchte einen Blumentopf, es gab aber nur Kerzen. Die drei Frauen rauchten immer weiter, der<br />

ganze Kiosk war schon voller Rauch. Ich nahm meine Kerzen und ging. Als ich mich umdrehte, hatte<br />

der Rauch die ganze Luft im Kiosk verdrängt. Der Rauch, leichter als Luft, stieg auf und löste den<br />

Kiosk von der Erde. Unsicher taumelte er in der Nacht, stieg schneller auf und flog in eleganter Linie<br />

über das Zentrum der Stadt nach Norden. Ich blieb am Boden zurück, sah dem immer kleiner werdenden<br />

Kiosk nach, der still davonschwebte und schon weit entfernt am Nachthimmel glitzerte:<br />

Wohin werden sie wohl fliegen? Was werden sie tun?<br />

Wenn die Rede auf Kasachstan, Usbekistan<br />

oder Kirgistan kommt, ist man gewöhnlich<br />

geneigt, sich im Atlas zu vergewissern, um<br />

welche Regionen der Erde es sich dabei handelt.<br />

Meistens versinken die ohnehin vagen Vorstellungen<br />

in jenem diffusen Nebel, der die<br />

Entwicklung in den Nachfolgestaaten der ehemaligen<br />

Sowjetunion umgibt: Umweltkatastrophen,<br />

Armut, postsozialistische Despotenregimes<br />

und Verfall. Dieses endzeitliche Leitmotiv<br />

lässt vergessen, dass neben diesen verheerenden<br />

Tatsachen in den zentralasiatischen<br />

Ländern allmählich auch Neues entsteht.<br />

Und was könnte den Anbruch einer neuen Zeit<br />

sinnfälliger verkörpern als neue Städte, neue<br />

Häuser, ergo Architektur?<br />

Den Berliner Architekten und Journalisten Philipp Meuser verschlägt<br />

es seit einigen Jahren immer wieder nach Zentralasien.<br />

Diese riesige Region ist weder pittoresk noch einladend, und<br />

unübersehbar von den üblichen gesellschaftlichen, ökonomischen<br />

und ökologischen Verwerfungen gezeichnet. Städte und Landschaft<br />

sind von den Folgen jahrzehntelangen Raubbaus an Mensch und<br />

Umwelt geprägt und werden noch lange an diesen Altlasten tragen,<br />

die auch das sich allmählich herausbildende Neue mit einer schweren<br />

Hypothek belasten. Insofern stellt sich Philipp Meuser einem fast<br />

uneinlösbaren Anspruch, wenn er nach über zehn Jahren<br />

Unabhängigkeit in Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan auf die<br />

Suche nach einer eigenständigen neuen Architektur geht, die das<br />

Erbe des Sowjetzeitalters mit den ethnisch geprägten Bautraditionen<br />

zu vereinen vermag. Dafür bieten die knapp 150 Seiten des<br />

großformatigen Kompendiums schlicht zu wenig Platz. Allerdings<br />

vermitteln die eindrücklichen Fotos mit Texten von insgesamt acht<br />

Autoren einen informativen Eindruck der gegenwärtigen<br />

Entwicklung in Architektur und Städtebau Zentralasiens. Hier löst<br />

das Buch den Anspruch seines Titels ein: Es dokumentiert die<br />

Ästhetik von vier Jahrzehnten städtebaulichen Ehrgeizes in einer<br />

Steppenlandschaft, die so groß ist wie das gesamte Mittel- und<br />

Westeuropa. Dabei beschränkt sich der Herausgeber auf die moderne<br />

Architektur von 1961 bis zur Gegenwart. Die dokumentierten<br />

Neubauten spiegeln einen Aufhol-Prozess wider, mit dem der<br />

Anschluss an die westliche Moderne der Büro- und Hotelquader<br />

gesucht wird und Identität bestenfalls in einer Art vulgarisierter<br />

Folklore daherkommt.<br />

Ein eigenes, erschütterndes Kapitel ist dem ökologisch kollabierten<br />

Aralsee und den sterbenden ehemaligen Fischerdörfern an seinen<br />

Ufern gewidmet. Da geht es weniger um architektonische Aspekte<br />

als vielmehr um einen schockierenden Tatbestand mit beängstigenden<br />

Konsequenzen für Mensch und Natur.<br />

Die Bilder in dem Buch belegen eine gravierende Unausgewogenheit<br />

zwischen Stadt und Land, den Metropolen und ihren unfassbar<br />

weiten Peripherien. Auf der einen Seite gibt es phantasmagorische<br />

Projekte wie die Planung und Errichtung der aseptischen neuen<br />

kasachischen Hauptstadt Astana, die auf Geheiß des Präsidenten<br />

Nasarbajew nach dem Masterplan des japanischen Architekten<br />

Kurokawa in die Steppe geklotzt wird, während andererseits die<br />

kleineren Städte, Dörfer und Siedlungen im Landesinneren verelenden<br />

und verfallen.<br />

Dem vergifteten politischen Humus, auf dem diese fatale Entwicklung<br />

gedeiht, widmet das Buch leider wenig Aufmerksamkeit.<br />

Dennoch gelingt es, die Neugier des Lesers auf Exotisches in tiefer<br />

gehendes Interesse am Schicksal der Länder zwischen Ural und chinesischer<br />

Grenze zu verwandeln.<br />

Philipp Meuser (Hrsg.):<br />

„Ästhetik der Leere. Moderne Architektur in Zentralasien“<br />

Verlagshaus Braun, Berlin 2002. ISBN 3935455135, EUR 29,80<br />

<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!