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MO NR.11|03_PDF VERSION 03.09.2003 12:55 Uhr Seite 28<br />

INTERVIEW<br />

Wie leisten Sie sich Ihre geistigen Interessen?<br />

Ich arbeite manchmal als Dolmetscher, gebe privat Deutschstunden und schreibe gelegentlich für<br />

Zeitungen. Allerdings habe ich nie behauptet, Schriftsteller zu sein. Ich erzähle lediglich harmlose<br />

Geschichten vom wahren Russland, weit weg von den großen Zentren.<br />

Sie haben Freunde im Westen. Können Sie im Vergleich zu Russland Unterschiede in den<br />

Wertvorstellungen ausmachen?<br />

Die jungen Leute im Westen haben die Möglichkeit, zu reisen und intelligente Leute zu interessanten<br />

Gesprächen zu treffen. Im Gegensatz dazu ist man in Russland isoliert. In der Isoliertheit hat sich der so<br />

genannte russische Chauvinismus entwickelt und der macht mir Angst. Zweifel sind ja nur im Vergleich<br />

möglich. Wenn die Leute aber keine Möglichkeit zum Vergleichen haben, denken sie: Wir sind der Nabel<br />

der Welt. Dazu kommt dann noch der imperiale Größenwahn eines Reiches, das nicht mehr existiert.<br />

Weshalb ist der Chauvinismus in Russland so verbreitet?<br />

Das liegt wohl zum großen Teil daran, dass Chauvinismus von Seiten des Staates gefördert wird. Zum<br />

Beispiel wurde die militärpatriotische Erziehung in den Schulen als Pflichtfach eingeführt. Da üben die<br />

Schüler ein bisschen Schießen mit Gewehren und das Tragen von Gasmasken.<br />

Lachen aus Kummer<br />

Ein Interview mit Alexander Ikonnikow über Umbrüche,<br />

Größenwahn und die Kunst des Überlebens<br />

Sabine Witt,<br />

1999 bis 2000 Boschlektorin<br />

in St. Petersburg,<br />

Journalistin, Zürich/Schweiz<br />

Foto: Andrzej J. Koszyk<br />

Alexander, in Ihrem ersten Erzählband „Taiga Blues“ versammeln Sie recht drastische Geschichten.<br />

Nehmen wir die erste Erzählung, in der eine Frau im Streit ihrem betrunkenen Mann ein Bein<br />

abhackt. Das eigentliche Sujet aber ist die Unfähigkeit der Polizisten, die das Körperteil zu entsorgen<br />

haben. Wollen Sie damit sagen, dass den Menschen die Moral abhanden gekommen ist?<br />

Nein, ganz und gar nicht. Diese Geschichte ist eine wahre Begebenheit. Ein Offizier der Miliz hat sie mir<br />

erzählt. Die Leute waren eben im Suff – damit ist alles erklärt. Man muss das nicht dramatisieren. Die<br />

älteren Generationen behaupten zwar immer wieder, dass früher das Wasser nässer war und das Kilo<br />

schwerer. Aber die heutigen Menschen unterscheiden sich fast nicht von den früheren. Und die wahren<br />

Werte im Leben – Moral und Liebe – sind ebenfalls noch immer reichlich vorhanden.<br />

Nichtsdestotrotz scheint in Ihren Geschichten moralisch vieles schief zu laufen.<br />

Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Russland gerade soziale Umbrüche durchlebt. Der ausgebrochene<br />

pure Kapitalismus bewirkt, dass die Bedeutung des Körperlichen, des Materiellen alles andere<br />

überwiegt. Die Menschen in meinem Alter sind eine Übergangsgeneration: in der Sowjetunion geboren<br />

und jetzt im quasi-demokratischen Russland lebend. Das führt natürlich zu Frustrationen. Der Mensch ist<br />

auf so etwas nicht vorbereitet.<br />

In der Provinz vollzieht sich der Wandel viel langsamer als in den Großstädten. Es finden sich hier noch<br />

Kleinode aus der sowjetischen Erziehung, doch treten sie zumeist in Widerspruch zu den neuen<br />

Verhältnissen.<br />

Was sind das für Kleinode?<br />

Zum Beispiel hatte man uns beigebracht, Bäume zu pflanzen. Von der Schule aus legten wir Parks und<br />

Alleen an. Heute steht in der russischen Gesellschaft jedoch die Überlebenskunst im Vordergrund. Denn:<br />

Erst kommt das Brot und dann das Geistige.<br />

Sie sagten, der Chauvinismus mache Ihnen Angst. Was befürchten Sie?<br />

Dass die Aggressivität immer wieder nur Aggressivität hervorbringt. Man sollte Probleme besser mit dem<br />

Verstand lösen. Der Chauvinismus macht Russland unattraktiv für Investoren. Normale Kontakte mit dem<br />

Ausland lassen sich so nicht herstellen.<br />

Stichwort Überlebenskunst: Was erwarten die Menschen in Ihrer Umgebung vom Leben, welche<br />

Ziele haben sie?<br />

Das einzige Thema vor, während und nach der Abendserie im Fernsehen ist nur noch das Geld. Man<br />

bekommt sein Gehalt nicht rechtzeitig und wenn es kommt, ist es von der Inflation schon wieder überholt.<br />

Die Leute haben es aufgegeben, in Rubeln zu rechnen. Sie rechnen in Euro oder Dollar. Gleichzeitig<br />

sind alle Mittel recht, um sich zu bereichern oder zu überleben. Egal, ob dabei fremde Köpfe rollen. Es ist<br />

ein ständiger Stress um ein paar Rubel. Niemand tut irgendetwas umsonst, wie es früher oft der Fall war. Was<br />

Überlebenskunst bedeutet, ist im Westen wohl kaum vorstellbar.<br />

Früher waren Werte wie Solidarität und Hilfsbereitschaft Teil der staatlich verordneten Ideologie.<br />

Was ist davon übrig?<br />

Nichts. Zum Beispiel verleiht man kein Geld mehr. Wenn man früher mit Freunden ausgehen wollte und<br />

gerade kein Geld hatte, machte das nichts. Heute bleibt man dann zu Hause. Das ist doch traurig.<br />

Die Frage von Gut-Sein und moralischem Handeln hat eine lange Tradition in der russischen<br />

Literatur. Welchen Autoren stehen Sie in dieser Hinsicht am nächsten?<br />

In der deutschen Literatur schätze ich Hermann Hesse, in der russischen besonders Anton Tschechow.<br />

Mir fällt dazu ein: Das westliche Bild von Russland ist vor allem durch die russischen Klassiker geprägt.<br />

Aber diese Autoren waren doch überwiegend Adlige, die viel im Ausland gelebt und wenig mit dem wirklichen<br />

Russland zu tun hatten. Diese Vorstellungen sind veraltet.<br />

Sie schreiben gerade an Ihrem ersten Roman. Bleiben Sie darin Ihren Themen treu?<br />

Er spielt in einer Großstadt. Die sozialen Brüche spielen wiederum eine Rolle – die Handlung beginnt in der<br />

Sowjetzeit. Eine einfache junge Frau befindet sich auf der Suche nach Glück und Liebe. Es geht um ganz normale<br />

menschliche Werte, die nicht spezifisch russisch sind. Die Deutung überlasse ich aber lieber den Kritikern.<br />

In den deutschsprachigen Feuilletons wurde an den Kurzgeschichten in „Taiga Blues“ des öfteren<br />

bemängelt, sie seien allzu stark auf Pointen ausgerichtet. Was halten Sie von diesem Vorwurf?<br />

Das kann ich erklären. Gerade im Kummer entwickelt sich oft der Witz, aber auch der Irrwitz. Dort wo die<br />

Lebensumstände nicht gut sind, lachen die Leute lieber und öfter. Als ich die Geschichten von „Taiga<br />

Blues“ schrieb, war ich nahe dran, auszurasten. Ich fragte mich: Wo bin ich hier eigentlich? Das Schreiben<br />

war für mich eine Art Protest. Ohne Humor kann man da allerdings gar nichts machen. Wenn man das<br />

Ganze zu ernst nimmt, möchte man nur noch weinen.<br />

Mit seiner<br />

Kurzgeschichtensammlung<br />

„Taiga Blues“<br />

(Alexander Fest Verlag 2002,<br />

aus dem Russischen von<br />

Annelore Nitschke) sorgte der<br />

junge russische Autor<br />

Alexander Ikonnikow im<br />

deutschsprachigen Raum für<br />

einiges Aufsehen. Ikonnikow<br />

wurde 1974 in Urschum bei<br />

Kirow geboren. Er studierte<br />

Germanistik und arbeitete als<br />

Dorfschullehrer.<br />

Er lebt derzeit in Kirow, gibt<br />

Deutschunterricht, dolmetscht,<br />

schreibt als freier Journalist<br />

und arbeitet an seinem ersten<br />

Roman. Im Herbst 2003 wird<br />

er auf der Frankfurter Buchmesse<br />

auftreten und in Zürich<br />

bei der <strong>MitOst</strong>-Veranstaltungsreihe<br />

„Okno – Fenster zur russischen<br />

Kultur“ lesen.<br />

28<br />

<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

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