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A: PSYCHOLOGIE DES UNTERRICHTS UND DER ERZIEHUNG

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PÄDAGOGISCHE <strong>PSYCHOLOGIE</strong><br />

Von: Josua Handerer<br />

Kontakt: Josua.Handerer@t-online.de<br />

1


A: <strong>PSYCHOLOGIE</strong> <strong>DES</strong> <strong>UNTERRICHTS</strong> <strong>UND</strong> <strong>DER</strong> <strong>ERZIEHUNG</strong><br />

A 1: Lehr-Lern-Forschung<br />

1. Begriffsklärung und Gegenstand der Lehr-Lern-Forschung<br />

� Die Lehr-Lern-Forschung (synonyme Begriffe: Instruktionsforschung;<br />

Unterrichtsforschung) untersucht den Zusammenhang zwischen<br />

Unterrichtsmerkmalen und dem Wissens- und Kompetenzerwerb auf Seiten der<br />

Schüler.<br />

� Die Forschungsfrage: Was zeichnet guten Unterricht aus?<br />

� Die L-L-Forschung ist Teil der pädagogischen Psychologie und der<br />

Erziehungswissenschaften; innerhalb der Erziehungswissenschaften ist sie Teil der<br />

Allgemeinen Didaktik!<br />

� ABER: Die internationalen Schulleistungsstudien (PISA und <strong>DES</strong>I) zeigen,<br />

dass eine fachdidaktisch orientierte Lehr-Lern-Forschung effektiver ist (s.u.)!<br />

� Die diversen Schulleistungsstudien haben die hohe Relevanz der Lehr-Lern-<br />

Forschung hinreichend deutlich gemacht!<br />

2. Paradigmen der Lehr-Lernforschung<br />

A) Das Persönlichkeitsparadigma:<br />

� Dominierte in den Anfängen der Lehr-Lernforschung (50er / 60er Jahre); in dieser Zeit<br />

konzentrierte man sich v. a. auf die Frage, welche psychometrisch erfassbaren,<br />

stabilen (situations- und zeitübergreifenden) Persönlichkeitseigenschaften einen<br />

guten Lehrer ausmachen.<br />

� Prinzip: Personenmerkmale (Intelligenz, Belastbarkeit, fachliches Wissen,<br />

Führungsstil, Einstellungen etc.) als Prädiktoren für den Unterrichtserfolg!<br />

� Ein Beispiel für dieses Paradigma sind die Arbeiten KOUNINS. Letzterer<br />

identifizierte auf der Basis empirischer Studien 7 Prinzipien effektiver<br />

Klassenführung („Classroom Management“):<br />

1. Allgegenwärtigkeit der Lehrkraft (Withitness)<br />

� Lehrkraft vermittelt Schülern das Gefühl alles zu registrieren, auch wenn<br />

sie nicht immer reagiert<br />

2. Reibungslosigkeit und Schwung (Momentum)<br />

� Vermeidung von unnötigen Unterbrechungen und Leerlaufphasen<br />

3. Geschmeidigkeit des Ablaufs (Smoothness)<br />

� Vermeidung von Brüchen, systematischer Unterrichtsaufbau<br />

4. Überlappung von inhaltlicher Arbeit, organisatorischen Regelungen und<br />

Störungsprävention (Overlapping)<br />

� Mehrere Dinge gleichzeitig erledigen; z.B. einen unruhigen Schüler<br />

parallel zum Unterrichtsgespräch beruhigen etc.<br />

5. Die ganze Lerngruppe im Blick (Group focus)<br />

6. Geschicktes Management der Übergänge (Managing transitions)<br />

� Übergänge zwischen Unterrichtsschritten und Anfang und Ende der Stunde<br />

sind klar erkennbar (evtl. durch ritualisierte Gesten und/oder akustische<br />

Signale unterstützt);<br />

7. Erkennen und Vermeiden vorgetäuschter Schüleraufmerksamkeit (Avoiding<br />

Mocking Participation)<br />

� Die Ergebnisse der Persönlichkeitsparadigmas sind eher dürftig: Es konnten kaum<br />

signifikante Zusammenhänge zwischen einzelnen Persönlichkeitsvariablen und dem<br />

2


Lehrerfolg gefunden werden. Die ideale Lehrerpersönlichkeit scheint es demnach<br />

nicht zu geben.<br />

� Probleme des Ansatzes:<br />

� Aufgrund der heterogenen Erwartungen, die an einen Lehrer gestellt werden,<br />

lassen sich kaum objektive Kriterien dafür aufstellen, was einen „guten“<br />

Lehrer ausmacht!<br />

� Persönlichkeitseigenschaften sind nicht erlernbar; im Hinblick auf die<br />

Lehrerausbildung ist der Ansatz somit kontraproduktiv!<br />

� Unterricht wird als einseitiger Vermittlungsprozess betrachtet (s.u.: Aptitude-<br />

Treatment-Interaktion). Dem entspricht, dass zu wenige mediierende<br />

Variablen einbezogen werden (wie z.B. das Leistungsniveau der Schüler, die<br />

Klassengröße, die Art des Stoffs etc.)<br />

B) Das Prozess-Produkt-Paradigma<br />

� Im Prozess-Produkt-Paradigma werden keine Persönlichkeitseigenschaften, sondern<br />

spezifische Verhaltensweisen des Lehrers untersucht, z.B. wie dieser das<br />

Unterrichtsgespräch strukturiert, Fragen formuliert oder mit Störungen umgeht.<br />

� Dabei geht man davon aus, dass die Art, wie ein Lehrer sich seinen Schülern<br />

gegenüber verhält, den Unterrichtserfolg vorhersagt.<br />

� Das Prozess-Produkt-Paradigma wird bis heute angewendet, so z.B. in der <strong>DES</strong>I-<br />

Studie (2006). Im Rahmen dieser Studie wurden nämlich nicht nur<br />

Leistungsvariablen (zu Beginn und am Ende der 9. Jahrgangsstufe), sondern auch<br />

diverse Unterrichtsvariablen erhoben (per Schüler- und Lehrerbeschreibungen und<br />

Videoanalysen)<br />

� MEYER (2004) fasst aufgrund der bis dahin vorliegenden Forschungsliteratur 10<br />

Merkmale guten Unterrichts zusammen:<br />

1. Klare Strukturierung des Unterrichts<br />

2. Hoher Anteil echter Lernzeit<br />

3. Lernförderliches Klima<br />

4. Inhaltliche Klarheit<br />

5. Sinnstiftendes Kommunizieren<br />

6. Methodenvielfalt<br />

7. Individuelles Fördern<br />

8. Intelligentes Üben<br />

9. Transparente Leistungserwartungen<br />

10. Vorbereitete Lernumgebung<br />

� Probleme des Ansatzes:<br />

� Die spezifischen Fachinhalte bleiben unberücksichtigt. Dabei führen im<br />

Matheunterricht vermutlich andere Strategien zum Erfolg als im<br />

Deutschunterricht!<br />

� Der Zusammenhang zwischen einzelnen Verhaltensweisen und dem<br />

Unterrichtserfolg ist gering, erst das Zusammenspiel verschiedener<br />

Verhaltensweisen (Wechselwirkung!) hat offenbar einen Einfluss auf den<br />

Unterrichtserfolg.<br />

� Da die Wirksamkeit bestimmter Methoden von den Voraussetzungen auf<br />

Seiten der Schüler abhängt, reicht es nicht aus, das Lehrerverhalten als UV<br />

und das Schülerverhalten als AV zu betrachten (s.u.: Vernachlässigung der<br />

Aptitude-Treatment-Interaktion)!<br />

� Nicht nur der Lehrer beeinflusst die Schüler, sondern auch die Schüler den<br />

Lehrer (Lehrer � Schüler)!<br />

3


� Der Lernzuwachs ist keineswegs das einzige Kriterium guten Unterrichts<br />

(außerdem: soziale Kompetenz, Wohlbefinden, Lernfreude etc.)!<br />

C) Das Experten-Paradigma<br />

� Das Prozess-Produkt-Paradigma wird in jüngster Zeit zunehmend durch das eher<br />

kognitiv ausgerichtete Expertise-Paradigma ergänzt bzw. ersetzt. Dabei wird der<br />

Lehrer als „Experte“ verstanden, dessen Erfolg von seinem Wissen und den<br />

Fertigkeiten abhängt, über die er verfügt (Expertise).<br />

� Der Expertiseansatz verknüpft zwei Forschungstraditionen:<br />

1) Die kognitionspsychologische Expertiseforschung, die untersucht,<br />

inwiefern sich die Informationsverarbeitung von Experten und Novizen<br />

unterscheidet.<br />

� CHI: Schachspieler können sich Schachpositionen besser merken, weil<br />

sie ein großes Repertoire typischer Schachstellungen kennen (s.u.).<br />

2) Das Prozess-Produkt-Paradigma; letzeres wird durch den Expertiseansatz<br />

insofern erweitert, als dieser die kognitionspsychologischen<br />

Rahmenbedingungen effektiver Unterrichtsführung untersucht.<br />

� Gegensatz zum Persönlichkeitsparadigma: Der Lehrberuf ist erlernbar!<br />

� Untersucht wird das Wissen und die Informationsverarbeitung eines Lehrers bzw.<br />

inwiefern beides dessen Wahrnehmung und Unterrichtsstil beeinflusst.<br />

� Das Design ist meist analog zur sonstigen Expertiseforschung: Experten und<br />

Novizen wird Material vorgelegt (z.B. Dias oder Videoaufnahmen von<br />

bestimmten Unterrichtssituationen). Ausgehend davon, wie die Pbn mit<br />

diesem Material umgehen, wird auf ihre kategoriale Wahrnehmung<br />

geschlossen (so z.B. BERLINER).<br />

� Ein methodisches Problem stellt dabei die Identifikation von Experten dar:<br />

Da der Unterrichtserfolg immer auch von den Rahmenbedingungen<br />

(Schulklima, Zusammensetzung der Klasse etc.) abhängt und diese nicht<br />

konstant gehalten werden können, ist dieses Kriterium nur bedingt geeignet;<br />

weitere Auswahlkriterien sind: Berufserfahrung, Beurteilungen von<br />

Vorgesetzten und Kollegen, Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen…<br />

� Untersuchungen zur Expertise von Lehrern zeigen u.a., dass erfahrene Lehrer den<br />

Unterricht in Form typischer Unterrichtsepisoden (sog. „Scripts“) wahrnehmen,<br />

während jüngere Kollegen sich auf einzelne Schüler konzentrieren und das<br />

Wesentliche nur bedingt von irrelevanten Details unterscheiden können. Darüber<br />

hinaus ermöglicht Erfahrung die Ausbildung von Routinen (Automatisierung des<br />

eigenen Verhaltens und Etablierung von Interaktionsregeln), die das Unterrichten<br />

erleichtern.<br />

� Dass es keinen Zusammenhang zwischen Berufserfahrung und<br />

Unterrichtsqualität bzw. Lehrerfolg gibt, erklären Vertreter des<br />

Expertiseansatzes mit dem Burnout-Syndrom.<br />

� Ein aktuelles Forschungsbeispiel zur Expertise von Lehrern ist das interdisziplinäre<br />

und eng mit der PISA-Studie verzahnte Projekt COAKTIV.<br />

� Im Rahmen dieses Projekts untersuchen Psychologen,<br />

Erziehungswissenschaftler und Mathematikdidaktiker den Zusammenhang<br />

zwischen professionellem Wissen von Lehrern, dem unterrichtlichen Handeln,<br />

und der Leistungsentwicklung ihrer Schüler.<br />

� Was von einem erfahrenen Lehrer erwartet wird:<br />

4


� Die Organisation und Aufrechterhaltung einer Struktur von Schüler- und<br />

Lehreraktivitäten<br />

� Antizipation und Gegensteuerung möglicher Störungen; weiche Übergänge<br />

zwischen Themen und Instruktionsmethoden etc.<br />

� Gemeinsame Entwicklung des Unterrichtsstoffs<br />

� Einsetzen eines großen Repertoires an Unterrichtsmethoden;<br />

Ermöglichung von Erfolgserfahrungen; klare Strukturierung der Stunden<br />

etc.<br />

� Organisation der Unterrichtszeit<br />

� Effektive Nutzung der Unterrichtszeit (Stoffbehandlung); Kontrolle und<br />

Abstimmung des Tempos auf die Schüler<br />

� 4 Felder, in denen Lehrer Expertise aufbauen müssen: 1) Fachwissen;<br />

2) Fachdidaktik, 3) Klassenführung, 4) Diagnostik<br />

� Wichtig ist, dass alle Bereiche abgedeckt sein müssen; so wirkt sich ein hohes<br />

Fachwissen z.B. nur dann positiv aus, wenn die betreffende Lehrkraft auch in<br />

den anderen Feldern über Expertise verfügt.<br />

� Experiment (Helmke et al.): Wird der Matheunterricht von einer<br />

fachfremden Facht unterrichtet, hat das nur dann Auswirkungen auf den<br />

Lehrerfolg, wenn auch die anderen Faktoren stimmen.<br />

� Aufteilung des Expertenwissens von Lehrern nach Shulmann:<br />

1. Fachliches Wissen<br />

2. Curricurales Wissen<br />

3. Philosophie des Schulfaches<br />

4. Allgemeines pädagogisches Wissen<br />

5. Fachspezifisches pädagogisch-didaktisches Wissen<br />

6. Diagnostische Kompetenz<br />

D) Das Angebots-Nutzungs-Modell von Helmke<br />

� HELMKE bemüht sich mit seinem Angebots-Nutzungs-Modell die verschiedenen<br />

Forschungstraditionen zu integrieren. Zu diesem Zweck beschreibt er den Unterricht<br />

als ein Angebot, dessen Nutzung von verschiedenen Faktoren abhängt.<br />

� Folgende Faktoren werden dabei berücksichtigt:<br />

� Lehrerpersönlichkeit: Expertise, Werte, Ziele, subjektive Theorien,<br />

Selbstwirksamkeit etc.<br />

� Unterrichtsmerkmale (Angebot): Passung, Adaptivität, Klarheit, Klassenführung<br />

etc.<br />

� Individuelle Eingangsvoraussetzungen auf Schülerseite: Mediationsprozesse<br />

(s.u.), Lernaktivitäten der Schüler (aktive Lernzeit etc.)<br />

� Die beiden mediierenden Prozesse sind a) motivationale und emotionale<br />

Vermittlungsprozesse und b) die Wahrnehmung und Interpretation des<br />

Unterrichts<br />

3. Zur Aptitude-Treatment-Interaktion (ATI) und Adaptivität von Lehrern<br />

� Die Wirkung bestimmter Unterrichtsmerkmale hängt von Schülermerkmalen ab! Man<br />

bezeichnet dieses Phänomen, also die Wechselwirkung zwischen Eigenschaften des<br />

Lernenden und bestimmten Unterrichtsmerkmalen, als Aptitude-Treatment-<br />

Interaktion.<br />

� Der praktische Nutzen der ATI-Forschung ist begrenzt, da die gefundenen<br />

Wechselwirkungen oft zu vielfältig und unübersichtlich sind, um sie für den<br />

Unterricht nutzbar zu machen.<br />

� Nichtsdestotrotz hat die ATI-Forschung 2 wichtige Erkenntnisse geliefert:<br />

5


1) Die Frage nach den besten Methoden lässt sich nicht pauschal<br />

beantworten.<br />

2) Grundsätzlich gilt: Lehrerzentrierte, kleinschrittige Instruktionsformen<br />

sind bei ungünstigen Lernvoraussetzungen (affektiv: Ängstlichkeit;<br />

kognitiv: Intelligenz, Vorwissen) effektiver; offene (selbstgesteuerte),<br />

kooperative Lernformen dagegen bei günstigen Lernvoraussetzungen.<br />

� Die Fähigkeit eines Lehrers, den eigenen Unterrichtstil (konkret: die zur Verfügung<br />

gestellte Lernzeit, das zugrunde gelegte Lernziel und die Methoden) an die<br />

Voraussetzungen der Schüler anzupassen, wird als Adaptivität bezeichnet (s.u.).<br />

� Die Forschung zur Adaptivität zeigt, dass in der Lehr-Lern-Forschung nicht<br />

nur die Auswirkung des Unterrichts (Angebot) auf den Ertrag, sondern auch<br />

die Rückwirkung des Ertrags auf den Unterricht ins Auge gefasst werden<br />

muss.<br />

� Studien zur Adaptivität von Lehrern:<br />

� <strong>DES</strong>I: Im Fach Deutsch wird bei leistungsschwachen Klassen der<br />

Schwerpunkt auf die Vermittlung basaler Kompetenzen (Wortschatz,<br />

Rechtschreibung, Grammatik etc.) gelegt und vermehrt Kleingruppenarbeit<br />

eingesetzt, in leistungsstarken Klassen werden dagegen komplexere<br />

Arbeitsformen eingesetzt und schwierigere Inhalte behandelt.<br />

� Häufig lassen sich auch „Überadaptationen“ beobachten, etwa wenn<br />

Schülern mit geringem Vorwissen unterfordernde Aufgaben dargeboten<br />

werden. Im Hinblick auf das Fach Mathematik konnte z.B. gezeigt werden,<br />

dass auch schwache Schüler (mit geringem Vorwissen) von anspruchsvollen<br />

Textaufgaben stärker profitieren als von einfachen (kein ATI-Effekt).<br />

4. Neuere Perspektiven dank der großen Schulleistungsstests (PISA etc.)<br />

� Aus den Ergebnissen der großen nationalen und internationalen Schulleistungstests<br />

(TIMSS, PISA etc.) haben sich neue Forschungsfragen und -perspektiven ergeben.<br />

1. Verschiebung von einer fächerübergreifenden zu einer fachspezifischen<br />

Forschungsperspektive<br />

2. Analyse schulformspezifischer Unterrichtsskripts<br />

3. Analyse kulturspezifischer Unterrichtsskripts<br />

� Zu 1: Die <strong>DES</strong>I-Studie zeigt im Hinblick auf den Fremdspracherwerb (Englisch)<br />

folgende Effekte:<br />

� Einen Einfluss haben a) die Verwendung der betreffenden Sprache als<br />

Unterrichtssprache, b) der Umfang der Schüler-Lehrer-Interaktion und c) die<br />

Klassengröße; während sich die beiden ersten Faktoren positiv auswirken, hat<br />

die Klassengröße (anders als in anderen Fächern!) einen negativen Einfluss auf<br />

den Kompetenzzuwachs (geringere Verständlichkeit; schlechtere<br />

Klassenführung etc.)<br />

� Zu 2: Der Vergleich der unterschiedlichen Schulformen ergibt für Deutschland (PISA<br />

2003 und <strong>DES</strong>I 2006):<br />

� An Hauptschulen herrscht in Einklang mit der ATI ein lehrerzentrierter<br />

Unterricht vor, an Gymnasien dagegen wird auf anspruchsvollere<br />

Arbeitsmethoden gesetzt (auf die Adaptivität der Lehrer zurückzuführen)<br />

� Das förderlichste Entwicklungsmilieu findet sich an Gymnasien<br />

� Zu 3: Die 3. Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMSS zeigt<br />

nicht nur Leistungsunterschiede, sondern auch kulturspezifische Unterschiede<br />

bezüglich der Lehr-Lernprozesse (Videoanalysen):<br />

� Japan: kognitiv anspruchsvoller Unterricht, Problemlösungs- und<br />

Modellierungsaufgaben<br />

6


� Deutschland und USA: kleinschrittiges, lehrerzentriertes auf das Einschleifen<br />

von Routinen ausgerichtetes Unterrichtsgeschehen<br />

� Fazit: Nach wie vor geringes Wissen über den Zusammenhang zwischen<br />

Unterrichtsmerkmalen und Lernerfolg; Ursache: mangelnde Zusammenarbeit<br />

zwischen Fachdidaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft! Die Forderung der<br />

Stunde lautet daher: Interdisziplinarität!<br />

A 2: Lehrerverhalten und Lehrereffizienz<br />

7


1. Lerntheorien<br />

� Hauptkennzeichen der Instruktionsforschung ist deren verhaltenswissenschaftliche<br />

(behavioristische) Basis: Ausgehend von Lerntheorien wird nach effektiven<br />

Vermittlungs-Techniken gesucht. Ziel ist die Optimierung von Lehr-Lern-<br />

Prozessen.<br />

� Optimistische Erwartungen einerseits (Skinner etc.): Lernprozesse sind vom<br />

Lehrer genau plan- und steuerbar<br />

� Skepsis und Kritik auf der anderen Seite (Reformpädagogen wie Ellen Key,<br />

kognitivistisch orientierte Psychologen wie Gardner): Lernprozesse sind nur<br />

dann effektiv, wenn sie eben nicht mechanistisch ablaufen und von außen<br />

aufoktroyiert werden, sondern von innen kommen (intuitives, spontanes und<br />

partitives Lernen)<br />

� In „Der unbeschulte Kopf“ (1991) propagiert Gardner die vermeintlich<br />

„natürliche“ Wissensaneignung im Vorschulalter als Modell für<br />

schulisches Lernen. Wie der Vergleich von beschulten und unbeschulten<br />

Kindern zeigt, ist Gardners These, der zufolge das „Pauken“ in der Schule<br />

eher schädlich für die Entwicklung ist, jedoch nicht haltbar.<br />

� Kennzeichnend für moderne Instruktionsmodelle ist die stärkere Berücksichtigung<br />

der Lernenden; letztere werden nicht mehr als passive Rezipienten, sondern als<br />

aktive Teilnehmer betrachtet. Folgende Grundannahmen gelten heute als Konsens:<br />

� Lernen als aktiver und konstruktiver Prozess (Bedeutung des Vorwissens etc.)<br />

� Der Lernstoff muss vom Lernenden als bedeutsam und relevant erfahren<br />

werden (kontextuiertes und situiertes Lernen)<br />

� Intrinsisch motivierte Lernprozesse sind nachhaltiger als extrinsisch motivierte.<br />

� Selbstorganisiertes und selbstkontrolliertes Lernen<br />

A) Mehrspeichermodell von Atkinson und Shiffrin (isolierte Lernakte)<br />

� Betrachtet isolierte Lernakte und unterscheidet ausgehend davon zwischen<br />

verschiedenen Gedächtnistypen bzw. Stadien der Informationsverarbeitung:<br />

1. Das Ultra-Kurzzeitgedächtnis (sensorisches Register): In ihm werden für<br />

kurze Zeit (ca. 0,5-2Sek.) alle eintretenden Reize gespeichert (allerdings ohne<br />

bewusst verarbeitet zu werden)<br />

2. Das Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsspeicher): durch Aufmerksamkeitszuwendung<br />

gelangt ein Teil der Informationen (7+/-2 Items) in das KZG, das<br />

seinerseits nicht der Speicherung (ca. 30 Sek.), sondern der Verarbeitung von<br />

Infos dient.<br />

3. Langzeitgedächtnis: Durch Wiederholung und Elaboration (Organisation,<br />

Zusammenfassung, Integration) werden die Infos vom KZG ins LZG<br />

übertragen. Um sie später von dort abrufen zu können, bedarf es<br />

entsprechender Hinweisreize und Suchstrategien.<br />

� Didaktische Schlussfolgerungen aus dem Modell:<br />

� Aufmerksamkeit des Lernenden muss auf die wesentlichen Lerninhalte<br />

gerichtet werden<br />

� Es dürfen nicht zu viele Infos gleichzeitig dargeboten werden; Einzelinfos<br />

sollten zu größeren Einheiten zusammengefasst werden (Chunking)<br />

� Vermittlung metakognitiven Wissens und effektiver Verarbeitungsstrategien<br />

� Wiederholungen etc. etc.<br />

B) Kumulatives Lernen (Gagné)<br />

� Grundannahme: Wie gut etwas gelernt wird, hängt vom verfügbaren Vorwissen ab!<br />

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� An sich eine banale „Erkenntnis“, damals (Anfang der 60er) jedoch eine<br />

Revolution, da man den Lernerfolg bis dahin ausschließlich auf generelle<br />

individuelle Einflussfaktoren (insbes. die Intelligenz) und die Art des<br />

didaktischen Vorgehens zurückführte.<br />

� Heute gelten Vorkenntnisse dagegen als die wichtigste Leistungsdeterminante<br />

(s.u.)<br />

� Nach Gagnés Modell ist der Lernprozess in Abhängigkeit von dem jeweils<br />

erforderlichen Vorwissen in mehrere Stufen zu unterteilen (Sequenzierung des<br />

Lernprozesses); kurz: der Lernstoff muss von unten nach oben strukturiert werden<br />

(hierarchisches Lernen)<br />

� Didaktische Konsequenzen:<br />

� Genaue Sachanalyse (Grundregel: „basics first“)<br />

� Bei der Analyse der Lernvoraussetzungen ist das erwartete Vorwissen die<br />

wichtigste Komponente<br />

� Kritik:<br />

� Das Modell suggeriert einen mechanistischen (streng sequentiellen)<br />

Lernprozess und ist damit grob vereinfachend; schließlich ist Lernen immer<br />

ein konstruktiver Prozess<br />

� Wird das Modell verabsolutiert, widerspricht es den positiven Erfahrungen mit<br />

„natürlichen“ Lernarrangements (Projektunterricht, situiertes Lernen etc.)<br />

C) Lernen als Aufbau und Veränderung von Wissenssystemen (Kintsch)<br />

� Nach Kintschs Modell der Textverarbeitung ist das Vorwissen die wichtigste<br />

kognitive Ressource des Lesers bzw. Lerners.<br />

� Diese Annahme wird durch das Experten-Novizen-Paradigma bestätigt:<br />

Novizen werden von Experten mit vergleichbarem IQ bei Aufgaben in der<br />

betreffenden Domäne immer übertroffen (s.u.).<br />

� Das Besondere an dem Modell besteht darin, dass das Vorwissen nicht nur unter<br />

quantitativen, sondern v.a. unter qualitativen Gesichtspunkten in den Blick<br />

genommen wird. Die Wirksamkeit des Vorwissens hängt ab…<br />

� vom Organisationsniveau (ungeordnet vs. konzeptuell und hierarchisch<br />

strukturiert)<br />

� dem mentalen Repräsentationsmodus (ikonisch vs. verbal-deklarativ vs.<br />

handlungsbezogen-prozedural vs. symbolisch-operativ)<br />

� der Leichtigkeit des Zugriffs auf die Information<br />

� dem Niveau der Operationen, die mit dem Material durchgeführt werden<br />

können (konventionell, intelligent, kreativ)<br />

� Das Modell sensibilisiert dafür, dass es unterschiedliche Qualitätsstufen von Wissen<br />

und Lernen gibt (z.B. oberflächliches Auswendiglernen; verständnisvoller Erwerb<br />

einer geordneten Menge von Infos, tieferes Verständnis übergreifender<br />

Sinnzusammenhänge).<br />

D) Entwicklung und Erwerb inhaltsübergreifender kognitiver Kompetenzen<br />

� Die Vermittlung sog. Schlüsselqualifikationen (also inhaltsübergreifender<br />

Kompetenzen wie kreatives Denken, Teamfähigkeit oder Lernfähigkeit) ist äußerst<br />

populär. Es gilt jedoch die Faustregel: Je allgemeiner eine Strategie bzw. Methode,<br />

desto geringer ist ihr Wert beim Lösen komplexer Probleme.<br />

� Die Erwartungen an Schlüsselqualifikationen dürfen also nicht überstrapaziert<br />

werden!<br />

� Der gegenwärtige Forschungsstand:<br />

9


� Intelligenz und Kreativität lassen sich durch formale Trainingsprogramme<br />

kaum verbessern<br />

� Die Vermittlung allgemeiner Lernstrategien (das Lernen lernen) ist weniger<br />

wirksam als gemeinhin erwartet wird; erfolgreich ist eine solche Vermittlung<br />

nur, wenn sie im Zusammenhang mit inhaltsspezifischem Wissen erfolgt!<br />

� Hilfreich ist v.a. der Erwerb von metakognitivem Wissen, wobei prozedurales<br />

Fertigkeiten (Planung, Kontrolle, Bewertung des eigenen Lernens) wichtiger<br />

sind als das deklarative Metawissen.<br />

E) Lernen als Folge von sozialem Handeln<br />

� In jüngerer Zeit wird zunehmend der soziale Kontext berücksichtigt, in dem<br />

Lernprozesse stattfinden (Familie, Klasse, Religiöse Gemeinschaften etc.). Lernen<br />

wird also nicht mehr nur als individueller, sondern als sozialer Prozess verstanden.<br />

2. Lernphasen<br />

� Formalstufen des Unterrichts (HERBART, WOLFF): Ende 19. / Anfang 20. Jh.<br />

� Grundidee: Zerlegung des Lernstoffs in Einheiten, deren Behandlung<br />

wiederum in mehreren Stufen erfolgen soll.<br />

� Formalstufen nach Wolff:<br />

1) Zielangabe: der Lernende soll über das Lernziel informiert werden<br />

2) Analyse: des neu zu Lernenden, um die Aufmerksamkeit des Lernenden<br />

darauf zu richten<br />

3) Synthese: Darbietung und Erarbeitung des neuen Lehrstoffs<br />

4) Assoziationsstufe: Verknüpfung des neuen Wissens mit bereits<br />

vorhandenem Wissen<br />

5) Stufe des Systems: Systematische Strukturierung und Einordnung des<br />

neuen Wissens<br />

6) Stufe der Methode: Übung und Anwendung des Gelernten<br />

� Kritik: Äußerst starres System, von der Reformpädagogik massiv kritisiert;<br />

veraltete Terminologie; ABER: Modell liefert trotzdem grundlegende<br />

Einsichten in Lehr-Lern-Prozesse<br />

� AN<strong>DER</strong>SON (1982): 3 Stadien beim Erwerb kognitiver Fähigkeiten<br />

� Die von Anderson postulierten Stadien sind:<br />

1) Das kognitive Stadium: Entwicklung eines Problemverständnisses<br />

(Aufbau einer kognitiven, deklarativen Repräsentation des Wissens),<br />

beginnt mit einer Instruktionsphase (Vermittlung der Lerninhalte)<br />

2) Das assoziative Stadium (Wissenskompilation): Prozedualisierung des<br />

deklarativen Wissens; meint also das Erlernen von Fertigkeiten sowie<br />

deren Feinabstimmung („Tuning“)<br />

3) Autonomes Stadium: Automatisierung der gelernten Fertigkeit<br />

� SHUELL (1990): 3 Phasen des Wissenserwerbs<br />

� Das Modell entstand aus der Kritik an den zu starren Phasenmodellen; versteht<br />

sich nicht als starres System, sondern als heuristisches Schema<br />

1) Initialphase: Einzelinfos sind noch ungeordnet, mehr oder minder<br />

unverbunden und dementsprechend schwer durchschaubar; die Instruktion<br />

muss in dieser Phase einerseits informieren, das vorhandene Vorwissen<br />

aktivieren und ermutigen, andererseits Gelegenheit zu explorativem<br />

Verhalten und produktiven Fehlern geben.<br />

2) Zwischenphase: Erfassen von Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten,<br />

Bildung abstrakter Schemata etc.; die Instruktion hat diesen Prozess zu<br />

10


unterstützen (z.B. durch Bereitstellung entsprechender Lernarrangements,<br />

sokratische Dialoge; informative Rückmeldungen etc.)<br />

3) Endphase: Bessere Integration des neuen Wissens in das Vorwissen,<br />

Automatisierung der erlernten Fertigkeiten<br />

3. Instruktionsmodelle und -methoden<br />

� Grundsätzlich lassen sich 2 „Instruktionsschulen“ unterscheiden:<br />

� Verhaltensorientierte Ansätze gehen davon aus, dass external gesteuerte<br />

Lernprozesse am effektivsten sind und setzen dementsprechend auf<br />

lehrerzentrierte Instruktionsformen (direkte und adaptive Instruktion)<br />

� Konstruktivistische Ansätze propagieren dagegen schülerzentrierte Methoden,<br />

bei denen die Lerner ihren Lernprozess weitgehend selbst gestalten.<br />

� Ein klassisches Beispiel hierfür ist Bruners Konzept des<br />

entdeckenlassenden Lernens; außerdem alle Formen „offenen Unterrichts“<br />

(kooperatives Lernen, selbstreguliertes Lernen etc. etc.)<br />

� Wichtig: Welche Lernform die beste ist, lässt sich nicht pauschal sagen, sondern<br />

hängt a) von den individuellen Lernvoraussetzungen, b) dem jeweiligen Lerninhalt<br />

und c) dem Lernziel ab.<br />

A) Direkte Instruktion<br />

� Die Methode der direkten Instruktion zielt auf eine externale und damit<br />

lehrerzentrierte Steuerung des Lernprozesses (hohes Maß an Kontrolle). Sie ist<br />

empirisch gut untersucht (Prozess-Produkt-Paradigma) und hat sich als hoch effizient<br />

erwiesen.<br />

� Widerspruch?! - Die Effektivität direkter Instruktion scheint der Annahme zu<br />

widersprechen, Lernen sei dann besonders nachhaltig, wenn es sich um einen<br />

aktiven, vom Lerner selbst gestalteten Prozess handelt. Dieser Widerspruch<br />

löst sich jedoch auf, wenn man bedenkt, dass aktive Teilnahme durch direkte<br />

Instruktion keineswegs ausgeschlossen wird!<br />

� Formen direkter Instruktion: Frontalunterricht, darbietender Unterricht,<br />

Unterrichtsvortrag, gelenktes Unterrichtsgespräch etc.<br />

� Hauptkomponenten direkter Instruktion:<br />

1) Rückblick auf die vorangegangene Stunde und Überprüfung der<br />

Lernvoraussetzungen<br />

� Ziel: Wiederholung, Festigung, Aktualisierung und Aktivierung relevanten<br />

Vorwissens<br />

2) Darstellende Stoffvermittlung<br />

� Explizite Präsentation des Lernstoffs (etwa durch Lehrervortrag) =<br />

inhaltlicher Kern der direkten Instruktion<br />

3) Angeleitetes Üben und Verstehensprüfung<br />

� Ziel: Vorbereitung des selbständigen Übens; Erfolgskontrolle<br />

� Gezielte Fragen zum Stoff (etwa in einem gelenkten Unterrichtsgespräch)<br />

4) Lernüberwachung und korrigierende Rückmeldung<br />

� Adäquates Feedback auf die Schülerantworten<br />

5) Selbständiges Üben<br />

� Ziel: Festigung und Automatisierung des Gelernten (etwa durch Stillarbeit<br />

oder Hausaufgaben)<br />

6) Rückblick und Lernerfolgskontrolle<br />

� Wöchentliche Zusammenfassung des Gelernten, regelmäßige<br />

Leistungstests<br />

11


� AUSUBELS Assimilationstheorie: Ausubel (1968) unterscheidet anhand zweier<br />

Dimensionen vier Formen sprachlichen Lernens:<br />

� Die Dimensionen:<br />

1) Sinnvolles vs. mechanisches Lernen<br />

2) Rezeptives vs. entdeckendes Lernen<br />

� Die Lernformen:<br />

1) Sinnvolles Lernen: beim sinnvollen Lernen wird das Gelernte inhaltlich<br />

verstanden und sinnvoll mit dem Vorwissen verknüpft (Assimilation)<br />

2) Mechanisches Lernen: meint dagegen wortwörtliches und stupides<br />

Auswendiglernen; das neu Gelernte wird dabei weder verstanden, noch<br />

assimiliert.<br />

3) Rezeptives Lernen: dabei wird dem Schüler der Lernstoff in fertiger Form<br />

dargeboten (z.B. als Lehrbuchtext oder Unterrichtsvortrag)<br />

4) Entdeckendes Lernen: dabei werden die Lernergebnisse vom Schüler<br />

selbst erarbeitet (Versuche, Projekt- und Gruppenarbeit etc.)<br />

� Ausubel propagiert „sinnvoll-rezeptives Lernen“ als die beste Variante; er ist<br />

also für direkte Instruktion bzw. „darstellendes Unterrichten“: Ziel ist die<br />

Ausbildung einer hierarchischen Wissensstruktur, erreicht wird dieses Ziel<br />

durch das Prinzip der progressiven Differenzierung; heißt: Allgemeine<br />

Begriffe sollten durch neues Wissen spezifiziert werden (unterordnendes bzw.<br />

deduktives Vorgehen)<br />

� Ausubels Ansatz steht im Gegensatz zum Ansatz Bruners, der das „sinnvollentdeckende<br />

Lernen“ propagiert (s.u.)<br />

B) Adaptive Instruktion<br />

� Die adaptive Instruktion steht nicht in Konkurrenz zur direkten Instruktion, sondern<br />

stellt eine Präzisierung bzw. Ergänzung dieser Methode dar: Bedingt durch die<br />

heterogene Zusammensetzung von Schulklassen müssen die Unterrichtszeit, die<br />

verwendeten Methoden und die Lernziele in Abhängigkeit von den jeweils<br />

vorliegenden Lernvoraussetzungen variiert werden (Adaption bzw.<br />

Individualisierung).<br />

� Entwickelt wurde das Konzept in den 80er Jahren von Corno und Snow<br />

� Adaptive Maßnahmen lassen sich nach folgenden Kriterien systematisieren:<br />

� Adaptionszweck:<br />

� Z.B. Kompensation und Beseitigung von Lern- und Leistungsdefiziten;<br />

gezielte Förderung von Talenten etc.<br />

� Adaptionsmaßnahme:<br />

� Angepasst werden kann die Lernzeit, die Lehrmethode oder das Lernziel<br />

� Adaptionsrate:<br />

� Makroadaptionen: Lang- und mittelfristig angelegte Adaptionsmaßnahmen,<br />

über die bereits vor Beginn einer Lehreinheit entschieden<br />

wird (z.B. das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland oder die Wahl<br />

von Grund- und Leistungskursen)<br />

� Mikroadaptionen: Kurzfristige Adaptionsmaßnahmen, die während des<br />

Lernprozesses vorgenommen werden („Feintuning“)<br />

� Formen adaptiver Instruktion:<br />

� Programmierter Unterricht: geht auf SKINNER zurück und basiert auf den<br />

Prinzipien des operanten Konditionierens; in programmierten Lehrbüchern ist<br />

der Lehrstoff in kleine, aufeinander aufbauende Einheiten zerlegt. Die<br />

Darbietung der Einheiten erfolgt in Abhängigkeit von dem bereits<br />

12


vorhandenen Vorwissen. Letzteres wird ermittelt, indem auf jede Einheit eine<br />

Frage folgt. Auf jede Antwort gibt es ein unmittelbares Feedback.<br />

� Der PU ist ein Vorläufer der „computerunterstützten Instruktion“ (CUI)<br />

und computerbasierter „intelligenter Tutorensysteme“ (ITS): s.u.<br />

� Tutoriell unterstütztes Lernen (ITS): basiert genau wie der programmierte<br />

Unterricht im Wesentlichen auf 2 Systemmodulen: Dem „Expertenmodul“, in<br />

dem das (objektiv) zu erlangende Wissen repräsentiert ist, und dem<br />

„Lernermodul“, das den (subjektiven) Wissensstand des Lerners repräsentiert<br />

und gewissermaßen das Diagnosemodul des Systems darstellt.<br />

� Zielerreichendes Lernen („learning for mastery“) nach BLOOM: Äußerst<br />

optimistischer Ansatz, der davon ausgeht, dass alle alles lernen können, wenn<br />

man ihnen nur die nötige Zeit dazu lässt (Credo: „Alle Schüler schaffen es!“);<br />

Grundlage des Modells sind Carolls Überlegungen zur Bedeutsamkeit der<br />

aktiven Lernzeit; CAROLL ersetzt die stabilen Persönlichkeitsparameter<br />

(Intelligenz etc.) durch die beeinflussbaren (und damit pädagogisch<br />

relevanten) Parameter Zeit und Anstrengung (Rekonzeptualisierung des<br />

Begabungsbegriffs).<br />

� Probleme des Ansatzes:<br />

- Zeit ist begrenzt, der Ansatz daher unrealistisch<br />

- Konzept geht trotz vorgeschlagener „enrichement activities“ auf<br />

Kosten der leistungsstarken Schüler<br />

- Mehr Zeit allein reicht nicht, die zur Verfügung gestellte Zeit muss<br />

auch entsprechend genutzt werden; die Bedeutung von Ausdauer und<br />

Motivation wird von Bloom jedoch ausgeblendet (anders bei Caroll)<br />

C) Entdeckenlassendes Lehren / entdeckendes Lernen (Bruner)<br />

� Das Konzept des „entdeckenden Lernens“ geht auf BRUNER zurück (Ende der 50er);<br />

es bildet die Grundlage nahezu aller konstruktivistischen Lehr-Lern-Modelle (z.B.<br />

situiertes Lernen, kooperatives Lernen, problemorientiertes Lernen etc.)<br />

� Das Konzept beruht auf der Annahme, dass selbst erarbeitetes Wissen besser<br />

behalten wird als übernommenes Wissen.<br />

� Darüber hinaus fördert es die intrinsische Motivation<br />

(„Kompetenzmotivation“, Neugierde) und trägt zur Entwicklung einer<br />

allgemeinen Problemlösefähigkeit bei!<br />

� Da schulisches Lernen immer nur exemplarisch sein kann, ist es nach Bruner das<br />

oberste Ziel von Schule, positiven Transfer zu fördern, also die Fähigkeit, bereits<br />

angeeignetes Wissen bzw. erworbene Fertigkeiten in neuen Anforderungssituationen<br />

erfolgreich anzuwenden.<br />

� Während der Schulzeit sollte daher nach Bruner induktives Denken im<br />

Vordergrund stehen (vom Besonderen zum Allgemeinen), später kann neuer<br />

Stoff dann deduktiv erschlossen werden.<br />

� Grundformen entdeckenden Lernens: A) Problemlösendes Lernen, B) Lernen an<br />

Beispielen, C) Lernen durch Explorieren und Experimentieren<br />

� AUSUBEL hat an dem Konzept des entdeckenden Lernens scharfe Kritik geübt:<br />

� Ineffezient, da zeitraubend<br />

� Diskriminierend, da schwächere Schüler systematisch benachteiligend<br />

� Vernachlässigung der Inhalte (zugunsten vermeintlicher<br />

„Schlüsselqualifikationen“)<br />

� Gefahr, Fehlkonzepte zu erlernen<br />

13


D) Kooperatives Lernen<br />

� Kooperatives Lernen bezeichnet ein breites Spektrum von Unterrichtsformen,<br />

denen gemeinsam ist, dass die Schüler in Kleingruppen (2-6 Personen)<br />

zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.<br />

� Kooperatives Lernen wirkt sich nicht nur positiv auf die Lernleistung, sondern auch<br />

auf das Sozialverhalten (Klassenklima etc.) aus.<br />

� Lernleistung: Beteiligung aller; Motivationssteigerung, reziproke Instruktion<br />

(Lernen durch Lehren) etc.<br />

� Sozialverhalten: Teamfähigkeit, prosoziales Verhalten, Integrationsprozesse,<br />

Klassenklima etc.<br />

� Gefahren kooperativen Lernens (negative Gruppenprozesse):<br />

� Soziales Faulenzen (free rider- und sucker-Effekt); Diskriminierung Einzelner<br />

etc.<br />

� Damit kooperatives Lernen positive Effekte zeigt müssen zumindest zwei<br />

Minimalbedingungen erfüllt sein:<br />

1) Positive Interdependenz: Die einzelnen Gruppenmitglieder müssen ein<br />

gemeinsames Ziel haben und bei der Erreichung dieses Ziels aufeinander<br />

angewiesen sein<br />

� Z.B. durch teambezogene Belohnung (Beurteilung der Gruppenleistung)<br />

und/oder aufgabenbezogene Interdependenz (Arbeitsteilung)<br />

2) Individuelle Verantwortlichkeit: Die individuellen Leistungen müssen<br />

identifizierbar sein und sollten einzeln in die Gesamtbewertung einfließen<br />

� Z.B. durch Summierung der individuellen Leistungswerte zu Teamscores<br />

3) Wichtig, wenn auch nicht zwingend notwendig ist außerdem die heterogene<br />

und dabei möglichst ausgewogene Zusammensetzung der Gruppen.<br />

� Nach SLAVIN müssen drei Bedingungen erfüllt sein, um effektives kooperatives<br />

Lernen zu ermöglichen:<br />

1) Teambezogene Belohnung<br />

2) Individuelle Verantwortlichkeit<br />

3) Gleiche Erfolgschancen für alle (die Bewertung sollte also so erfolgen, dass<br />

hoch und wenig leistungsfähige Schüler gleiche Anteile zum Gruppenergebnis<br />

beitragen können.<br />

� Beispiele für kooperative Lernarrangements:<br />

� Die Jigsaw- bzw. Gruppenpuzzle-Methode nach ARONSON:<br />

� Aufteilung einer Aufgabe in verschiedene Unteraufgaben, für die jeweils<br />

„Experten“ bestimmt werden (aufgabenbezogene Interdependenz); die<br />

„Experten“ für ein bestimmtes Thema arbeiten in sog. „Focus-Groups“<br />

zusammen und bringen die dort erarbeiteten Ergebnisse später in ihre<br />

jeweilige „Home-group“ ein.<br />

� Abschließend wird das gesamte Wissen individuell überprüft (individuelle<br />

Verantwortlichkeit)<br />

� „Student-Teams-Achievement-Devisions“ (STAD) nach SLAVIN:<br />

� Schülerteams bereiten sich gemeinsam auf regelmäßige Tests vor, bei<br />

denen es darum geht, ein möglichst gutes Gesamtergebnis zu erzielen.<br />

� Belohnt wird also nicht die Einzelleistung, sondern das Gruppenergebnis<br />

(teambezogene Belohnung), das sich jedoch aus den Einzelleistungen<br />

zusammensetzt (individuelle Verantwortlichkeit);<br />

� Darüber hinaus werden die Gruppen in Rangreihen gebracht, so dass<br />

immer nur die Schüler eines Leistungsniveaus miteinander verglichen<br />

werden (Gleiche Erfolgschancen für alle)<br />

14


E) Selbständiges Lernen<br />

� Selbstreguliertes Lernen ist nicht nur Ziel, sondern zugleich Voraussetzung und<br />

Mittel des Unterrichts. Man versteht darunter die Fähigkeit, Lernprozesse selbst zu<br />

steuern.<br />

� Komponenten selbstregulierten Lernens:<br />

� Kognitive Komponente: Selbstreguliertes Lernen erfordert die Fähigkeit zur<br />

Introspektion, da nur so ein Metawissen über das eigene Lernen aufgebaut<br />

werden kann; bei der Verfeinerung dieses Wissens kommt der Schule eine<br />

entscheidende Rolle zu; darüber hinaus gibt es Trainingsprogramme zur<br />

Verbesserung der Lern- und Denkstrategien.<br />

� Motivationale, volitionale und emotionale Komponenten: Selbstmanipulation<br />

von Gefühlen, Einstellungen und Aufmerksamkeitsverteilungen (z.B. zur<br />

Aufrechterhaltung eines realistischen, positiv getönten Selbstbilds)<br />

4. Instruktionsprinzipien<br />

� Interindividuelle Unterschiede müssen bei der Instruktion berücksichtigt werden<br />

(Passung bzw. Adaptivität)<br />

� Instruktionsmaßnahmen müssen zumindest zu einem gewissen Grad motivierend<br />

wirken!<br />

� Mangelndes Vorwissen muss ist durch Instruktion zu kompensieren!<br />

� Neben inhaltlichem Wissen soll immer auch das Lernen selbst gelehrt werden!<br />

� Rückmeldungen sind ein notwendiges Steuerungsmittel von Lehr-Lernprozessen!<br />

5. Handlungsleitende Kognitionen von Lehrern<br />

� Handlungsziele von Lehrern:<br />

� V.a. im internationalen Vergleich gibt es häufig massive Unterschiede im<br />

Hinblick auf die Erziehungsziele von Lehrern.<br />

� W.C. Wong: Während z.B. deutsche Lehrer Achtung und Toleranz<br />

gegenüber Andersdenkenden überwiegend als das wichtigste Lernziel<br />

einstufen, rangiert dieses Ziel bei chinesischen Lehrern eher weiter unten.<br />

� Auffällig ist, dass zwischen den von Lehren geäußerten Zielen und ihrem<br />

Verhalten oft eine erhebliche Diskrepanz besteht.<br />

� Mögliche Erklärung: Aufgrund der heterogenen Erwartungen, mit denen<br />

sich Lehrer konfrontiert sehen, müssen sie widersprüchliche<br />

Handlungsziele (z.B. Förderung von Selbständigkeit und Disziplin)<br />

miteinander in Einklang bringen.<br />

� Die von den Lehrern am wichtigsten erachteten Erziehungsziele<br />

(Gerechtigkeit, Verantwortungsbewusstsein etc.) sind meist so allgemein, dass<br />

ihnen keine konkreten Handlungsziele entsprechen (es fehlt an<br />

Umsetzungsvorschlägen).<br />

� Pädagogische Oberziele werden nur dann verfolgt, wenn ein störungsfreier<br />

Unterrichtsablauf gesichert ist<br />

� Erwartungen von Lehrern: Erwartungen haben die Tendenz, sich selbst zu erfüllen;<br />

dieses Phänomen wird als Pygmalioneffekt bzw. „self-fulfilling prophecy“ bezeichnet.<br />

� Das klassische Experiment zum Pygmalioneffekt stammt von ROSENTHAL<br />

& JACOBSON (1968/69): Darin wurde Grundschullehrern am Anfang des<br />

Schuljahres weisgemacht, einige (in Wahrheit willkürlich ausgewählte)<br />

Schüler hätten ein besonderes Entwicklungspotenzial; am Ende des<br />

15


Schuljahres wiesen diese Schüler dann tatsächlich einen höheren<br />

Intelligenzzuwachs als die übrigen Schüler auf.<br />

� Vermittelt wird der Effekt u.a. durch: mehr Lob, mehr Aufmerksamkeit,<br />

mehr Zeit für Antworten, mehr Lerngelegenheiten etc.<br />

� Kausalattributionen von Lehrern: haben Einfluss auf deren Erwartungsbildung<br />

� WEINER unterscheidet anhand zweier Dimensionen (Stabilität und<br />

Lokalisation) zwischen 4 Arten, Erfolg bzw. Misserfolg zu attribuieren:<br />

Internal External<br />

Zeitstabil Fähigkeit Aufgabenschwierigkeit<br />

Zeitvariabel Anstrengung Zufall<br />

� Stabilitäts- bzw. Zeitdimension hat Einfluss auf die Erwartung künftiger<br />

Leistungen; die Lokalisation beeinflusst die Art der Rückmeldung.<br />

� Die Kausalattribution von Schülerleistungen ist somit ein wichtiges<br />

Vermittlungsglied zwischen der Wahrnehmung einer Schülerleistung und<br />

der Reaktion darauf.<br />

� Der Attributionsstil des Lehrers wiederum überträgt sich (vermittelt durch die<br />

Art der Rückmeldungen) auf die betroffenen Schüler und kann somit sowohl<br />

motivierend (Anstrengung) als auch demotivierend (Fähigkeit) wirken.<br />

� Bezugsnormorientierung von Lehrern hat Einfluss auf den Attributionsstil:<br />

� Soziale Bezugsnorm (interindividueller Vergleich) => fördert zeitstabile<br />

Ursachenerklärungen (da sich die Rangfolge in einer Klasse meist nur<br />

geringfügig verändert)<br />

� Individuelle Bezugsnorm: (intraindividueller Vergleich) => lenkt<br />

Aufmerksamkeit eher auf Veränderungen<br />

� [Bezugsnormorientierung �] Lehrerattribution [� Erwartungshaltung,<br />

Feedback] � Schülerattribution � Motivation<br />

6. Motivationale und emotionale Bedingungen des Lehrerhandelns<br />

� LENZ & DE JESUS haben ein Modell zur Beschreibung der<br />

Motivationsentwicklung bei Lehrern entwickelt. Als Erklärung für den häufig zu<br />

beobachtenden Motivationsabfall von Lehrkräften ziehen die beiden Seligmanns<br />

Theorie von der „gelernten Hilflosigkeit“ heran.<br />

� Lehrer, die häufig die Erfahrung machen, zu scheitern, tendieren dazu, dieses<br />

Scheitern auf internale und zeitstabile – kurz: unkontrollierbare Faktoren<br />

(mangelnde Fähigkeit) zurückzuführen.<br />

� Mögliche Reaktionen: Resignation, Burnout, Motivationsverlust,<br />

Anpassung der Ziele an das Machbare<br />

� Emotionen und Kognitionen beeinflussen sich wechselseitig; es handelt sich dabei<br />

um 2 interagierende Steuerungssysteme:<br />

� Kognitionen: haben Einfluss darauf, welche Emotion aufkommt (Appraisal)<br />

� Emotionen: beeinflussen u.a. die Aufmerksamkeit, die<br />

Informationsverarbeitung, das Gedächtnis und den Attributionsstil; darüber<br />

hinaus haben sie (auch in Unterrichtssituationen) eine kommunikative<br />

Funktion!<br />

� Für den Lehrerberuf besonders relevante Emos sind Angst und Ärger<br />

16


7. Lehrertraining(s)<br />

� Es gibt Trainingsprogramme zur Bewältigung von Belastungssituationen; zur<br />

Förderung der sozialen Handlungskompetenz und zur Förderung der<br />

Unterrichtskompetenz.<br />

� Grundsätzlich gilt: Trainingsprogramme für Lehrer sind dann besonders effizient,<br />

wenn sie sowohl auf der kognitiven Ebene (Wahrnehmung und Interpretation von<br />

Situationen, Handlungswissen etc.), als auch auf der Verhaltensebene (Einübung<br />

adäquater Reaktionsmuster) ansetzen und dabei die bereits vorhandene Expertise der<br />

teilnehmenden Lehrer mit einbeziehen.<br />

� Das Münchener Lehrertraining von HAVERS (1998) ist als 5-tägiges<br />

Blockseminar konzipiert und richtet sich an Lehramtsstudenten in höheren Semestern.<br />

� Die beiden Schwerpunkte des Trainings sind:<br />

a) Einübung sozialer Kompetenzen für den Umgang mit<br />

Disziplinschwierigkeiten (praktische Komponente): Rollenspiele und<br />

Videofeedback<br />

b) Reflexion der persönlichen Vorstellungen vom Lehrerberuf (kognitive<br />

Komponente): Pädagogische Autobiographien; Collagen zum Thema „ich<br />

und mein Beruf“<br />

� Das Programm wird von Teilnehmern als sehr hilfreich beurteilt und scheint<br />

eine positive Langzeitwirkung zu haben.<br />

� Das Konstanzer Trainingsmodell verfolgt eine ähnliche Zielsetzung, ist aber<br />

wesentlich breiter angelegt: Einübung konkreter Handlungsmuster zur Bewältigung<br />

verschiedener Standardsituationen<br />

8. Besonderheiten der Hochschullehre<br />

� Obwohl die Forderung nach Qualitätsstandards auch im Hochschulbereich zunehmend<br />

virulenter wird (gesetzlich vorgeschriebene Lehrevaluation etc.), gibt es bisher keine<br />

systematische Didaktikausbildung für Hochschullehrer (Professionalisierungsdefizit).<br />

� Folgende Prinzipien guter Hochschullehre lassen sich aus den allgemeinen<br />

Erkenntnissen der Lehr-Lern-Forschung ableiten: Gute Hochschullehre…<br />

1. …fördert den Kontakt zw. Student und Dozent<br />

2. …fördert die Kooperation zwischen Studenten<br />

3. …fördert aktives Lernen<br />

4. …gibt prompte Rückmeldung<br />

5. …legt großen Wert auf studienbezogene Tätigkeiten<br />

6. …stellt hohe Ansprüche<br />

7. …beachtet unterschiedliche Fähigkeiten und Lernwege<br />

� Die subjektiven Theorien über gute Hochschullehre bewegen sich auf einem<br />

Kontinuum zwischen folgenden Polen:<br />

1. Dozentenzentrierte Informationsvermittlung (Student als mehr oder minder<br />

passiver Informationsempfänger; wichtigsten Kriterium ist die Aktualität der<br />

Lehrinhalte)<br />

2. Studentenorientierte Unterstützung des Lerners (Ziel ist es, den Studenten<br />

zu eigenständigem, autonomen Lernen zu befähigen)<br />

� Wichtig: Die Art des Lehrens beeinflusst die Art des Lernens; d.h.: Studenten lernen<br />

so wie sie erwarten, geprüft zu werden. Eine dozentenorientierte Stoffvermittlung<br />

führt dabei eher zu oberflächlichem Auswendiglernen, eine studentenorientierte<br />

Lehrweise zu eigener Auseinandersetzung und tieferem Verständnis. Letztere ist<br />

demnach effektiver!<br />

17


� Programme zur didaktischen Professionalisierung der Hochschullehre werden erst<br />

nach und nach entwickelt und bisher v.a. in Form von Workshops und Seminaren<br />

angeboten.<br />

� Die Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik (AHD) bemüht sich<br />

gegenwärtig um curriculare Rahmenkonzepte für das hochschuldidaktische<br />

Ausbildungsangebot.<br />

� In Baden-Württemberg gibt es ein Hochschuldidaktikzentrum (HDZ), an<br />

dem nach 200 Unterrichtseinheiten (aufgeteilt in 3 Module) ein<br />

hochschuldidaktisches Zertifikat erworben werden kann.<br />

� Als besonders effizient hat sich die Methode des Microteachings erwiesen:<br />

Kurze Präsentation (+ Videoaufzeichnung) => Evaluation => Erneute<br />

(verbesserte) Präsentation => Erneutes Feedback!<br />

18


A 3: Kognitive Determinanten von Schulleistung<br />

1. Zur multiplen Determiniertheit von Schulleistung<br />

� Ziele von Bildung und Unterricht: Schule verfolgt multiple, z.T. gegenläufige Ziele<br />

(z.B. Disziplin und Selbständigkeit; Qualifizierung und Egalisierung etc.)<br />

� BLOOM: Schule verfolgt affektive und kognitive Lernziele; letztere lassen<br />

sich hierarchische strukturieren (Kennen => Verstehen => Anwenden =><br />

Analyse => Synthese => Bewertung)<br />

� WEINERT: Die wichtigsten Ziele von Schule sind a) die Vermittlung<br />

speziellen Wissens und Könnens sowie b) die Förderung der kognitiven<br />

Entwicklung im Allgemeinen.<br />

� Die Prädiktoren von Schulleistung lassen sich folgendermaßen systematisieren:<br />

� Inhaltliche Unterteilung in individuelle, schulische und außerschulische<br />

Faktoren:<br />

� Individuelle Faktoren<br />

- Kognitive Personenmerkmale des Lerners (Intelligenz, Vorwissen)<br />

- Motivationale und affektive Merkmale des Lerners (Fleiß, Angst etc.)<br />

� Schulische Faktoren<br />

- Merkmale des Unterrichts (Qualität und Quantität)<br />

- Klassensituation, Schulklima etc.<br />

� Außerschulische Faktoren<br />

- Politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />

- Familiärer Hintergrund etc.<br />

� Formale Unterteilung in proximale und distale Faktoren:<br />

� Proximale Faktoren: individuelle Lernvoraussetzungen,<br />

Prozessmerkmale des Unterrichts<br />

� Distale Faktoren: Strukturmerkmale von Familien, Schul- und<br />

Unterrichtsklima, Persönlichkeitsmerkmale des Lehrers etc.<br />

� Faktoren auf der Individualebene (einzelner Schüler), der Mikroebene<br />

(Klasse: Größe, Klima etc.), Mesoebene (Schule: Klima, Einzugsbereich etc.),<br />

Makroebene (Land: Schulsystem, Bildungspolitik etc.)<br />

� Entscheidend ist, dass zwischen den verschiedenen Determinanten Überlappungen<br />

und wechselseitige Abhängigkeiten bestehen. Insofern macht es kaum Sinn, einzelne<br />

Determinanten isoliert zu betrachten.<br />

� Je höher z.B. die Unterrichtsqualität, desto weniger ist der Lernzuwachs von<br />

den kognitiven Voraussetzungen der Schüler abhängig.<br />

� Schließlich zeichnet sich guter Unterricht u.a. dadurch aus, dass die<br />

Schüler möglichst individuell gefördert werden und Unterschiede im<br />

Vorwissen zu Beginn einer Unterrichtseinheit egalisiert werden<br />

(Wiederholung der Lerneinheiten, evtl. Vermittlung von Nachhilfe,<br />

Elternkontakt, zusätzliche Lernangebote etc.).<br />

� Auch die kognitiven und affektiv-motivationalen Merkmale des Lerners<br />

interagieren miteinander. Sie stehen entweder im Verhältnis der Kopplung<br />

oder der Kompensation zueinander.<br />

� Von Kopplung spricht man, wenn für einen bestimmten Effekt<br />

Mindestausprägungen verschiedener Variablen notwendig sind.<br />

Schwierige Aufgaben erfordern beispielsweise ein Mindestmaß an<br />

Intelligenz und Anstrengung.<br />

� Leichtere Aufgaben können dagegen entweder mit Intelligenz oder<br />

Anstrengung gelöst werden. Mangelnde Anstrengung kann durch eine<br />

19


entsprechende Intelligenz-, geringe Intelligenz durch entsprechende<br />

Anstrengung kompensiert werden.<br />

� Insbesondere die individuellen Determinanten der Schulleistung sind mit<br />

einer Vielzahl anderer Variablen konfundiert (s.u.); man spricht in diesem Fall<br />

von Kommunalität (= konfundierte Varianz)<br />

� Die Intelligenz beispielsweise mit der familiären Herkunft, aber auch mit<br />

der Unterrichtsqualität (s.o.)<br />

� Fazit: Die Determinanten von Schulleistung ausfindig zu machen, ist aus mehreren<br />

Gründen schwierig.<br />

1. Komplexität des Kriteriums: Schulleistung ist ein komplexes Konstrukt,<br />

dessen Erfassung umstritten ist, sofern diese davon abhängt, welche<br />

Erwartungen an schulisches Lernen gestellt werden (multiple<br />

Zielvorstellungen: kognitive und affektive Lernziele etc.)<br />

2. Komplexität des Bedingungsgefüges: Die Prädiktoren bzw. Determinanten<br />

von Schulleistung sind vielfältig (multiple Determiniertheit) und stehen<br />

zueinander in Wechselwirkung; sie können gleichläufige, gegenläufige oder<br />

substitutive Beziehungen zum Kriterium aufweisen.<br />

� Einzelne Prädiktoren herauszugreifen ist vor diesem Hintergrund nur<br />

bedingt möglich; so sind z.B. individuelle Determinanten (wie Intelligenz<br />

und Vorwissen) nur bedingt von den Kontextbedingungen (Klassenklima<br />

etc.) und den Merkmalen des Unterrichts zu trennen. Kurz: die<br />

verschiedenen Untersuchungsebenen (Individualebene, Mikroebene,<br />

Mesoebene, Makroebene) hängen zusammen. Streng genommen können<br />

Schüler einer Klasse, die Klassen einer Schule, die Schulen eines Landes<br />

daher nicht als unabhängige Beobachtungseinheiten gelten.<br />

� Statistische Verfahren: Mehrebenenanalyse, Kommunalitätenanalyse<br />

(dient zur statistischen Trennung konfundierter Variablen)<br />

2. Modelle schulischen Lernens<br />

A) Carrolls Modell (1963)<br />

� Nach CAROLL ergibt sich der Lernerfolg aus dem Verhältnis der aufgewandten zur<br />

benötigten Lernzeit. Wird so viel Lernzeit aufgewendet, wie benötigt wird, ist das<br />

Ergebnis positiv, so die Annahme (s.o.)!<br />

� Die benötigte Lernzeit hängt ab von…<br />

a) der aufgabenspezifischen Begabung<br />

b) der Fähigkeit, die Aufgabenstellung zu verstehen (Instruktionsverständnis)<br />

c) der Unterrichtsqualität<br />

� Die aufgewendete Lernzeit hängt ab von…<br />

a) der Ausdauer bzw. Lernmotivation und<br />

b) der vom Lehrer zugestandenen Lernzeit<br />

c) wobei auch diese beiden Variablen nicht zuletzt von der Unterrichtsqualität<br />

beeinflusst werden<br />

� Kritik:<br />

� Das Modell eröffnet verschiedene Ansatzpunkte pädagogischer Intervention<br />

� Es lässt aber offen, wie die genannten Einflussfaktoren (Begabung,<br />

Unterrichtsqualität) zu einander in Beziehung stehen: Sind sie z.B. additiv<br />

miteinander verknüpft, so dass die mangelnde Ausprägung einzelner Variablen<br />

kompensiert werden kann (z.B. mangelnde Begabung durch hohe<br />

Unterrichtsqualität) oder sind sie multiplikativ miteinander verknüpft?!<br />

20


� Slavins QUAIT-Modell, das die modifizierbaren Stellgrößen des Carroll-Modells<br />

zusammenfasst (s.u.), geht davon aus, dass diese Größen multiplikativ verknüpft- und<br />

daher nicht ohne Verlust kompensierbar sind:<br />

� Quality (Unterrichtsqualität im engeren Sinn, z.B. Strukturiertheit)<br />

� Appropriateness (Angemessenheit des Vorgehens)<br />

� Incentives (Motivierungsqualität)<br />

� Time (Zeitnutzung)<br />

Blooms Modell (1976)<br />

� Bloom differenziert den Lernerfolg im Hinblick auf den Lernbereich (kognitive vs.<br />

affektive Lernergebnisse) und die Leistungseffizienz (sprich: die gelernte Menge in<br />

Relation zu der dafür benötigten Zeit)<br />

� Abhängig ist der Lernerfolg nach Bloom von 3 Bedingungsgruppen:<br />

1. Affektive Lernvoraussetzungen<br />

� Lernmotivation, Interesse, Einstellung zu Schule etc.)<br />

2. Kognitive Lernvoraussetzungen<br />

� Intelligenz, Vorwissen<br />

3. Qualität des Unterrichts<br />

� Schrittweise Darbietung der Unterrichtsinhalte<br />

� Positive Verstärkung<br />

� Hoher Anteil an aktiver Lernzeit<br />

� Unmittelbares Feedback<br />

� Die entscheidende pädagogische Stellgröße ist die Unterrichtsqualität, wobei Bloom<br />

davon ausgeht, dass es v.a. darauf ankommt, den Schülern in Abhängigkeit von ihren<br />

Voraussetzungen genügend Zeit zu lassen (Vgl. hierzu sein optimistisches Konzept<br />

des zielerreichenden Lernens: s.o.)<br />

B) Walbergs Produktivitätsmodell (80er Jahre)<br />

� Walbergs Modell basiert auf der Metaanalyse mehrerer tausend Studien! Den Daten<br />

zufolge hängt die Produktivität eines Lernenden von insgesamt 9 Faktoren ab; diese<br />

Faktoren korrelieren jeweils unterschiedlich stark mit der Schulleistung und lassen<br />

sich 3 Bereichen zuordnen:<br />

1. Personenmerkmale:<br />

� Kognitive Fähigkeiten / Vorwissen (0.44)<br />

� Entwicklungsstand (0.10)<br />

� Motivation (0.29)<br />

2. Unterrichtsvariablen<br />

� Qualität des Unterrichts (0.48)<br />

� Quantität des Unterrichts (0.38)<br />

3. Kontextvariablen<br />

� Häusliches Umfeld (0.31)<br />

� Klassen- und Schulklima (0.20)<br />

� Außerschulische Peerbeziehungen (0.19)<br />

� Massenmediennutzung (-0.06)<br />

� Nach Walberg sind diese Faktoren multiplikativ miteinander verknüpft; Defizite bei<br />

einzelnen Determinanten sind demnach, wenn überhaupt, nur schwer auszugleichen.<br />

� Ob dem im Einzelnen tatsächlich immer so ist, ist jedoch umstritten.<br />

Insbesondere im Hinblick auf die 4 Kontextvariablen wird häufig eine<br />

Substituier- bzw. Kompensierbarkeit für möglich gehalten.<br />

21


C) Helmkes Angebots-Nutzungs-Modell (2002)<br />

� Helmke beschreibt Unterricht als Angebot, das vom Schüler genutzt werden muss . Ob<br />

der Schüler den Unterricht nutzt, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab:<br />

� Merkmale der Lehrerpersönlichkeit: Expertise, subjektive Theorien,<br />

Selbstwirksamkeit etc.<br />

� Merkmale des Unterrichts (Angebot): Unterrichtsqualität (Klarheit,<br />

Adaptivität, Methodenvielfalt, Motivierung, Zeitnutzung etc.)<br />

� Individuelle Eingangsvoraussetzungen: a) Motivationale und emotionale<br />

Vermittlungsprozesse, b) Wahrnehmung und Interpretation des Unterrichts<br />

� Klassenkontext und fachlicher Kontext<br />

� Grundidee des Modells ist, dass der Lernerfolg nicht nur vom Angebot, sondern<br />

auch von der „Reaktion“ des Lernenden abhängt!<br />

3. Kognitive Determinanten von Schulleistung<br />

A) Intelligenz und Schulleistung (siehe auch B 4)<br />

� Vorgehen: Als Prädiktor wird üblicherweise ein Intelligenztest verwendet; als<br />

Indikator für Schulleistung dienen Zensuren, Lehrerurteile oder entsprechende<br />

Schulleistungstests!<br />

� Ergebnisse: Die Korrelationen, die man auf diese Weise erhält, liegen im<br />

Durchschnitt bei ca. 0,5 (mittelhoch), was einer Varianzaufklärung von 25%<br />

entspricht. Obwohl dieser Zusammenhang nicht überwältigend ist, ist Intelligenz<br />

damit einer der besten Prädiktoren für schulischen Erfolg.<br />

� Die Zensuren in Hauptfächern korrelieren meist höher mit der allgemeinen<br />

Intelligenz als Leistungen in Nebenfächern (vermutlich wegen der höheren<br />

kognitiven Anforderungen); am Besten lässt sich Mathematiknote vorhersagen.<br />

� Wenn die Schulleistung mit Tests (z.B. AST 4) erfasst wird, treten meist<br />

höhere Korrelationen aus als wenn Zensuren als Kriterium dienen (vermutlich,<br />

weil erstere objektiver sind.<br />

� Der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulleistung nimmt mit<br />

zunehmendem Alter der Schüler ab.<br />

� Erklärung: Intelligentere Schüler/innen können sich schneller auf neue Aufgaben<br />

einstellen, verfügen über effektivere Problemlösestrategien, erkennen leichter<br />

lösungsrelevante Regeln, verfügen über elaboriertere Gedächtnisstrategien und<br />

haben eine größere Verarbeitungskapazität. All das erleichtert schulisches Lernen.<br />

� Achtung: Der Zusammenhang zwischen Schulleistung und Intelligenz ist nicht<br />

einseitig, sondern reziprok! Intelligenz ist also nicht nur eine Voraussetzung, sondern<br />

zugleich eine Folge schulischen Lernens.<br />

� Empirische Ergebnisse dazu liefern u.a. eine Metanalyse von CECI und die<br />

SCHOLASTIK-Studie.<br />

� Beispielsweise haben Kinder, die ein Jahr später eingeschult wurden,<br />

durchschnittlich geringere IQs als ihre Altersgenossen, die schon ein Jahr<br />

länger zur Schule gehen.<br />

� Andere Befunde zeigen, dass die im Verlauf eines Schuljahres zu<br />

beobachtende Verbesserung des IQs während der Sommerferien stagniert<br />

oder sogar leicht abfällt.<br />

� Bedenke: Intelligenz beschreibt lediglich ein Leistungspotenzial und ist keineswegs<br />

der einzige Prädiktor für Schulleistung => Es gibt daher erwartungswidrige<br />

Schulleistungen (Over- und Underachievement)<br />

22


B) Vorwissen und Schulleistung<br />

� Intelligenz ist nicht die einzige kognitive Voraussetzung für schulischen Erfolg. In der<br />

neueren Forschung rückt neben der allgemeinen Intelligenz zunehmend das<br />

bereichsspezifische Vorwissen der Schüler in den Blick.<br />

� Als Indikator für das Vorwissen dient dabei meist die jeweilige Note aus dem<br />

vorhergehenden Schuljahr.<br />

� Nähere Auskunft über den Zusammenhang von Vorwissen, Intelligenz und<br />

Schulleistung gibt u.a. die Längsschnittstudie SCHOLASTIK (Helmke & Weinert).<br />

� Helmke & Weinert zeigen anhand einer auf den Ergebnissen dieser Studie<br />

aufbauenden Pfadanalyse, dass der Einfluss der Intelligenz auf die<br />

Schulleistung bis zur 4. Klasse abnimmt, während bereichsspezifisches<br />

Vorwissen zunehmend wichtiger wird.<br />

� Die Korrelation zw. Intelligenz und mathematischer Kompetenz sinkt von<br />

0.3 in der 1. Klasse auf 0.14 in der 4. Klasse.<br />

� Im selben Zeitraum steigt die Korrelation zwischen Vorwissen und<br />

mathematischer Kompetenz von .45 auf .63.<br />

� Erklärung: Diese gegenläufige Entwicklung ist damit zu erklären, dass die<br />

prädiktive Bedeutung der Intelligenz umso größer ist, je unbekannter die<br />

Lerninhalte sind, d.h. je weniger Vorwissen vorhanden ist.<br />

� Die Ergebnisse der SCHOLASTIK-Studie sind kongruent zu einer Vielzahl anderer<br />

Studien, die ebenfalls zeigen, dass fachspezifisches Vorwissen die Schulleistung<br />

besser vorhersagt als allgemeine Intelligenz.<br />

� Als Beleg dafür gelten meist die durchgehend hohen Zusammenhänge<br />

zwischen Noten aus benachbarten Schulstufen, die durch die<br />

Auspartialisierung der Intelligenz nur unwesentlich verringert werden.<br />

� Es gibt auch experimentelle Befunde, die zeigen, dass Intelligenzunterschiede durch<br />

bereichsspezifisches Vorwissen kompensiert werden können.<br />

� Schneider: Fußballexperten<br />

SCHNEI<strong>DER</strong> prüfte in einem 2 × 2- Design den Einfluss von Vorwissen und<br />

Intelligenz auf das Textverständnis und die Behaltensleistung von Schülern. Zu<br />

diesem Zweck legte er Dritt-, Fünft- und Siebtklässlern eine<br />

Fußballgeschichte vor, die sie anschließend reproduzieren sollten. Die Schüler<br />

wurden je nach Intelligenz und fußballerischem Vorwissen einer von 4<br />

Versuchsgruppen zugeteilt.<br />

� Ergebnis: Dabei zeigte sich für alle 3 Altersgruppen, dass die<br />

Fußballexperten unabhängig von ihrer allgemeinen Leistungsfähigkeit den<br />

Text immer besser erinnerten als ihre Mitschüler.<br />

23


A 4: Motivationale und affektive Bedingungen schulischer Leistungen<br />

1. Begriffsklärung<br />

� Motivation: ist die Bereitschaft, zielgerichtetes Verhalten zu initiieren und aufrecht zu<br />

erhalten bzw. die aktivierende Ausrichtung auf einen positiv bewerteten Zielzustand.<br />

� Die Motivation bestimmt demnach Richtung, Dauer und Intensität unseres<br />

Verhaltens.<br />

� Motive: sind dagegen überdauernde Präferenzen für bestimmte Klassen von<br />

Zuständen<br />

� Motivation bzw. Motiviertheit = situationsabhängiger Zustand (state);<br />

Motive = stabile Dispositionen (trait).<br />

� Wichtige Motive sind: das Leistungsmotiv, das Machtmotiv, das<br />

Anschlussmotiv<br />

� Motivation vs. Volition: Da unser Verhalten nicht immer mit unseren Absichten bzw.<br />

Zielen übereinstimmt, ist es sinnvoll, zwischen dem Setzen von Zielen und deren<br />

Umsetzung zu unterscheiden.<br />

� Während dem Setzen von Zielen (Zielauswahl) motivationale Prozesse<br />

zugrunde liegen, liegen der Umsetzung eines Ziels volitionale (=willentliche)<br />

Prozesse zugrunde (s.u.: Rubikonmodell von Heckhausen und Gollwitzer)<br />

� Intrinsische vs. extrinsische Motivation: Wird eine Handlung aufgrund ihrer Folgen<br />

ausgeführt, spricht man von extrinsischer Motivation; wird sie dagegen um ihrer selbst<br />

willen oder aus Interesse am Gegenstand ausgeführt, spricht man von intrinsischer<br />

Motivation.<br />

� Die intrinsische Motivation kann gegenstands- oder tätigkeitszentriert sein. In<br />

ersterem Fall basiert sie auf Interesse am Gegenstand, im letzteren Fall bereitet<br />

die Handlung selbst Freude.<br />

� Intrinisische Motivation korreliert konsistent positiv mit Schul- und<br />

Studienleistungen (im Durchschnitt: r = .23)<br />

� Viele Handlungen sind gleichzeitig intrinisisch und extrinsisch motiviert!<br />

� Interesse: wird meist als ein längerfristiger und überdauernder Person-<br />

Gegenstands-Bezug definiert (Person-Gegenstands-Theorie). Kennzeichnend für<br />

Interesse ist dabei a) dass dem Gegenstand eine hohe subjektive Bedeutung<br />

beigemessen (wertbezogene Valenz) wird und b) dass die Auseinandersetzung mit<br />

dem Gegenstand als positiv und angenehm erlebt wird (emotionale Valenz). Daraus<br />

ergibt sich c) die intrinsische Qualität bzw. „Selbstintentionalität“ von Interessen<br />

und d) die epistemische Orientierung von Interessen: Wer sich für eine Sache<br />

interessiert möchte mehr darüber erfahren.<br />

� Interesse kann sowohl als Zustand (situationales Interesse) als auch als<br />

Disposition (dispositionales Interesse) beschrieben werden.<br />

� Der Zusammenhang zwischen Interesse und Schulleistung beträgt<br />

durchschnittlich r = .30 (nach einer Metaanalyse von SCHIEFELE); der<br />

Zusammenhang ist dabei reziprok!<br />

� Leistungsmotivation: ist eine themenunspezifische Disposition. Leistungsmotiviert<br />

ist ein Verhalten dann, wenn es auf die Selbstbewertung der eigenen Tüchtigkeit<br />

abzielt – und zwar in Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab, den es zu<br />

erreichen oder zu übertreffen gilt.<br />

� Dabei können 2 Komponenten bzw. Teilmotive unterschieden werden:<br />

1. Das Erfolgsmotiv (Streben nach Erfolg)<br />

2. Das Misserfolgsmotiv (Vermeidung von Misserfolg)<br />

� Eine Zielorientierung: ist der Bewertungsmaßstab, anhand dessen man den Erfolg<br />

bzw. Misserfolg des eigenen Handelns misst. Sofern Zielorientierungen im Gedächtnis<br />

24


gespeichert und eng mit dem Selbstkonzept verknüpft sind, haben sie dispositionalen<br />

Charakter.<br />

� In Bezug auf den Lernerfolg lassen sich dabei 2 Zielorientierungen<br />

unterscheiden:<br />

1. Die „Aufgaben-“ oder „Lernzielorientierung“: zielt darauf, die eigene<br />

Kompetenz zu prüfen bzw. zu steigern.<br />

- …basiert auf intraindividueller Fähigkeitskonzeption: Gut bin ich, wenn<br />

ich mich bessere (individuelle Bezugsnorm)<br />

2. Die „Ego-“ oder „Leistungszielorientierung“: zielt auf die unmittelbar<br />

„verwertbare“ Ergebnisse (gute Noten, Lob etc.)<br />

- …basiert auf interindividueller Fähigkeitskonzeption: Gut bin ich, wenn<br />

ich besser bin als andere (soziale Bezugsnorm)<br />

� Empirische Ergebnisse:<br />

� Lernziel- und Leistungszielorientierung sind nicht antagonistisch, sondern<br />

relativ unabhängig voneinander (dafür sprechen die meist niedrigen<br />

Korrelationen zw. den beiden Dimensionen)<br />

� Schüler mit ausgeprägter und stabiler „Lernzielorientierung“ weisen<br />

bessere Leistungen und wesentlich höhere Wissenszuwächse auf als<br />

Schüler mit Ego-Orientierung.<br />

� Lernmotivation: Es lassen sich verschiedene Arten habitueller Lernmotivation<br />

unterscheiden:<br />

� Extrinsisch:<br />

� Wettbewerbsbezogene Lernmotivation (besser als andere sein)<br />

� Leistungsbezogene LM (Streben nach positiver Leistungsrückmeldung)<br />

� Kompetenzbezogene LM (Streben nach Kompetenzerweiterung)<br />

� Soziale LM (Streben nach sozialer Anerkennung)<br />

� Materielle LM (Verfolgen materieller Ziele)<br />

� Berufsbezogene LM (Streben nach einem bestimmtem Beruf)<br />

� Intrinsisch:<br />

� Gegenstandszentrierte LM (aus Interesse und Neugier)<br />

� Tätigkeitszentrierte LM (aus Freude am Lernen)<br />

2. Theorien zur Leistungsmotivation<br />

A) Das Risiko-Wahl-Modell nach Atkinson<br />

� Das Risiko-Wahl-Modell von Atkinson ist ein kognitives Modell zur genaueren<br />

Beschreibung der Leistungsmotivation, sofern es die Faktoren aufzeigt, von denen die<br />

individuelle Anspruchsniveausetzung abhängt.<br />

� Das Modell gilt als Prototyp der Erwartungs-mal-Wert-Theorien.<br />

� Atkinson betrachtet Leistungssituationen als Annäherungs-Vermeidungs-Konflikte.<br />

Auf der einen Seite steht die Tendenz, sich einer Leistungssituation in der Hoffnung<br />

auf Erfolg zu stellen (Te), auf der anderen Seite besteht die Tendenz,<br />

Leistungssituationen aus Furcht vor Misserfolg zu meiden (Tm).<br />

� Das Leistungsmotiv umfasst dementsprechend 2 Komponenten:<br />

A) Das Erfolgsmotiv (Erfolgszuversicht)<br />

B) Das Misserfolgsmotiv (Angst vor Misserfolg)<br />

� Wie stark die Annäherungs- und Vermeidungstendenzen jeweils sind, hängt nach<br />

Atkinson von 3 Faktoren ab:<br />

1. Dem subjektiven Wert des Handlungsziels (Wert)<br />

2. Der Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel auch zu erreichen (Erwartung)<br />

3. Dem Erfolgs- bzw. Misserfolgsmotiv der jew. Person<br />

(Persönlichkeitsvariable)<br />

25


� Der Anreiz einer Aufgabe hängt von deren Schwierigkeitsgrad ab.<br />

� Der Erfolgsanreiz (Ae) bzw. der Wert einer Aufgabe ist umso größer, je<br />

schwieriger sie ist bzw. je geringer die Erfolgserwartung.<br />

� Der Misserfolgsanreiz (Am) dagegen steigt mit der Erfolgserwartung. Je<br />

leichter eine Aufgabe, desto mehr schämt man sich schließlich für einen<br />

Misserfolg.<br />

� Die Tendenz, einen Erfolg anzustreben (Te), ergibt sich aus der multiplikativen<br />

Verknüpfung des Erfolgsmotivs (Me), der Erfolgserwartung (We) und dem Anreiz<br />

von Erfolg (Ae). Die Tendenz, einen Misserfolg zu vermeiden (Tm), ist<br />

dementsprechend das Produkt aus Misserfolgsmotiv (Mm), Misserfolgserwartung<br />

(Wm) und Misserfolgsanreiz (Am).<br />

� Te = Me x We x Ae Tm = Mm x Wm x Am<br />

� Daraus ergibt sich als resultierende Tendenz: Tr = Te – Tm<br />

� Schlussfolgerungen und Hypothesen:<br />

� Wenn das Misserfolgsmotiv einer Person größer ist als deren Leistungs- bzw.<br />

Erfolgsmotiv sollten Leistungssituationen, sofern keine extrinsischen Motive<br />

vorliegen, grundsätzlich gemieden werden; im umgekehrten Fall sollten sie<br />

aufgesucht werden.<br />

� In der Schule ist die völlige Vermeidung von Leistungssituationen<br />

allerdings nicht möglich; Unterschiede im Leistungsmotiv äußern sich<br />

daher v.a. in der Anspruchsniveausetzung.<br />

� Wenn das Misserfolgsmotiv überwiegt, sind Aufgaben mittlerer Schwierigkeit<br />

mit der größten Vermeidungstendenz verbunden; es sollten eher leichte<br />

(geringe Misserfolgserwartung) oder schwere (geringer Misserfolgsanreiz)<br />

Aufgaben gewählt werden.<br />

� Umgekehrtes gilt für ein stärker ausgeprägtes Erfolgsmotiv; hier sollten<br />

überwiegend Aufgaben mittlerer Schwierigkeit gewählt werden, da in diesem<br />

Fall das Produkt aus Erwartung und Wert am größten ist (0,5 × 0,5 = 0,25).<br />

� Empirische Überprüfung:<br />

� Bei einer Ringwurfaufgabe, bei der der Abstand zum Ziel frei gewählt<br />

werden konnte, wählten Vpn mit hohem Erfolgsmotiv (TAT) tatsächlich<br />

überwiegend Aufgaben mittlerer Schwierigkeit (=> realistische Zielsetzung).<br />

� Für Vpn mit hohem Misserfolgsmotiv konnte die Ausgangshypothese<br />

allerdings nicht bestätigt werden. Sie wählten alle Aufgabenschwierigkeiten in<br />

etwa gleich oft und zeigten keine eindeutigen Wahlpräferenzen.<br />

� Generell gilt: Erfolgsmotivierte zeigen langfristig gesehen bessere Leistungen<br />

(sind ausdauernder, setzen sich realistischere Ziele etc.)<br />

B) Attributionsstile und lernrelevante Selbstkonzepte<br />

� Das Risiko-Wahl-Modell lässt offen, wie die beiden Größen „Erwartung“ und „Wert“<br />

zustande kommen und wodurch das überdauernde Leistungsmotiv im Einzelnen<br />

gekennzeichnet ist.<br />

� Nach Weiner hängen Erwartung, Wert und Leistungsmotiv v.a. davon ab, wie die<br />

betreffende Person Erfolg und Misserfolg attribuiert.<br />

� Dabei unterscheidet er anhand zweier Dimensionen 4 Arten von Attributionen:<br />

1. Lokation (internal vs. external)<br />

2. Zeitliche Stabilität (stabil vs. variabel)<br />

� Daraus ergibt sich als übergeordnete Dimension die der subjektiv<br />

empfundenen Kontrollierbarkeit (hoch vs. niedrig)<br />

26


� Auf welche Weise wir Erfolg/Misserfolg attribuieren, bestimmt unser Verhalten in<br />

ähnlichen Situationen. Genauer:<br />

� Die Lokation der Ursache bestimmt den Wert bzw. Anreiz eines Erfolgs bzw.<br />

Misserfolgs und damit die affektive Reaktion.<br />

� Die zeitliche Dimension beeinflusst unsere Erfolgserwartung.<br />

� Die Dimension der Kontrollierbarkeit beeinflusst die Intensität der Affekte<br />

und Erwartungen.<br />

� Auf Basis der Attributionstheorie lassen sich erfolgs- und misserfolgsorientierte<br />

Personen hinsichtlich ihres bevorzugten Attributionsstils unterscheiden.<br />

� Misserfolgsorientierte Personen zeichnen sich durch einen ungünstigen<br />

Attributionsstil aus: Sie tendieren dazu, Erfolg auf zeitvariable- und externe<br />

Faktoren-, Misserfolg dagegen auf zeitstabile und interne Faktoren<br />

zurückzuführen.<br />

� Bei erfolgsorientierten Personen ist es umgekehrt.<br />

� Es liegt auf der Hand, dass der bevorzugte Attributionsstil Einfluss auf das<br />

Fähigkeitsselbstkonzept hat. Dem entspricht, dass auch zwischen dem<br />

Leistungsmotiv und dem Fähigkeitsselbstkonzept ein signifikanter Zusammenhang<br />

besteht (r = 0.25), wobei die Kausalitätsrichtung allerdings unklar ist.<br />

� Führt ein hohes Fähigkeitsselbstkonzept zu einer ausgeprägteren<br />

Erfolgsmotivation, oder eine starke Erfolgsmotivation zu einem höheren<br />

Fähigkeitsselbstkonzept?<br />

� Das Fähigkeitsselbstkonzept ist zwar in der Regel recht stabil, kann sich aber in<br />

Abhängigkeit vom (schulischen) Kontext (z.B. beim Wechsel von der Grundschule<br />

zur Sekundarschule) ändern.<br />

� Der Grund dafür ist der “Big-Fish-Little-Pond-Effect”: also die Veränderung<br />

der Selbsteinschätzung in Abhängigkeit vom Leistungsniveau der<br />

Bezugsgruppe.<br />

� Ein hohes Leistungsniveau der anderen muss sich dabei nicht immer<br />

negativ auf das eigene Selbstbild auswirken (small Fish in a big pond),<br />

sondern kann auch zu einer Aufwertung des Selbstbilds führen („basking<br />

in reflected glory“)<br />

C) Das Selbstbewertungsmodell der Leistungsmotivation von Heckhausen<br />

� Heckhausens Modell (genauer: C 4) stellt gewissermaßen eine Synthese aus Atkinsons<br />

Risiko-Wahl-Modell und Weiners Attributionstheorie dar. Anders als Atkinson<br />

betrachtet Heckhausen das Leistungsmotiv dabei nicht als stabiles und einheitliches<br />

Persönlichkeitsmerkmal, sondern als komplexes Selbstbewertungssystem.<br />

� Dem Modell zufolge hängt die Ausprägung des Leistungsmotivs nämlich von<br />

3 sich gegenseitig stabilisierenden Teilprozessen ab:<br />

1. dem Anspruchsniveau bzw. der Zielsetzung<br />

2. dem präferierten Attributionsstil (von Erfolg und Misserfolg)<br />

3. der daraus resultierenden Selbstbewertung<br />

� Ausgehend davon kommt Heckhausen zu einer differenzierten Unterscheidung<br />

zwischen erfolgs- und misserfolgsmotivierten Personen (genauer: C 4):<br />

� Erfolgszuversichtliche Personen: realistische Zielsetzung (mittelschwere<br />

Aufgaben) � Positives Attributionsmuster � positive Selbstbewertungsbilanz<br />

(Freude und Stolz nach Erfolg sind größer als die negativen Affekte nach<br />

Misserfolg) � realistische Zielsetzung � … (ein „Engelskreis“)<br />

� Misserfolgsängstliche Personen: extrem leichte oder schwere Aufgaben �<br />

Ungünstiges Attributionsmuster � Negative Selbstbewertungsbildanz � …<br />

(ein Teufelskreis)<br />

27


� Heckhausens Modell bildet die theoretische Grundlage zahlreicher<br />

Trainingsprogramme (siehe: C 4).<br />

D) Rheinbergs handlungstheoretisches Motivationsmodell<br />

� RHEINBERG unterscheidet in seinem handlungstheoretischen Motivationsmodell<br />

zwischen Situation => Handlung => Ergebnis => und den Folgen des Ergebnisses.<br />

� Auf diese Weise kommt er zu einer differenzierteren Beschreibung der Begriffe<br />

„Erwartung“ und „Anreiz“.<br />

� Zu unterscheiden ist zwischen „Situations-Ergebnis-Erwartungen“ (Was<br />

passiert, wenn ich nicht handle?), „Situations-Handlungs-Erwartungen“,<br />

„Handlungs-Ergebnis-Erwartungen“ und „Ergebnis-Folge-Erwartungen“.<br />

� Bezüglich der Anreize für eine Handlung unterscheidet RHEINBERG zwischen<br />

tätigkeitsspezifischen- und instrumentellen Vollzugsanreizen.<br />

� Bei tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreizen liegt der Wert einer Handlung<br />

in der Handlung selbst; bei instrumentellen Anreizen liegt der Wert der<br />

Handlung in deren Folgen begründet.<br />

� RHEINBERG zufolge unterscheiden sich Menschen u.a. danach, ob sie habituell eher<br />

tätigkeits- oder eher zweckorientiert sind (dispositioneller Anreizfokus).<br />

5. Theorien zur intrinsischen Motivation<br />

A) Theorien optimaler Stimuluierung (Berlyne)<br />

� Allgemeine Vorbemerkung:<br />

� Theorien zur intrinsischen Motivation versuchen intrinsisch motiviertes<br />

Verhalten zu erklären. Damit sind sie nicht zuletzt gegen rein behavioristische<br />

Verhaltenstheorien gerichtet.<br />

� Zu den Theorien extrinsischer Motivation gehören v.a. die Erwartungs-mal-<br />

Wert-Theorien (s.o.), sofern bei diesen der Schwerpunkt auf den<br />

Handlungskonsequenzen liegt.<br />

� Das Internalisierungsmodell von Ceci und Ryan macht sowohl Aussagen über<br />

die intrinsische als auch über die extrinsische Motivation.<br />

� Berlyne unterscheidet zwischen dem Aktivationspotential einlaufender Stimuli und<br />

dem tatsächlichen Aktivationsniveau; ist das Aktivationspotential sehr hoch (neue,<br />

komplexe Reize) oder sehr niedrig (Reizarmut), erhöht sich das Aktivationsniveau,<br />

was als unangenehm empfunden wird und zu intrinsisch motiviertem Verhalten führt.<br />

B) Die Selbstbestimmungstheorie von Ceci und Ryan<br />

� Ceci und Ryan gehen von 2 Grundbedürfnissen (basic needs) aus, die allen Menschen<br />

eigen sind und die die Grundlage aller intrinsisch motivierten Handlungen bilden:<br />

1. Das Bedürfnis nach Kompetenz<br />

2. Das Bedürfnis nach Autonomie bzw. Selbstbestimmung<br />

[3. Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit]<br />

� Einen Hinweis auf diese Bedürfnisse sehen Ceci und Ryan im Explorations- und<br />

Spielverhalten von Kindern gegeben.<br />

� Ihre These: Nur wo zumindest die ersten beiden Bedürfnisse befriedigt werden, wo<br />

sich der Einzelne also als kompetent und selbstbestimmt erlebt, kann sich so etwas wie<br />

Interesse entwickeln.<br />

� Mögliche Erklärung für den Korrumpierungseffekt von Belohnung (s.u.):<br />

Wo Handlungen von außen verstärkt werden, werden sie nicht mehr als<br />

selbstbestimmt erfahren.<br />

28


� Wichtig: Die besagten Grundbedürfnisse sind notwendige, aber keineswegs<br />

hinreichende Bedingungen intrinsischer Motivation; sie können also auch<br />

extrinsisch motivierten Handlungen zugrunde liegen.<br />

� Der Korrumpierungseffekt von Belohnung: besagt, dass intrinsische Motivation<br />

durch äußere Verstärker (Belohnung) untergraben werden kann.<br />

� Experiment: Versuchskinder spielen ein Mathespiel, nachdem es<br />

vorübergehend belohnt wurde, weniger häufig als vor der Belohnungsphase.<br />

Die intrinsische Motivation scheint also durch die Belohnung vermindert zu<br />

werden.<br />

� Der Korrumpierungseffekt ist sehr umstritten: Tatsächlich ist er nicht<br />

verallgemeinerbar, sondern tritt nur unter bestimmten Bedingungen auf.<br />

Nämlich, 1) wenn die Belohnung zu offensichtlich als eine Form der<br />

Kontrolle eingesetzt wird und 2) wenn sie nicht leistungskontingent, sondern<br />

aufgabenkontingent erfolgt.<br />

� Die Internalisierung ursprünglich extrinsisch motivierter Handlungsziele erfolgt nach<br />

Ceci und Ryan in 3 Schritten; der Prozess wird dabei von denselben Bedürfnissen<br />

angetrieben wie die intrinsische Motivation (Kompetenz und Selbstbestimmung). Als<br />

3. Bedürfnis tritt hier jedoch das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit hinzu!<br />

0. Externale Regulation (Vorstufe)<br />

� Handlungen werden nur ausgeführt, um eine Belohnung zu erhalten oder<br />

eine Bestrafung zu vermeiden; Ort der Verursachung: rein external<br />

1. Introjektion<br />

� Handlungen werden auf „inneren Druck“ hin ausgeführt, „weil es sich so<br />

gehört“. Externale Handlungsziele werden internalisiert, ohne sich jedoch<br />

mit ihnen zu identifizieren; Ort der Verursachung: immer noch external<br />

2. Identifikation<br />

� Handlungen werden ausgeführt, weil man sie selbst für wichtig hält, aber<br />

ohne Freude an ihnen zu haben. Externale Handlungsziele werden als die<br />

eigenen akzeptiert; Ort der Verursachung: internal<br />

3. Integration<br />

� Handlungsziele werden dauerhaft und konsistent in das Selbstkonzeot<br />

integriert.<br />

� Der entscheidende Unterschied zwischen den verschiedenen Stufen extrinsischer<br />

Handlungsregulation liegt somit im Grad der erlebten Selbstbestimmung!<br />

C) Flow-Theorie (Csikszentmihalyi & Schiefele)<br />

� Intrinsisch motivierte Tätigkeiten gehen oft mit einer ganz bestimmten Erlebensweise<br />

einher, dem sog. „Flow“-Erleben. Man versteht darunter das Gefühl, völlig in einer<br />

Tätigkeit (Schreiben, musizieren etc.) aufzugehen.<br />

� Die wichtigsten Kennzeichen eines Flow-Zustandes:<br />

� Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein<br />

� Zentrierung der Aufmerksamkeit auf die momentane Tätigkeit<br />

� Selbstvergessenheit<br />

� Gefühl der Kontrolle über Handlung und Umwelt<br />

� Die wichtigsten Bedingungen eines Flow-Zustandes:<br />

� Passung von Fähigkeit und Handlungsanforderung<br />

� Eindeutigkeit der Handlungsstruktur (klare Ziele)<br />

� Im Flow-Zustand ist der Mensch in höchstem Maße leistungsfähig.<br />

� Flow-Theorie und Selbstbestimmungstheorie schließen sich keineswegs aus, sofern<br />

der Reiz des Flow-Zustandes zu einem hohen Maß darin besteht, sich als kompetent<br />

zu erleben (Kompetenzbedürfnis).<br />

29


� Schneider: Die Selbstbestimmungstheorie befasst sich mit den letztgültigen<br />

Ursachen intrinisisch motivierten Verhaltens (basic needs), die Flow-Theorie<br />

mit den unmittelbaren Ursachen solchen Verhaltens (Erlebnisqualität).<br />

D) Die Stage-Environment-Fit-Theorie (Eccles et al.)<br />

� Empirischer Befund: Verschiedene Längsschnittstudien (so z.B. LOGIK und<br />

SCHOLASTIK) zeigen, dass die Motivation und Lernfreude im Lauf der Schulzeit<br />

sukzessive abnimmt.<br />

� Dieser Prozess beginnt bereits in der Grundschule, ein regelrechter Einbruch<br />

findet dann beim Übergang von der 6. zur 7. Klasse statt. Besonders betroffen<br />

sind die naturwissenschaftlichen Fächer (außer Biologie) und Mathematik.<br />

� Einschränkung: Die Analyse intraindividueller Entwicklungsverläufe zeigt,<br />

dass dieser negative Entwicklungstrend lediglich für 20-30% der Schüler<br />

zutrifft; die Mehrheit der Schüler zeigt keine signifikanten Veränderungen,<br />

was Motivation und Lernfreude betrifft (Fend: Konstanzer Längsschnittstudie)<br />

� Ein möglicher Erklärungsansatz: Pubertät führt zu einer Differenzierung<br />

persönlicher Interessen<br />

� Die „Stage-Environment-Fit-Theorie“ (ECCLES et al.) führt das Absinken der<br />

(intrinsischen) Lernmotivation v.a. auf eine sich im Lauf der Schulzeit<br />

verschlechternde Passung zwischen den Bedürfnissen der Schüler und den<br />

Kontextbedingungen der Schüler zurück.<br />

� Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird im Laufe der Schulzeit zunehmend<br />

formeller; dementsprechend erfahren ältere Schüler durchschnittlich weniger<br />

emotionale Unterstützung und Zuwendung als jüngere Schüler. Hinzu kommt<br />

eine Verschärfung der Wettbewerbssituation durch eine zunehmend sozial<br />

ausgerichtete Bezugsnormorientierung<br />

� Dem Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit wird zunehmend weniger<br />

entsprochen!<br />

� Die Ansprüche steigen; die Notenpraxis wird strenger und die Noten<br />

dementsprechend schlechter.<br />

� Widerspruch zum Bedürfnis nach Kompetenz<br />

� Zunehmende Lehrerzentrierung<br />

� Widerspruch zum Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung.<br />

� FAZIT: Mangelnde Passung zwischen den Bedürfnisse der Schüler und den<br />

schulischen Bedingungen führt zum Absinken der Lernmotivation!<br />

30


6. Das Rubikon-Modell: Motivation vs. Volition<br />

� Das Rubikon-Modell von Heckhausen und Gollwitzer ist eine Theorie zur<br />

Handlungskontrolle; es befasst sich mit den psychologischen Prozessen, die nach der<br />

Zielsetzung (s.o.) zur Zielerreichung beitragen und ein bestimmtes Ziel gegen<br />

konkurrierende Ziele abschirmen.<br />

� Handlungsphasen: Heckhausen & Gollwitzer gehen von 4 Handlungsphasen aus. Am<br />

Anfang einer jeden Handlung steht ein Bedürfnis oder Wunsch (z.B. etw. für die<br />

körperliche Fitness zu tun).<br />

1. Vorentscheidungsphase (prädezisional):<br />

a) Die sog. Vorentscheidungsphase dient der Intentionsbildung. Dabei<br />

werden die verschiedenen Handlungsalternativen bezüglich ihres Wertes<br />

und ihrer Erfolgserwartung* gegeneinander abgewogen (z.B. joggen,<br />

Fußball, Tanzkurs,…).<br />

* Erwartung x Wert (s.o.): Ist die Handlungsalternative realisierbar<br />

(Erwartung) und ist sie attraktiv (Wert)?!<br />

b) Am Ende dieser Phase steht ein Entschluss (Fazittendenz): Aus dem<br />

allgemeinen Wunsch (etw. für die körperliche Fitness zu tun) ist eine<br />

konkrete Handlungsabsicht (Zielintention) geworden (Fußball spielen)<br />

� Überschreitung des Rubikons!<br />

2. Vorhandlungsphase (präaktional):<br />

a) Die Vorhandlungsphase dient der Erstellung eines Handlungsplans; es<br />

geht also um die Erwägung konkreter Umsetzungsmöglichkeiten (Wo, wie<br />

und wann wird Fußball gespielt?).<br />

b) Fiattendenz: Am Ende dieser Phase steht ein Plan bzw. ein konkreter<br />

Vorsatz (Implementierungsintention), der festlegt, wie und wann die<br />

Handlung realisiert werden soll.<br />

3. Handlungsphase (aktional):<br />

a) Die Handlungsphase dient der Ausführung des Handlungsplans, der<br />

dabei fortwährend mit den aktuellen Gegebenheiten verglichen wird.<br />

b) Am Ende dieser Phase steht der Abschluss der Handlung, im idealen Fall<br />

bedeutet das zugleich die Erreichung des Ziels (fit zu sein).<br />

4. Nachhandlungsphase (postaktional):<br />

a) Die Nachhandlungsphase dient der Bewertung des Erreichten. Es geht<br />

also darum, für sich zu entscheiden, ob die Handlung erfolgreich war oder<br />

nicht.<br />

b) Am Ende dieser Phase steht evtl. eine Neubewertung der ursprünglichen<br />

Handlungsalternativen oder gar der eigenen Standards. (Rudern statt<br />

Fußball? Oder ist Erfolg im Studium doch wichtiger als körperliche<br />

Fitness?!)<br />

� Bewusstseinslagen: Die verschiedenen Phasen zeichnen sich durch unterschiedliche<br />

Bewusstseinslagen aus.<br />

� Die motivationale Bewusstseinslage: Zur motivationalen Bewusstseinslage<br />

gehören die Vorentscheidungs- und Nachhandlungsphase: Zielsetzung!<br />

� Um eine möglichst breite Vielfalt von Handlungsalternativen erfassen zu<br />

können, ist diese Bewusstseinlage durch Offenheit und Objektivität<br />

gekennzeichnet.<br />

� Es gilt, möglichst viele Informationen aufzunehmen und sie möglichst<br />

objektiv bezüglich ihres Wertes und der Erfolgserwartung zu bewerten<br />

(realitätsorientierte Informationsverarbeitung).<br />

31


� Die volitionale Bewusstseinslage: Zur volitionalen Bewusstseinslage gehören<br />

die Vorhandlungs- und die Handlungsphase: Initiierung und<br />

Aufrechterhaltung des Handelns!<br />

� In dieser Bewusstseinslage wird die Aufmerksamkeit auf die konkrete<br />

Absicht, deren Umsetzung und Ausführung fokussiert.<br />

� Es gilt, sich nicht durch andere Handlungsabsichten ablenken zu lassen<br />

und die Konzentration ganz auf zielrelevante Infos und Reize zu richten.<br />

� Realisierungsorientierte, statt realitätsorientierte Informationsverarbeitung,<br />

d.h. man ist weitaus optimistischer und blendet negative<br />

Rückmeldungen z.T. aus, um sich bei der Umsetzung nicht entmutigen zu<br />

lassen.<br />

7. Volitionale und emotionale Prozesse<br />

� Volitionale Prozesse kontrollieren kognitive, motivationale und emotionale Prozesse<br />

und sorgen so für die Initiierung und Aufrechterhaltung (Persistenz) einer<br />

Handlung.<br />

� Sofern auch kognitive Prozesse volitional kontrolliert werden, steht das<br />

Konzept in engem Zusammenhang zur Metakognition.<br />

� JULIUS KUHL unterscheidet verschiedene Arten von Strategien, die ein Lernender<br />

mit günstigen volitionalen Voraussetzungen einsetzen kann.<br />

1. Aufmerksamkeitskontrolle (das Ausblenden von Infos, die absichtswidrige<br />

Motivationstendenzen stärken)<br />

2. Enkodierungskontrolle (Fokussierung auf zielrelevante Informationen)<br />

3. Motivationskontrolle (Steigerung der eigenen Motivation, die beabsichtigte<br />

Handlung auszuführen durch Betonung zielkongruenter Anreize)<br />

4. Emotionskontrolle (Beeinflussung der eigenen Gefühlslage zur Steigerung<br />

der Handlungseffizienz)<br />

5. Misserfolgs- bzw. Aktivierungskontrolle (Verdrängung von Misserfolgen<br />

und Abstandnehmen von unerreichbaren Zielen)<br />

6. Initiierungskontrolle (Vermeidung übermäßig langen Abwägens von<br />

Handlungsalternativen)<br />

7. Umweltkontrolle (Vermeidung äußerer Ablenkung)<br />

� Kuhl unterscheidet zwischen Lageorientierung und Handlungsorientierung: Dabei<br />

handelt es sich einerseits um situationsbedingte Einstellungen (ähnlich den<br />

Bewusstseinslagen im Rubikon-Modell), andererseits um überdauernde<br />

Persönlichkeitseigenschaften (messbar mit dem Fragebogen HAKEMP).<br />

� Lageorientierung: ist gekennzeichnet durch die langsame Verarbeitung<br />

negativer Emotionen und leichte Ablenkbarkeit (anstatt sich auf die Aufgabe<br />

zu konzentrieren, denkt man an vergangene Misserfolge und mögliche<br />

Probleme); weist Parallelen zum Phänomen der „gerlernten Hilflosigkeit“ auf.<br />

� Das volitionale Pendant zur Misserfolgsängstlichkeit auf motivationaler<br />

Ebene<br />

� Handlungsorientierung: ist gekennzeichnet durch eine schnelle<br />

Handlungsinitiierung und rasche Affektregulation (Misserfolgserlebnisse<br />

werden zur Seite geschoben, um sich ganz der Aufgabe widmen zu können)<br />

� Das volitionale Pendent zur Erfolgszuversicht auf motivationaler Ebene<br />

� Emotionen haben Einfluss auf kognitive Prozesse:<br />

� Gordon Bower: Wissen ist in Form von assoziativen Netzwerken im<br />

Gedächtnis gespeichert; Emotionen sind Bestandteil dieses Netzwerks und mit<br />

kongruenten Inhalten verknüpft. Daraus folgt, dass in einem bestimmten<br />

32


emotionalen Zustand bestimmte, zu der jeweiligen Emotion passende Inhalte<br />

leichter ins Bewusstsein gerufen werden als andere.<br />

� State-dependent Recall (Zustand beim Lernen = Zustand beim Erinnern)<br />

� Mood-congruent Recall (Valenz des Inhalts = Stimmung beim Erinnern)<br />

� Mood-congruent Encoding (Stimmung beim Lernen = Valenz des<br />

Lernstoffs)<br />

� Stimmungskongruente Urteile<br />

� Im Hinblick auf Lernprozesse sind 3 Sorten von Emos zu unterscheiden:<br />

� Positive Emotionen (wie Lernfreude, leistungsbezogene Hoffnungen<br />

oder Stolz) � wirken sich günstig auf intrinsische Motivation aus<br />

� Aktivierend negative Emotionen (wie Ärger oder Angst) � können die<br />

physische und psychische Handlungsbereitschaft (und damit die Nutzung<br />

von Lernstrategien) stimulieren; reduzieren aber zugleich die intrinsische<br />

Motivation und ziehen Teile der Aufmerksamkeit ab<br />

� Desaktivierend negative Emotionen (wie Hoffnungslosigkeit oder<br />

Langeweile) � ziehen Aufmerksamkeit ab und reduzieren intrinsische<br />

Motivation<br />

33


A 5: Lernumwelten und Schulerfolg<br />

1. Allgemeines zur ökologischen Perspektive in der Päd. Psychologie:<br />

� Die ökologische Psychologie untersucht den Einfluss der distalen (also nicht<br />

unmittelbar, sondern vermittelt wirksamen) Rahmenbedingungen auf d. Lernprozess.<br />

� Sie geht zu diesem Zweck nicht analytisch (Fokussierung auf einzelne<br />

Variablen), sondern systemisch vor (ganzheitliche Perspektive).<br />

� Die Erfassung systemischer Zusammenhänge ist kompliziert, da die Einflüsse,<br />

die dabei ins Auge gefasst werden, meist indirekt und nicht zielgerichtet sind.<br />

Darüber sind die betreffenden Faktoren oft subsistuierbar (z.B. reicht es, wenn<br />

ein Elternteil Akademiker ist; der Bildungsstand des 2. Elternteils hat auf das<br />

Lernmilieu nur noch einen geringfügigen Einfluss)<br />

� Zwei Konzepte sind für die ökologische Psychologie besonders bedeutsam:<br />

� Das Konzept des „Behavior settings“ von Barker<br />

� Bronfenbrenners Schema unterschiedlicher Systeme (Mikro-, Meso- und<br />

Makrosystem)<br />

� Im Unterschied zu Bronfenbrenner betrachtet BARKER lediglich die „objektiven“<br />

(physikalischen) Charakteristika der Umwelt, durch die ein bestimmtes Verhalten<br />

nahegelegt wird: Z.B. beeinträchtigt der Lärmpegel in einem Großraumbüro die<br />

Konzentrationsfähigkeit; die Einrichtung einer Eckkneipe lädt zum gemütlichen<br />

Entspannen ein etc. etc. Die objektiven Merkmale einer bestimmten Umwelt und die<br />

durch sie nahe gelegten Verhaltensmuster bilden dabei ein „behavior setting“.<br />

� Kritik: Der Ansatz vernachlässigt psychologische Faktoren!<br />

� Für die Schulforschung bringt er daher nur geringen Nutzen; entgegen der<br />

Annahme vieler Laien, hat sich nämlich gezeigt, dass „objektive“ Merkmale<br />

von Schulen (z.B. Klassengröße, Sitzordnung, Einrichtung der Klassenräume)<br />

nur einen sehr geringen Einfluss auf die Leistung der Schüler haben (s.u.)<br />

� BRONFENBRENNER versteht „Umwelt“ als Geflecht in sich verschachtelter<br />

Subsysteme, die sich gegenseitig beeinflussen. Anders als Barker betont er dabei die<br />

relative Autonomie des Individuums im Umgang mit diesen Systemen (es kommt eben<br />

nicht nur auf die „objektiven“ Umweltmerkmale an, sondern v.a. auf deren<br />

„subjektive“ Interpretation).<br />

� Die verschiedenen Subsysteme, in denen sich der Einzelne bewegt (z.B.<br />

Familie, Schule, Nation), lassen sich nach Bronfenbrenner 3 Ebenen zuordnen:<br />

1. Mikroebene: unmittelbare Lebensumwelt (Familie, Klasse, Vereine)<br />

2. Mesoebene: alle Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen, auf<br />

der Mikroebene relevanten Subsystemen, wobei auch sog. „Exosysteme“<br />

einzubeziehen sind.<br />

� Exosysteme sind Mikrosysteme, die Einfluss auf ein Individuum<br />

haben, ohne dass es ihnen angehört (z.B. das berufliche Umfeld der<br />

Eltern)<br />

3. Makroebene: ist die Ebene, die die beiden anderen Ebenen umgreift;<br />

man könnte auch von „kultureller Ebene“ sprechen (z.B. das deutsche<br />

Schulsystem)<br />

� Die Makroebene rückt im Rahmen internationaler Vergleichsstudien<br />

in den Blick! Erst seit PISA wird sie genauer untersucht<br />

34


� Methodisches:<br />

� Es sind 2 Arten von Kontextvariablen zu unterscheiden:<br />

1. Analytische Variablen: werden aus den Individualvariablen der Elemente<br />

eines Clusters gewonnen; z.B. der mittere IQ einer Klasse oder die<br />

Streuung der IQ-Werte innerhalb einer Klasse<br />

2. Strukturelle Variablen: genuine Variablen eines Clusters; z.B. das<br />

Geschlecht der Lehrkraft<br />

� Hierarchische „Nestung“ der Variablen: Die Schüler einer Klasse / einer<br />

Schule / eines Landes dürfen streng genommen nicht als unabhängige<br />

Beobachtungseinheiten betrachtet werden (s.o.), da sie dem Einfluss derselben<br />

Kontextvariablen ausgesetzt sind.<br />

� Die statistische Methode: Mehrebenenanalyse!<br />

� „Genestete Datenstrukturen“ sind ferner dadurch gekennzeichnet, dass<br />

gefundene Zusammenhänge oft indirekt-, also durch weitere Variablen<br />

vermittelt sind (=Mediation; Konfundierung) oder durch den Einfluss<br />

anderer Variablen verändert werden (=Moderation).<br />

� Die statistische Methode: Pfadanalysen<br />

� Wo keine experimentelle Variation stattfindet, sind keine Kausalitätsaussagen<br />

möglich!<br />

� „Ökologischer Fehlschluss“: Von Zusammenhängen auf einer höheren<br />

Aggregatsebene darf nicht auf Wirkmechanismen einer darunter liegenden<br />

Ebene geschlossen werden.<br />

� Z.B. zeigt die 3. Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie<br />

(TIMMS), dass der Mathematikunterricht in Japan effektiver ist als der in<br />

Deutschland und dass Unterschiede im Unterrichtsstil bestehen; daraus zu<br />

schließen, die Leistungsunterschiede seien eine Folge des Unterrichtsstils<br />

wäre jedoch verfehlt, da zw. Japan und Deutschland eine Vielzahl weiterer<br />

Unterschiede bestehen, die ebenfalls für die Leistungsunterschiede<br />

verantwortlich sein könnten.<br />

2. Einfluss der Familie<br />

� Die Familie gilt als die wichtigste außerschulische Einflussgröße; der familiäre<br />

Einfluss auf die Schulleistung ist dabei durch folgende Faktoren vermittelt:<br />

1. Genetische Einflüsse:<br />

� Zum einen sind Intelligenz und Persönlichkeit des Lerners zu großen<br />

Teilen direkt genetisch bedingt.<br />

� Zum anderen schaffen Eltern eine der eigenen Disposition entsprechende<br />

Umwelt.<br />

2. Status- und Strukturvariablen:<br />

� Soziale Schichtzugehörigkeit; Familienkonstellation (Anzahl der<br />

Geschwister, Verhältnis der Eltern etc.); Beruf der Eltern<br />

� PISA 2000 hat gezeigt, dass der Zusammenhang zw. sozialer Herkunft und<br />

Schulleistung in Deutschland besonders hoch ist: die Schichtzugehörigkeit<br />

klärt bei der Leseleistung 13%, bei der mathematischen Kompetenz 14%<br />

der Varianz auf; die Leseleistung von Kindern der untersten Schicht ist<br />

durchschnittlich um eine Standardabweichung schlechter als die<br />

Leseleistung von Kindern der obersten Schicht!!<br />

� Diese Befunde werden durch andere Studien (PISA 2003 etc.) bestätigt;<br />

die IGLU-Studie zeigt, dass der Effekt bereits in der Grundschule gegeben<br />

ist; hier aber noch nicht so stark ausfällt wie in der Sekundarstufe.<br />

35


3. Prozessmerkmale der Elternverhaltens:<br />

� Stimulation (durch eine anregende und aktivierende Umwelt)<br />

� Instruktion (Hilfe bei den Hausaufgaben, „Nachhilfe“ etc.)<br />

- kann in kompensatorischem, konkurrierendem oder kooperativen<br />

Verhältnis zum schulischen Unterricht stehen; ist also nicht<br />

zwangsläufig positiv<br />

� Motivation (durch Leistungserwartungen, das Vorgeben von<br />

Anspruchsniveaus, Sanktionen (Lob und Tadel), Einschätzung der<br />

Kompetenz ihrer Kinder)<br />

� Modellfunktion (z.B. was die Attribution von Erfolg/Misserfolg betrifft<br />

oder den Umgang mit Leistungssituationen betrifft)<br />

� Fazit: Der Einfluss des Elternhauses auf die Schulleistung wirkt vermittelt über<br />

kognitive, motivationale und emotionale Schülermerkmale.<br />

3. Allgemeines zum Einfluss der Schule<br />

� Hat schulischer Unterricht überhaupt einen Einfluss auf die Lern- und<br />

Leistungsentwicklung der Schüler – oder hängt diese Entwicklung ausschließlich an<br />

außerschulischen Faktoren?!<br />

� Der vielbeachtete Coleman-Report (1972) zeigte, dass die Schulleistung nur<br />

zu einem sehr geringen Anteil auf Variablen der Schulorganisation und<br />

Unterrichtsführung zurückzuführen ist, sondern primär von der sozialen<br />

Herkunft der Schüler anhängt. Auch Lehrer sind oft erschreckend skeptisch,<br />

was die Wirkung ihres Unterrichts betrifft.<br />

� Nach Weinert muss jedoch differenziert werden:<br />

a) Was die Vermittlung von Wissen und Können betrifft, ist schulischer<br />

Unterricht hoch wirksam und unbedingt notwendig.<br />

b) Was den Ausgleich von Kompetenzunterschieden betrifft, ist Schule<br />

dagegen wenig wirksam.<br />

� Was den Einfluss schulischer Faktoren auf die Leistungsfähigkeit der Schüler betrifft,<br />

muss zwischen 3 Ebenen differenziert werden:<br />

1. Makroebene: Einfluss des Schulsystems u. d. politischen Rahmenbedingungen<br />

2. Mesoebene: Einfluss des Schulklimas<br />

3. Mikroebene: Einfluss des Unterrichts (Schulklasseneffekte)<br />

4. Makroebene: Einfluss der Schulstruktur<br />

� Der School-Effectiveness-Ansatz stellt alle Variablen zusammen, die mit<br />

Schulleistung korrelieren und fragt, anders als der ökologische Ansatz, erst in zweiter<br />

Linie nach den dahinterliegenden psychologischen und institutionellen Mechanismen.<br />

� Trotzdem ist dieser Ansatz gerade für die anwendungsbezogene pädagogische<br />

Psychologie äußerst wichtig. Ein Beispiel für den school-effectiveness ist das<br />

auf gigantischem Datenmaterial beruhende Produktivitätsmodell von Walberg<br />

(s.o.)<br />

� Wichtiger Befund: Die School-Effectiveness-Forschung zeigt, dass die Veränderung<br />

distaler Variablen (durch politisch-schulorganisatorische Reformen) nur geringe<br />

Effekte zeigt; wesentlich wirksamer ist die Veränderung proximaler Variablen<br />

(also solcher Variablen, die unmittelbar den Unterricht oder das familiäre Umfeld der<br />

Schüler betreffen)<br />

� Gründe: 1) Liegt strukturellen Reformen häufig ein ökologischer Fehlschluss<br />

(s.o.) zugrunde 2) Sind makrostrukturelle Maßnahmen nur dann wirksam,<br />

wenn sie auch zu entsprechenden Veränderungen auf den unteren Ebenen<br />

36


führen (Lehrplanänderungen haben nur dann einen positiven Effekt, wenn sie<br />

von den Lehrern auch umgesetzt werden)<br />

� Ein Beispiel für die geringe Wirksamkeit makrostruktureller Maßnahmen ist<br />

die Einführung von Gesamtschulen zur Kompensation sozialer Unterschiede.<br />

Haben doch mehrere Studien gezeigt, dass Gesamtschulen den Einfluss der<br />

sozialen Herkunft keineswegs verringern. Im Gegenteil: Auch hier sind die<br />

Schüler aus gutem Elternhaus durchschnittlich die besseren; die Gründe dafür<br />

sind auf der Meso- und Mikroebene zu suchen:<br />

� Wirksame Erziehungspraktiken<br />

� Regelmäßige Kommunikation über Lerninhalte<br />

� Kontrolle der Hausaufgaben<br />

� Kontakt zu Lehrern<br />

� Fazit: Ist wie in den westlichen Industrieländern ein gewisser Mindeststandard erfüllt,<br />

birgt die Makroebene wenig Veränderungspotential; Veränderungen sollten daher<br />

eher auf der Meso- und Mikroebene ansetzen!<br />

5. Mesoebene: Einfluss des Schulklimas<br />

� Das Schulkima entspricht der Wahrnehmung und Bewertung der Schulumwelt<br />

durch alle Beteiligten.<br />

� Obwohl diese Begriffe vielfach synonym verwendet werden, muss zwischen<br />

dem Schul- und dem Unterrichts- bzw. Klassenklima unterschieden werden.<br />

� Maehr und Midgley (1996): Maßnahmen zur Verbesserung der Schulkultur<br />

(Teamverantwortung, Qualitätszirkel etc.) wirken sich auch positiv auf die<br />

Unterrichtsführung der einzelnen Lehrer aus!<br />

� Zwischen dem Klassenklima und der durchschnittlichen Schülerleistung werden oft<br />

enorm hohe Zusammenhänge berichtet (bis zu 50% Varianzaufklärung!).<br />

� Solche Studien sind jedoch problematisch: Sie beruhen auf dem Vergleich von<br />

Mittelwerten, weshalb weder Aussagen über individuelle Schülerleistungen,<br />

noch Kausalitätszusammenhänge gemacht werden können.<br />

� Selektionseffekte (Brennpunktschulen => schlechtes Klima und schlechte<br />

Leistungen)<br />

� Wechselseitige Beeinflussung von Klima und Leistungsniveau<br />

� Unterrichtsklima korreliert mit r = .14 mit der Leistung<br />

6. Mikroebene: Einfluss des Unterrichts<br />

A) Objektive Merkmale von Schulklassen<br />

� Räumliche Gestaltung, Klassengröße, Sitzordnung<br />

� Räumliche Gestaltung (traditionelle vs. „offene“ Klassenräume): offene<br />

Klassenräume haben zwar günstige Effekte auf das emotionale Erleben der<br />

Schüler, aber keine Auswirkung auf das Leistungsniveau.<br />

� Klassengröße: Anders als oft angenommen, hat die Klassengröße kaum einen<br />

Einfluss auf Persönlichkeits- und Leistungsmerkmale der Schüler; signifikante<br />

Effekte zeigen sich erst bei extrem kleinen Klassen (< 10); was jedoch stimmt,<br />

ist, dass Lehrer mit zunehmender Klassengröße zu direkteren und<br />

restriktiveren Unterrichtsmethoden und einer milderen Leistungsbewertung<br />

neigen; darüber hinaus steigt in kleinen Klassen naturgemäß der Anteil aktiver<br />

Beteiligung.<br />

� Sitzordnung: widersprüchliche Befunde; Jungs und Mädchen sollten nicht in<br />

homogenen Blöcken, sondern möglichst ausgewogen verteilt sitzen (=><br />

Steigerung des aufgabenbezogenen Verhaltens).<br />

37


� Leistungshomogenität<br />

� Studien zur Fachleistungsdifferenzierung: In leistungshomogenen Klassen<br />

werden schwächere Schüler in ihrer Leistungsentwicklung eher benachteiligt!<br />

� Studien zum Ausgleich von Qualifizierung und Egalisierung (s.u.: Helmke)<br />

� Die Schulklasse als komparative Bezugsgruppe:<br />

� Die Klasse ist eine wichtige Bezugsgröße zur Selbsteinschätzung und hat als<br />

solche Einfluss auf die Motivation und Emotionen der einzelnen Schüler.<br />

� Einen massiven Einschnitt stellt der Wechsel von der Grundschule zur<br />

Sekundarstufe dar (leistungsheterogene Gruppe � leistungshomogene<br />

Gruppe)<br />

� Bezugsgruppeneffekte: Relative Unterschätzung bei schwachen<br />

Gymnasiasten; relative Überschätzung bei starken Hauptschülern<br />

� Wohin mit schwachen Schülern? - Leistungshomogene Klassen sind besser<br />

für ihren Selbstwert und die Psychohygiene; Leistungsfortschritte machen sie<br />

aber eher in heterogenen Klassen (s.o.).<br />

� Bei besonders begabten Schülern ist es anders: Sie machen eher in<br />

leistungshomogenen Klassen Fortschritte und ihr psychisches<br />

Wohlbefinden ist von der Klassenzusammensetzung unabhängig.<br />

� Die Schulklasse als normative Bezugsgruppe:<br />

� Schulklassen schaffen Normen, die denen des Lehrers entgegenstehen können<br />

(z.B.: Wer gut ist, ist ein Streber) und sanktionieren deren Nichtbeachtung.<br />

Dadurch wird der Handlungsspielraum des Lehrers eingeschränkt.<br />

B) Merkmale der Unterrichtsgestaltung<br />

� Empirische Untersuchungen zum Einfluss des Unterrichts auf die Schulleistung:<br />

� Klassisches Vorgehen (Prozess-Produkt-Paradigma): Bestimmte<br />

Unterrichtsmerkmale – wie z.B. der Führungsstil, die Instruktionsform<br />

(kooperatives Lernen, „learning for mastery“, reziproke Instruktion etc.) oder<br />

subjektive Theorien des Lehrers – als Prädiktoren für Schulleistung.<br />

� Ergebnis: Quantität und Qualität des Unterrichts haben zwar einen<br />

Einfluss, dieser ist jedoch wesentlich geringer als der der kognitiven<br />

Eingangsvoraussetzungen (Intelligenz und Vorwissen)<br />

� Neuere Ansätze (ATI): fassen nicht nur einzelne Unterrichtsmerkmale,<br />

sondern auch deren Wechselwirkung ins Auge.<br />

� Multikriteriale Wirksamkeit: Unterricht verfolgt unterschiedliche, z.T.<br />

gegenläufige Ziele (kognitiv, emotional, sozial etc.); zu definieren, was<br />

„guter“ Unterricht ist, ist vor diesem Hintergrund kaum möglich. Z.B.<br />

fördert aufgabenorientierter Unterricht mit intensiver Zeitnutzung zwar die<br />

Leistungen (Ziel A), führt aber längerfristig zu einem Abfall der<br />

Lernfreude (Ziel B).<br />

� Wechselseitige Kompensierbarkeit: Der Vergleich sog. „Optimalklassen“<br />

(s.u.) zeigt, dass diese, was die Lehrmethoden betrifft, oft große<br />

Unterschiede aufweisen => Wechselseitige Kompensierbarkeit und<br />

Subsistuierbarkeit einzelner Qualitätsmerkmale und Lehrerkompetenzen.<br />

� Systemischer Charakter des Unterrichts und seiner Effekte: Die Qualität<br />

des Unterrichts und das Leistungsniveau einer Klasse beeinflussen sich<br />

wechselseitig; sprich: vor guten Schülern fällt es leichter, guten Unterricht<br />

zu halten, als vor schlechten.<br />

� Kontextspezifität: Die Wirkung einzelner Faktoren ist klassen- und<br />

altersspezifisch. So ist z.B. Leistungsangst in der Hauptschule nur dann<br />

leistungsbeeinträchtigend, wenn die Zeitnutzung intensiv und der<br />

38


Unterricht unstrukturiert ist; in Grundschulen nur dann, wenn das<br />

Klassenklima und die affektive Beziehung zum Lehrer schlecht sind (Vgl.<br />

Münchener Studien)<br />

� „Optimalklassen“ sind nach HELMKE Klassen, in denen die durchschnittliche<br />

Leistung relativ hoch-, die Leistungsstreuung dagegen verhältnismäßig gering ist, in<br />

denen es also gelingt, das Leistungsniveau aller zu steigern (Qualifizierung) und<br />

gleichzeitig die Leistungsunterschiede zu verringern (Egalisierung).<br />

� Helmke untersuchte auf Basis der Münchener Hauptschulstudie 39<br />

5.Klassen. In Abhängigkeit vom durchschnittlichen Leistungsniveau und der<br />

Leistungsstreuung (erhoben zu Beginn und am Ende des Schuljahres), ordnete<br />

er sie einer von 4 Gruppen zu (hohe Qualifizierung + hohe Egalisierung; hohe<br />

Qualifizierung + geringe Egalisierung; …) und verglich die so erhaltenen<br />

Typen hinsichtlich ihres Unterrichtsstils.<br />

� Ergebnisse:<br />

� Leistungsegalisierender Unterricht geht meist auf Kosten der höher<br />

Begabten, und zwar ohne dass die weniger Begabten davon profitieren<br />

würden; die Egalisierung erfolgt also über eine Senkung des allgemeinen<br />

Leistungsniveaus („Downgrading“)<br />

� Wie die „Optimalklassen“ zeigen, scheint eine Kombination von<br />

Qualifizierung und Egalisierung jedoch trotzdem möglich zu sein.<br />

Optimalklassen zeichnen sich zwar oft durch bestimmte Merkmale (wie<br />

hohe Adaptivität, klare Instruktionen, Lehrstoffzentrierung, hohe<br />

Ansprüche, kein Zeitdruck etc.) aus; es gibt jedoch nicht die eine Methode.<br />

Stattdessen kann das Ziel, Qualifizierung und Egalisierung miteinander zu<br />

verknüpfen, offenbar auf verschiedene Weise erreicht werden.<br />

� Motivationsförderung: Eine soziale Bezugsnormorientierung wirkt auf die Dauer<br />

eher demotivierend, da sie zu einem ungünstigen Attributionsmuster führt (da sich an<br />

der Klassenverteilung nichts ändert, werden die eigenen Leistungen nicht auf<br />

Anstrengung, sondern auf zeitstabile Faktoren zurückgeführt)<br />

� Ability-Formation-Theorie: Der Unterrichtsstil des Lehrers (Art der<br />

Rückmeldung und Bezugsnormorientierung etc.) hat erheblichen Einfluss auf<br />

die Häufigkeit und Bedeutsamkeit sozialer Vergleichsprozesse im Unterricht.<br />

� Motivierend wirken: eine nicht-kompetitive Klassenatmosphäre, kooperative<br />

Arbeitsformen, eine individuelle Bezugsnorm mit entsprechendem Feedback;<br />

günstige Attributionen, Angebot möglichst vielfältiger Erfolgsfelder etc.<br />

� Die langfristige Leistungsentwicklung und die Förderung schulischen Selbstvertrauens<br />

hängen von jeweils unterschiedlichen Faktoren ab:<br />

� Leistungsentwicklung:<br />

� Hohes Anforderungsniveau<br />

� Individuelle Hilfestellung<br />

� Klarheit der Instruktion<br />

� Hohe Lehrstofforientierung<br />

� Effiziente Klassenführung<br />

� Förderung schulischen Selbstvertrauens:<br />

� Verständlichkeit des Unterrichts<br />

� Individuelle Leistungsrückmeldung<br />

� Positives Klassenklima etc.<br />

39


A 6: Schule im internationalen Vergleich (siehe auch: B 8)<br />

1. Forschungsgeschichte<br />

� Ziel von „Schulsystemvergleichen“ ist es, empirisch fundierte Erkenntnisse über die<br />

Effektivität schulischer Bildung in einem Land oder einer Schulform zu gewinnen, um<br />

auf diese Weise Ansatzpunkte für bildungspolitische Maßnahmen zu gewinnen<br />

(Qualitätsentwicklung).<br />

� Die wichtigsten Träger internationaler Vergleichsstudien sind:<br />

� International Association for the Evaluation of Educational<br />

Achievement (IEA):<br />

- FIMS (1964); SIMS (1980-82), TIMSS (1994/95)<br />

- Anfang der 70er: 6-Fächer-Studie (FISS); SISS<br />

- IGLU (2001)<br />

� Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD):<br />

- PISA (2000, 2003, 2006)<br />

� Produktivitätsparadigma (ca. 1960-1985): Verglichen werden die Leistungswerte,<br />

genauer: die Prozentsätze gelöster Aufgaben, und bestimmte Inputmerkmale (System-<br />

oder Organisationsmerkmale wie z.B. Schulform); die Aufgabenschwierigkeiten (zur<br />

Ermittlung von Kompetenzniveaus) und Besonderheiten des Lernprozesses bleiben<br />

dagegen unberücksichtigt.<br />

� Daraus ergeben sich folgende Probleme:<br />

1. Es sind keine inhaltlichen Aussagen über die erzielten Lernstände<br />

möglich; es können also auch keine Kompetenzniveaus ermittelt werden.<br />

Streng genommen setzt der einfache Vergleich von Prozentsätzen nämlich<br />

voraus, dass die verwendeten Aufgaben alle gleich schwierig sind.<br />

2. Da keine Prozessdaten zum Unterrichtsgeschehen erhoben werden, bleibt<br />

der Erklärungsabstand zwischen Prädiktoren (Systemmerkmale) und<br />

Kriterium (Schulleistung) beträchtlich.<br />

� Kriterumsorientierte Interpretation der Befunde (ca. 1985-2000): basiert auf der<br />

„Item response Theory“; dabei werden einander die beiden Parameter<br />

„Personenfähigkeit“ und „Aufgabenschwierigkeit“ gegenübergestellt und ausgehend<br />

von diesen beiden Größen für alle Aufgaben Lösungswahrscheinlichkeiten ermittelt.<br />

� Daraus ergeben sich mehrere Vorteile:<br />

1. Die erzielten Lernstände sind inhaltlich interpretierbar; die ermittelten<br />

Aufgabenschwierigkeiten lassen sich nämlich zu hierarchischen<br />

Kompetenzstufen zusammenfassen. Letztere wiederum können als Basis<br />

für die Formulierung von Bildungsstandards dienen.<br />

2. Die verwendeten Parameter (Personenfähigkeit, Aufgabenschwierigkeit)<br />

sind intervallskaliert und können daher in standardisierte Werte<br />

transformiert werden (bei TIMMS und PISA: internationaler Durchschnitt<br />

der Personenfähigkeit: 500; Standardabweichung: 100)<br />

� Die Ergebnisse von Tests, die auf eine bestimmte Altersgruppe<br />

zugeschnitten sind, können vergleichbar gemacht werden<br />

� Die Personen × Item-Matrix muss nicht vollständig sein; es können<br />

also auch die Ergebnisse von Tests miteinander verglichen werden,<br />

deren Items sich nur teilweise überschneiden.<br />

� Das wiederum ermöglicht „rotierte Testformen“ (bessere<br />

Abdeckung der untersuchten Anforderungsbereiche bei vertretbarer<br />

Testbelastung für den einzelnen Probanden)<br />

40


� Gegenwärtige Tendenzen (seit 2000):<br />

� Tendenz, möglichst viele Hintergrundinformationen in das Messmodell<br />

aufzunehmen (u.a. zur besseren Bestimmung von Stichprobenfehlern auf<br />

Populationsebene)<br />

� Zunehmende Berücksichtigung von Eingangsvoraussetzungen und<br />

Prozessverläufen (also eine längsschnittliche Perspektive);<br />

� Multikriteriale Systemvergleiche und Erschließung neuer<br />

Kompetenzbereiche (z.B. Geschichte, politische Bildung etc.)<br />

� Mehrkomponentenansatz: Erweiterung der breiten Überblicksstudien um<br />

zusätzliche Untersuchungskomponenten (insbes. Erhebung von<br />

Prozessmerkmalen des Unterrichts)<br />

� Ein Beispiel hierfür ist der intensivierte Ländervergleich zw.<br />

Deutschland, Japan und den USA im Rahmen der TIMS-Studie, sofern<br />

hier Videoanalysen und Fallstudien in den Vergleich mit aufgenommen<br />

wurden.<br />

� Grundsätzlich gilt, dass nicht nur die Mittelwerte eines Merkmals verglichen werden<br />

sollten, sondern auch dessen Verteilungen! Mögliche Darstellungsformen:<br />

� Häufigkeitsverteilungen (geben Auskunft über den Mittelwert und die<br />

Streuung)<br />

� Sog. „Ertragskurven“ („yield curves“): Angefangen bei der<br />

niedrigstmöglichen und endend bei der höchstmöglichen Merkmalsausprägung<br />

werden die Anteile derjenigen aufgetragen, die jeweils mindestens einen<br />

konkreten Wert x erreicht haben.<br />

� Die ausgefüllte Fläche entspricht damit dem empirisch erreichten Ertrag,<br />

anteilig bezogen auf das theoretische Maximum (das erreicht wäre, wenn<br />

die gesamte Fläche des Diagramms ausgefüllt wäre)<br />

� Perzentilbänder: zeigen die Messwerte an, die ein bestimmter Prozentsatz der<br />

Stichprobe (5%, 25%,…) höchstens erreicht hat.<br />

� Unterschiede werden durch Verschiebungen nach links oder rechts auf<br />

der Merkmalsachse und durch die Länge der Bänder bzw. ihrer<br />

Teilabschnitte deutlich.<br />

2. Methodische Probleme<br />

� Transkulturelle (curriculare) Validität: Internationale Schulleistungsvergleiche<br />

setzen vergleichbare Bildungsstandards voraus. Es dürfen daher nur solche<br />

Testaufgaben verwendet werden, die Bestandteil der verschiedenen Curricula sind.<br />

� Um die Fairness zu wahren, hat dem eigentlichen Leistungsvergleich immer<br />

ein Vergleich der Lehrpläne vorauszugehen!<br />

� Prinzipiell gilt, dass gerade für die Naturwissenschaften und das Fach<br />

Mathematik große Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Ländern<br />

bestehen.<br />

� Transkulturelle Äquivalenz: Die Aufgabenschwierigkeiten müssen äquivalent sein;<br />

die Aufgaben müssen also länderübergreifend eine vergleichbare<br />

Lösungswahrscheinlichkeit haben. Dieses Problem wird besonders virulent bei der<br />

Übersetzung von Aufgaben zum Leseverständnis.<br />

� Anhand der PISA-2000-Daten konnte gezeigt werden, dass Schüler bei<br />

textbasierten Aufgaben bessere Leistungen erzielten, wenn diese aus ihrem<br />

Herkunftsland stammten.<br />

� Geprüft wird die transkulturelle Äquivalenz mit Analysen zum „Differential<br />

Item Functioning“; gewährleistet wird sie durch sensible Übersetzungen und<br />

eine möglichst multikulturelle Zusammenstellung der Aufgaben.<br />

41


� Populationsdefinition und Stichprobenziehung: Aufgrund der unterschiedlichen<br />

Schulsysteme ist es schwierig, eine Untersuchungspopulation zu definieren, die für<br />

alle Teilnehmerstaaten eindeutig und inhaltlich sinnvoll ist.<br />

� Grundsätzlich lassen sich diesbezüglich 2 Vorgehensweisen unterscheiden:<br />

1. Festlegung der Population nach dem Lebensalter<br />

2. Festlegung der Population nach dem Schulalter, also nach der<br />

Zugehörigkeit zu einer bestimmten Jahrgangsstufe<br />

� Welche Vorgehensweise sinnvoller ist, hängt von der Wissensdomäne ab,<br />

genauer: davon, wie sehr der Wissenserwerb in dieser Domäne von<br />

schulischen Lerngelegenheiten abhängig ist.<br />

� Wird die Lesekompetenz überprüft, bietet sich - zumindest in höheren<br />

Jahrgangsstufen (nicht in der Grundschule!) - das Lebensalter an, sofern in<br />

diesem Bereich auch außerschulische Lerngelegenheiten eine wichtige<br />

Rolle spielen. Bei der Erhebung mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />

Wissens ist es umgekehrt.<br />

� PISA liegt eine lebensalterbasierte Populationsdefinition zugrunde (s.u.:<br />

getestet wurden 15-jährige); TIMSS eine klassenbasierte Definition.<br />

� Testmotivation: Gibt es kulturelle Unterschiede in der Testmotivation?!<br />

� Ist nicht prinzipiell auszuschließen. Baumert und Demmrich (2001) konnten<br />

jedoch experimentell nachweisen, dass die Teilnahme an internationalen<br />

Studien zumindest in Deutschland nicht weniger motivierend wirkt als Noten<br />

oder finanzielle Belohnungen. An mangelnder Motivation können die<br />

unterdurchschnittlichen Leistungen dt. Schüler in der PISA-Studie also nicht<br />

gelegen haben.<br />

� Vertrautheit mit Tests: Gibt es kulturelle Unterschiede in der Vertrautheit mit<br />

standardisierten Leistungstests?<br />

� Es konnte gezeigt werden, dass die Leistungen in Leistungstests durch die<br />

gezielte Vorbereitung auf solche Tests verbessert werden können (gilt insb. für<br />

mathematische Aufgaben).<br />

� Inwiefern länderspezifische Unterschiede in der Vertrautheit mit Tests<br />

bestehen, ist jedoch offen.<br />

� Wichtig ist die standardisierte Durchführung von Schultests!<br />

� Die Aufgabenkonstruktion in den neueren internationalen Schulleistungstests beruht<br />

auf dem Grundbildungs- bzw. Literacy-Konzept. Abgefragt wird weniger<br />

„Schulwissen“ (wie es in den Lehrplänen festgehalten ist) als vielmehr<br />

„Anwendungswissen“! Literalität bzw. Grundwissen ermöglicht der Theorie nach die<br />

Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel.<br />

� Dimensionen mathematischer Literalität („Benchmarks“ = Vergleichsstandards):<br />

� Wertschätzung der Mathematik<br />

� Positives Fähigkeitsselbstkonzept<br />

� Theoretische und praktische Anwendung mathematischen Wissens<br />

� Kommunikation mit Hilfe der Mathematik<br />

� Mathematisches Denken<br />

42


3. Die wichtigsten Studien<br />

� Die 3 wichtigsten internationalen Schulleistungsstudien sind TIMSS, PISA und IGLU.<br />

� TIMSS: Die dritte internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie<br />

� Initiator: IEA (International Association for the Evaluation of Educational<br />

Achievement)<br />

� Durchführungszeit: 1994 und 1995<br />

� Vorläuferstudien: FIMS (1964); SIMS (1980-82)<br />

� 3 Untersuchungskohorten: 3.und 4. Jahrgangsstufe / 7. und 8. Jahrgangsstufe /<br />

Schüler im letzten Ausbildungs- oder Gymnasialjahr<br />

� Durch die TIMMS wurde in Deutschland die systematische Evaluation von<br />

Bildungsprozessen eingeleitet („empirische Wende“)<br />

� PISA: Programme for International Student Assessment<br />

� Initiator: OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und<br />

Entwicklung)<br />

� Durchführungszeit: seit 2000 alle 3 Jahre<br />

� PISA 2000: Schwerpunkt Leseverständnis [+ selbstreguliertes Lernen]<br />

� PISA 2003: Schwerpunkt Mathematik [+ allg. Problemlösefähigkeiten]<br />

� PISA 2006: Schwerpunkt Naturwissenschaften<br />

� Untersuchungskohorte: 15-jährige Schüler (überwiegend 9. Jahrgangsstufe)<br />

� IGLU: Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung<br />

� Initiator: IEA (International Association for the Evaluation of Educational<br />

Achievement)<br />

� Durchführungszeit: 2001<br />

� Untersuchungskohorte: Schüler/innen der 4. Jahrgangsstufe<br />

� Geprüft wurde Leseverständnis, Orthographie, Mathematik, Naturwissenschaften<br />

4. Die wichtigsten Ergebnisse:<br />

� TIMSS: Deutschland liegt unterhalb des internationalen Durchschnitts; Defizite<br />

insbesondere was die praktische Anwendung mathematischen Wissens betrifft; Keine<br />

Folge geringerer Unterrichtszeit; Kumulative Defizite<br />

� PISA: Deutschland liegt in allen 3 Kompetenzbereichen unterhalb des internationalen<br />

Durchschnitts (PISA-Schock!); über 20% der 15-jährigen verfügt lediglich über<br />

mangelhafte Lesekompetenz (Risikogruppe); hohe Streubreite der Leistungen; in<br />

kaum einem anderen Land ist die Leistung so stark von der sozialen Herkunft<br />

abhängig wie in Deutschland (Chancenungleichheit!); deutschlandintern schneiden<br />

Bayern und Baden-Württemberg noch am besten ab; Lehrer erkennen lediglich 10%<br />

der extrem leseschwachen Schüler (schlechte diagnostische Fähigkeiten)<br />

� IGLU: Wesentlich bessere Ergebnisse => Ergo: Deutsche Grundschulen sind<br />

effizienter als die weiterführenden Schulen (Sekundarstufe I und II)<br />

� Deutung: Die gefundenen Leistungsunterschiede zwischen den Ländern hängen nur<br />

unwesentlich mit den unterschiedlichen Fachcurricula oder Verwaltungs- und<br />

Organisationsformen zusammen. Als erklärende Faktoren kommen vielmehr in Frage:<br />

� Kulturelle Differenzen in der Wertschätzung von Bildung und die damit<br />

verbundenen Unterschiede in der Investitions- und Anstrengungsbereitschaft<br />

� Kulturelle Unterschiede in der gesellschaftlichen Akzeptanz und<br />

Wertschätzung einzelner Wissensgebiete und Schulfächer<br />

� Qualitative Unterschiede in der Gestaltung der Lehr-Lern-Prozesse<br />

43


A 7: Basiskompetenzen: Lesen, Schreiben, Mathematik<br />

1. Mathematische Kompetenz<br />

� Mathematische Kompetenz (nach dem Literacy-Ansatz): ist die Fähigkeit, die Rolle<br />

von Mathematik in Alltagssituationen zu erkennen, fundierte mathematische Urteile<br />

abzugeben (d.h. Alltagssituationen mathematisch zu modellieren) und Mathematik<br />

so zu verwenden, dass eine konstruktive gesellschaftliche Teilhabe unterstützt wird.<br />

� Die Fähigkeit Alltagssituationen mathematisch zu modellieren wird meist anhand von<br />

Textaufgaben untersucht:<br />

� Ältere Modelle, wie das STUDENT-Modell von Bobrow, beschreiben das<br />

Lösen von Textaufgaben als direkte Übersetzung gegebener Informationen in<br />

Zahlenwerte und Rechenoperationen.<br />

� Neuere Modelle betrachten das Lösen von Textaufgaben dagegen als zyklischen<br />

Ablauf, im Zuge dessen schrittweise zwischen realer (=Situation in der Aufgabe)<br />

und mathematischer Welt vermittelt wird.<br />

…strukturieren …mathematisiseren …verarbeiten …interpretieren<br />

� Das Realmodell ist eine mentale Repräsentation der vorliegenden Situation;<br />

es in ein mathematisches Modell zu überführen (Mathematisierung bzw.<br />

mathematische Modellierung) ist der entscheidende Prozess der<br />

mathematischen Begriffsbildung.<br />

� Die Verarbeitung des mathematischen Modells, d.h. die Anwendung<br />

entsprechender Rechenoperationen, wird auch als innermathematisches<br />

Modellieren bezeichnet.<br />

� Abschließend wird das gefundene Ergebnis auf die Ausgangssituation<br />

bezogen (Validierung); sollte es nicht plausibel sein, wird der Prozess<br />

erneut durchlaufen.<br />

� Modelle zum mathematischen Modellieren sind freilich Idealisierungen, in der<br />

Realität wird der Prozess vielfach durch einfache Heuristiken abgekürzt:<br />

� Insbesondere die Plausibilitätsprüfung in Bezug auf die situationale<br />

Einkleidung der Aufgabe (=Validierung) wird oft weggelassen.<br />

� Beispiel: „Um 10 Personen zu transportieren, werden 2 ½ (?!) PKWs<br />

benötigt.“<br />

� Erklärung: Der Realitätsbezug der Aufgaben wird von den Schülern und<br />

Lehrern (!) leider meist als sekundär betrachtet.<br />

� Auch der Prozess des Mathematisierens wird oft abgekürzt, indem anhand von<br />

Oberflächenmerkmalen (Schlüsselwörter etc.) das verlangte Schema erschlossen<br />

wird, in das dann nur noch die relevanten Zahlen eingesetzt werden müssen.<br />

� Fishbeins Theorie der primitiven Modelle besagt, dass jede mathematische<br />

Operation auf einer primitiven, impliziten Modellvorstellung beruht, die den<br />

Lösungsprozess von Textaufgaben beeinflusst.<br />

� Multiplikationen liegt z.B. zunächst das einfache Modell der wiederholten<br />

Addition zugrunde. Diese Vorstellung begünstigt zwar die Lösung mancher<br />

Aufgaben (z.B. „3 Mädels bekommen jeweils 4 Bonbons“ => Wie viele<br />

Bonbons?), erschwert aber die Lösung anderer (z.B. Ein Mädel hat 4 Pullis und<br />

5 Hosen“ => Wie viele Kombinationen?); die Modelle müssen daher immer<br />

wieder umstrukturiert werden.<br />

44


� Der Modelling-Ansatz: betrachtet mathematische Kompetenz als die Fähigkeit,<br />

Situationswissen in mathematische Konzepte zu überführen; im Zentrum des<br />

Mathematikunterrichts sollte dementsprechend der Prozess des Mathematisierens<br />

stehen. Das erfordert v. a. Textaufgaben, die nicht nach Rezept gelöst werden können,<br />

sondern komplexe Situationsbeschreibungen enthalten (Modellierungsaufgaben).<br />

� Dass der Prozess der Mathematisierung keineswegs automatisch abläuft, ist<br />

vielfach belegt:<br />

� Textaufgaben werden im Vergleich zu strukturidentischen mathematischen<br />

Aufgaben um bis zu 30% schlechter gelöst.<br />

� Dabei führen bereits geringe Unterschiede in der Aufgabenformulierung zu<br />

Unterschieden in der Aufgabenschwierigkeit.<br />

� 2 Arten von Mathematisierung lassen sich unterscheiden:<br />

a) Horizontales Mathematisieren: Reduktion einer Alltagssituation auf ihre<br />

mathematische Struktur<br />

b) Vertikale Mathematisierung: Weiterverarbeitung der mathematischen<br />

Struktur im Prozess des innermathematischen Modellierens<br />

� Der didaktische Ansatz der „Realistic Mathematics Education“ (Freudenthal):<br />

Damit mathematisches Wissen kein oberflächliches Anwendungswissen bleibt, muss<br />

von der Realität ausgegangen werden; mathematische Modelle und Operationen<br />

erschließen sich nämlich erst, wenn sie an erfahrbare Phänomene zurückgebunden<br />

werden.<br />

� Daraus folgt, dass mathematische Modelle nicht auswendig gelernt-, sondern in<br />

der Auseinandersetzung mit realen Problemen entwickelt werden sollten<br />

(„guided reinvention“).<br />

� Zur Rolle externer Repräsentationen für das mathematische Verständnis:<br />

� Externe Repräsentationen sollen durch ihre strukturelle Ähnlichkeit zur<br />

Problemsituation ein tieferes Verständnis der zugrunde liegenden<br />

mathematischen Strukturen ermöglichen.<br />

� Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, die Nutzung externer<br />

Repräsentationen erfolge im Gegensatz zur mathematischen Modellbildung<br />

völlig problemlos. Im Gegenteil: Externe Repräsentationen können nur dann<br />

genutzt werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden mathematischen<br />

Strukturen, deren Verständnis durch sie ja erst gefördert werden soll, bereits<br />

verstanden werden (Lernparadox). Kurz: Das Verständnis externer<br />

Repräsentationen und die Entwicklung mathematischer Begriffe<br />

beeinflussen sich wechselseitig.<br />

2. Lesekompetenz<br />

� Kein anderer Lernbereich ist in den ersten Schuljahren so bedeutsam wie die<br />

Schriftsprache; schließlich bildet sie die Voraussetzung für eine aktive und<br />

selbständige Wissensaneignung.<br />

� Basics zur deutschen Schriftsprache:<br />

� Die deutsche Schrift gehört zu den phonographischen bzw. alphabetischen<br />

Schriften, da das wichtigste Orthographieprinzip der deutschen Schriftsprache<br />

das phonographische Prinzip, also die Korrespondenz zwischen Phonemen<br />

(nicht: Lauten!) und Graphemen ist.<br />

� Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden lautlichen<br />

Einheiten einer Sprache: im Dt. z.B. das lange und das kurze /e/ (wegen<br />

[be:t] und [bεt])<br />

� Grapheme sind Buchstaben () bzw. Buchstabengruppen (), die<br />

mit den Phonemen korrespondieren.<br />

45


� Die Beziehung zwischen Phonemen und Graphemen ist jedoch nicht<br />

eindeutig; ein gegebenes Graphem kann also mit mehreren Phonemen<br />

korrespondieren (z.B. mit /e/ und /e:/), so wie umgekehrt ein Phonem<br />

durch mehrere Grapheme verschriftlicht werden kann (z.B. /f/ durch , <br />

und ).<br />

� Da es mehr Grapheme als Phoneme gibt, ist dabei die Anzahl der<br />

Phonem-Alternativen für ein gegebenes Graphem insgesamt geringer als<br />

die Anzahl der Graphem-Alternativen für ein Phonem.<br />

� Ein weiteres wichtiges Orthographieprinzip ist das morphematische, also die<br />

Gleichschreibung stammverwandter Wörter (z.B. trotz [hant], wegen<br />

dem in )<br />

� Die Psychologie trägt zum Lernbereich Lesen folgendes bei:<br />

1. Lernpsychologische und/oder entwicklungspsychologische Befunde zur<br />

Begründung bestimmter Methoden des Erstleseunterrichts<br />

2. Evaluation unterschiedlicher Methoden des Erstlese- und Schreibunterrichts<br />

3. Entwicklung von Lesetests zur objektiven Erfassung der Lesekompetenz<br />

4. Problem der Leseschwäche unter diagnostischer, therapeutischer und<br />

präventiver Aufgabenstellung<br />

� Kognitionspsychologische Modelle: befassen sich v.a. mit der Wortidentifikation,<br />

da die dafür notwendigen Prozesse sich am meisten vom Hören unterscheiden und<br />

damit in besonderem Maße lesespezifisch sind.<br />

� 3 Arten von Modellen können unterschieden werden:<br />

a) Top-Down-Modelle: gehen davon aus, dass bei der Worterkennung nicht<br />

nur graphemische Informationen, sondern v.a. der syntaktische und<br />

semantische Kontext des betreffenden Worts genutzt werden (Lesen als<br />

Überprüfung kontextgeleiteter Hypothesen)<br />

b) Bottom-Up-Modelle: beschreiben die Wortidentifikation dagegen als<br />

systematischen Aufbau von der Buchstaben- zur Wortebene und stellen<br />

damit die Verarbeitung der graphemischen Informationen in den<br />

Vordergrund.<br />

c) Interaktive Modelle: verstehen Lesen als Wechselspiel von Top-Down-<br />

und Bottom-Up-Prozessen.<br />

� Die Befunde stützen am ehesten die interaktiven Modelle: Geübte Leser<br />

werden durch einen unpassenden Kontext kaum behindert, Anfänger dagegen<br />

schon; die kontextgeleitete Hypothesenbildung scheint demnach v. a. eine<br />

kompensatorische Funktion zu haben.<br />

� Das Zwei-Wege-Modell von Coltheart (Bottom-Up-Modell) unterscheidet<br />

zwischen einem direkten und einem indirekten Weg der Worterkennung.<br />

� Beim direkten Weg werden die Wörter, sofern sie im inneren<br />

orthographischen Lexikon gespeichert sind, anhand ihrer graphischen<br />

Merkmale unmittelbar wiedererkannt.<br />

� Beim indirekten Weg erfolgt die Wortidentifikation dagegen über die<br />

Synthese der den Graphemen entsprechenden Phoneme (phonologische<br />

Umkodierung und „phonological assembly“).<br />

� Im Verlauf der Grundschulzeit gewinnt der direkte Weg (aufgrund des<br />

anwachsenden „semantischen Lexikons“) zunehmend an Bedeutung,<br />

während der indirekte Weg an Bedeutung verliert.<br />

� Die Annahme, dass die beiden Wege unabhängig voneinander sind<br />

(„horse-race model“), gilt heute jedoch als überholt: die beiden Prozesse<br />

beeinflussen sich vielmehr wechselseitig; sprich: die lexikalische<br />

46


Wiedererkennung ist von der Synthese der Phoneme und diese wiederum<br />

von lexikalischen Faktoren abhängig.<br />

� Interactive-Activation-Model (McClelland et al.): Buchstaben- und<br />

Wortebene aktivieren und inhibieren sich wechselseitig; schon vor Beendigung<br />

der Buchstabenanalyse wird also eine Vielzahl potenzieller Wörter aktiviert,<br />

die die weitere Buchstabenidentifikation beeinflussen.<br />

� Höhere Lesestrategien (beim Lesen von Sätzen und Texten): Die<br />

Verarbeitung von Sätzen bzw. Texten ist nicht lesespezifisch, sondern<br />

entspricht der Verarbeitung gesprochener Sprache (die Leistungen beim<br />

Verstehen gesprochener und geschriebener Sprache sind daher bei<br />

Erwachsenen recht ähnlich).<br />

� Wörter müssen bis zum Ende des Satzes im KZG gespeichert werden, da<br />

erst dann die endgültige Entschlüsselung ihrer Bedeutung erfolgen kann.<br />

� Was von einem Text behalten wird, hängt von der Selbst- bzw.<br />

Fremdinstruktion ab; i.d.R. werden dabei nicht konkrete Wörter, sondern<br />

Bedeutungen gespeichert.<br />

� Entwicklungspsychologische Modelle:<br />

� Die klassischen Stufenmodelle zur Entwicklung der Lesekompetenz (Marsh,<br />

Frith, Seymour) gehen von 3 Entwicklungsphasen aus, die sich, sofern ihnen<br />

je eigene Lesestrategien entsprechen, qualitativ voneinander unterscheiden.<br />

1) Logographisches Lesen: Die Worterkennung bzw. -wiedererkennung<br />

erfolgt direkt – und zwar anhand visueller Oberflächenmerkmale und<br />

einzelner Buchstaben sowie unter Berücksichtigung des Darbietungskontexts.<br />

„Gelesen“ werden können demnach nur zuvor gelernte Wörter!<br />

2) Alphabetisches, synthetisierendes Lesen: Sequentielles Erlesen von<br />

Wörtern auf Basis von Graphemen oder sogar Buchstaben; lexikalische<br />

Identifikation des Wortes oft erst nach dessen vollständiger Artikulation.<br />

3) 3. Stufe wird unterschiedlich beschrieben.<br />

- „Orthographische Strategie“ (Frith): Direkter Zugriff auf ein immer<br />

größer werdendes orthographisches Lexikon und simultane Erfassung<br />

und Verarbeitung immer größerer Worteinheiten (Silben etc.)<br />

- „Hierarchisches Decodieren“ (Marsh): Berücksichtigung<br />

orthographischer Regeln und Anwendung lexikalischer Analogien.<br />

� Neuere Ergebnisse zur Entwicklung von Lesestrategien:<br />

1) Das Erkennen von Symbolen: Die Fähigkeit, Symbole zu erkennen (z.B.<br />

Firmenlogos) ist eine Vorstufe des logographischen Lesens, die sich bereits<br />

im Vorschulalter entwickelt.<br />

2) Logographisches, „ganzheitliches“ Lesen: s.o.; die Strategie ist am<br />

Anfang durchaus sinnvoll; stößt aber mit zunehmender Größe des<br />

Lesewortschatzes schnell an ihre Grenzen<br />

3) „Phonological cue Reading“ und „assoziatives Lesen“: sind<br />

Übergangsstrategien; das Vorgehen ist dabei zwar nach wie vor<br />

überwiegend lexikalisch-logographisch; zumindest vereinzelt werden aber<br />

bereits phonologische Infos (Phoneme zu einigen wenigen Graphemen) in<br />

die Worterkennung einbezogen.<br />

4) Alphabetisches, synthetisierendes Lesen: s.o.;<br />

5) Silbengliederung und die Nutzung suprasegmentaler orthographischer<br />

Strukturen: Erkannt werden Silbengrenzen (notwendig, da die Phoneme<br />

einer Silbe eine lautliche Einheit bilden und daher zusammengesprochen<br />

werden müssen) und Strukturen zur Bezeichnung der Vokallänge bzw. –<br />

kürze.<br />

47


6) Automatisierung: Erst die Automatisierung der Teilprozesse ermöglicht es,<br />

die Aufmerksamkeit vornehmlich auf den Inhalt des Textes zu richten.<br />

7) Bedeutung der metakognitiven Entwicklung für das Lesenlernen:<br />

� Phonologische Bewusstheit (Erkennen von sprachlichen Einheiten)<br />

� Der Erwerb und gezielte Einsatz höherer Lesestrategien (z.B.<br />

„comprehension monitoring“ während des Lesens)<br />

8) Entwicklung des Leseverständnisses: Kann flüssig gelesen werden (2./3.<br />

Schuljahr), wird das Leseverständnis zunehmend von leseunspezifischen<br />

kognitiven Leistungen wie Wortschatz und Weltwissen bestimmt.<br />

� Unterscheidung zw. Lesefertigkeit und Leseverständnis: Die beiden<br />

Komponenten sind zwar nicht unabhängig voneinander, sind aber auch<br />

nicht besonders eng miteinander korreliert!<br />

� Implikationen für den Erstleseunterricht:<br />

� Lesenlernen ist ein Entwicklungsprozess mit wechselnden Strategien, die<br />

ihrerseits nicht an das chronologische Alter gebunden sind. � Forderung nach<br />

offenem Erstleseunterricht, der dem Einzelnen, wenn nötig, mehr Zeit gibt.<br />

� Analytisch-synthetische Verfahren sind notwendig, um ein Gespür für die<br />

Schriftsprache zu entwickeln: Indirekte, lautorientierte Lesestrategien dürfen<br />

daher nicht als Manko betrachtet werden, sondern sind zu fördern!<br />

� Geplante Lesestrategien (z.B. die SQR3-Methode) fördern das Verstehen und<br />

Behalten von Texten<br />

3. Rechtschreiben<br />

� Rechtschreibforschung führt im Gegensatz zur Leseforschung noch immer ein<br />

Schattendasein; und das, obwohl Rechtschreibfähigkeit einer der wichtigsten<br />

Prädiktoren für späteren Schulerfolg ist.<br />

� Rechtschreibprobleme ergeben sich aus der uneindeutigen Zuordnung von<br />

Graphemen und Lauten bzw. Phonemen.<br />

� Lesen vs. Schreiben: Grundsätzliche Prozessunterschiede<br />

� Früher: Lesen und Schreiben wurden lange Zeit als komplementäre Prozesse<br />

betrachtet („Generierungs-Wiedererkennungs-Schleife“), deren Beherrschung<br />

letztlich dieselben Kompetenzen erfordert: nämlich die richtige Zuordnung von<br />

Buchstaben zu Lauten (Lesen) bzw. von Lauten zu Buchstaben (Schreiben).<br />

� Heute: wird davon ausgegangen, dass sich Schreibprozesse in mehrerer<br />

Hinsicht vom Lesen unterscheiden.<br />

� Schon rein logisch ist Schreiben schwieriger als Lesen:<br />

1. Ist die Anzahl von Phonem-Alternativen für ein gegebenes Graphem<br />

(Lesen) geringer als die Anzahl der Graphem-Alternativen für ein<br />

bestimmtes Phonem (Schreiben).<br />

2. Finden beim Lesen lediglich Wiedererkennungsprozesse statt<br />

(Recognition), während beim Schreiben die serielle Reproduktion der<br />

Buchstabensequenzen erforderlich ist (Recall).<br />

� Empirischer Beleg: Bei LR-schwachen Schülern besteht zwischen Lese-<br />

und Rechtschreibleistung lediglich eine Korrelation von r =.33<br />

� Produktorientierte Forschung: Determinanten der Rechtschreibleistung<br />

� Der Versuch, ausgehend von verschiedenen Fehlerarten (Regelverstöße,<br />

unterbliebene Analogiebildung, Schwächen bei der Speicherungsfähigkeit von<br />

Wortbildern etc.) auf spezifische psychische Funktionen zu schließen,<br />

scheitert:<br />

� Hohe Interkorrelationen zwischen den verschiedenen Fehlerarten<br />

48


� Gute und schlechte Schreiber unterscheiden sich v.a. durch das Ausmaß,<br />

nicht aber durch die Eigenart ihrer Fehler.<br />

� Immerhin kann gesagt werden, dass sprachliche Fähigkeiten und bestimmte<br />

Komponenten des Gedächtnisses (verbales KZG etc.) und der Intelligenz für<br />

die Rechtschreibleistung von großer Bedeutung sind; wobei sich die<br />

Gewichtung der einzelnen Determinanten im Laufe der<br />

Rechtschreibentwicklung zu ändern scheint.<br />

� Ein Funktionsmodell des Rechtschreibens (von SIMON & SIMON):<br />

� Simon und Simon gehen davon aus, dass der Rechtschreibprozess im<br />

wesentlichen auf 2 Speichersystemen aufbaut:<br />

1. Der Speicherung von Phonem-Graphem-Entsprechungen<br />

2. Der Speicherung von optischen Wortbildern bzw. Buchstabenfolgen<br />

� Ausgehend davon beschreiben sie den Rechtschreibvorgang als einen<br />

Produktions- und Vergleichsprozess („generate-and-test-procedure“):<br />

Zunächst wird für jedes Phonem ein Graphem aus der Reihe der verfügbaren<br />

Phonem-Graphem-Korrespondenzen eingesetzt. Anschließend wird das so<br />

entstandene orthographische Bild an den Wortbildspeicher weitergegeben und<br />

mit den dort verfügbaren Infos verglichen.<br />

� Praktischer Nutzen: Das Modell verdeutlicht den Stellenwert, den der<br />

Bekanntheitsgrad eines Wortes einnimmt.<br />

� Kritik: Zumindest was das Aufschreiben orthographisch nicht direkt<br />

verfügbarer Wörter betrifft, ist das Modell überzeugend. Dass die aufwendigen<br />

Produktions-Vergleichs-Schleifen aber auch bei orthographisch verfügbaren<br />

Wörtern ablaufen, ist eher unwahrscheinlich.<br />

� Zur Relevanz visueller und phonologischer Strategien beim Zugriff auf das<br />

semantische Lexikon:<br />

� Lediglich schlechte Rechtschreiber arbeiten fast ausschließlich mit<br />

phonologischen Strategien (die bei Unregelmäßigkeiten natürlich versagen);<br />

gute Rechtschreiber verwenden dagegen eine Kombination aus phonologischen<br />

und visuell-orthographischen Prozeduren (Gute Regelkenntnis reicht also nicht<br />

aus!).<br />

� Durch schriftliche Vorlagen wird die Anwendung visueller Strategien<br />

perfektioniert.<br />

� Entwicklungspsychologische Modelle zum Schriftspracherwerb:<br />

� Früher ging man von einer Hierarchie von Teilleistungen aus, die beim Lesen<br />

und Schreiben zusammenwirken und separat diagnostiziert werden können<br />

(additive Komponentenmodelle)<br />

� Heute geht man dagegen von qualitativ unterscheidbaren Entwicklungsstufen<br />

aus, wobei davon ausgegangen wird, dass bereits in der Vorschule wichtige<br />

Grundlagen für den Schriftspracherwerb gelegt werden (Prozessmodelle).<br />

� Grundannahme: Durch den probierenden Umgang mit Schrift wächst die<br />

Einsicht in ihre Funktion und Logik; bereits vorschulischen<br />

Auseinandersetzungen mit der Schriftsprache kommt daher eine große<br />

Bedeutung zu!<br />

� Das dominierende Modell ist heute das „Developemental spelling“-Modell;<br />

es geht davon aus, dass die Orthographie nicht passiv „gespeichert“, sondern<br />

anhand verschiedener Strategien, die sich im Lauf der Zeit ändern,<br />

rekonstruiert wird. Die Entwicklung verläuft dabei in folgenden 5 Stufen:<br />

1. Präkommunikatives Stadium: Kindergartenkinder experimentieren mit<br />

sprachlichen Symbolen; zwar sind bereits einige Buchstaben bekannt, die<br />

49


Kinder sind jedoch noch nicht in der Lage, die Phonem-Graphem-<br />

Korrespondenzregeln zu nutzen.<br />

2. Semiphonetische Stufe (1. und 2. Klasse): Kinder erwerben grundlegende<br />

Kenntnisse und Fertigkeiten; sie lernen, dass Schreibungen von links nach<br />

rechts erfolgen und bestimmte Buchstaben bestimmten Lauten zuzuordnen<br />

sind; Schreibversuche sind noch unvollständig und gehen selten über 3 bis<br />

4 Buchstaben hinaus.<br />

3. Phonetische Stufe (3. und 4. Klasse): erweitertes Verständnis für<br />

Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln; aber noch keine völlige<br />

Beherrschung der orthographischen Konventionen<br />

4. Übergangsstufe (5. und 6. Klasse): bessere Kenntnis der<br />

Rechtschreibregeln; Gespür für standardmäßige Schreibung; neben den<br />

phonologischen Prozeduren werden zunehmend visuelle<br />

Rechtschreibstrategien verwendet (Korrekturlesen)<br />

5. Kompetenzstufe: Umfangreiches Wissen über die Struktur von Wörtern<br />

und Phonem-Graphem-Korrespondenzen; Falschschreibungen werden<br />

daran erkannt, dass Wort „nicht richtig aussieht“<br />

� Kritik am „Developmental spelling“-Modell (Goswami): Bereits<br />

Rechtschreibnovizen benutzen verschiedene Strategien und greifen auf<br />

unterschiedliche Wissensquellen zurück; außerdem: mangelnde empirische<br />

Überprüfung<br />

� Praktische Anwendung des Modells: Das didaktische Konzept des „Invented<br />

spelling“ (Gentry) geht davon aus, dass es in der Anfangszeit fast nur darauf<br />

ankommt, Schreibaktivitäten zu fördern; die Beachtung der orthographischen<br />

Regeln wird dagegen, zumindest während der ersten Entwicklungsstufen, als<br />

sekundär betrachtet, da sich die fehlerfreie Schreibung, so die Annahme, im 5.<br />

Stadium von selbst einstellt!<br />

� Problem: Die Wirksamkeit des Ansatzes ist empirisch kaum belegt.<br />

� Längsschnittstudien zur frühen Vorhersage von Lese-Rechtschreibleistungen:<br />

� Werden bereits im Vorschulalter erhobene Variablen (wie Intelligenz,<br />

phonologische Bewusstheit etc.) zur späteren Leseleistung in Bezug gesetzt,<br />

erweisen sich v.a. die versch. Komponenten der „phonologischen<br />

Informationsverarbeitung“ als vorhersagekräftig; dazu zählen…<br />

a) Die phonologische Bewusstheit (im weiteren und engeren Sinn): Die<br />

Fähigkeit, sich von der Bedeutung der Sprache lösen zu können und sich<br />

ihrer Struktur zuzuwenden.<br />

b) Das phonologische bzw. phonetische Rekodieren im KZG: Die<br />

Fähigkeit, Lautfolgen im Arbeitsspeicher bereitzuhalten (=Kapazität des<br />

verbalen KZG)<br />

c) Das phonologische Rekodieren beim Zugriff auf das semantische<br />

Lexikon: Die Fähigkeit, im LZG gespeicherte sprachliche Infos möglichst<br />

schnell abrufen zu können.<br />

� Komplex angelegte Längsschnittstudien wie die Münchener<br />

Längsschnittstudie LOGIK zeigen:<br />

a) Dass die verschiedenen Bereiche phonologischer Informationsverarbeitung<br />

eine wichtige Rolle beim späteren Schriftspracherwerb haben.<br />

b) Dass zwischen diesen Bereichen z.T. beträchtliche Korrelationen bestehen<br />

(etwa zwischen Indikatoren des KZG und der phonologischen Bewusstheit)<br />

50


c) Dass die Prognosequalität der verschiedenen Komponenten vom jeweiligen<br />

Kriterium abhängt:<br />

- Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn korreliert z.B. stärker mit<br />

Rechtschrift, phonologische Bewusstheit im engeren Sinn dagegen<br />

stärker mit der Lesefertigkeit.<br />

- Insgesamt scheint phonologische Bewusstheit für die spätere<br />

Lesekompetenz wichtiger zu sein als für die Rechtschreibung, während<br />

für die Prognose des Rechtschreibens Indikatoren des<br />

Arbeitsgedächtnisses und der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit<br />

eine größere Rolle spielen.<br />

� Wie der Zusammenhang zwischen phonologischer Bewusstheit und Lese-<br />

Rechtschreibkompetenz zu interpretieren ist, d.h. ob die phonologische Bewusstheit<br />

eine Voraussetzung oder eine Folge des Lesens und Schreibens ist, ist umstritten.<br />

� Mögliche Lösung: Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn ist<br />

Voraussetzung, phonologische Bewusstheit im engeren Sinn eine Folge des<br />

Schriftspracherwerbs.<br />

� Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn meint das generelle<br />

Vermögen, unabhängig von der Bedeutung eines Wortes auf seine<br />

phonologischen Merkmale zu achten (Grundlage für Reimerkennung);<br />

dabei werden zunächst lediglich größere Einheiten wie Silben erkannt.<br />

� Phonologische Bewusstheit im engeren Sinn (auch: phonemische<br />

Bewusstheit) umfasst die Phonemanalyse und -synthese, sie zielt also nicht<br />

mehr nur auf die größeren, sondern auch auf die kleineren Segmente der<br />

gesprochenen Sprache und setzt meist erste Erfahrungen mit dem Alphabet<br />

voraus.<br />

� Trainingsstudien zeigen, dass sich phonologische Bewusstheit trainieren lässt,<br />

und dass solche Trainings auch dann effektiv sind, wenn keine Kenntnisse des<br />

alphabetischen Prinzips vorliegen.<br />

� Training erfolgt z.B. durch Reimaufgaben, Silbenklatschen, Silben-<br />

Zusammenziehen, Phonemdifferenzierung.<br />

4. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten<br />

A) Eingrenzung des Phänomens und mögliche diagnostische Gruppierungen<br />

� Veraltete Einteilung nach RANSCHBURG (1916):<br />

� Infantile Wortblindheit: liegt bei extremer Leseschwäche vor, genauer: bei<br />

Kindern, die trotz ausreichender Intelligenz allenfalls einfache, einsilbige<br />

Wörter lesen können und selbst mit spezieller Förderung kaum Fortschritte<br />

erzielen.<br />

� Extrem selten<br />

� Legasthenie: Erhebliche, aber weitaus weniger extreme Rückständigkeit im<br />

Lesen und Schreiben, unabhängig (!) von der Intelligenz (keine<br />

Diskrepanzdefinition!)<br />

� Einteilung nach LINDNER (1951):<br />

� Allgemeine Lese-Rechtschreibschwäche (L-R-Schwäche) : Überbegriff<br />

� Legasthenie (auch: L-R-Störung): Spezialform der Lese-<br />

Rechtschreibschwäche („specific reading disability“), die dann vorliegt, wenn<br />

die schlechten Lese- und Rechtschreibleistungen in Diskrepanz zur Intelligenz<br />

stehen, die Intelligenz also intakt oder sogar hoch ist (Diskrepanzdefinition).<br />

51


� Definition: „Eine spezielle aus dem Rahmen der der übrigen Leistungen<br />

fallende Schwäche im Erlernen des Lesens bei sonst intakter oder relativ<br />

guter Intelligenz.“ (Lindner)<br />

� Diagnose: Vergleich der Lese-Rechtschreibleistungen (Prozentrang <<br />

15) mit dem Wert in einem sprachfreien Intelligenztests und Ausschluss<br />

folgender Punkte:<br />

- Störungen der peripheren Sinnesorgane<br />

- Sonstige körperliche Behinderungen<br />

- Mangelnde Übung (infolge von Krankheit und Fehlstunden)<br />

- Sprach- und Schulwechsel<br />

- Ungewöhnliche Schulumstände<br />

- Schlechte Schulmethoden<br />

- Offensichtlich gestörte Lehrer-Schüler-Beziehung<br />

� Kritik an der Diskrepanzdefinition: Die unterschiedliche Behandlung von<br />

Legasthenikern und allgemein lese-rechtschreibschwachen Schülern ist a) ethisch<br />

bedenklich (schließlich haben alle das gleiche Recht auf Förderung) und<br />

b) theoretisch kaum gerechtfertigt.<br />

� Zwischen Intelligenz und Lese-Rechtsschreibleistung besteht ohnehin nur eine<br />

mittelhohe Korrelation (r =.4 bis .5), eine Diskrepanz zwischen beidem ist<br />

daher durchaus im Rahmen des „Normalen“ und keineswegs erwartungswidrig.<br />

� Dem entspricht, dass intelligente und weniger intelligente Lese-<br />

Rechtschreibschwache große Übereinstimmungen in den Symptomen<br />

aufweisen und ähnlich auf Behandlung reagieren.<br />

� Die Diagnose von Legasthenie, sofern sie lediglich auf dem Vergleich zweier<br />

Testwerte beruht, hängt stark von den verwendeten Tests ab und ist sie zeitlich<br />

sehr instabil.<br />

� Neurologische Auffälligkeiten werden eher bei „retarded readers“ als bei<br />

Legasthenikern gefunden, was gegen den Krankheitswert der „specific reading<br />

disability“ spricht.<br />

� Trotz der berechtigten Kritik an der Diskrepanzdefinition wird sie sie in der<br />

pädagogisch-psychologischen Praxis nach wie vor angewandt (siehe: B1).<br />

� Immerhin: Zumindest in der Forschung wird Legasthenie heute meist in einem<br />

weiteren Sinn verstanden und dementsprechend nicht mehr von der<br />

allgemeinen Lese-Rechtschreib-Schwäche unterschieden (� „Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten“)<br />

� Eine interessante Alternative zur gängigen Definition stammt von Stanovich,<br />

der das Leseverständnis nicht zur Intelligenz, sondern zum Verstehen<br />

gesprochener Sprache in Beziehung setzt.<br />

� Zum Ausmaß des Problems:<br />

� Die ICD-10-Kriterien für eine L-R-Störung (=Legasthenie) erfüllen ca. 2-4%<br />

der Kinder.<br />

� Von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten kann man sprechen, wenn die<br />

Leistung um mehr als eine Standardabweichung unter dem Durchschnitt liegt,<br />

was bei ca. 15% der Fall ist<br />

� Geschlechterverhältnis: Jungen sind dabei weitaus stärker betroffen als<br />

Mädchen: 2,5 : 1 [Interessanter Weise ist dieser Geschlechtsunterschied<br />

bei Legasthenikern noch deutlicher: 7 : 1]<br />

� Meist treten Lese- und Rechtschreibschwäche gekoppelt auf; es gibt aber auch<br />

Rechtschreibprobleme ohne Leseprobleme und, wenn auch noch seltener,<br />

Leseprobleme ohne Rechtschreibprobleme.<br />

52


B) Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche<br />

� Methodische Probleme bei der Ursachenforschung:<br />

� Das häufigste Forschungsparadigma ist der Vergleich von Extremgruppen,<br />

also der Vergleich von guten und schlechten Lesern. Parallelisiert werden diese<br />

Gruppen entweder nach dem Alter oder einer bestimmten<br />

Merkmalsausprägung (z.B. verbale Intelligenz).<br />

� Problem: Parallelisiert man nach dem Alter, treten in fast allen erhobenen<br />

Merkmalen (Wortschatz etc.) Unterschiede auf, ohne dass gesagt werden<br />

kann, ob diese eine Ursache oder eine Folge der Lese-<br />

Rechtschreibschwäche sind. Parallelisiert man nach einem Merkmal<br />

werden nicht repräsentative Gruppen verglichen.<br />

� Besser ist daher das Lesealtervergleich-Paradigma, bei dem die<br />

Vergleichsgruppen nach ihrem Lesealter parallelisiert werden. Finden sich<br />

beim Vergleich zwischen guten bzw. durchschnittlichen jüngeren und<br />

unterdurchschnittlichen älteren Lesern Unterschiede in kognitiven<br />

Teilleistungen, sind diese als spezifische Probleme der Leseschwachen zu<br />

interpretieren, da sie nicht auf die bisherige Leseerfahrung zurückgeführt<br />

werden können.<br />

� Einige sichere Ergebnisse zu den Symptomen:<br />

� LRS-Kinder machen lediglich quantitativ mehr Fehler als gute Rechtschreiber<br />

(qualitative Unterschiede gibt es nicht)<br />

� LRS-Kinder weisen Defizite in der Artikulations- und Lautunterscheidungsfähigkeit<br />

auf, haben einen geringeren Wortschatz und schwächere verbale<br />

Gedächtnisleistungen.<br />

� LRS-Kinder müssen sich schon bei vergleichsweise einfachen<br />

Problemstellungen maximal konzentrieren, da die Verarbeitung von<br />

Buchstabensequenzen noch nicht ausreichend automatisiert ist (EEG-<br />

Untersuchungen)<br />

� Schereneffekt: Die Diskrepanz zu normalen Lesern und Rechtschreibern<br />

vergrößert sich im Lauf der Zeit enorm; was nicht zuletzt auf die Motivationsprobleme<br />

(Sekundärsymptomatik) von LRS-Kindern zurückzuführen ist.<br />

� Dem entspricht, dass Trainingsprogramme umso effektiver sind, je früher<br />

sie ansetzten; die Identifikation von Risikokindern schon in der Vorschule<br />

ist daher enorm wichtig!<br />

� Einige unsichere Ergebnisse zu den Ursachen:<br />

� Neurologische Auffälligkeiten (z.B. die fehlende Asymmetrie zwischen<br />

rechtem und linkem Planum temporale) scheinen zwar eine Rolle zu spielen,<br />

sind aber letztlich weder notwendig, noch hinreichend, um die Symptome zu<br />

erklären.<br />

� Erblichkeit: Es gibt zwar Hinweise, dass phonologische Fähigkeiten vererbt<br />

werden, aber keinen Anlass von der Erblichkeit der LRS auszugehen.<br />

� Störungen der Sinnesorgane: Schlechte Leser machen beim Lesen mehr<br />

Regressionen (Rechts-links-Sprünge); kann zwar ein Hinweis auf eine primäre<br />

Augenstörung sein, kann aber genauso eine Folge der LRS sein.<br />

� Soziokulturelle Faktoren (wie das Bildungsniveau der Eltern, die Häufigkeit,<br />

mit der einem Kind vorgelesen wird etc.): haben zwar einen Einfluss auf die<br />

Lesekompetenz, sind aber keineswegs alleine verantwortlich.<br />

� Die pädagogisch-psychologische Forschung bewegte sich anfangs ganz im Rahmen<br />

der differentiellen Psychologie; Ziel war die Ermittlung der für die LRS<br />

verantwortlichen kognitiven Funktionen und Teilleistungen, um ausgehend davon sog.<br />

„Funktionstrainings“ zu entwickeln.<br />

53


� Problem: Die gefundenen Korrelationen zwischen LRS und anderen Defiziten<br />

erlauben keine Kausalitätsaussagen; da letztere sowohl die Ursache als auch<br />

eine Folge der LRS sein können.<br />

� Neuere Untersuchungen (experimentelle Leseforschung) befassen sich daher<br />

eher mit den Teilprozessen des Lesens selbst - als mit deren Verknüpfung zu<br />

anderen kognitiven Prozessen.<br />

� Ergebnisse der differentiellen Psychologie:<br />

� Phonologische Bewusstheit: ist eine metalinguistische Kompetenz und gilt<br />

heute als der entscheidende Faktor beim Erwerb der Schriftsprache.<br />

� Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn meint die Fähigkeit, auf die<br />

phonologischen Merkmale von Wörtern unabhängig von deren Bedeutung<br />

zu achten.<br />

� Phonemanalyse: Die Fähigkeit, ein gesprochenes Wort in seine<br />

Phonembestandteile zu untergliedern („Was bleibt übrig, wenn man bei<br />

‚mich„ das ‚m„ weglässt?“); hat hohen prognostischen Wert bei der<br />

Vorhersage der späteren Lese-Rechtschreibleistung.<br />

� Phonemsynthese: Fähigkeit, ein Wort aus vorgegebenen Phonemen zu<br />

rekonstruieren.<br />

� Phonologische Verarbeitung: Codieren, Speichern und Abrufen<br />

� Beeinträchtigung des verbalen KZG: LR-schwache Kinder haben<br />

Probleme beim Nachsprechen langer Wörter oder kurzer Pseudowörter<br />

� Beeinträchtigung des LZG: LR-schwache Kinder haben Probleme beim<br />

Abruf von Wörtern aus dem inneren Lexikon (z.B. beim Benennen von<br />

Gegenständen oder Bildern, deren Bezeichnungen prinzipiell bekannt sind)<br />

� Ergebnisse der experimentellen Leseforschung:<br />

� Die Hauptprobleme von leseschwachen Kindern betreffen die schnelle und<br />

richtige Wortidentifikation.<br />

� Besonders große Probleme treten beim Lesen von unbekannten<br />

Pseudowörtern auf, woraus folgt, dass die LRS v.a. den indirekten Weg<br />

betrifft (passt zu den Befunden zum phonologischen Bewusstsein und<br />

verbalen Kurzzeitgedächtnis).<br />

� Auch Leseschwache nutzen den Satzkontext, z.T. sogar stärker als gute<br />

Leser (kompensatorische Funktion)<br />

� Die Kenntnis und schnelle Anwendung von Graphem-Phonem-<br />

Korrespondenzen ist bei einem Teil der Legastheniker (literale<br />

Legastheniker) beeinträchtigt, bei einem Teil nicht (verbale<br />

Legastheniker)<br />

� Sofern die Worterkennung die Basis des Lesens bildet, sind auch alle höheren<br />

Prozesse (Textverständnis etc.) bei Legasthenikern beeinträchtigt.<br />

� Fazit: Viele Symptome Lese-Rechtschreib-Schwacher lassen sich als Besonderheiten<br />

einer frühen Entwicklungsstufe beim Erwerb der Schriftlichkeit interpretieren. LRS<br />

kann daher auch als Entwicklungsverzögerung interpretiert werden, darf aber nicht<br />

auf eine solche reduziert werden (da oft auch kontraproduktive Strategien verwendet<br />

werden)<br />

C) Intervention und Prävention (siehe: C 1)<br />

� Erfolgreiches Lesetraining muss am Entwicklungsstand der Kinder anknüpfen und die<br />

bisher erworbenen Lesestrategien berücksichtigen.<br />

� In der Regel ist dabei am alphabetischen, synthetisierenden Lesestrategie<br />

anzusetzen, da von ihr am ehesten ein positiver Transfer zu erwarten ist.<br />

54


� Darüber hinaus gilt: Je früher eine Intervention stattfindet, desto mehr Chancen auf<br />

Erfolg hat sie!<br />

� Aus diesem Grund sollte die Förderung der phonologischen Bewusstheit etc.<br />

bereits in der Vorschule beginnen!<br />

� Beispiele für Lesetrainings:<br />

� Training von Scheerer-Neumann: richtet sich an Kinder, die das Prinzip der<br />

Synthese bereits verstanden haben und v.a. beim Lesen längerer Wörter<br />

Probleme haben.<br />

� Training zur Silbensegmentierung in der gesprochenen und geschriebenen<br />

Sprache<br />

� Kieler Leselehrgang: zielt ebenfalls auf eine bessere Erkennung der Silben;<br />

Unterstützung des Lesens durch Handzeichen etc.<br />

� Prädiktion:<br />

� Die klassischen Schulreifetests hatten nur eine geringe prädiktive Validität<br />

und werden daher kaum noch eingesetzt, getestet wurden v. a. visuelle<br />

Fähigkeiten und logisches Denken; die phonologische Bewusstheit blieb<br />

dagegen unberücksichtigt.<br />

� Die „Differenzierungsprobe“ für Vorschulkinder von Breuer und Weuffen<br />

testet neben der optischen- auch phonematische-, melodische und rhythmische<br />

Differenzierungsleistungen.<br />

� Am besten eignet sich das Bielefelder Screeningverfahren (BISC) zur<br />

Vorhersage von LRS (siehe C1): es überprüft neben dem<br />

Aufmerksamkeitsverhalten für visuelle Symbolfiguren 3 phonologische<br />

Verarbeitungsprozesse: a) die phonologische Bewusstheit (Phonemanalyse<br />

vorgesprochener Wörter), b) phonetisches Rekodieren im KZG und<br />

c) schnelles Rekodieren aus dem inneren Lexikon (z.B. durch Farbnennungen<br />

zu nichtfarbigen Objekten).<br />

� 3 Erhebungszeitpunkte: 10 Monate und 3 Monate vor- sowie 14 Wochen<br />

nach der Einschulung.<br />

� Sehr gute Vorhersage der späteren Lese- und Rechtschreibleistung;<br />

Identifikation von Risikokindern (Probleme am Ende des 2. Schuljahres)<br />

� Wurde z.B. in der Bielefelder Längsschnittstudie und der Münchener<br />

Längsschnittstudie LOGIK eingesetzt.<br />

� Wichtige Begriffe:<br />

� Selektionsrate: Prozentsatz der Kinder, die aufgrund eines Screenings als<br />

Risikokinder identifiziert wurden.<br />

� Grundrate: Prozentsatz der Kinder, die in der Schule Probleme mit dem<br />

Rechtschreiben bzw. Lesen bekommen.<br />

� Maximaltrefferquote: Obergrenze der theoretisch möglichen Trefferrate:<br />

100% - Differenz aus Selektions- und Grundrate<br />

� Gesamttrefferquote: liegt im Wertebereich zwischen Maximal- und<br />

Zufallstrefferquote; gibt die Zahl der valid positiv und negativ<br />

klassifizierten Fälle an.<br />

- Sensitivität: Anteil der Problemkinder, die durch das Screening korrekt<br />

vorhergesagt wurden.<br />

- Spezifität: Anteil der unproblematischen Kinder, die durch das<br />

Screening korrekt vorhergesagt wurden.<br />

� RATZ-Index: gibt den relativen Anstieg der Gesamttrefferquote<br />

gegenüber der Zufallstrefferquote an; bei Werten zwischen 66% und<br />

100%: sehr gute und spezifische Klassifikation; bei Werten zwischen 34%<br />

und 66%: gute, aber eher unspezifische Klassifikation.<br />

55


� Fazit: Die besten Prädiktoren für die spätere LRS sind a) Indikatoren der<br />

phonologischen Bewusstheit, b) Indikatoren der Gedächtniskapazität,<br />

c) Indikatoren der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und d) Merkmale<br />

der frühen Schriftsymbolkenntnis.<br />

� Prävention:<br />

� Phonologische Analysefähigkeit ist schon im Vorschulalter trainierbar und<br />

sollte v.a. bei Kindern mit schlechten Testleistungen auch schon in dieser Zeit<br />

trainiert werden. Besonders effektiv ist ein Training der phonologischen<br />

Bewusstheit bei gleichzeitiger Einführung der Buchstaben.<br />

� Grundsätzlich gilt, dass der Erwerb der Schriftsprache zeitlich flexibler<br />

gestaltet werden müsste (z.B. durch eine altersgemischte Eingangsstufe)<br />

56


A 8: Lern- und Unterrichtsformen / Lernen mit neuen Medien<br />

1. Lernen mit Medien<br />

A) Allgemeines zu Medien und Medienforschung<br />

� Allgemein lassen sich Medien als nicht-personale Informationsträger definieren.<br />

� Nach Weidenmann lassen sich Medien hinsichtlich 3er Dimensionen<br />

unterscheiden:<br />

1. Technische Basis: Hardware vs. Software<br />

2. Verwendetes Kodierungs- bzw. Zeichensystem: sprachlich vs. bildlich<br />

3. Verwendete Modalität: visuell, auditiv, audiovisuell etc.<br />

� Neue Medien: digital (Computer); „alte“ Medien: analog (Fernsehen, Radio...)<br />

� Multimedia: Sind Medien, die mit mehreren Codes bzw. Modalitäten arbeiten.<br />

� Präziser als der Begriff „Multimedia“ ist daher die Unterteilung in<br />

multikodale- und multimodale Angebote.<br />

� Die traditionelle Medienforschung (70er Jahre) verglich unterschiedliche Medien<br />

(z.B. Text vs. Film) hinsichtlich ihrer Lerneffizienz und kam dabei zu äußerst<br />

widersprüchlichen Ergebnissen.<br />

� Kritik (nach Clark): Aufgrund der Spezifität der unterschiedlichen Medien<br />

sind Treatment (Lehrmethode) und Medium immer konfundiert;<br />

Vergleichsuntersuchungen erlauben daher keine Aussage darüber, ob<br />

gefundene Unterschiede auf die eingesetzten Medien oder auf die mit ihnen<br />

verknüpften Lehrmethoden und Instruktionsformen zurückgehen.<br />

� Die aktuelle Medienforschung verzichtet auf globale Medienvergleiche und<br />

konzentriert sich stattdessen auf Folgendes:<br />

� Medienspezifische Anforderungen an den Lerner (Kognitionspsychologie)<br />

� Anstatt den Lerner als passiven Rezipienten zu betrachten, wird<br />

untersucht, auf welche Weise medienspezifische Symbolsysteme vom<br />

Lerner verarbeitet werden, und wie sich die Darbietungsform auf diese<br />

Verarbeitung auswirkt.<br />

� Emotionale und motivationale Aspekte<br />

� Vergleich unterschiedlicher Präsentationsformen innerhalb eines Mediums<br />

(z.B. visuelle vs. auditive Textpräsentation am PC)<br />

� Vergleich zwischen computervermittelter Kommunikation und Face-to-face-<br />

Interaktionen (Sozialpsychologie)<br />

� Mayers „Cognitive Theory of Multimedia Learning” ist aktuell die dominierende<br />

Theorie zum Lernen mit (neuen) Medien.<br />

� Dem Modell zufolge erfolgt der Lernprozess in mehreren Schritten:<br />

1. Ausgewählte Informationen werden aus dem sensorischen Gedächtnis ins<br />

Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis überführt und dort, je nach Kodalität,<br />

unterschiedlich verarbeitet: Während nonverbale Infos (Bilder etc.) zu<br />

analogen Repräsentationen führen, werden verbale Informationen<br />

(Wörter Zahlen) zu symbolischen Repräsentationen verarbeitet.<br />

� Das Modell übernimmt demnach Paivios Annahme einer dualen<br />

Kodierung (s.u.).<br />

2. Die Speicherung im LZG gelingt umso besser, je besser es gelingt, die<br />

neuen Infos mit dem vorhandenen Vorwissen zu verknüpfen.<br />

� Das Modell erklärt…<br />

a) den Multimedia-Effekt: Dual dargebotene Infos (z.B. Text und Bild)<br />

werden besser gemerkt<br />

57


) den Modalitätseffekt: Bei einer Präsentation von Text und Bild ist eine<br />

audiovisuelle Darbietung effizienter als eine nur visuelle.<br />

� Die „Cognitive Load Theory“ (CLT):<br />

� Ausgehend von der begrenzten Verarbeitungskapazität des Arbeitsgedächtnisses<br />

nennt die Theorie 3 Quellen kognitiver Belastung:<br />

1) Intrinsic load: meint die Belastung, die durch die zu lernenden Inhalte<br />

selbst zustande kommt; wie groß diese Belastung ist, hängt a) von der<br />

Komplexität des Stoffes und b) von dem zur Verfügung stehenden<br />

Vorwissen ab.<br />

2) Extraneous load: ist die Belastung, die durch die Art und Weise der<br />

Informationspräsentation zustande kommt; sie ist überflüssig und sollte<br />

daher so gering wie möglich gehalten werden.<br />

3) Germane load: ist die Belastung, die der Verarbeitungsprozess mit sich<br />

bringt.<br />

� Effektives Lernen, so die CLT, findet nur dann statt, wenn a) die<br />

Gesamtanforderungen die gerade verfügbare kognitive Kapazität nicht<br />

übersteigen und b) der Stoff genügend Kapazität für lernförderliche (germane<br />

load induzierende) Verarbeitungsprozesse lässt.<br />

� Kurz: Ziel muss es sein, den extraneous load zu reduzieren und den<br />

germane load zu fördern.<br />

� Gemessen werden kann der Cognitive load z.B. mit der „Dual-task-Methode“.<br />

� ATI-Effekte bei der Mediennutzung:<br />

� Die Einstellung zu einem Medium hat Einfluss auf dessen Nutzung (s.u.).<br />

� Das Vorwissen wirkt sich ebenfalls auf die Wirksamkeit bestimmter<br />

Darbietungsformen aus.<br />

� So konnte z.B. gezeigt werden, dass sich mediale Unterstützungsangebote,<br />

die für Novizen lernförderlich sind, für Experten sogar<br />

hinderlich sein können („Expertise Reversal“). Erklärt werden kann<br />

dieser Befund mit der „Cognitive load-Theory“: Während die medialen<br />

Unterstützungsangebote für Novizen Quellen von germane load<br />

darstellen, da sie zu einer tieferen Verarbeitung anregen, sind sie für<br />

Experten, die einer solchen Hilfe nicht bedürfen, überflüssig und damit<br />

als „extraneous load“ zu werten.<br />

B) Psychologische Voraussetzungen auf Seiten des Lerners<br />

� Wie effektiv ein Lerner mit Hilfe eines Mediums lernt, hängt v.a. ab von:<br />

1. Der psychologischen Einstellung des Lerners zum Medium<br />

2. Der Fähigkeit, die medienspezifischen Symbolsysteme zu verstehen<br />

(„Literacy“)<br />

3. Der Verarbeitungstiefe<br />

� Zur psychologischen Einstellung des Lerners zum Medium:<br />

� Die motivierende Wirkung von Medien wird in der Didaktik immer wieder<br />

hervorgehoben. Sie geht jedoch häufig auf Neuheitseffekte zurück und klingt<br />

daher mit der Zeit ab.<br />

� Die Einstellung zu einem Medium ist nicht nur unter<br />

motivationspsychologischen Gesichtspunkten relevant, sondern hat auch<br />

Einfluss auf die Art der Mediennutzung.<br />

� Salomon (1984): Einer Schülergruppe wurde ein Video ohne Ton, der<br />

anderen ein Text dargeboten, der den Filmablauf wiedergab. Anschließend<br />

wurde die Lernleistung getestet. Darüber hinaus wurden folgende<br />

Variablen erhoben:<br />

58


a) Perceived demand characteristics (PDC): Erfragt wurde die<br />

Einschätzung der Realitiätsnähe von Film- und Druckmedien und die<br />

Attribution von Erfolg und Misserfolg beim Lernen mit diesen Medien<br />

- Ergebnis: Erfolg beim Lernen mit Filmen wurde external dem<br />

Medium zugeschrieben, Misserfolg dem Lerner, bei Lernen mit<br />

Texten war die Attribution umgekehrt.<br />

b) Perceived self efficacy (PCE): Die Schüler sollten zu 10 Lehrstoffen<br />

einstufen, wie leicht sie diese mithilfe eines Fernsehprogramms oder<br />

eines Textes lernen würden.<br />

- Ergebnis: Die Kinder glaubten, mit Fernsehen erfolgreicher zu<br />

lernen als mit einem Text; tatsächlich wurde jedoch mit dem Text<br />

effektiver gelernt als mit dem Film!<br />

c) Amount of invested mental effort (AIME): Nach Bearbeitung des<br />

Materials sollten die Schüler einschätzen, wie sehr sie sich angestrengt<br />

hatten bzw. wie viel Konzentration sie aufbringen mussten.<br />

- Ergebnis: Das Lernen mit dem Text wurde von den Schülern als<br />

anstrengender eingeschätzt; der Anstrengungsgrad korrelierte dabei<br />

in beiden Gruppen hoch mit positiven Testergebnissen (s.u.:<br />

Verarbeitungstiefe).<br />

� Salomons Experiment zeigt: Film und Fernsehen werden als einfacher<br />

eingestuft, die Schüler investieren dementsprechend weniger Anstrengung in die<br />

Verarbeitung; beim Text ist es genau umgekehrt (Eine „Self-fulfilling<br />

prophecy“?)<br />

� Zur Fähigkeit, medienspezifische Symbolsysteme zu verstehen<br />

(„Literacy“):<br />

� Nicht nur Texte müssen „gelesen“ werden, sondern auch Bilder; die Fähigkeit zu<br />

letzterem wird im Unterschied zur „verbal literacy“ als „visual literacy“<br />

bezeichnet.<br />

� Unterschiedliche Arten von Bildern stellen dabei unterschiedliche<br />

Anforderungen an den Betrachter.<br />

� Filme z.B. erfordern aufgrund ihrer häufigen Perspektivwechsel und der<br />

oft abrupten Kamerabewegungen die Fähigkeit, den Wechsel des<br />

Beobachtungsstandpunktes mental mitzuvollziehen.<br />

� Bei Cartoons müssen die Linien für Geschwindigkeit, Sprechblasen etc.<br />

als solche erkannt werden.<br />

� Die Darstellung von Perspektivität ist eine Kulturtechnik; Naturvölker in<br />

Afrika, denen sie nicht bekannt ist, sind daher nicht dazu in der Lage,<br />

perspektivische Bilder zu lesen, weshalb sie z.B. auch weniger anfällig für<br />

die Ponzo-Täuschung sind.<br />

� Die These, dass es persönlichkeitsabhängige Präferenzen für bestimmte<br />

Kodierungsformen gibt (Visualisierer vs. Verbalisierer), konnte bisher nicht<br />

bestätigt werden.<br />

� Die Dual-Code-Theorie von PAIVIO<br />

� …geht von 2 kognitiven Verarbeitungssystemen aus:<br />

a) Das visuell-nonverbale System verarbeitet nicht-sprachliche Infos<br />

und speichert sie in Form anschaulicher Vorstellungen bzw. analogen<br />

(ähnlichen) Repräsentationen.<br />

b) Das verbale System verarbeitet dagegen sprachliche Infos und<br />

speichert sie in Form symbolischer Repräsentationen.<br />

� Erst auf einer späteren Verarbeitungsstufe kann durch die Aktivierung des<br />

jeweils anderen Systems eine duale Kodierung stattfinden: ein Wort löst<br />

59


ein Vorstellungsbild aus oder ein Bild wird sprachlich bezeichnet. Doppelt<br />

kodierte Infos werden dabei am besten behalten.<br />

- Am häufigsten treten Doppelkodierungen bei Bildern und konkreten<br />

Wörtern (z.B. „Hund“) auf.<br />

� Paivios Modell erklärt zum einen den „Bildüberlegenheitseffekt“ (Bilder<br />

werden besser gemerkt als Wörter); zum anderen deckt es sich mit den<br />

neurologischen Befunden zur Hemisphärenlateralisation (links: Sprache;<br />

recht: Bilder)<br />

� Zur Verarbeitungstiefe:<br />

� Nach CRAIK & LOCKHARDT ist der entscheidende Prädiktor für gute<br />

Gedächtnisleistungen die Verarbeitungstiefe; die tiefste und damit beste<br />

Verarbeitungsstufe ist die der „semantischen“ Verarbeitung.<br />

� Wie erreicht man eine tiefere Verarbeitung:<br />

� Durch Instruktion, wobei gilt: Je spezifischer die Instruktion, desto besser<br />

(Nicht: „Gib Acht!“; sondern: „Achte besonders auf…“)<br />

� Durch ein gewissen Grad an Komplexität: da zu einfache Texte bzw.<br />

Bilder leicht zu oberflächlicher Verarbeitung verführen.<br />

� Durch Interesse: indem z.B. Raum für Interaktivität (Kompetenz) und<br />

Selbständigkeit (Autonomie) gegeben wird.<br />

� Durch die Vermeidung kognitiver Überlastung („Overload“), deren Folge<br />

eine geringere Verarbeitungstiefe ist (Ablenkung vom Wesentlichen).<br />

C) Text als Lernmedium<br />

� Ein Text erschließt sich nur, wenn wir ihn zu unserem Vorwissen in Bezug setzen und<br />

bestimmte Fragen an ihn stellen. Lesen ist daher kein passiver Rezeptionsakt, sondern<br />

ein konstruktiver Prozess, bei dem idiosynkratische (für den jew. Leser spezifische)<br />

Wissensstrukturen aufgebaut werden. (Vgl. Prozessmodell des Lesens von Kintsch<br />

oder auch einfach nur: Hermeneutik!).<br />

� Es wird davon ausgegangen, dass unser Wissen in Form von Netzwerken gespeichert<br />

ist, die aus Mikropropositionen (z.B. einzelnen Begriffen) und Makropropositionen<br />

(z.B. den Hauptideen eines Textes) bestehen.<br />

� Ein tieferes Textverständnis zeichnet sich durch den Aufbau solcher<br />

Makropropositionen aus; sie sind dem Text meist nicht direkt entnehmbar,<br />

sondern müssen erschlossen werden.<br />

� Mindmaps: regen zu reduktiven und elaborativen Prozessen an (und fördern<br />

dadurch die Verarbeitungstiefe)<br />

� Methoden, um das Lernen mit Texten effizienter zu gestalten, sind zwar hilfreich zum<br />

trainieren. Die Wirksamkeit steht jedoch meist nicht im Verhältnis zu ihrem Aufwand!<br />

� SQ3R-Methode (Robinson): Survey� Question� Read� Recite� Review<br />

� Das Trainingsprogramm nach DANSERAU:<br />

1) Verstehensstrategien (beim Lesen): MUR<strong>DER</strong> 1<br />

M (Mood): geeignete Lernatmosphäre schaffen<br />

U (Understanding): Überblick verschaffen und zentrale Textstellen genauer<br />

lesen<br />

R (Recalling): Das Gelesene in eigenen Worten wiedergeben<br />

(Exzerpt)<br />

D (Digesting): Verknüpfung mit anderem Wissen, Beurteilung des<br />

Gelesenen<br />

E (Expanding): Wissen durch Selbstbefragung erweitern: Was bedeutet<br />

das Gelesene für mich?<br />

R (Reviewing): Nach einiger Zeit wiederholen<br />

60


2) Abruf- u. Anwendungsstrategien (z.B. in Prüfungssituationen):MUR<strong>DER</strong> 2<br />

M (Mood): Sich mental einstellen<br />

U (Understanding): Aufgabenstellung verstehen<br />

R (Recalling): Die Aufgabenrelevanten Hauptideen vergegenwärtigen<br />

und in Skizze, Mindmap etc. festhalten<br />

D (Detailing): Hauptideen mit Details anreichern<br />

E (Expanding): Infos im Hinblick auf Aufgabe strukturieren und<br />

vervollständigen<br />

R (Reviewing): Adäquatheit des Lernergebnisses überprüfen<br />

� Texte leserfreundlich gestalten:<br />

� Verständlichkeit<br />

� Das Hamburger Verständlichkeitskonzept: Wichtig sind…<br />

- Einfachheit (Wortwahl, Satzbau usw.)<br />

- Gliederung, Ordnung (Überschriften, Abschnitte etc.)<br />

- Kürze, Prägnanz<br />

- Anregung (direkte Rede, Beispiele, Humor etc.)<br />

� Kohärenz<br />

� Den aktuellen Lesefokus nach vorn (etwa durch Aktivierung von Vorwissen<br />

oder Fragen) und hinten (Arbeitsspeicher) erweitern; Verbesserung durch<br />

explizite Formulierungen (Kohäsion): „deshalb“, „wie ich gezeigt habe /<br />

zeigen werde…“<br />

� Organisationshilfen (z.B. „advance organizers”, Zusammenfassungen…)<br />

� Verbessern die Eingliederung des Textes in die kognitive Struktur des<br />

Lesers (Assimilation)<br />

� Sequenzierung (sinnvolle Reihenfolge, Hervorhebungen etc.)<br />

� Wie lässt sich effektives Lesen fördern?<br />

� Training (etwa mit der „Murder“-Methode)<br />

� Instruktion (konkrete Leseaufträge geben)<br />

� Gut strukturierte Texte auswählen (s.o.)<br />

D) Illustrationen als Lernmedien<br />

� Bilder sind in Lernkontexten meist mit Text verknüpft und dienen dementsprechend<br />

der Illustration.<br />

� Befund: Illustrierte Texte werden besser behalten als nicht-illustrierte!<br />

� Die ökologische Validität dieses Befunds wird jedoch gelegentlich<br />

angezweifelt (Brody).<br />

� Die Zuordnung von Text und Bild kann redundant oder komplementär (sich<br />

wechselseitig ergänzend) sein; letzteres ist effektiver!<br />

� In jedem Fall zu vermeiden, sind rein dekorative Illustrationen, da sie<br />

lediglich vom Wesentlichen ablenken!<br />

� Bilder werden meist als erstes angeschaut; sie sollten daher so gewählt sein,<br />

dass sie die Aufmerksamkeit nicht vom Text abziehen, sondern zu ihm<br />

hinführen.<br />

� Text und Bild haben je eigene Vor- und Nachteile:<br />

� Bilder: sind besser geeignet, räumliche Anordnungen, Bewegungsabläufe,<br />

Strukturen oder Mengenverhältnisse darzustellen.<br />

� Texte: können dagegen auch nicht Sichtbares beschreiben, auf sich selbst<br />

Bezug nehmen, Negation oder Konjunktiv benutzen und den<br />

Verarbeitungsprozess des Lesers besser steuern.<br />

61


� Bilder können auf zwei unterschiedliche Arten verarbeitet werden:<br />

1) Natürliches (ökologisches) Bildverstehen: Dabei wird das Bild auf einen Blick<br />

erfasst, d.h.: es wird das Wesentliche erkannt, ohne die Darstellungs- und<br />

Steuerungskodes des betreffenden Bildes genauer zu analysieren; der dazu<br />

nötige Verarbeitungsprozess ist präattentiv und erfolgt analog zur<br />

Wahrnehmung der realen Umwelt<br />

� Ein Darstellungskode ist z.B. die Zentralperspektive; Steuerungskodes sind<br />

Pfeile, Vergrößerungen, Einrahmungen oder farbliche Hervorhebungen.<br />

2) Indikatorisches Bildverstehen: ist ein attentiver Prozess, im Zuge dessen<br />

einzelne Bildelemente erfasst, identifiziert und zueinander in Bezug gesetzt<br />

werden.<br />

� Lerner begnügen sich leider oft mit dem natürlichen Bildverstehen; indikatorisches<br />

Bildverstehen kann jedoch trainiert werden (ist ein Aspekt der „visual Literacy“).<br />

E) Film, Fernsehen und Video als Lernmedien<br />

� Das Symbolsystem des Films ist der alltäglichen Wahrnehmung am nächsten und stellt<br />

daher nur geringe Anforderungen an die „visual literacy“; aufgrund der häufigen<br />

Schnitte etc. ist jedoch ein hohes Maß an „media-“ bzw. „viewing literacy“<br />

erforderlich (s.u.)<br />

� Sturm beschreibt die Entwicklung der „viewing literacy“ anhand von Piagets<br />

Stufenmodell der kognitiven Entwicklung:<br />

1) Im Stadium des anschaulichen Denkens (Vorschulalter) sind Kinder von<br />

der Montagetechnik des Films überfordert (Rückblenden, Szenenwechsel,<br />

Inkongruenz von Text und Bild etc. werden nicht verstanden)<br />

2) Im Stadium der konkreten Operationen ist das Denken zwar immer noch<br />

an Anschauliches gebunden, die Kinder sind jedoch dazu in der Lage,<br />

umzugruppieren und Synthesen zu bilden. Schnitte, Perspektivwechsel etc.<br />

können daher kognitiv verarbeitet werden.<br />

3) Im Stadium der formalen Operationen (ca. ab 11 Jahren) löst sich das<br />

Denken von der Bindung an Konkretes; das Symbolsystem des Films kann<br />

hier nicht mehr viel zur kognitiven Entwicklung beitragen.<br />

� Jüngere Kinder achten beim Fernsehen weniger auf die Inhalte als auf formale<br />

Merkmale (wie Bewegung, lustige Szenen, Kinderstimmen, Rasanz der<br />

Handlung etc.)<br />

� Für das Verständnis von Film- und Fernsehformaten sind folgende<br />

Bedeutungschemata von Bedeutung:<br />

1) Formatschemata (Identifikation von Genres und Unterscheidung von<br />

Fiktion und Realität)<br />

2) Personschemata (Wiedererkennung von Fernsehakteuren; Unterscheidung<br />

zw. „Spiel“ und „Ernst“)<br />

3) Szenenschemata (entwickelt sich schon relativ früh)<br />

4) Narrationsschemata (umfassen eine Reihe von Szenen)<br />

� Das medienpsychologische Konzept der „perceived reality“ unterscheidet 3<br />

Aspekte, anhand derer zwischen Fiktion und Realität unterschieden werden<br />

können bzw. müssen.<br />

a) Werkkategorie (Spielfilm oder Reportage?)<br />

b) Erfahrungsinhalt (Wahrscheinlich oder unwahrscheinlich?)<br />

c) Erfahrungsmodus (Interaktiv oder passiv?)<br />

62


� Sind Film und Fernsehen geeignete Lernmedien?<br />

� Auf den ersten Blick scheinen Film und Fernsehen die idealen Lernmedien zu<br />

sein (Multimediaeffekt, Modalitätseffekt, Realitätsnähe etc.)<br />

� ABER: Das Arbeitsgedächtnis wird durch die multimodale und –kodale<br />

Darstellungsweise des Films stark beansprucht, was v.a. bei Konsumenten mit<br />

geringem Vorwissen (Kindern und Jugendlichen) leicht zu kognitiver<br />

Überlastung führt; die Folge ist eine geringere Verarbeitungstiefe der Inhalte,<br />

von denen in der Tat oft nur wenig behalten wird (Vgl. „Cognitive load<br />

Theory“)<br />

� Die Kurzzeitigkeit in Filmen stellt auch für Erwachsene oft eine<br />

Überforderung dar; das belegt ein Experiment von Wember, in dem Vpn<br />

verschieden aufgebaute Infosendungen zu sehen bekamen und hinterher<br />

danach gefragt wurden, was sie behalten hätten. Obwohl die Mehrheit die<br />

jeweils gesehenen Sendungen als informativ einstufte, wurden im Schnitt<br />

nur 20% der Infos behalten („Illusion of knowing“)<br />

� ATI: Intelligente Konsumenten mit hoher visual literacy und gutem<br />

Vorwissen behalten deutlich mehr als andere!<br />

� Negativbefunde: Der Fernsehkonsum korreliert negativ mit Intelligenz /<br />

Schulleistung / Einfallsreichtum / Phantasie / schriftsprachlichen Kompetenzen<br />

etc. und positiv mit motorischer Unruhe / Aggression etc.<br />

� ABER: Diese Korrelationen erlauben keine Kausalitätsaussagen! Bei der<br />

negativen Korrelation zwischen Fernsehkonsum und schriftsprachlichen<br />

Kompetenzen könnte es sich z.B. auch um ein Zeitproblem handeln etc. etc.<br />

� Die nach wie vor wichtigste Theorie zum Lernen mit Film/Video ist die Theorie<br />

des Modelllernens nach Bandura.<br />

� Banduras bekanntes Puppenexperiment zeigt, dass in einem Video<br />

beobachtete Modelle genauso nachgeahmt werden wie real beobachtete<br />

Modelle.<br />

� Die wichtigsten Komponenten des Modelllernens:<br />

- Aufmerksamkeitsprozesse (das beobachtete Verhalten muss bewusst<br />

wahrgenommen werden)<br />

- Gedächtnisprozesse (das beobachtete Verhalten muss kognitiv<br />

verarbeitet und im Gedächtnis gespeichert werden)<br />

- Motorische Reproduktionsprozesse (die konkrete Ausführung des<br />

beobachteten Verhaltens muss mental oder physisch geübt werden)<br />

- Motivations- bzw. Verstärkungsprozesse (ob das beobachtete<br />

Verhalten dann in einer bestimmten Situation tatsächlich ausgeführt<br />

wird, hängt von motivationalen Faktoren und damit nicht zuletzt von<br />

den erwarteten Folgen des Verhaltens ab)<br />

� Pädagogische eingesetzt wird die Theorie des Modelllernens u. a. in<br />

Rollenspielen oder videogestützten Lehrertrainings (www.lessonlab.com).<br />

� Einige Thesen zur Wirkung des Fernsehens:<br />

� Kultivierungsthese: Fernsehsendungen schaffen eine eigene soz. Realität, die<br />

auf die Sozialisation des Betrachters Einfluss nimmt (deshalb haben Vielseher<br />

z.B. oft ein pessimistischeres Weltbild, sind misstrauischer, überschätzen die<br />

Kriminalitätsrate etc.)<br />

� Eskapismusthese: Fernsehkonsum als Ersatzbefriedigung im Alltag unerfüllter<br />

Wünsche<br />

� Prägungsthese: V.a. auf Kinder und Jugendliche hat Fernsehen einen prägenden<br />

Einfluss (Entwicklung von Einstellungen, Vorstellungen etc.)<br />

63


� Simulationsthese: Der Konsum gewalthaltiger Programme führt zu höherer<br />

Gewaltbereitschaft<br />

� Unidirektionale Wirkung ist jedoch eher unwahrscheinlich; besser sind<br />

zirkuläre Modelle (Höhere Gewaltbereitschaft führt zum Konsum<br />

entsprechender Sendungen, die ihrerseits die Gewaltbereitschaft steigern)<br />

F) Computer und Netz als Lernmedium<br />

� Die Möglichkeiten, die sich durch die neuen (computergestützten) Medien für das<br />

Lernen ergeben, sind enorm:<br />

� Lernort und Lernzeit werden beliebig<br />

� Lerngruppe ist offen und variabel<br />

� Face-to-Face-Kommunikation kann durch computervermittelte Kommunikation<br />

ersetzt bzw. ergänzt werden.<br />

� Der Lernende kann seinen Lernprozess selbst gestalten; statt mit einem<br />

vorgegebenen Lernstoff wird er im Internet mit einer Vielzahl möglicher<br />

Lernquellen konfrontiert (Lernen als Holen und Explorieren)<br />

� Insbesondere die Forderungen konstruktivistischer Lerntheorien können durch die<br />

neuen Medien verwirklicht werden:<br />

� Reichhaltige Lernumgebungen<br />

� Kommunikation und Interaktion zwischen den Lernenden<br />

� Selbststeuerung des Lernens<br />

� Adaptivität und Offenheit für unterschiedliche Lernniveaus (=><br />

Individualisierung)<br />

� …<br />

� Einige Begriffe:<br />

� „E-Learning“: Lernen mit dem PC, das entweder online (WBT = web-based<br />

training) oder offline (CBT = computer-based training) erfolgen kann.<br />

� Vorteile: geldsparend und flexibel; weniger abhängig von der Person des<br />

Lehrers; v.a. für schwache Lerner bedeutsam: der Computer lässt dem<br />

Einzelnen so viel Zeit wie man braucht und übt keinen sozialen Druck aus.<br />

� „Blended Learning“ („Misch-Lernen“): Da reines E-Learning meist mit hohen<br />

Abbrecherquoten einhergeht, wird es i.d.R. mit klassischen Lernformen<br />

(Präsenzlernen) verbunden.<br />

� „Edutainment“: spielerische und unterhaltsame Lernprogramme (Game based<br />

learning)<br />

� Vorteil: motivierend, intrinisch etc.<br />

� Nachteile: nährt die Illusion, Lernen müsse immer Spaß machen,<br />

Unterhaltungselemente schlucken kognitive Kapazität und führen daher oft<br />

zu einer geringeren Verarbeitungstiefe der eigentlichen Inhalte (Vgl. CLT)<br />

� Typen von Lernsoftware:<br />

1. Drill-and-Practice-Programme: Pool von Übungselementen, deren Darbietung<br />

nach dem Zufallsprinzip erfolgt, und auf deren Bearbeitung ein unmittelbares<br />

Feedback folgt.<br />

2. Tutorielle Programme:<br />

a) Tutorials nach dem Muster des programmierten Unterrichts (Skinner);<br />

kleinschrittiges Vorgehen, unmittelbare Überprüfung und Rückmeldung<br />

b) Adaptive Programme: passen die Auswahl der Lernaufgaben entweder<br />

makroadaptiv an die allgemeinen Vorlieben- oder mikroadaptiv an den<br />

jeweiligen Leistungsstand des Lerners an.<br />

c) Intelligente tutorielle Systeme (ITS): entwickeln ein genaues, sich ständig<br />

aktualisierendes Bild vom Lerner (Student-Modelling)<br />

64


3. Hypertext und Hypermedia: sind Texte bzw. Medien (also auch Videos etc.),<br />

die netzartig, d.h. über bestimmte Knotenpunkte (bzw. Links) miteinander<br />

verknüpft sind (z.B. das Internet)<br />

� Dass der Umgang mit Hypertexten vernetztes und multiperspektivisches<br />

Denken trainiert, konnte empirisch bisher nicht bestätigt werden;<br />

� Fest steht jedoch, dass für einen effizienten Umgang mit Hypertexten<br />

bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein sollten (Interesse, Zielorientierung,<br />

Vorwissen, metakognitive Fähigkeiten)<br />

4. Simulationen und Mikrowelten: Mikrowelten sind Anwendungen, die im<br />

Unterschied zu Simulationen (z.B. Planspielen) nur einen sehr begrenzten<br />

Bereich simulieren (z.B. die Brechung eines Lichtstrahls durch Linsen<br />

unterschiedlicher Krümmung)<br />

� Vorteil: Interaktiv und lebensnah (fördern den Transfer von der Lern- auf<br />

die Anwendungssituation)<br />

5. Interaktive Lernumgebungen: Vereinigt verschiedene Arten von Lernsoftware<br />

(Tutorial, Hypermedia, Simulationen etc.); werden häufig in Unternehmen<br />

eingesetzt<br />

6. Lernplattformen und Lernmanagement-Systeme (LMS): werden etwa von der<br />

Fernuni Hagen genutzt, ansonsten überwiegend in Unternehmen, da noch sehr<br />

teuer<br />

� Kooperatives Lernen am Computer:<br />

� E-Learning im Online-Modus eignet sich in besonderem Maße für kooperative<br />

Lernsettings (Austausch von Material; Chatforen etc.)<br />

� Die soziale Präsenz der Beteiligten nimmt in computervermittelter<br />

Kommunikation andere Formen an als in Face-to-Face-Interaktionen:<br />

� Soziale Signale wie Körpersprache, Mimik, Sitzabstand oder Kleidung<br />

spielen eine geringere Rolle oder fallen ganz weg � Daraus ergeben sich<br />

Probleme für den Sprecherwechsel („Turntaking“) und die Übernahme<br />

sozialer Verantwortung<br />

� Durch Emoticons, Bilder etc. wird z.T. versucht, diese medienspezifischen<br />

Mängel zu kompensieren.<br />

� Modelle der computervermittelten Kommunikation (CvK):<br />

� Kanalreduktions-Modelle: Da in der CvK bestimmte Sinneskanäle und<br />

Handlungsmöglichkeiten entfallen, kommt es zu einer Verarmung des<br />

Austauschs (mehr sach- als beziehungsorientiert, oberflächlicher etc.)<br />

� Filter-Modelle: differenziertere Analyse der Bedingungen der CvK; der<br />

Wegfall sozialer Hinweisreize und Statussymbole führt zu mehr Gleichheit<br />

in der Gruppe (Vorteil), führt aber auch zu einer verminderten Einhaltung<br />

sozialer Normen (Nachteil)<br />

� SIDE-Modell (Social identity und deindividuation): Die höhere<br />

Anonymität in CvK führt zu einer stärkeren Orientierung an den sozialen<br />

Normen der Gruppe (erkenntlich z.B. an den bisherigen Beiträgen in einem<br />

Forum)<br />

� Modell der Medienwahl: betont, dass ja jeder Nutzer selbst auswählt, wann<br />

er welche Kommunikationsform einsetzt; für einen kompetenten Nutzer<br />

dürfte die CvK daher keinen Nachteil bringen<br />

� Probleme beim kooperativen Lernen mit dem Computer:<br />

� Erschwerte Koordination (v.a. bei asynchronen Kommunikationsformen)<br />

� Überangebot an Information (gegenseitige Überschwemmung mit Material)<br />

� Fehlendes Gruppenwissen (insbes. was die Kompetenzen der einzelnen Mitglieder<br />

betrifft)<br />

65


B: PÄDAGOGISCH-PSYCHOLOGISCHE DIAGNOSE, PROGNOSE<br />

<strong>UND</strong> EVALUATION<br />

B 1: Diagnose von Lernstörungen<br />

1. Definition:<br />

� Der Begriff „Leistungsstörung“ kann prinzipiell auf zwei verschiedene Arten<br />

konzeptualisiert werden:<br />

� Kategoriale Konzeptualisierung: Personen werden einer bestimmten Störung<br />

typologisch zugeordnet.<br />

� Z.B.: „Person A ist ein Legastheniker!“<br />

� Dimensionale Konzeptualisierung: Hier wird der Begriff Störung nicht auf<br />

Personen, sondern auf quantifizierbare Personen- und Verhaltensmerkmale<br />

bezogen.<br />

� Z.B.: „Person A hat starke Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben!“<br />

� Störungen lassen sich nach 2 Dimensionen untergliedern:<br />

1. Umfang/Breite der Störung: partiell vs. generell<br />

2. Zeitliche Erstreckung der Störung: temporär vs. chronisch<br />

� Nach Weinert und Zielenski sind „Lernstörungen“ v.a. durch 2 Merkmale<br />

gekennzeichnet:<br />

1) liegt eine signifikante Normabweichung vor.<br />

� Wobei die Norm entweder durch die Anforderungen einer Institution<br />

(Kriteriumsmessung), die Durchschnittsleistung der Vergleichsgruppe<br />

(normorientierte Messung) oder die früheren Leistungen einer Person<br />

(ipsative Messung) bestimmt wird.<br />

2) Ist diese Normabweichung für die betroffene Person so bedeutsam, dass sie<br />

längerfristig zu „unerwünschten Nebenwirkungen im Verhalten, Erleben<br />

oder der Persönlichkeitsentwicklung“ führt.<br />

� Dieser 2. Aspekt impliziert, dass als Lernstörungen nur relativ<br />

überdauernde Minderleistungen anzusehen sind.<br />

� Dass es sinnvoll ist, zwischen „umschriebenen“ Lernschwächen und einer<br />

generellen Retardierung zu unterscheiden, ist unumstritten. Das auf dieser Einsicht<br />

aufbauende Konzept der „Teilleistungsstörungen“ ist jedoch problematisch:<br />

� „Teilleistungsstörungen“ werden meist auf sog. „minimale cerebrale<br />

Dysfunktionen“ (MCD) zurückgeführt. Die Diagnose solcher Dysfunktionen<br />

ist jedoch ebenso unsicher, wie ihr Zusammenhang zum konkreten Verhalten.<br />

� Umschriebene Leistungsminderungen als „Störungen“ zu bezeichnen, ist<br />

problematisch, da es eben keineswegs normal ist, dass sich Personen in allen<br />

Leistungsbereichen auf einem relativ homogenen Niveau bewegen.<br />

2. Zur Diagnose von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (Legasthenie)<br />

� Lindners (1951) Definition von „Legasthenie“ ist sowohl theoretisch, als auch<br />

praktisch kaum zu rechtfertigen (s.o.); trotzdem spielt sie in der pädagogischpsychologischen<br />

Praxis nach wie vor eine große Rolle.<br />

� Zielenski (1995) definiert Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten als „partielle (!)<br />

Lernprobleme, die sich in unterdurchschnittlichen Leistungen im Lesen<br />

und/oder Rechtschreiben äußern.“<br />

66


� Auch wenn das Diskrepanzkriterium in dieser Definition nicht mehr<br />

explizit genannt wird, impliziert der Begriff „partiell“ Diskrepanzen zu<br />

anderen Leistungen.<br />

� Im Kriterienkatalog des DSM-IV („Diagnostic and Statistical Manual of<br />

Mental Disorders“) wird LRS nach wie vor zur Intelligenz in Bezug gesetzt,<br />

ein Kriterium ist nämlich, dass die Lese- und/oder Rechtschreibleistungen<br />

unter dem liegen, was „aufgrund des Alters, der gemessenen Intelligenz und<br />

der altersgemäßen Bildung zu erwarten wäre“.<br />

� Auch wenn Lese- und Rechtschreibprobleme häufig zusammen auftreten und beide in<br />

engem Zusammenhang zur phonologischen Informationsverarbeitung stehen (s.o.),<br />

sollten sie getrennt voneinander betrachtet werden.<br />

� Zu den Unterschieden zwischen Schreiben (schwieriger!) und Lesen: siehe A7<br />

� Diagnostische Verfahren zur Ermittlung von Leseschwäche:<br />

� Testverfahren zur Diagnose von Leseschwierigkeiten sind verhältnismäßig<br />

selten, da nämlich die meisten Lesetests (etwa in Schulleistungstests etc.) eher<br />

das Textverständnis, als basale Lesefertigkeiten messen. Mit Blick auf letztere<br />

können sie daher lediglich als grobe Screeningverfahren eingesetzt werden.<br />

� Der „Salzburger Lese- und Rechtschreibtest“ (1997): besteht aus einem<br />

Lese- und einem Rechtschreibteil:<br />

� Leseteil: Häufige Wörter (z.B. „Buch“, „Tier“ etc.) zur Überprüfung der<br />

direkten Worterkennung in der 1. und 2. Klasse; zusammengesetzte<br />

Wörter zur Überprüfung der direkten Worterkennung in der 3. und 4.<br />

Klasse; wortunähnliche (z.B. „holom“) und –ähnliche Pseudowörter (z.B.<br />

„Vaus“) zur Überprüfung der phonologischen Informationsverarbeitung;<br />

Text zur Prüfung der Lesefähigkeit in „natürlichen Lesesituationen“<br />

� Rechtschreibteil: Diktierte Wörter sind in Lückensätze einzutragen;<br />

Kategorisierung der Fehler in Groß-/Kleinschreibung; orthographische<br />

Fehler und nicht lauttreue Fehler<br />

� „Knuspels Leseaufgaben“ (Marx): Lesetest für die Grundschule, der nicht<br />

nur die Lesefähigkeit als solche, sondern auch relevante Vorläuferfähigkeiten<br />

(phonologische Bewusstheit etc.) misst.<br />

� Zielenski: Liste mit Mono-, Di-, Tri- und Tetragrammen zur Testung der<br />

Rekodierungsgeschwindigkeit von Phonem-Graphem-Korrespondenzen; Pbn,<br />

die beim Abruf der Phonem-Graphem-Korrespondenzen Schwierigkeiten<br />

haben, brauchen beim Lesen der Tri- und Tetragramme deutlich länger!<br />

� Diagnostische Verfahren zur Ermittlung von Rechtschreibschwäche:<br />

� Konventionelle Rechtschreibtests (z.B. der WRT3+) arbeiten mit<br />

Lückentexten, in die diktierte Wörter eingetragen werden sollen. Sind als<br />

Screenings geeignet, nicht aber zur genaueren Diagnose.<br />

� „Salzburger Lese- und Rechtschreibtest“ (s.o.)<br />

� „Inventar impliziter Rechtschreibregeln“ (IiR): testet sowohl Komponenten<br />

der phonologischen Informationsverarbeitung als auch Kenntnis und<br />

Anwendung der orthographischen Konventionen.<br />

� Einige Aufgabentypen:<br />

- Identifikation richtiger Schreibweisen (z.B.: „Father“ –„Fater“ –<br />

„Vather“ – „Vater“)<br />

- Visuelles Erkennen von Hauptmorphemen (z.B. den Verbstamm<br />

„fahr“)<br />

- Diktat von Vornamen und Nachnamen (ersteres zur Überprüfung der<br />

phonologischen Infoverarbeitung: z.B. „Susi“; letzteres zur Testung<br />

orthographischer Konventionen: z.B. „Rahn“, „Ruppel“<br />

67


- Außerdem: Aufgaben zur Silbentrennung; zur Unterscheidung von<br />

Kurz- und Langvokalen, zur Groß- und Kleinschreibung usw. usw.<br />

� Die verschiedenen Aufgabentypen unterscheiden sich in ihrem<br />

Schwierigkeitsgrad so, dass sie 3 hierarchisch angeordneten<br />

Kompetenzstufen zugeordnet werden können, wobei die auf den höheren<br />

Stufen angesiedelten Kompetenzen die grundlegenderen jeweils<br />

voraussetzen!<br />

� Der Test ermöglicht somit sowohl die Messung der vorhandenen-, als auch<br />

die Messung der noch zu erlernenden Voraussetzungen eines Pbn.<br />

� Grundsätzliche Probleme bei der Diagnose von LRS:<br />

� Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten können im Unterricht meist erst relativ<br />

spät entdeckt werden (3. / 4. Schuljahr); das ist v.a. deshalb problematisch,<br />

weil die LRS dann meist schon durch andere Effekte (etwa des Unterrichts<br />

oder der Lehrer-Schüler-Interaktion) und von den Bewältigungsstrategien des<br />

Kindes selbst überlagert ist. Darüber hinaus kommen oft Sekundärsymptome<br />

wie Schulangst hinzu.<br />

� Bei der Intervention ist es wichtig, solche Sekundärsymptome a) zu erkennen<br />

und b) getrennt von der LRS zu behandeln (etwa durch Entspannungsübungen<br />

etc.)<br />

3) Zur Diagnose von Rechenschwierigkeiten (Diskalkulie)<br />

� Im Vergleich zur Legasthenie ist Diskalkulie zumindest in der Öffentlichkeit recht<br />

unbekannt.<br />

� Von Zielinski werden Rechenschwierigkeiten analog zur Lese-Rechtschreibschwäche<br />

als „partielle Lernprobleme“ definiert, „die sich in unterdurchschnittlichen Leistungen<br />

im arithmetischen Bereich äußern“.<br />

� Dasselbe gilt für das DSM IV: analoge Definition wie bei LRS (s.o.)<br />

� Auch die Definition von Diskalkulie beruht somit auf der Diskrepanz<br />

zwischen erwarteter und tatsächlich beobachteter Rechenleistung.<br />

� Die wichtigsten (empirisch belegten) Determinanten von Rechenkompetenz sind:<br />

� Allgemeine Intelligenz und spezifische Vorkenntnisse<br />

� Geschlecht<br />

� Kulturelle Einflüsse (Art der Aufgabenstellung, Vertrautheit mit<br />

Zahlsymbolsystemen etc.)<br />

� Die spezifischen Vorkenntnisse eines Schülers lassen sich durch Fehleranalysen<br />

ermitteln; dabei sind die den Fehlern zugrundeliegenden Fehlkonzepte teilweise<br />

unmittelbar aus der Lösung ersichtlich (z.B. 1 + 3 = 13), teils werden sie erst deutlich,<br />

wenn der Schüler den Lösungsweg laut vorspricht (Methode des lauten Denkens)<br />

� Vier häufig auftretende Fehlertypen bei den Grundrechenarten (nach Wong):<br />

1) Teillösungen (wenn Aufgaben nicht zu Ende gerechnet werden)<br />

2) Falsche Anordnungen (z.B. wenn beim schriftlichen<br />

Addieren/Subtrahieren die Zahlen „im Sinn“ nicht über den Strich,<br />

sondern unter den Strich geschrieben werden)<br />

3) Falsche Strategien<br />

- Bei Additionsaufgaben tritt z.B. häufig der der Minus 1-Fehler auf<br />

(z.B.: 9 + 4 = 12), der dadurch zustande kommt, dass beim Aufzählen<br />

der „Setter“ (in unserem Beispiel die 9) mitgezählt wird.<br />

4) Fehlkonzept der 0 (die häufig als 1 gezählt wird)<br />

� Diagnostische Verfahren:<br />

� Es gibt eine Vielzahl standardisierter Mathe- und Rechentests; sie sollten<br />

jedoch nur als Screenings eingesetzt werden.<br />

68


� Genauer sind die „strukturbezogenen Aufgaben zur Prüfung<br />

mathematischer Einsichten“ (von Kutzer und Probst), die, genau wie der IiR<br />

(s.o.) hierarchisch aufgebaut sind, so dass Pbn bestimmten Kompetenzstufen<br />

zugeordnet werden können.<br />

� Grundsätzlich empfiehlt sich (genau wie bei der Diagnostik von LRS auch)<br />

eine weitergehende Diagnostik (etwa zur optischen Differenzierung, zum<br />

Kurz- und Langzeitgedächtnis, zur Intelligenz, zur Schulangst etc. etc.)<br />

69


B 2: Diagnose von Lernbehinderungen und sonderpädagogischem<br />

Förderbedarf<br />

1. Definition und Prävalenz<br />

� Definition: Lernbehinderungen sind wissenschaftlich eher schlecht definiert. Es<br />

handelt sich bei ihnen um drastische, d.h. chronische und generelle (s.o.)<br />

Lernstörungen.<br />

� Der Begriff „Lernbehinderung“ ist eher ein rechtlich-verwaltungsbezogener<br />

Begriff. Nach der Verordnung des Landes NRW sind folgende Kriterien<br />

ausschlaggebend: deutliche Minderleistungen in verschiedenen<br />

Unterrichtsbereichen bei reduzierter Allgemeinintelligenz (IQ unter 80),<br />

sozialen Verhaltensstörungen oder umschriebenen Entwicklungsstörungen.<br />

� In den internationalen Klassifikationssystemen (DSM IV; ICD-10) taucht<br />

der Begriff „Lernbehinderung“ nicht auf; im ICD-10 („International<br />

Classification of mental Deseases“) finden sich folgende Bezeichnungen:<br />

a) „Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten“: liegt vor, wenn die<br />

Lese-, Rechen- und Schreibleistungen deutlich unter dem liegen, was<br />

aufgrund von Alter, Intelligenz und Beschulung zu erwarten wäre.<br />

- Kriterien: Minderleistungen in standardisierten Schulleistungstests um<br />

mind. 2 Standardabweichungen, IQ von mind. 70; Ausschluss von<br />

(extremen) Unzulänglichkeiten in der Erziehung und Beschulung;<br />

Ausschluss von sensorischen und/oder neurologischen Erkrankungen;<br />

Behinderung der Schulausbildung und des Alltags durch die Störung<br />

b) „Nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung schulischer<br />

Fertigkeiten“: Allgemeine Lernschwäche, die nicht auf<br />

Intelligenzminderung, Sehstörungen oder unangemessene Beschulung zu<br />

erklären ist.<br />

- Kriterien: schlechter als 97% der Schüler; IQ von mind. 70; etc. (s.o.)<br />

� Prävalenz (Auftretenshäufigkeit):<br />

� Lernbehinderung: 2,4 %<br />

� Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten: 2, 3%<br />

� Nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten: bis 3%<br />

� Auffälligkeiten und Risikogruppen:<br />

� Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen (Verhältnis 2:1)<br />

� Kinder aus ungünstigen sozialen Verhältnissen und Kinder mit ausländischer<br />

Herkunft sind ebenfalls häufiger betroffen.<br />

� Lernschwache Kinder sind vermehrt von frühen und späteren psychosozialen<br />

Belastungen betroffen (Krankenhausaufenthalte des Kindes in den beiden<br />

ersten Lebensjahren, Delinquenz des Vaters, hohe Wohndichte, unerwünschte<br />

Schwangerschaft etc.)<br />

� Lernbehinderungen und –störungen treten in familiärer Häufung auf, was auf<br />

eine genetisch-erbliche Komponente hinweist.<br />

� Etwa 1/3 der lernbehinderten Kinder ist auch aufmerksamkeitsgestört bzw.<br />

hyperaktiv.<br />

� Lernbehinderte Schüler weisen in einzelnen Funktionsbereichen (etwa<br />

Gedächtnis oder sprachliche Kodierung) Ausführungsdefizite auf, die im Sinne<br />

des Teilleistungskonzepts interpretiert werden können.<br />

� Teilleistungskonzept: Bei Teilleistungsstörungen scheitert eine<br />

Gesamthandlung an einem einzelnen, für die übrigen Handlungsschritte<br />

jedoch notwendigen Ausführungsschritt.<br />

70


2. Ursachen und Symptome von Lernbehinderungen<br />

� Die Gruppe der Lernbehinderten ist äußerst heterogen; darüber hinaus sind<br />

Lernbehinderungen (wie alle komplexen Störungen) multifaktoriell bedingt.<br />

Lernbehinderungen auf eindeutige Ursachen zurückzuführen (ätiologisch-kausaler<br />

Ansatz) macht daher wenig Sinn; stattdessen sollte deskriptiv-bedingungsanalytisch<br />

vorgegangen werden.<br />

� Sprich: Statt nach den tieferen Ursachen zu forschen, sollten die konkreten<br />

Probleme untersucht werden, die Lernbehinderte beim Lernen haben, um<br />

ausgehend davon Ansätze zur effektiven Förderung zu entwickeln.<br />

� Lernen ist ein komplexer Vorgang, der eine Vielzahl von Aktivitäten und Fertigkeiten<br />

erfordert.<br />

� Das „Good-strategy-user“-Modell von PRESSLEY beschreibt Lernen als einen<br />

Prozess der „Selbstoptimierung“. Dem Modell nach entwickeln gute Lerner die<br />

zum Lernen notwendigen Fertigkeiten bzw. Strategien nämlich von selbst (d.h.<br />

ohne direkte Instruktion); die besagten Strategien lassen sich dabei auf 3 Ebenen<br />

anordnen:<br />

1) Planung (Strategien zur Handlungsorganisation):<br />

- metakognitive Fertigkeiten zur Strukturierung der Lernprozesses:<br />

Aufgabe verstehen (Einordnung neuer Infos) => das Lernproblem<br />

bestimmen => ein Lernziel formulieren (!) => den Lernvorgang grob<br />

planen (z.B. den Termin für die Klassenarbeit notieren; mögliche<br />

Schwierigkeiten antizipieren etc.)<br />

2) Handlungssteuerung (Strategien zur Handlungskontrolle):<br />

- Selbstbeobachtende und selbstkontrollierende Prozesse (metakognitiv):<br />

Unterdrückung konkurrierender Handlungsimpulse => Lernfortschritt<br />

überwachen und Lernweg bei mangelndem Erfolg ändern => das<br />

erreichte Ergebnis mit dem Lernziel vergleichen =><br />

Schlussfolgerungen für das weitere Lernen ziehen<br />

3) Ausführung (Strategien zur Informationsentnahme und –verarbeitung)<br />

- Prozedurale Fertigkeiten zur Ausführung der Operationen: Anwendung<br />

von Strategien (z.B. sich Notizen machen, wiederholen, neues Wissen<br />

mit Vorwissen verknüpfen etc.)<br />

� Bei lernbehinderten Kindern sind diese Fertigkeiten bzw. Strategien nur sehr<br />

bedingt vorhanden (Strategiedefizit). Sie sind daher weder dazu in der Lage<br />

effektiv zu lernen, noch können sie aus ihrem Scheitern lernen und verharren<br />

dementsprechend auf dem Niveau eines inkompetenten Lerners („inaktive“<br />

Lerner).<br />

� Zu dem Mangel an zielgerichteten Aktivitäten tritt meist ein Überschuss an<br />

ungeeigneten Aktivitäten: motorische Unruhe; Grübeln über vergangene<br />

und mögliche Misserfolge (self preoccupation); Meidung von<br />

Lernsituationen…<br />

� Übergeordnete Bedingungsmomente: Gründe, warum schlechte Lerner keine<br />

Strategien nutzen<br />

� Motivationale Defizite: Die Anstrengungsbereitschaft zur Entfaltung<br />

zielführender Lernaktivitäten (effort control) ist, wohl hauptsächlich aufgrund<br />

der bisherigen Misserfolgserfahrungen, sehr gering; stattdessen: Mutlosigkeit,<br />

Hilflosigkeit, Angst etc.<br />

� Mangelndes und schlecht strukturiertes Vorwissen: erschweren die Einordnung<br />

und Verarbeitung neuer Inhalte<br />

� Sozioökonomischer Kontext: Metakognitive Fertigkeiten werden stark durch die<br />

von den Eltern vorgelebten Analyse- und Bedeutungsraster beeinflusst; darüber<br />

71


hinaus erleichtert die Ähnlichkeit der beiden Lebenswelten Schule und<br />

Elternhaus schulisches Lernen<br />

� Defizite auf der Ausführungsebene: z.B. mangelnde Sprachkompetenz, geringe<br />

Gedächtniskapazität etc. (siehe: Teilleistungskonzept)<br />

3. Implikationen für Diagnostik und Förderung<br />

� Diagnostik:<br />

� Ziel: sollte weniger die Ermittlung der Ursachen, als vielmehr die Entwicklung<br />

konkreter Förderungsmöglichkeiten sein.<br />

� Methode: Beobachtung und hypothesengeleitete Analyse des Lernverhaltens;<br />

um die konkreten Gründe für das Scheitern eines Kindes herauszufinden<br />

� Leitfragen für die Analyse:<br />

a) Anforderungsstruktur der betreffenden Aufgabe<br />

b) Tatsächlich realisiertes Verhalten des Lernenden<br />

� Förderung:<br />

� Ziel: Förderungsmaßnahmen sollten einen direkten Bezug zum Lernverhalten<br />

haben (Vermittlung zielführender Lernaktivitäten).<br />

� Methoden:<br />

� Bei tiefgreifenden Lernbeeinträchtigungen: Vermittlung der defizitären<br />

Teilfertigkeiten<br />

� Bei falschen Lernstrategien: Einübung der richtigen Lernstrategien und<br />

Vermittlung metakognitiver Kompetenzen bei gleichzeitiger Förderung der<br />

Selbstwirksamkeitserwartungen (self efficacy) durch positives Feedback<br />

� Bei fehlenden inhaltlichen Lernvoraussetzungen: Vermittlung des fehlenden<br />

Wissens<br />

� Optimale Lernbedingungen: Mittelschwere Aufgaben; Verhinderung von<br />

falschen Antworten, sofortiges Feedback bei richtigen Aufgaben, zunehmende<br />

Steigerung der Aufgabenschwierigkeit<br />

4. Ergänzung: Neuere Lese- und Rechtschreibtests (von Schneider)<br />

� ELFE 1 – 6 (Schneider, 2000): Leseverständnistest für 1.-6.-Klässler<br />

� Als PC- und Paper/Pencil-Version erhältlich<br />

� Einsatzbereich: jew. Schuljahresmitte und -ende<br />

� Bearbeitungszeit: ca. 20-30 Minuten<br />

� Testet folgende Bereiche:<br />

a) Wortverständnis (Zuordnung Wort – Bild)<br />

b) Lesegeschwindigkeit<br />

c) Satzverständnis (Worte ergänzen)<br />

d) Textverständnis (Textaufgaben)<br />

� ELFE – Training: 14 Lernspiele auf Wort-, Satz- und Textebene, wobei jedes<br />

Spiel 3 Schwierigkeitsstufen umfasst<br />

� <strong>DER</strong>ET 3-4 (Schneider, 2007): Deutscher Rechtschreibtest für 3. und 4.-Klässler<br />

� Einsatzbereich: Ende des 3. und 4.-, Beginn des 4. und 5. Schuljahres<br />

� Bearbeitungszeit: 30-45 Minuten<br />

� DEMAT 1+ (Schneider, 2003): Deutscher Mathematiktest für erste Klassen<br />

� Gruppen- und Einzeltest<br />

� Einsatzbereich: Ende 1., Anfang 2. Klasse<br />

72


B 3: Schuleingangsdiagnostik<br />

1. Das Konstrukt „Schulreife“ im Spiegel der Forschungsgeschichte<br />

� Rechtliche Regelung:<br />

� Kinder werden schulpflichtig, wenn sie in der ersten Hälfte des laufenden<br />

Schuljahres 6 Jahre alt sind; Kinder die erst in der zweiten Hälfte des<br />

Schuljahres 6 Jahre alt werden, können auf Antrag der Eltern vorzeitig<br />

eingeschult werden.<br />

� Nicht schulreife schulpflichtige Kinder können vom Schulunterricht<br />

zurückgestellt werden.<br />

� Erwartungen von Grundschullehrern an Schulanfänger: soziale Kompetenz,<br />

Lernkompetenz (Konzentrationsfähigkeit etc.), motorische Kompetenz, kognitive<br />

Kompetenz (Differenzierungsfähigkeit etc.), Auftragssensibilität, Selbständigkeit<br />

� Es gab und gibt unterschiedliche Konzepte von „Schulreife“:<br />

� Kern (1951): „Schulreife“ ist das Ergebnis hauptsächlich biologischer<br />

Reifungsprozesse. Da diese Prozesse synchron ablaufen, reicht zur Testung der<br />

Reifelage die Erhebung eines einzelnen Kriteriums aus (Kern wählte hierzu die<br />

optische Gliederungsfähigkeit; vgl. den „Grund-Leistungs-Test“)! Zudem<br />

braucht Schulreife, da sie sich bei jedem, wenn auch zu unterschiedlichen<br />

Zeitpunkten, mehr oder minder von selbst einstellt, nicht eigens gefördert<br />

werden.<br />

� Hildegard Hetzer (1953) übte schon früh Kritik an diesem Konzept: Anstatt<br />

von einer harmonischen Entwicklung auszugehen, unterscheidet sie zwischen<br />

verschiedenen Reifemerkmalen: nämlich zw. „körperlichen“,<br />

„willensmäßigen“, „sozialen“ und „geistigen“. Dabei geht sie davon aus, dass<br />

sich diese Merkmale durchaus asynchron entwickeln können.<br />

� Das „Fähigkeitskonzept“ beruht auf der Annahme, dass die kindliche<br />

Entwicklung eben nicht biologisch determiniert-, sondern in hohem Maß von<br />

Umwelteinflüssen abhängig ist und dementsprechend aktiv gefördert werden<br />

muss; statt von „Schulreife“ wird deshalb häufig von „Schulfähigkeit“<br />

gesprochen.<br />

� Eine 3. Richtung betont die Vielseitigkeit des Konstrukts „Schulreife“, zu<br />

dem eben nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch soziale, motivationale<br />

und emotionale Faktoren zählen und plädiert daher für den Begriff<br />

„Schulbereitschaft“.<br />

� Der differenzierteste Ansatz ist das „ökopsychologische Schulreifemodell“ von<br />

Nickel. Es richtet sich gegen die Tendenz, Schulreife ausschließlich an<br />

Merkmalen der Kinder festmachen zu wollen, stattdessen müsse das Konstrukt<br />

„Schulreife“ aus system-ökologischer Perspektive betrachtet werden (s.u.)<br />

� Nickels „ökosystemisches Prozessmodell der Einschulung“: betrachtet die<br />

Einschulung im Sinne Bronfenbrenners als einen „ökologischen Übergang“, im Zuge<br />

dessen das Mesosystem eines Kindes um ein neues Mikrosystem (das der Schule)<br />

erweitert wird.<br />

� Ob dieser Übergang gelingt, hängt vom Zusammenspiel mehrerer Faktoren ab:<br />

1) Schüler<br />

- Somatische Voraussetzungen (Gesundheit, körperliche<br />

Entwicklung…)<br />

- Kognitive Voraussetzungen (Gedächtnis und Lernen, Denken…)<br />

- Motivationale und soziale Voraussetzungen (Arbeitsbereitschaft,<br />

emotionale Stabilität…)<br />

73


2) Mikro- bzw. Ökosystem Schule:<br />

- Schulsystem: Aufbau der Primarstufe, Lehrpläne, Versetzungsregelungen,...<br />

- Spezielle Unterrichtsbedingungen: Erzieherverhalten, Klassenklima,<br />

Klassengröße, räumliche Ausstattung,…<br />

3) Mikro- bzw. Ökosystem Kindergarten:<br />

- Art und Qualität der vorschulischen Erziehung: Erzieherverhalten,...<br />

(kurz: wie sehr unterscheidet sich das vorschulische- vom schulischen<br />

Umfeld?)<br />

4) Mikro- bzw. Ökosystem Familie:<br />

- Wohnverhältnisse, Geschwisterzahl, Zuwendung durch Eltern etc.<br />

� Eingerahmt werden diese für das Konstrukt „Schulreife“ allesamt gleichermaßen<br />

relevanten Systeme durch das sozio-kulturelle Makrosystem: die Gesellschaft<br />

(allgemeine Ziel- und Wertvorstellungen etc.)<br />

� Aus dem Modell ergibt sich, dass Schuleingangsdiagnostik keine punktuelle<br />

Maßnahme sein sollte, sondern ein begleitender Prozess; Interventionen können<br />

dabei nicht nur auf Individual-, sondern auch auf institutioneller- und familiärer<br />

Ebene notwendig sein.<br />

� Die vielleicht wichtigste Forderung: Enge Verzahnung und Abstimmung<br />

von Kindergarten und Grundschule!<br />

2. Schulreifetests:<br />

� Die meisten Schulreifetests wurden in den 60er / 70er Jahren entwickelt; sie messen<br />

hauptsächlich kognitive Fähigkeiten und korrelieren dementsprechend hoch mit IQ-<br />

Tests (ca.: r = .60)<br />

� Heute werden Schulreifetests nur noch sehr selten eingesetzt (s.u.)<br />

� Etwas neuere Verfahren (s.u.) sind…:<br />

a) Das Mannheimer Schuleingangsdiagnostikum, kurz: MSD (1976)<br />

b) Das Kieler Einschulungsverfahren, kurz: KEV (1986)<br />

c) Der Visuomotorische Schulreifetest, kurz: VSRT (1990)<br />

� Der Aufbau der verschiedenen Schulreifetests ist meist recht ähnlich; ihre<br />

Interkorrelationen sind dementsprechend hoch (ca. r = .60).<br />

� Typische Aufgabentypen von Schulreifetests sind…:<br />

- Das Nachmalen von Formen (Figuren, Ziffern, Buchstaben etc.); „Mann-<br />

Zeichnungen“ (z. T. mit Baum, Haus etc.); das wiederholte Zeichnen<br />

abstrakter Figuren (Muster, Randverzierung etc.); Größen- und<br />

Mengenvergleiche; Visuelles Behalten (Bilder von Gegenständen);<br />

Markieren von Bildern nach zusammenhängender Geschichte etc. etc.<br />

� Zu den 3 neueren Schulreifetests:<br />

1. Das Mannheimer Schuleignungsdiagnostikum (1967): ist entgegen der<br />

Behauptung der Autoren recht konventionell!<br />

2. Das Kieler Einschulungsverfahren (1986):<br />

� Versucht möglichst alle (also nicht nur kognitive) Aspekte des Konstrukts<br />

„Schulreife“ zu erfassen: Arbeits- und Sozialverhalten,<br />

Leistungsmotivation, sprachliche, motorische und kognitive Kompetenzen<br />

etc.<br />

� Besteht aus 3 Testteilen:<br />

1. Elterngespräch (anhand eines Leitfadens)<br />

2. Unterrichtsspiel (in einer Kleingruppe von max. 6 Kindern)<br />

3. Einzeluntersuchung (wird nur in besonderen Einzelfällen durchgeführt)<br />

74


� Vorteil: engere Übereinstimmung mit dem Konstrukt „Schulleistung“;<br />

Nachteil: nicht standardisiert<br />

3. Der Visuomotorische Schulreifetest (1990): zur Kurzdiagnose von Schulärzten<br />

verwendet; enthält den „Mann-Zeichen-Test“ und das „Reihenfortsetzen“ in<br />

standardisierter Form<br />

� Beurteilung der Schulreifetests:<br />

� Die gängigen Gütekriterien, sprich: Reliabilität, Objektivität und Validität, sind<br />

bei den meisten Schulreifetests gegeben.<br />

� Problematisch ist jedoch die meist über 30 Jahre zurückliegende (und damit<br />

veraltete) Normierung der Tests<br />

� Hinzu kommt, dass der kritische Wert (der meist als Prozentrang angegeben<br />

wird) von den Autoren mehr oder minder willkürlich festgelegt ist; die<br />

Diagnose ist dementsprechend stark testabhängig!<br />

� Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem Gesamttrefferanteil, der für die<br />

Effizienz diagnostischer Verfahren ja mindestens genauso wichtig ist wie die<br />

Validität. Die Effizienzschätzung der Tests zeigt nämlich, dass mit Tests nicht<br />

weniger Fehldiagnosen zu erwarten sind als ohne Tests; verringert wird durch<br />

sie lediglich die Quote ungerechtfertigter Aufnahmen.<br />

3. Diagnostische Praxis<br />

� Die Frage der Einschulung wird heute i.d.R. mit Hilfe informeller Verfahren<br />

entschieden; Schulreifetests werden praktisch nur noch im Falle eines Antrags auf<br />

vorzeitige Einschulung oder bei einer geplanten Zurückstellung eingesetzt.<br />

� Worauf bei der Diagnose zu achten ist:<br />

� Wichtig ist, dass nicht nur die kognitiven-, sondern auch die sozialen,<br />

emotionalen- und motivationalen Komponenten von Schulreife geprüft<br />

werden. Häufig stehen diese nämlich in Diskrepanz zu den kognitiven<br />

Leistungen!<br />

� Die gängigen Schulreifetests können insofern nur ein Baustein der Diagnose<br />

sein (als Screeningverfahren); sie sind durch weitere Maßnahmen<br />

(Elterngespräch, Gespräch mit den Kindergärtnern, evtl. Unterrichtsspiel<br />

etc. zu ergänzen.)<br />

� Darüber hinaus sollte die Diagnose mit Interventionsmaßnahmen verknüpft<br />

werden (z.B. zur Förderung der sozialen Kompetenz); damit solche<br />

Interventionen noch greifen können, sollte mit der Diagnostik bereits früh<br />

begonnen werden (also nicht erst kurz vor Schulbeginn)<br />

� Da die Frage, ob ein Kind bereit für die Schule ist, nicht nur von ihm selbst<br />

abhängt, sondern auch von der Schule, dem Kindergarten und der Familie,<br />

sollten diese in die Diagnostik mit einbezogen werden (etwa, indem mit der<br />

zukünftigen Lehrerin gesprochen wird)<br />

� „Schulunreife“ Kinder dürfen nicht einfach zurückgestellt werden, sondern<br />

bedürfen besonderer Förderung (z.B. in Vorschuleinrichtungen)<br />

75


B 4: Prognose des Schulerfolgs:<br />

1. Allgemeines:<br />

� Leistungs- bzw. Schuleignungsprognosen sind für eine Reihe schulischer<br />

Entscheidungen relevant (z.B. Zuweisung zu bestimmten Leistungskursen, Übergang<br />

auf weiterführende Schulen, Schullaufbahnentscheidungen, Klassenwiederholungen<br />

etc.)<br />

� Folgende Arten von Entscheidungen lassen sich unterscheiden: Selektions-<br />

Klassifikations- und Beratungsentscheidungen; relevant für die Erstellung<br />

von Leistungsprognosen sind v. a. die beiden zuletzt Genannten.<br />

1) „Klassifikation“: Zuordnung von Personen zu bestimmten<br />

Leistungsbedingungen (z.B. einer Schulart) aufgrund mehrerer Prädiktoren<br />

- Erfolgt die Zuteilung univariat (wird also nur ein Prädiktor wie z.B. die<br />

Intelligenz herangezogen) spricht man von „Platzierungsentscheidungen“<br />

2) Beratung: Der Beratung geht es ebenfalls um die richtige Zuordnung zu<br />

bestimmten Leistungsbedingungen; allerdings wird die endgültige<br />

Entscheidung hier dem zu Beratenden (z.B. Schüler) selbst überlassen.<br />

- Bildungsberatung sollte sich dabei nicht nur auf die individuelle<br />

Beratung Einzelner (Individualberatung) beschränken, sondern auch<br />

versuchen, auf die schulischen Rahmenbedingungen Einfluss zu<br />

nehmen (Systemberatung: Schule, Lehrer)<br />

� Ferner kann zwischen terminalen (an der Stelle eines Übergangs<br />

stattfindenden) und investigatorischen (ein Treatment bzw. eine Intervention<br />

vorbereitenden) Entscheidungen unterschieden werden.<br />

� Terminale Entscheidungen = Laufbahnentscheidungen<br />

� Investigatorische Entscheidungen = didaktische- bzw. therapeutische<br />

Interventionsentscheidungen<br />

� Bei diagnostischen Entscheidungen im Bildungsbereich bietet sich eine<br />

sequentielle Entscheidungsstrategie an: Dabei werden bei Uneindeutigkeit<br />

nach und nach weitere Kriterien und Tests hinzugezogen, bis ein vertretbares<br />

Urteil gefällt werden kann.<br />

� Lehrerurteil => Evtl. Hinzuziehen von Experten (Schulpsychologen) etc.<br />

� Zur multikausalen Bedingungsstruktur von Schulleistung: Schulleistung hängt<br />

von einer Vielzahl von Determinanten ab (s.o.), diese haben sowohl eine Erklärungs-<br />

als auch eine Prognosefunktion, wobei jedoch immer bedacht werden muss, dass ihr<br />

Zusammenhang mit Schulleistung lediglich korrelativ und nicht kausal ist!<br />

� Prädiktoren: kognitive Schülermerkmale<br />

a) Kognitive Fähigkeiten (Intelligenz, Metakognition, Kreativität…)<br />

b) Vorwissen (als Indikator wird meist die bisherige Schulleistung verwendet)<br />

� Moderatoren: Nichtkognitive Schülermerkmale, die den Zusammenhang<br />

zwischen kognitiven Faktoren und Schulleistung moderieren.<br />

� Leistungsmotivation, Attributionsstil, Fähigkeitsselbstkonzept, Werthaltungen<br />

etc.<br />

� Umweltfaktoren: wirken sich lediglich vermittelt über die kognitiven und<br />

nichtkognitiven Schülermerkmale auf die Leistung aus (= distale Variablen).<br />

a) Schulische Sozialisationsfaktoren (Struktur- und Prozessmerkmale)<br />

b) Familiäre Sozialisationsfaktoren (Struktur und Prozessmerkmale)<br />

c) Sonstige Sozialisationsfaktoren (Peers etc.)<br />

76


� Die verschiedenen Bedingungsfaktoren von Schulleistung sind recht klar, wie stark ihr<br />

jeweiliger Einfluss ist, kann jedoch nach wie vor nicht mit Sicherheit gesagt werden.<br />

Schließlich hängt die Wirkung der einzelnen Determinanten immer vom gesamten<br />

Interaktionsgefüge ab.<br />

� Intelligenz: Der Zusammenhang zw. Intelligenz und Schulleistung liegt im<br />

Schnitt etwa bei r =.5 (eher höher), was einer Varianzaufklärung von 25%<br />

entspricht. Damit ist Intelligenz, zumindest im Vergleich zu den anderen<br />

Einflussgrößen, der beste bekannte Prädiktor für Schulleistung.<br />

� Bei jüngeren Schülern (GS) fällt der Zusammenhang stärker aus als bei<br />

älteren Schülern (HS, RS, GYM), da das Vorwissen und nicht-kognitive<br />

Faktoren in höheren Klassen stärker ins Gewicht fallen.<br />

� Bei Mädchen ist der Zusammenhang durchgängig (d.h. auf allen Alters-<br />

und Bildungsstufen) höher als bei Jungen.<br />

� Mit Schulleistungstests korrelieren Intelligenztests höher als mit anderen<br />

Indikatoren (z.B. Noten oder Lehrerratings)<br />

� Der Zusammenhang zw. Intelligenz und Schulleistung wird durch andere<br />

Faktoren moderiert (s.o.).<br />

- Bei geringer Leistungsmotivation fällt er z.B. geringer aus.<br />

- Auch durch bestimmte Unterrichtsstile (z.B. einen stark<br />

individualisierenden Unterricht) wird der Zusammenhang verringert.<br />

� Vorwissen: Die Grundschulnoten klären zumindest in den ersten vier Jahren<br />

der Sekundarstufe den größten Anteil der Schulleistungsvarianz auf!<br />

� Leistungsmotivation: leistet einen signifikanten, aber relativ geringen Beitrag<br />

zur Aufklärung der Schulleistungsvarianz, was aber nicht zuletzt an der<br />

Schwierigkeit liegen mag, die Leistungsmotivation zu messen (meist wird sie<br />

nur als überdauernde Persönlichkeitseigenschaft und nicht im Hinblick auf ihre<br />

situationsspezifische Aktualisierung gemessen)<br />

� Familiäre Faktoren: Früher wurde v. a. der Einfluss globaler<br />

Schichtmerkmalen untersucht; da die Effekte umso größer sind, je spezifischer<br />

die erfassten Variablen sind, wird davon jedoch zunehmend abgerückt.<br />

� Trudewinds „Taxonomie des nicht-schulischen Lebensraumes“ geht davon<br />

aus, dass die (Grund-)Schulleistung v.a. von folgenden 5 Dimensionen des<br />

familiären Umfelds beeinflusst wird.<br />

- Anregung<br />

- Leistungsdruck<br />

- Bildungsaspiration<br />

- Sanktionsverhalten<br />

- Selbständigkeitserziehung<br />

2. Methodisches<br />

� Definition und Operationalisierung des Kriteriums: a) muss genau definiert<br />

werden, was unter „Schulleistung“ verstanden wird (siehe B 5), und b) muss überlegt<br />

werden, wie das Konstrukt am besten zu operationalisieren ist (Schulleistungstest,<br />

Noten, etc.?).<br />

� Auswahl der Prädiktoren: hängt von der Kriteriumsdefinition ab (z.B. Leistung im<br />

Fach „Deutsch“) und sollte auf einem expliziten theoretischen Konzept beruhen (also<br />

nicht einfach aufgrund leichter Verfügbarkeit oder Augescheinvalidität erfolgen).<br />

� Erfassung der Prädiktoren: sollte möglichst objektiv, reliabel und valide sein; da<br />

aber nicht für alle möglichen Prädiktoren standardisierte Tests zur Verfügung stehen,<br />

kann die Güte der erhobenen Daten durchaus variieren (das muss dann halt bei der<br />

Interpretation berücksichtigt werden).<br />

77


� Erstellung der Prognose: Im Hinblick auf den Umgang mit den Daten lassen sich 2<br />

Strategien unterscheiden, die im Idealfall miteinander verknüpft werden.<br />

� Statistische Vorhersage: Prognose erfolgt auf Basis eines expliziten<br />

Prognosemodells und mittels statistischer Verfahren (s.u.); führt zwar zu<br />

besseren Ergebnissen, ist in der Praxis aber eher selten<br />

� Klinische Vorhersage: Prognose erfolgt auf Basis des individuellen<br />

Urteilsvermögens des Beraters und ohne Anwendung statistischer Verfahren<br />

� Grundsätzlich gilt, dass keine Prognose 100%ige Sicherheit gibt. Schließlich sind<br />

weder alle relevanten Bedingungen bekannt, noch können diese, geschweige denn ihre<br />

Wechselwirkungen, auf empirischer Ebene hinlänglich erfasst werden.<br />

3. Statistische Prognosemodelle<br />

� Grenzwertmethode: Zuordnung einer Person zu einer Gruppe anhand bestimmter<br />

Grenzwerte (z.B. IQ-Mittelwert von Gymnasiasten).<br />

� Aus mehreren Gründen problematisch:<br />

a) Zwischen verschiedenen Schülergruppen bestehen starke Überlappungen<br />

(etwa hinsichtlich des IQs), weshalb die Grenzwertmethode zwangsläufig<br />

zu unbefriedigenden Gruppentrennungen führt.<br />

- Eine genauere Gruppentrennung erreicht man nur mit Hilfe einer<br />

„multiplen Diskrimanzanalyse“: Dabei werden relevante Merkmale so<br />

gewichtet, dass die Varianz innerhalb der Gruppe minimiert, die<br />

Varianz zwischen den Gruppen dagegen maximiert wird.<br />

b) Darüber hinaus ist es kaum plausibel, warum z.B. ein Grundschulabgänger<br />

beim Übertritt aufs Gymnasium kognitive Voraussetzungen mitbringen<br />

soll, über die (so zumindest bei der Mittelwertsentscheidung) eigentlich nur<br />

50% der Gymnasiasten verfügen.<br />

� Modell der Regressionsanalyse: ist das im wissenschaftlichen Kontext am häufigsten<br />

eingesetzte Modell; zur Berechnung einer multiplen Regression werden mehrere<br />

Prädiktoren zur Vorhersage herangezogen und jeweils spezifisch gewichtet;<br />

Spezialfälle der multiplen Regressionsanalyse sind z.B. die Kovarianz- und die<br />

Pfadanalyse (Ermittlung von Strukturmodellen).<br />

� Nachteil: Das Modell geht davon aus, dass die jeweiligen Prädiktoren bei<br />

jedem Individuum (bzw. jeder Merkmalskombination) dieselbe Wirkung<br />

haben. Eventuelle Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen<br />

Prädiktoren bleiben demnach unberücksichtigt.<br />

� Der Moderator-Ansatz: geht davon aus, dass die Wirkung einzelner Prädiktoren vom<br />

Interaktionsgefüge aller Prädiktoren abhängt. Die verschiedenen Prädiktoren haben<br />

demnach für verschiedene Personengruppen einen unterschiedlichen Vorhersagewert.<br />

� Problem: Der Ansatz ist praktisch kaum umsetzbar, da das Interaktionsgefüge<br />

zu komplex ist und kaum gesichertes Wissen über die spezifische Wirkung der<br />

einzelnen Moderatoren zur Verfügung steht.<br />

� Methode der „Automatischen Klassifikation“ (Heller): dabei wird das<br />

Merkmalsprofil eines Schülers mit den für die verschiedenen Schultypen<br />

charakteristischen Anforderungsprofilen verglichen und dem Profil, dem es am<br />

ähnlichsten ist („HS-Typ“, „RS-Typ“, „Gym-Typ“), zugeordnet.<br />

� Genauer: Anhand repräsentativer Eichstichproben werden für verschiedene<br />

Fähigkeitstests schulartspezifische Klassennormen ermittelt, mit denen dann<br />

die Testwerte der zur Debatte stehenden Schüler verglichen werden können<br />

(für den kognitiven Fähigkeitstest KFT 4-13+ z.B. gibt es solche Normen<br />

ohnehin, für andere Tests wurden sie von Heller extra ermittelt)<br />

78


� Nachteile:<br />

� Die Annahme, dass den institutionellen Schultypen jeweils spezifische<br />

Schülertypen entsprechen, ist problematisch; schließlich sammeln sich in<br />

bestimmten Schultypen ganz unterschiedliche Schülertypen, was v.a. daran<br />

liegt, dass Schulerfolg auf unterschiedlichen Merkmalskonfigurationen<br />

beruhen kann.<br />

� Auch charakteristische Schulprofile lassen sich heute kaum noch erstellen<br />

(Differenzierung, Autonomie der einzelnen Schulen etc.)<br />

� Rosemanns Methode der typologischen Prädiktion: unterscheidet anhand<br />

typischer Merkmalskonfigurationen, wobei nicht nur kognitive, sondern auch<br />

nichtkognitive- und Umweltmerkmale einbezogen werden, zwischen verschiedenen<br />

Schülergruppen, denen empirisch jeweils bestimmte Leistungsniveaus entsprechen.<br />

� Das dem Modell zugrundeliegende Prinzip entspricht dem der Automatischen<br />

Klassifikation; genau wie dort, geht es um die typologische Zuordnung zu<br />

einem bestimmten Merkmalsprofil. Die Zuordnung erfolgt jedoch wesentlich<br />

differenzierter. 1) werden nicht nur kognitive, sondern auch nicht-kognitive-<br />

und Umweltfaktoren einbezogen, 2) wird von wesentlich mehr Untergruppen<br />

ausgegangen.<br />

79


B 5: Leistungsbeurteilung / Schulleistungstests<br />

1. Allgemeines zur schulischen Leistungsbeurteilung<br />

� Leistungsbeurteilungen haben folgende Funktionen:<br />

� Gesellschaftliche Funktion (Rückmeldung an die Gesellschaft)<br />

� Didaktische Funktion (Rückmeldung an den Lehrer)<br />

� Persönliche Funktion (Rückmeldung an den Schüler)<br />

� Jede Leistungsbeurteilung erfolgt im Hinblick auf eine Norm; 4 Arten von<br />

Bezugsnormen lassen sich dabei unterscheiden:<br />

1) Soziale Bezugsnorm: Die Einzelleistung wird an der durchschnittlichen<br />

Leistung der Gruppe gemessen; die Beurteilung informiert also darüber,<br />

welche relative Position die beurteilte Person in dieser Gruppe einnimmt.<br />

2) Individuelle Bezugsnorm: Die Einzelleistung wird an dem sonstigen<br />

Leistungsniveau der betreffenden Person gemessen, so dass die Beurteilung<br />

darüber informiert, inwiefern der Lerner seine Möglichkeiten ausgeschöpft-<br />

bzw. sich vielleicht sogar gesteigert hat.<br />

3) Sachliche (bzw. kriteriale) Bezugsnorm: Die Einzelleistung wird an<br />

sachlichen Vorgaben gemessen, also danach beurteilt, inwieweit bestimmte<br />

Lernziele (bzw. Punkte) erreicht wurden.<br />

4) Fähigkeitsorientierte Bezugsnorm: Die Einzelleistung wird danach<br />

bemessen, inwiefern bestimmte, an Eichstichproben gewonnene,<br />

Kompetenzstufen erreicht wurden. Demnach informiert die Beurteilung über<br />

die Fähigkeit einer Person in Relation zu eben diesen Kompetenzstufen.<br />

� Relevant im Hinblick auf die Einführung sog. „Bildungsstandards“<br />

� Klassifikation von Bewertungsmethoden:<br />

� Intuitive Methoden: Beurteiler entscheidet nach individuellen Regeln, wie<br />

eine Leistung zu beurteilen ist; die Objektivität, Reliabilität und Validität<br />

solcher Verfahren ist mehr als fraglich; noch problematischer ist die fehlende<br />

Transparenz und Kontrolle; intuitive Methoden sind dementsprechend<br />

abzulehnen.<br />

� Rationale Methoden: Auf der Basis von sachlogischen und fachlichen<br />

Überlegungen werden kriteriale Bewertungsmaßstäbe entwickelt und<br />

hinreichend operationalisiert.<br />

� Rational-empirische Methoden: basieren auf empirisch gewonnenen<br />

Bezugsnormen; lassen dem Lehrer aber keinen pädagogischen<br />

Gestaltungsspielraum!<br />

� Verschiedene Methoden zur Erfassung von Leistung:<br />

� Beobachtung (Selbst- und Fremdbeobachtung): siehe B 6<br />

- Vorteile: flexibel, adaptiv, ökonomisch<br />

- Nachteile: Wahrnehmungs- und Registrierfehler; Nichteindeutigkeit<br />

in der Identifikation der Merkmale;<br />

Objektivität, Reliabilität und Validität sind nicht<br />

garantiert<br />

� Mündliche Prüfungen<br />

- zu Vor- und Nachteilen: s.o.<br />

� Schriftliche Prüfungen<br />

� Arbeitsprobe<br />

� Lerntagebuch<br />

� Aufsatz<br />

� Informeller Test<br />

� Formeller Test (s. u.)<br />

80


� Portfoliomethode (s. u.)<br />

� Zum Portfolioverfahren: Ein Portfolio ist eine Sammlung von (Schüler-)Arbeiten,<br />

welche die Anstrengung des Lernenden, den Lernfortschritt und die Leistungsresultate<br />

auf einem oder mehreren Gebieten zeigt; bei der Zusammenstellung des Portfolios<br />

wird der Schüler beteiligt.<br />

� Zu verbalen Zeugnissen: zeigen vergleichbare Fehlertendenzen wie Ziffernnoten,<br />

stellen vielfach eine Überforderung für Lehrer, Schüler und Eltern dar!<br />

2. Allgemeines zu Schulleistungstests<br />

� Schulleistungstests lassen sich anhand zweier Dimensionen klassifizieren: Nach der<br />

Art der Bezugsnorm (sozial vs. sachlich) und nach dem Grad der<br />

Standardisierung (formell vs. informell)<br />

� w<br />

Soziale f Norm<br />

(vergleichsbezogen)<br />

Sachnorm<br />

(lehrzielbezogen)<br />

Formell Informell<br />

Normorientierte<br />

Informelle, normorientierte<br />

Schulleistungstests Tests ( auch Klassenarbeiten)<br />

Lehrzielorientierte Informelle, lehrzielorientierte<br />

Schulleistungstests Tests<br />

� Für alle Tests gilt: Die Validität muss immer aufgrund einer Lehrzielanalyse<br />

bestimmt werden.<br />

� Lehrzielorientierte Tests könnten bei anderer Standardisierung auch als<br />

normorientierte Tests verwendet werden.<br />

� Normorientierte Tests enthalten zumeist Aufgaben auf mittlerem<br />

Lehrzielniveau (da solche Aufgaben die höchste Trennschärfe haben)<br />

� Informelle Tests unterscheiden sich von formellen nur durch den Grad der<br />

Normierung (Bezug auf eine Klasse anstatt auf eine repräsentative<br />

Eichstichprobe)<br />

3. (Sozial-)Normorientierte Schulleistungstests<br />

� Definition: Wissenschaftliches Routineverfahren zur Feststellung des<br />

Kenntnisstandes in einem (oder mehreren) inhaltlich spezifizierten kognitiven<br />

Lehrzielbereich(en); dabei werden Aussagen über die Leistungshöhe aufgrund des<br />

Vergleiches mit den Leistungen einer für die jeweilige Alterstufe, Schulstufe oder<br />

Schulart repräsentativen Stichprobe getroffen.<br />

� Analyseschritte bei der Konstruktion normorientierter Schulleistungstests:<br />

1) Analyse der Lehrpläne (zwecks inhaltlicher bzw. curricularer Validität)<br />

� Die für die Zielgruppe relevanten Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien<br />

sind auf die in ihnen enthaltenen Lehrziele hin zu analysieren (geschieht<br />

meist unter Mitarbeit von Fachdidaktikern)<br />

� Die Lehrziele sind dabei in eine „Lehrzielmatrix“ einzutragen, bei der<br />

zwischen „Inhaltsaspekt“ (Zeilen) und „Verhaltensaspekt“ (Spalten)<br />

unterschieden wird.<br />

- Der Verhaltensaspekt lässt sich mit Blooms Lernzieltaxonomie in 6<br />

Bereiche untergliedern: 1) Wissen � 2) Verstehen � 3) Anwenden<br />

� 4) Analyse � 5) Synthese � 6) Bewertung/Evaluation (s.o.)<br />

- Für die Inhalte müssen je nach Lehrzielbereich eigene (möglichst<br />

konkrete) Kategorien entwickelt werden.<br />

� In die Zellen der Matrix wird die Zahl der geplanten Items eingetragen<br />

(Spaltensumme = Gewicht des jew. Verhaltensbereiches; Zeilensumme =<br />

Gewicht des betreffenden Inhaltsbereiches)<br />

81


� Die Lehrzielmatrix hat v. a. heuristische Funktion; sie soll dabei helfen,<br />

geeignete Aufgabenklassen zu finden und für eine ausgewogene<br />

Zusammenstellung sorgen (schließlich wird oft nur „Wissen“ abgefragt)<br />

2) Entwurf von Testitems bzw. Aufgaben<br />

� Inhaltlich sollten die Items für die einzelnen Zellen der Lehrzielmatrix<br />

repräsentativ sein.<br />

� Was die formale Gestaltung der Items betrifft, gibt es folgende<br />

Möglichkeiten:<br />

a) Gebundene Aufgabenbeantwortung<br />

- Auswahlantworten (Richtig/Falsch- und Mehrfachwahlaufgaben)<br />

- Ordnungsantwortaufgaben (Zuordnung- und Umordnungsaufgaben)<br />

b) Freie Aufgabenbeantwortung<br />

- Ergänzungsaufgaben (Lücken)<br />

- Kurzantwortaufgaben<br />

- Kurzaufsatzaufgaben<br />

3) Vorerprobung an wenigen Fällen (um die Verständlichkeit der<br />

Aufgabenformulierungen zu überprüfen, evtl. Revision der Items)<br />

4) Testdurchführung an einer kleinen Stichprobe (200-400 Schüler)<br />

5) Aufgaben- und Testanalyse anhand der so gewonnen Daten<br />

� Berechnung der Aufgabenschwierigkeit: der Schwierigkeitsindex einer<br />

Aufgabe (Pi) entspricht dabei dem prozentualen Anteil der richtigen<br />

Lösungen zu dieser Aufgabe; heißt: je höher die statistische Schwierigkeit,<br />

desto einfacher die Aufgabe!<br />

- Die Schwierigkeitsindices sollten zwischen .20 und .80 streuen (damit<br />

der Test maximal diskriminiert)<br />

- Zum Einstieg sollten leichtere Items gewählt werden<br />

(Eisbrecherfunktion); danach ansteigender Schwierigkeitsgrad (zwecks<br />

Erhaltung der Testmotivation)<br />

- Je nachdem, ob der Test eher im oberen oder unteren Leistungsbereich<br />

differenzieren soll, werden mehr schwierige oder mehr leichte<br />

Aufgaben beibehalten.<br />

� Distraktorenanalyse: Wie oft werden welche Distraktoren gewählt?<br />

- 10% = geeigneter Distraktor; 15% = guter Distraktor<br />

- Wird eine falsche Antwort zu häufig gewählt, kann das ein Hinweis auf<br />

fehlleitende Instruktion sein (oder eben auf typische Denkfehler)<br />

- Ein Distraktor, der nie gewählt wird, ist ungeeignet.<br />

� Trennschärfeberechnung: Die Trennschärfe einer Aufgabe gibt an, wie<br />

gut sie zwischen guten und schlechten Pbn differenziert; der<br />

Trennschärfekoeffizient entspricht der Korrelation zwischen dem<br />

Aufgabenwert und dem Gesamttestwert (rit liegt zw. -1,0 und +1,0).<br />

- Ein hoher Trennschärfekoeffizient besagt, dass die Pbn, die die<br />

betreffende Aufgabe richtig gelöst haben, auch im Gesamttest gut<br />

waren; hohe Trennschärfen sind v. a. bei Aufgaben mittlerer<br />

Schwierigkeit zu erwarten.<br />

- Ein Trennschärfekoeffizient von 0 besagt, dass gute und schlechte Pbn<br />

die Aufgabe in etwa gleich häufig gelöst bzw. nicht gelöst haben (=><br />

Item ist unbrauchbar)<br />

- Ein negativer Trennschärfekoeffizient besagt, dass das Item eher von<br />

schlechten Pbn gelöst wurde (Item muss entfernt oder umformuliert<br />

werden)<br />

� Reliabilitäts-(Homogenitäts-)Schätzung<br />

82


� Berechnung der Verteilungskennwerte des Tests: Mittelwert, Streuung,<br />

Schiefe und Exzess der Rohwertverteilung<br />

6) Testeichung an einer für den Anwendungsbereich repräsentativen<br />

Stichprobe: Berechnung von Normwerten (evtl. auch von Schulartnormen)<br />

� Standardnormen:<br />

- nur bei Normalverteilung möglich; Transformation der Rohwerte in z-<br />

Werte (damit sich ein Mittelwert von 0 und eine Streuung von 1<br />

ergibt): Die Differenz aus Rohwert und arithmetischem Mittelwert -<br />

geteilt durch die Streuung der Rohwertverteilung<br />

� Standardnorm-Äquivalente:<br />

- Entstehen durch die Transformation der z-Werte (z.B. indem man zu<br />

jedem z-Wert 100 addiert, um negative Werte zu vermeiden)<br />

� Prozentrangnormen:<br />

- Für wissenschaftliche Zwecke zu ungenau<br />

7) Testvalidierung<br />

� Empirische Validität wird meist an kleinen Stichproben geprüft!<br />

� Inhaltliche Validität sozialnormierter Schulleistungstest: Da Schulleistungstests<br />

anders als Intelligenztests Leistungen erfassen wollen, die aufgrund eines schulischen<br />

Lehrangebots initiiert wurden, muss dieses Angebot sowohl bei der Konstruktion, als<br />

auch bei der Auswertung hinreichend berücksichtigt werden. Neben der Abgleichung<br />

mit den Lehrplänen (curriculare Validität) muss dabei auch überprüft werden,<br />

inwiefern die Lehrplanvorgaben im Unterricht tatsächlich umgesetzt wurden<br />

(Lerngelegenheit).<br />

� Letzteres kann auf 3 Arten geschehen:<br />

1. Überprüfung von Unterrichtsmaterialien (Klassenbucheintragungen,<br />

Lehrbücher, Klassenarbeiten etc.)<br />

2. Erhebung von Lehrerurteilen über die curriculare Validität eines Tests<br />

(z.B. Wie viel Zeit wurde auf die in den Testitems repräsentierten Inhalte<br />

verwendet etc.)<br />

3. Erhebung von Schülerurteilen über die curriculare Validität eines Tests<br />

� Einsatzmöglichkeiten sozialnormierter Schulleistungstests:<br />

� Anwendung in der Schulklasse:<br />

� Vergleich des Leistungsstandes einer bestimmten Klasse mit der<br />

Eichstichprobe<br />

- Durchschnittliche Leistungsfähigkeit der Klasse<br />

- Überprüfung der Effektivität des eigenen Unterrichts<br />

- Lehrplangemäßheit des Unterrichts<br />

� Überprüfung des eigenen Benotungssystems durch den Vergleich mit den<br />

Testwerten<br />

- systematische Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Schüler?<br />

- Bestimmung der Position spezifischer Gruppen (z.B.<br />

Gastarbeiterkinder)<br />

� Objektivierungsmöglichkeit bei Schulart- oder Kurswechsel<br />

� Einsatz zur Lehr- und Lernsteuerung<br />

- Diagnose der Eingangsvoraussetzungen bei neuen Lehrsequenzen<br />

- Übernahme einer neuen Klasse: Wissenstandsüberprüfung<br />

� Einsatz zur Unterrichtsdifferenzierung<br />

- Binnendifferenzierung: Wo haben einzelne Schüler besondere<br />

Schwächen (besonders wichtig beim Prinzip des „Mastery Learning“)<br />

83


� Äußere Differenzierung<br />

- Einteilung nach Leistungsgruppen (A-, B-, C-Kurse); v. a. in<br />

Gesamtschulen relevant<br />

� Summative Evaluation<br />

- Schulleistungstests (bei gegebener inhaltlicher Validität) als Ersatz für<br />

Klassenarbeiten<br />

� Forschungsfragen<br />

� Überprüfung der Effektivität verschiedener Unterrichtsmethoden<br />

� Überprüfung der Wirksamkeit verschiedener Schulsysteme<br />

� Überprüfung der Wirksamkeit verschiedener Schülergruppierungen<br />

(heterogen vs. homogen)<br />

� Formative Evaluation und Entwicklung von Lehrplänen oder Curricula<br />

� Erarbeitung und Überprüfung von Bedingungsmodellen für Schulleistung<br />

� Kritik: Standardisierte Schulleistungstests werden im Unterricht nach wie vor äußerst<br />

selten eingesetzt. Gründe dafür könnten sein:<br />

� Negative motivationale Folgen: sozialnormierte Tests, die noch dazu<br />

„wissenschaftlich“ abgesichert sind, können v. a. auf schlechtere Schüler<br />

demotivierend wirken<br />

� Sozialnormierte Tests machen die Leistungsunterschiede zw. den Schülern für<br />

den Lehrer überdeutlich und legen damit einen ungünstigen Attributionsstil<br />

nahe!<br />

� Erstarrung des Unterrichts und Verarmung der Lehrpläne, da Lehrer nur<br />

noch testrelevantes und testbares Wissen vermitteln!<br />

4. Kriteriumsorientierte Leistungsmessung (v.a. von Klauer propagiert)<br />

� Vertreter der kriteriumsorientierten Leistungsmessung (z.B. Klauer) wenden sich<br />

dezidiert gegen sozialnormierte Verfahren: Der klassischen Testtheorie geht es darum,<br />

Unterschiede zwischen Personen zu erfassen; pädagogischen Tests müsse es dagegen<br />

um die Frage gehen, ob bestimmte Lernziele erreicht wurden oder nicht.<br />

� Zur Kritik im Einzelnen: s. o.<br />

� Definition: Kriteriumsorientierte Tests orientieren sich dementsprechend nicht an<br />

Gruppennormen, sondern an inhaltlichen Lehr- und Lernzielen. Zu diesem Zweck<br />

wird ein Mindesttestwert (eine Idealnorm) festgeschrieben, mit dessen Hilfe<br />

entschieden wird, ob der zu testende Inhalt bzw. die geforderte Verhaltensweise<br />

hinreichend beherrscht wird oder nicht.<br />

� Voraussetzungen kriteriumsorientierter Tests:<br />

� Genaue Definition und Quantifizierung der Lernzielbereichs<br />

� Quantitative Erfassung der Schülerleistungen<br />

� Messmodell für die zufallskritische Entscheidung darüber, ob Lehrziel<br />

erreicht wurde oder nicht<br />

� Während die Einzelleistung in sozialnormierten Tests nur im Hinblick auf die<br />

Leistung anderer interpretiert werden kann (relativ), ist bei<br />

kriteriumsorientierten Tests auch die Einzelleistung interpretierbar (absolut).<br />

� Für die Entscheidung, ob ein Lehrziel erreicht wurde oder nicht, schlägt Klauer die<br />

Verwendung des Binomialmodells vor. Danach kann die Lehrzielerreichung als eine<br />

bestimmte Lösungswahrscheinlichkeit für eine bestimmte Menge von Items<br />

angesehen werden.<br />

� Die erforderliche Lösungswahrscheinlichkeit p wird auf 1 (bzw. P = 100%)<br />

festgelegt, wobei jedoch eine gewisse Fehlertoleranz (τ = 0.1 oder 0.05)<br />

eingeräumt wird.<br />

84


� Voraussetzungen des Binomialmodells:<br />

� Die Annahme, dass alle Items zur gleichen Lehrstoffklasse gehören<br />

� Die Annahme dass alle Aufgaben voneinander unabhängig zu lösen sind<br />

� Die Annahme, dass die Aufgaben gleiche Schwierigkeiten aufweisen<br />

� Reliabilität und Objektivität kriteriumsorientierter Tests können aufgrund ihrer<br />

geringen Varianz nicht mit den gängigen Methoden geprüft werden; eine Möglichkeit<br />

ist jedoch die Berechnung des Ü-Koeffizienten.<br />

85


B 6: Verhaltensbeobachtung im Unterricht<br />

1. Typische Probleme bei der Beobachtung<br />

� Aufmerksamkeits- und Ermüdungsprobleme (insbes. bei Überlastung)<br />

� Fehlerhafte Aufzeichnung<br />

� Reaktanzeffekte<br />

� Kognitive Verzerrungen (Übergeneraliserung, zu frühe Wertung, Akzentuierung,<br />

Selektion etc.)<br />

� Identifizierung mit den beobachteten Personen (insbes. bei der teilnehmenden<br />

Beobachtung)<br />

� Nicht repräsentative Auswahl der Beobachtungsperioden<br />

� Etc. etc.<br />

2. Arten von Beobachtung<br />

� Naive Beobachtung vs. systematische („wissenschaftliche“) Beobachtung:<br />

� Wissenschaftliche Beobachtungen sind a) zielorientiert (heißt: es wird vorher<br />

genau festgelegt, was beobachtet wird und warum es beobachtet wird) und b)<br />

methodisch kontrolliert (Ausschaltung von Störvariablen; Verwendung eines<br />

standardisierten Registrierschemas; Speicherung der Ergebnisse; etc. etc.)<br />

� „Breitband-Fidelitäts-Dilemma“: Je genauer ein Verfahren in der Lage ist,<br />

ein Personenmerkmal zu erfassen, desto schmaler ist sein Aussage- bzw.<br />

Validitätsbereich!<br />

� Naive Beobachtungen sind all das nicht und dementsprechend anfällig für eine<br />

Vielzahl von Störeinflüssen (subjektive Wertungen, Übergeneralisierungen,<br />

Ungenauigkeit, willkürliche Auswahl etc.)<br />

� Fremd- vs. Selbstbeobachtung:<br />

� Selbstbeobachtung (Introspektion):<br />

� Nachteile:<br />

- Reaktivität (Veränderung des Beobachtungsgegenstandes durch die<br />

Beobachtung)<br />

- Kognitive Überforderung (sofern Verhalten und Beobachtung simultan<br />

ablaufen);<br />

- Ergebnisse sind nicht nachprüfbar;<br />

- Es gibt psychische Phänomene, die der Introspektion unzugänglich<br />

bleiben müssen, weil sie nicht bewusst sind<br />

� Vorteil: Bei therapeutischen oder verhaltensmodifikatorischen<br />

Interventionen kann die Methode der Selbstbeobachtung sehr sinnvoll sein;<br />

sie sollte dabei jedoch mit Fremdbeobachtung kombiniert werden (Vgl.<br />

kooperative Verhaltensmodifikation).<br />

� Fremdbeobachtung: von den Behavioristen stark gemacht; im<br />

wissenschaftlichen Kontext die grundlegende Methode der Datengewinnung (zu<br />

den verschiedenen Formen der Fremdbeobachtung: s.u.)<br />

� Teilnehmende- vs. nicht-teilnehmende Beobachtung:<br />

� Teilnehmende Beobachtung: Beobachter ist selbst Teil der zu beobachtenden<br />

Gruppe (klassisch: die diversen Wallraff-Reportagen); Intention ist es<br />

Reaktanzeffekte zu vermeiden; Probleme: Gefährdung der Objektivität,<br />

kognitive Überforderung aus Seiten des Beobachters; Gedächtnisverzerrungen,<br />

sofern Ergebnisse erst im Nachhinein protokolliert werden können<br />

� Nicht-teilnehmende Beobachtung: es findet keine Interaktion zw. Beobachter<br />

und den beobachteten Pbn statt.<br />

86


� Wissentliche / offene Beobachtung vs. unwissentliche / verdeckte Beobachtung:<br />

� Unwissentliche Beobachtung: Beobachtete wissen nicht, dass sie beobachtet<br />

werden (zum Beispiel durch Einwegscheibe oder mit versteckter Kamera);<br />

Vorteil: Ausschluss von Reaktanzeffekten; Nachteil: ethisch problematisch;<br />

nachträgliche Einverständniserklärung unbedingt erforderlich<br />

� Einseitig verdeckte Beobachtung: Pbn weiß nicht, was beobachtet wird<br />

(z.B. durch eine Coverstory)<br />

� Beidseitig verdeckte Beobachtung: Weder Beobachteter, noch Beobachter<br />

wissen, worum es eigentlich geht (Coverstory + „blinder VL“)<br />

� Technisch vermittelte- vs. technisch unvermittelte Beobachtung:<br />

� Vermittelte Beobachtung: Zu beobachtendes Verhalten wird gespeichert (z.B.<br />

mittels Audio- oder Videoaufnahme) und ist dadurch beliebig abrufbar und<br />

wieder verwendbar.<br />

� Vorteile: Verminderung von Wahrnehmungs- und Registrierfehlern,<br />

Möglichkeit, simultan ablaufendes Verhalten zu beobachten und zu kodieren,<br />

Einsatz verschiedener Beobachter<br />

� Nachteile: Subjektive Bildauswahl durch Kameramann, oft schlechte<br />

Qualität etc.<br />

� Kontinuierliche- vs. diskontinuierliche Beobachtung:<br />

� Kontinuierliche Beobachtungen: Dauerbeobachtungen; aus ökonomischen<br />

Gründen meist nicht möglich<br />

� Diskontinuierliche Beobachtungen: Zeitstichprobenpläne, bei denen z.B. jeder<br />

Schüler 3 Minuten beobachtet wird; Probleme: Zeitliche Struktur eines<br />

Verhaltens (etwa die Entwicklung über eine Schulstunde hinweg) kann nicht<br />

erfasst werden; seltene Verhaltensweisen bleiben oft unbeobachtet<br />

� Life- (bzw. Feld-) vs. Laborbeobachtung:<br />

� Laborbeobachtungen:<br />

� Vorteile: leichte Manipulierbarkeit der UV, Kontrolle von Störbvariablen,<br />

Schaffung optimaler Beobachtungsbedingungen<br />

� Nachteile: Reaktanzeffekte; Problem der externen (bzw. ökologischen)<br />

Validität!<br />

� Fazit: Die systematische, nicht-teilnehmende und verdeckte Beobachtung ist,<br />

zumindest was die diagnostischen Gütekriterien betrifft, wohl die beste Methode!<br />

3. Mögliche Beobachtungssysteme<br />

� Beobachtungssysteme dienen dazu, den Beobachtungsvorgang zu strukturieren; sie<br />

legen fest, was beobachtet werden soll und wie die Ergebnisse zu protokollieren sind.<br />

� Grundsätzlich lassen sich 2 Arten von Beobachtungssystemen unterscheiden:<br />

1) Isomorphe Deskription: Möglichst vollständige und unveränderte Wiedergabe<br />

des beobachteten Geschehens<br />

� Faktisch nicht durchführbar, da keine Beobachtung ohne Kategorisierung<br />

auskommt und Verhalten immer unterschiedlich kategorisiert werden kann.<br />

2) Reduktive Deskription: nur ausgewählte Verhaltensweisen werden registriert.<br />

� Dabei lassen sich, je nachdem wie die beobachteten Verhaltensweisen<br />

kodiert werden, 3 Typen von Beobachtungssystemen unterscheiden:<br />

a) Zeichensysteme: Eine oder mehrere ausgewählte Verhaltensweisen<br />

werden nach der Häufigkeit ihres Auftretens festgehalten (je nachdem, ob<br />

dabei eine Zeit- oder Ereignisstichprobe zugrunde gelegt wird, spricht<br />

man von Time- oder Event-Sampling)<br />

b) Kategoriensysteme: Jede auftretende Verhaltensweise wird einer<br />

Kategorie zuzuordnen versucht; die zur Auswahl stehenden Kategorien<br />

87


werden dabei vorher genau festgelegt (so ist z.B. die Interaktions-<br />

Prozess-Analyse von Bales angelegt: s.u.)<br />

c) Schätzskalen: Die zu beobachtenden Verhaltensweisen sind nicht nur als<br />

solche zu registrieren, sondern sind darüber hinaus hinsichtlich ihrer<br />

Intensität zu beurteilen. Stellt hohe Anforderungen an den Beobachter<br />

und sollte daher mit technischer Unterstützung erfolgen.<br />

� Entwicklungsschritte bei der Ausarbeitung eines Beobachtungssystems:<br />

1) Abgrenzung des Beobachtungsziels und des interessierenden<br />

Verhaltensbereiches<br />

2) Entwurf eines vorläufigen Kategoriensystems, das durch Experten, Kollegen<br />

etc. auf seine inhaltliche Validität überprüft wird<br />

3) Formulierung der Beobachtungsitems: positiv und im Präsens; die zu<br />

beobachtenden Verhaltensweisen sollten leicht identifizierbar sein; die Anzahl<br />

der Kategorien darf die kognitive Kapazität der Beobachter nicht übersteigen etc.<br />

� Kategorien für die Unterrichtsbeobachtung könnten z.B. sein:<br />

- Sprechzeiten von Lehrer und Schülern (Dauer)<br />

- Wartezeiten auf Schüler-Antworten (Dauer)<br />

- Interaktionsrichtungen: Lehrer => Schüler, Schüler => Lehrer; Schüler<br />

=> Schüler (Häufigkeit)<br />

- Arbeitsformen: Lehrervortrag, Stillarbeit etc. (Dauer)<br />

- Einsatz von Verstärkern: positive-, negative Verstärkung, Bestrafung<br />

Typ I und II, Ignorierung (Häufigkeit), …<br />

4) Planung des Ablaufs der Beobachtung: Zeit- oder Ereignisstichproben, wie<br />

viele Beobachter, Verwendung technischer Hilfsmittel etc.<br />

5) Beobachtertraining: mit Hilfe von Videoaufzeichnungen, anhand derer die<br />

Kategorien verdeutlicht werden (=> enorme Erhöhung der Objektivität)<br />

6) Pretest zur Prüfung der intersubjektiven Übereinstimmung: evtl. Änderung<br />

der Beobachtungskategorien<br />

7) Durchführung der Beobachtung<br />

� Einige Ergebnisse zu Art und Häufigkeit von Lehrer- und von Schüleräußerungen im<br />

Unterricht (v. a. von Tausch):<br />

� Zur Häufigkeit von Lehreräußerungen:<br />

� Hohe Lehrerdominanz im Unterricht (Lehrer reden 40- bis 50 mal mehr als<br />

ein einzelner Schüler)<br />

� Sprachverhalten einzelner Lehrer ist konsistent und unabhängig vom<br />

Unterrichtsgegenstand (scheint also persönlichkeitsabhängig zu sein)<br />

� Logisch: Je höher der Redeanteil des Lehrers, desto geringer der Redeanteil<br />

der Schüler (r = -.75); auch die Qualität der Schülerbeiträge wird<br />

beeinträchtigt, sofern Schüler häufiger einsilbig oder in unvollständigen<br />

Sätzen antworten.<br />

� Bezeichnend: Die von ihnen in Anspruch genommene Redezeit wird von<br />

Lehrern massiv unterschätzt.<br />

� Zur Art von Lehreräußerungen:<br />

� Die Häufigkeit von Befehlen und Aufforderungen ist stark vom Lehrer<br />

abhängig; sie schwankt zwischen 5 und 108 Befehlen pro Stunde und hat<br />

weder etwas mit dem Alter oder Geschlecht des Lehrers, noch mit dem<br />

Unterrichtsfach zu tun, ist also vermutlich persönlichkeitsspezifisch!<br />

� Die Häufigkeit von Fragen ist ebenfalls vom Lehrer abhängig und nicht auf<br />

das Unterrichtsfach, das Alter oder die Anzahl der Schüler zurückzuführen.<br />

88


4. Die Interaktions-Prozess-Analyse (IPA) nach Bales<br />

� Die IPA ist ein vielseitig einsetzbares System zur Beobachtung und Kodierung von<br />

Interaktionsprozessen in Kleingruppen (Familien, Paare, Kurse etc.); Ziel ist es<br />

dabei, sowohl das emotionale und soziale Verhalten der Gruppe, als auch das der<br />

Einzelnen zu erfassen. Zu diesem Zweck werden nicht nur sprachliche Äußerungen,<br />

sondern auch non-verbale Verhaltensweisen bestimmten Kategorien zugeordnet.<br />

� Die konkreten Inhalte der Interaktionen werden dabei ausgeblendet.<br />

� Theoretischer Hintergrund des Modells:<br />

� Grundannahme: Das Modell geht davon aus, dass jedes soziale System zwei<br />

antagonistische Anpassungsleistungen vollbringen muss:<br />

1) Anpassung an die äußere Situation: und zwar im Sinne einer<br />

Aufgabenbewältigung; diese Funktionalisierung hat z. B. Aufgabenteilung,<br />

Autorität und Statusunterschiede zur Folge.<br />

2) Integration bzw. Reintegration nach innen: Da die zur Aufgabenbewältigung<br />

erforderlichen Prozesse (s.o.) den inneren Zusammenhalt des<br />

Systems gefährden, müssen immer wieder Integrationsleistungen<br />

vollbracht werden, die auf Solidarität und Gleichheit der<br />

Gruppenmitglieder ausgerichtet sind.<br />

� Da ein vollkommen ausgeglichenes Verhältnis zwischen diesen beiden<br />

Prozessen nicht möglich ist, bleibt ein soziales System permanent in Bewegung;<br />

jede „Gleichgewichtsstörung“ gibt dabei Anlass zu Interaktion.<br />

� Aufbau und Vorgehen der IPA:<br />

� Aufbau: Das Modell unterscheidet zwischen 2 Bereichen: dem<br />

sozialemotionalen- und dem Aufgabenbereich. Mit Blick auf den<br />

sozialemotionalen Bereich wird zwischen positiven- und negativen Reaktionen,<br />

mit Blick auf den Aufgabenbereich zw. Antwortversuchen und Fragen<br />

differenziert. Daraus ergeben sich für die Beobachtung 4 übergeordnete<br />

Kategorien; ihnen entsprechen jeweils 3 konkrete Verhaltenskategorien (s.u.),<br />

so dass für die Kodierung insgesamt 12 Kategorien zur Verfügung stehen.<br />

Immer zwei dieser Kategorien lassen sich einem bestimmten Problem zuordnen,<br />

das in Gruppen zu bewältigen ist. Die 6 Probleme, um die es sich dabei handelt,<br />

sind: a) Orientierung, b) Bewertung, c) Kontrolle, d) Entscheidung,<br />

e) Spannungsbewältigung, f) Integration.<br />

� Vorgehen: Der Beobachter muss fortwährend jeden sprachlichen und nichtsprachlichen<br />

Akt in eine der 12 Kategorien einordnen (Kategoriensystem mit<br />

Event-Sampling) und darüber hinaus die Interaktionsrichtung (d.h. Sender und<br />

Empfänger) vermerken.<br />

� Beinahe unnötig zu sagen, dass das Verfahren eine intensive<br />

Beobachterschulung voraussetzt!<br />

89


Bereiche Kategorien Probleme<br />

Sozialemotionaler Bereich<br />

Positive Reaktionen<br />

Aufgabenbereich<br />

Versuche der Beantwortung<br />

Aufgabenbereich<br />

Fragen<br />

Sozialemotionaler Bereich<br />

Negative Reaktionen<br />

1. Zeigt Solidarität,<br />

bestärkt die anderen,<br />

hilft, belohnt<br />

2. Entspannt Atmosphäre,<br />

scherzt, lacht, zeigt<br />

Befriedigung<br />

3. Stimmt zu, nimmt passiv<br />

hin, versteht, stimmt<br />

überein, gibt nach<br />

4. Macht Vorschläge, gibt<br />

Anleitung bei Wahrung<br />

der Autonomie des<br />

anderen<br />

5. Äußert Meinung,<br />

bewertet, analysiert,<br />

drückt Gefühle oder<br />

Wünsche aus<br />

6. Orientiert, informiert,<br />

wiederholt, klärt,<br />

bestätigt<br />

7. Erfragt Orientierung,<br />

Infos, Wiederholung,<br />

Bestätigung<br />

8. Fragt nach Meinungen,<br />

Stellungnahmen,<br />

Bewertung etc.<br />

9. Erbittet Vorschläge,<br />

Anleitung etc.<br />

10. Stimmt nicht zu, zeigt<br />

passive Ablehnung etc.<br />

11. Zeigt Spannung, bittet<br />

um Hilfe, zieht sich<br />

zurück<br />

12. Zeigt Antagonismus,<br />

setzt andere zurück,<br />

verteidigt oder<br />

behauptet sich<br />

Integration<br />

Spannungsbewältigung<br />

Entscheidung<br />

Kontrolle<br />

Bewertung<br />

Orientierung<br />

Orientierung<br />

Bewertung<br />

Kontrolle<br />

Entscheidung<br />

Spannungsbewältigung<br />

Integration<br />

� Auswertung:<br />

1) Profilanalyse für jeden Teilnehmer (Interaktionsprofile pro Person): Verteilung<br />

der Äußerungen einer Person über die 12 Kategorien hinweg<br />

2) Sequenzanalyse: Untersuchung, welche Kategorie auf welche folgt<br />

3) Wer-mit-Wem-Matrix (bzw. Interaktionsmatrix): Wer interagiert wie<br />

(Kategorie) mit wem und wie oft (Häufigkeit)<br />

4) Phasenuntersuchung: Festlegung von Zeitabschnitten, um Änderungen im<br />

Gruppengeschehen festzuhalten.<br />

� Ergebnisse (typische Interaktionsprozesse in Gruppen):<br />

� Prozessphasen: Orientierungsprobleme sind kennzeichnend für die<br />

Anfangsphase, Bewertungsprobleme sind in der mittleren Phase dominant,<br />

Kontrollversuche nehmen, genau wie die relative Häufigkeit sozialemotionaler<br />

Reaktionen, kontinuierlich zu.<br />

� Verteilung auf Gruppenmitglieder (Rollendifferenzierungen):<br />

� Personen werden umso häufiger angesprochen, je mehr Äußerungen sie<br />

selbst initiieren.<br />

90


� Rangniedrigere Gruppenmitglieder richten mehr Äußerungen an<br />

ranghöhere als sie von diesen erhalten.<br />

� Sozial hoch stehende Gruppenmitglieder richten ihre Äußerungen eher an<br />

die ganze Gruppe als an einzelne Personen, bei rangniedrigen ist es<br />

umgekehrt.<br />

� Die Tendenz zur Zentralisierung der Kommunikation nimmt mit der<br />

Gruppengröße zu.<br />

� Auffällig: Das aktivste Mitglied ist meistens nicht das Beliebteste =><br />

spricht für 2 unabhängige Führungspersönlichkeiten: einen<br />

„Aufgabenspezialisten“ und einen „sozio-emotionalen Führer“<br />

� Handlungsmuster: Im sozio-emotionalen Bereich überwiegen meist posititive<br />

Reaktionen, im Aufgabenbereich fallen die meisten Handlungen unter die<br />

Oberkategorie „versuchte Antworten“<br />

� Wo es umgekehrt ist, droht Gruppenzerfall!<br />

� Untersuchungsergebnisse zu Unterrichtsprozessen:<br />

� Das Lehrerverhalten gegenüber einzelnen Schülern hängt stark von deren<br />

soziometrischem Status ab; welcher Art der Zusammenhang ist, ist<br />

persönlichkeitsspezifisch: Manche wenden sich vermehrt schönen und<br />

beliebten Schülern zu, andere v. a. leistungsstarken Schülern.<br />

5. Varianten der Interaktions-Prozess-Analyse<br />

A) Unterrichtsbeobachtung mit der IPA nach Trolldenier (1985)<br />

� Da die IPA primär für kleinere Diskussionsgruppen konzipiert ist, wurde sie von<br />

Trolldenier zwecks besserer Handhabbarkeit und um sie genauer an die Erfordernisse<br />

von Schulklassen anzupassen, leicht modifiziert.<br />

� Die Interaktionsrichtung wird dabei auf folgende 9 Möglichkeiten reduziert:<br />

� L-S: Lehrer mit einzelnem Schüler<br />

� L-O: Lehrer mit mehreren Schülern<br />

� S-L: Einzelner Schüler mit Lehrer<br />

� O-L: Mehrere Schüler mit Lehrer<br />

� S-O: Schüler mit mehreren anderen Schülern<br />

� S-S: Ein Schüler mit einem anderen Schüler<br />

� O-O: Alle Schüler miteinander<br />

� O-S: Mehrere Schüler mit einem<br />

� X: Interaktion mit einem Dazugekommenen<br />

� Die einzelnen Bereiche und Kategorien der IPA bleiben inhaltlich weitgehend<br />

unverändert; letztere werden jedoch teilweise im Hinblick auf die<br />

Unterrichtssituation spezifiziert.<br />

� Wenn der Lehrer einen Schülerbeitrag wiederholt, wird er nur dann zur 3.<br />

Kategorie („stimmt zu“) gezählt, wenn im Tonfall Bekräftigung und<br />

Zustimmung anklingt, ansonsten wird die Wiederholung zu Kat. 6 (gibt<br />

Infos) gezählt<br />

� Zur Kategorie 12 („zeigt Antagonismus“) wird anders als bei Bales nicht<br />

jede Form von Lenkung gezählt, die dem anderen keine Entscheidung lässt<br />

(da eine solche Lenkung bei Lehrern dazugehört), sondern nur solches<br />

Verhalten, das von den Betroffenen als unfreundlich und aggressiv<br />

aufgefasst werden muss (Unterbrechungen etc.)<br />

91


� Sollte das vorgeschlagene Verfahren immer noch zu aufwendig sein, kann die IPA<br />

nach Trolldenier noch weiter vergröbert werden:<br />

� Die Interaktionsrichtung kann nur nach dem Initiator kodiert (bzw. signiert)<br />

werden<br />

� Lr: Lehrerinitiierte Interaktionen<br />

� Sr: Schülerinitiierte Interaktionen<br />

� Die 12 Kategorien können auf die 4 Basiskategorien reduziert werden:<br />

1. Sozialemotionaler Bereich: positive Aktionen<br />

2. Aufgabenbereiche: Versuche der Beantwortung<br />

3. Aufgabenbereich: Fragen<br />

4. Sozialemotinaler Bereich: Negative Aktionen<br />

� Kritik: Verfahren ist zwar weniger zeit- und trainingsaufwendig als das Original,<br />

aber immer noch äußerst aufwendig und wesentlich unspezifischer. Trotzdem ein<br />

guter Vorschlag! Wurde sowohl in Life-Situationen als auch mit Videoaufzeichnungen<br />

erprobt.<br />

B) Interaction-Process-Scores (IPS) nach Borgotta (1962)<br />

� Borgotta kritisiert an der IPA, dass darin nicht zwischen passiv-beiläufigen- und<br />

aktiv-gestaltenden Handlungen unterschieden wird, sondern diese oft in einer<br />

Kategorie zusammengefasst werden; die IPS-Kategorien differenzieren hier genauer.<br />

� So werden z.B. aus der 2. Kategorie bei Bales („Stimmt zu, nimmt passiv hin,<br />

gibt nach“) bei Borgotta zwei Kategorien: einmal „Versteht, zeigt passive<br />

Billigung“ (passiv) und einmal „Willigt ein, unterstützt, stimmt zu“ (aktiv)!<br />

� Ähnliches gilt für andere Kategorien, so das Borgotta, auch wenn er die 7. und<br />

9. Kategorie der IPA ganz weglässt, insgesamt auf mehr, nämlich auf 18<br />

Kategorien kommt.<br />

C) Kommunikationsmusteranalyse nach Lewis et al. (1961)<br />

� Fortlaufende Registrierung des Verhaltens anhand von 14 Kategorien (wobei alle 10<br />

Sekunden eine Signierung vorzunehmen ist).<br />

� Bedingt durch das Time-Sampling kann auch die Kategorie „keine<br />

Kommunikation“ belegt werden; sie liegt vor, wenn innerhalb eines 10-<br />

Sekunden-Intervalls keine erkennbare Reaktion gezeigt wird.<br />

92


6. Flanders Interaction Categories (FIAC)<br />

� FIAC wurde ursprünglich von der IPA abgeleitet, ist mittlerweile aber das<br />

bekannteste Kategoriensystem zur Beobachtung von Gruppenprozessen; konzipiert<br />

wurde es eigens für den schulischen Raum.<br />

� Aufbau und Vorgehen:<br />

� Mit dem Modell wird vorwiegend das Verbalverhalten kodiert; dabei wird<br />

zwischen initiierenden und responsiven Äußerungen unterschieden.<br />

� Von den insgesamt 10 Kategorien beziehen sich 7 auf das Verhalten des<br />

Lehrers und 2 auf das Verhalten der Schüler. Die 10. Kategorie ist eine<br />

Restkategorie.<br />

� Lehreräußerungen: 1. Akzeptiert Gefühle (responsiv)<br />

2. Lobt und ermutigt (responsiv)<br />

3. Akzeptiert oder verwendet Gedanken von<br />

Schülern (responsiv)<br />

4. Stellt Fragen<br />

5. Lehrervortrag (initiativ)<br />

6. Gibt Anweisungen (initiativ)<br />

7. Kritisiert Schülerverhalten oder rechtfertigt die<br />

eigene Autoritiät (initiativ)<br />

� Schüleräußerungen: 8. Antworten<br />

9. Initiativen<br />

� Unklar: 10. Schweigen oder Durcheinander<br />

� Vorgehen: Alle 3 Sekunden soll eine Verhaltensweise kodiert werden (Time-<br />

Sampling); zusätzlich sollen sog. „Episoden“ festgehalten werden (z.B. der<br />

Wechsel von einer Unterrichtsform zu einer anderen).<br />

� Auswertung: Kodierungen werden in eine Matrix (10×10) eingetragen, wobei die<br />

Zeile jeweils das erste Glied- und die Spalte das zweite Glied eines zeitlich<br />

aufeinanderfolgenden Paares wiedergibt. Auf diese Weise kann abgelesen werden,<br />

welche Kategorie auf welche folgte.<br />

� Mögliche Fragen: Ist der Lehrer zu dominant? Wie reagiert er auf Einfälle<br />

seiner Schüler? Etc. etc.<br />

� Kritik:<br />

� Ungleichgewicht zwischen Lehrer- und Schülerkategorien<br />

� Ober (1968) modifiziert die 10 Kategorien so, dass sie sowohl auf Schüler-,<br />

als auch auf Lehrerverhalten bezogen werden können (reziprokes<br />

Kategoriensystem), so dass es insgesamt 20 Kodierungsmöglichkeiten gibt.<br />

� Individuenspezifische Auswertung nicht möglich<br />

� Der Kategoriendefinition und -auswahl liegen keine expliziten theoretischen<br />

Annahmen zugrunde<br />

7. Ergänzung: Das Münchener Aufmerksamkeitsinventar (MAI)<br />

� Ziel: Systematische Beobachtung der Aufmerksamkeit der Schüler; Methode: Time-<br />

Sampling, multiples Kategoriensystem<br />

93


B 7: Diagnostik bei Verhaltensstörungen<br />

1. Verhaltensstörungen allgemein<br />

� Der Begriff „Verhaltensstörung“ (auch „Verhaltensauffälligkeit“, „Schwererziehbarkeit“<br />

etc.) bezieht sich auf den sozial-emotionalen Bereich und umfasst eine<br />

Vielzahl möglicher Symptome (Zurückgezogenheit, Aggressivität, Hyperaktivität<br />

etc.).<br />

� Der Begriff ist jedoch nicht einheitlich definiert; die gefundenen Prävalenzen<br />

schwanken dementsprechend, je nach zugrunde gelegtem Konzept, zw. 15 und<br />

35%!<br />

� „Verhaltensstörungen“ lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien<br />

klassifizieren (Ätiologie, Indikation etc.); rein phänomenologisch lässt sich<br />

zwischen Störungen unterscheiden, die sich nach außen richten (Aggressivität,<br />

Unaufmerksamkeit etc.) und solchen, die sich nach innen richten<br />

(Ängstlichkeit, Zurückgezogenheit etc.)<br />

� Versuch einer Definition: Eine Verhaltensstörung liegt dann vor, wenn soziale<br />

und/oder emotionale Verhaltensweisen eines Schülers so stark von idealen, sozialen<br />

und funktionalen Bezugsnormen abweichen, dass sie zur Beeinträchtigung des<br />

Schülers selbst und/oder seiner sozialen Umwelt führen.<br />

� Ideale Bezugsnormen: sind implizit oder explizit formulierte Regeln, die in<br />

einer Gesellschaft bzw. Gruppe Gültigkeit beanspruchen.<br />

� Die soziale Bezugsnorm: entspricht dem durchschnittlichen Verhalten in einer<br />

Kultur („statistische Norm“)<br />

� Funktionale Bezugsnormen: bewerten ein Verhalten dahingehend, ob bzw.<br />

inwieweit es zur Erreichung eines Verhaltenszieles funktional (förderlich) oder<br />

dysfunktional (hinderlich) ist.<br />

� Unkonzentriertes Verhalten z.B. ist dysfunktional in Bezug auf<br />

befriedigende Lernleistungen.<br />

� Die Definition impliziert, dass die Frage, was noch als „normal“ gelten kann und was<br />

als „verhaltensgestört“ eingestuft wird, nicht zuletzt von (sub-)kulturellen Einflüssen<br />

abhängt.<br />

� In asiatischen Kulturen wird aggressives Schülerverhalten z.B. eher toleriert<br />

als hierzulande.<br />

� Darüber hinaus hängt die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten als „gestört“<br />

eingestuft wird oder nicht, sowohl vom Geschlecht desjenigen ab, der das<br />

Verhalten zeigt, als auch vom Geschlecht des Beurteilers.<br />

� Bei Jungen wird aggressives Verhalten eher toleriert als bei Mädchen…<br />

� Konsequenz: Da die Einstufung als „verhaltensgestört“ somit stark von der Person des<br />

Beurteilers abhängt, ist bei der Diagnostik eine hohe Transparenz erforderlich, heißt:<br />

die zugrunde gelegten Wertmaßstäbe müssen offen gelegt werden!<br />

2. Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (siehe auch: C 3)<br />

� Schulischer Misserfolg wird im Schulalltag oft auf mangelnde Aufmerksamkeit und<br />

Konzentrationsschwierigkeiten zurückgeführt.<br />

� Experten gehen jedoch davon aus, dass die Prävalenzrate deutlich niedriger<br />

ist, als Lehrer und Eltern (10-45 %) vermuten.<br />

� DSM-IV: Prävalenzrate von 3-7% (Faustregel: etwa ein Kind pro Klasse)<br />

� Jungen sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen (zw. 2:1 und 9:1)<br />

94


� Dass Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen häufig vorschnell<br />

diagnostiziert werden, hat verschiedene Gründe:<br />

a) Entlastungsfunktion: Die Diagnose entlastet sowohl Lehrer (da diese auf<br />

die Konzentrationsfähigkeit keinen Einfluss haben) als auch Eltern (besser<br />

zerstreut als dumm).<br />

b) Laiendiagnosen vermischen unterschiedliche Konzepte, so dass auch<br />

solche Verhaltensweisen auf Aufmerksamkeitsstörungen zurückgeführt<br />

werden, die z.B. mit mangelnder Leistungsmotivation, fehlendem Interesse<br />

oder ungünstigem Attributionsstil besser zu erklären wären.<br />

� Schulische Aufmerksamkeit bzw. Konzentration lässt sich definieren als „eine direkte<br />

Zuwendung auf unterrichtsbezogene Tätigkeiten sowie als Kontrolle kognitiver<br />

Prozesse“ (Borchert)<br />

� Konzentration ist in hohem Maße situations- und aufgabenspezifisch, heißt:<br />

sie kann bei ein und derselben Person in unterschiedlichen Kontexten (z.B.<br />

Schule vs. Freizeit) recht unterschiedlich ausgeprägt sein.<br />

„Konzentrationsfähigkeit“ als Persönlichkeitskonstrukt anzusehen, wäre vor<br />

diesem Hintergrund verfehlt. Sinnvoller ist es, sich die konkreten<br />

Konzentrationsleistungen einer Person anzusehen.<br />

� V. a. in Amerika werden Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität häufig als<br />

Syndrom (Einheit, eigentlich: „Zusammenlauf“) gesehen. So auch im DSM-IV, das<br />

Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität zu einem Krankheitsbild<br />

zusammenfasst, wobei für beide Bereiche jeweils 9 Symptome genannt werden<br />

(genauer: C 3).<br />

� Eine Störung liegt nach dem DSM-IV vor, wenn entweder 6 Symptome von<br />

Unaufmerksamkeit oder von Hyperaktivität/Impulsivität vorliegen, die<br />

betreffende Person durch diese Symptome in zwei oder mehr Bereichen (z.B.<br />

in der Schule und zu Hause) beeinträchtigt wird und andere Störungen<br />

ausgeschlossen werden können.<br />

� Lauth und Schlottke sehen Aufmerksamkeitsstörungen als Ergebnis einer komplexen<br />

Entwicklung, die sich in 5 hierarchische aufeinander aufbauende Ebenen unterteilen<br />

lässt:<br />

1) Psycho-physische Störungsgrundlagen<br />

2) Eingeschränkte Verhaltensregulation<br />

3) Beeinträchtigung des Planungsverhaltens sowie des Inhalts- und Regelwissens<br />

4) Negative Umweltreaktionen durch Eltern, Lehrer und Gleichaltrige<br />

5) Negative Erlebnisverarbeitung<br />

� Westhoff verwendet zur Beschreibung der Konzentration die Metapher eines Akkus;<br />

sie kann von Natur aus stark oder schwach sein und arbeitet unter unterschiedlichen<br />

Bedingungen unterschiedlich gut. Konzentration wird damit sowohl als<br />

Persönlichkeitsmerkmal, als auch als Zustand verstanden.<br />

� Ergo: Störungen können auftreten, wenn die Konzentrationsfähigkeit von<br />

Natur aus schwach ausgeprägt ist und/oder durch bestimmte Bedingungen<br />

gestört wird.<br />

� Störbedingungen können sein:<br />

� Körperliche Voraussetzungen<br />

� Motivationale Bedingungen<br />

� Äußere Bedingungen (z.B. Lärm)<br />

� Intellektuelle Lernfähigkeit<br />

� Soziale Bedingungen<br />

� Emotionale Bedingungen<br />

95


� Diagnostische Methoden: Ausgehend von den „Ebenen“ bei Lauth und Schlottke oder<br />

Westhoffs Störbedingungen sind bei der Diagnose spezifische Hypothesen zu<br />

formulieren und mittels altersadäquater Verfahren zu prüfen.<br />

� Konzentrationstests: der bekannteste ist der „d2“-Test, bei dem in<br />

vorgegebener Zeit alle „ds mit 2 Strichen“ zu markieren sind. Die<br />

Konzentrationsleistung wird dabei entweder anhand der Gesamtzahl aller<br />

bearbeiteten Items oder anhand der Anzahl aller richtig bearbeiteten Items<br />

pro Zeiteinheit bestimmt.<br />

� Bei kleineren Kindern empfehlen sich Durchstreichtests, die mit konkreten<br />

Objekten (z.B. Fischen) statt abstrakter Zeichen arbeiten.<br />

� Für die Fremd- und Eigenanamnese stehen entsprechende Gesprächsleitfäden<br />

zur Verfügung (abzufragen sind u. a. Gesundheitszustand,<br />

Schlafgewohnheiten, Interessen, persönliche Probleme etc.)<br />

� Persönlichkeitsvariablen können durch einschlägige Persönlichkeitstest<br />

erfasst werden: wie z.B. dem Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9<br />

und 14 (PFK 9-14) oder dem Problemfragebogen für 11- bis 14-jährige (PF<br />

11-14)<br />

� Intelligenzmessungen sollten, sofern die Schulleistungen durch die<br />

Konzentrationsfähigkeit schon nachhaltig eingeschränkt sein können, durch<br />

möglichst „schulferne“ Tests wie dem CFT erhoben werden.<br />

� Im Idealfall: Verhaltensbeobachtung in konkreten Situationen (Münchener<br />

Aufmerksamkeitsinventar); notfalls Befragung unterschiedlicher Personen<br />

(Lehrer, Eltern etc.)<br />

� Prävention und Intervention:<br />

� Am besten wirkt gut strukturierter und anregender Unterricht! Bevor<br />

Individualmaßnahmen eingeleitet werden, sollte also erst mal der Unterricht<br />

ins Auge gefasst werden.<br />

� Ein neueres Trainingsprogramm ist das „Training mit<br />

aufmerksamkeitsgestörten Kindern“ von Lauth und Schlottke<br />

3. Aggressivität und dissoziales Verhalten<br />

� Angesichts der diversen Aggressionstheorien (Triebtheorien, Frustrations-<br />

Aggressions-Theorie, lerntheoretische Ansätze) gibt es keine allseits anerkannte<br />

Definition von „Aggression“; für den alltäglichen Gebrauch kann sie jedoch als<br />

„intentionales Verhalten“ beschrieben werden, „das darauf ausgerichtet ist, Schmerz<br />

bzw. Schaden zuzufügen“.<br />

� Mögliche Differenzierungen: offene (körperliche / verbale) vs. verdeckte<br />

(phantasierte) Aggression; positive (gesellschaftlich anerkannte) vs. negativer<br />

Aggression etc.<br />

� Im DSM-IV fallen nicht tolerierbare Aggressionen, sofern sie von Personen unter 18<br />

gezeigt werden, unter die Kategorie „Störung des Sozialverhaltens“; eine solche<br />

Störung liegt dann vor, wenn Kinder und Jugendliche wiederholt eine oder mehrere<br />

der folgenden Verhaltensweisen zeigen:<br />

� Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren<br />

� Zerstörung von Eigentum<br />

� Betrug oder Diebstahl<br />

� Schwere Regelverstöße<br />

� Epidemologie: Die vielbemühte These, dass die Aggression unter Kindern und<br />

Jugendlichen in den letzten Jahren drastisch zugenommen habe, lässt sich empirisch<br />

kaum nachprüfen (uneinheitliche Definition von Aggression, keine hinreichenden<br />

Methoden zur Datenerhebung etc.); es liegt jedoch nahe, dass die Häufigkeit<br />

96


aggressiver Ausschreitungen an Schulen aufgrund ihrer medialen Präsenz allgemein<br />

überschätzt wird.<br />

� Fest steht: Jungen zeigen häufiger physisch-aggressives Verhalten, Mädchen<br />

dagegen häufiger psychisch-aggressives Verhalten<br />

� Mögliche Ursachen: Biologische Faktoren (Geschlechtsunterschiede etc.), psychische<br />

Faktoren (verzerrte sozial-kognitive Informationsverarbeitung etc.), soziale Faktoren<br />

(Modelllernen etc.)<br />

� Modell zur Genese aggressiven Verhaltens (Petermann): prä- und perinatale<br />

Probleme � schwieriges Kind � Hyperaktivität [� schulische Probleme �<br />

Delinquenz] � Trotzverhalten � Aggression � mangelnde soziale Fertigkeiten und<br />

Informationsverarbeitungsdefizite � Probleme mit Gleichaltrigen [� Delinquenz]<br />

� Aggressives Verhalten stellt eine relativ stabile Störung dar; die Prognose ist<br />

dabei umso ungünstiger, je früher das Kind im Sinne des Modells auffällig<br />

wird.<br />

� Die Diagnose: hat in 2 Schritten vorzugehen: 1) Möglichst genaue Beschreibung des<br />

aggressiven Verhaltens und seiner situationalen Bedingungen 2) Hypothesenbildung<br />

bezüglich des individuellen Ausmaßes der Aggressivität<br />

� Eine gezielte Verhaltensbeobachtung aggressiven Verhaltens ist kaum<br />

möglich; die Verhaltensanalyse hat dementsprechend durch Exploration und<br />

Anamnese zu erfolgen.<br />

� Exploration: Welches Verhalten tritt zu welchen Zeiten und<br />

Gelegenheiten und gegenüber wem (oder was) auf? Als Leitfaden können<br />

hierbei z.B. die Kategorien des Beobachtungsbogens für aggressives<br />

Verhalten sein (von Petermann & Petermann)<br />

� Anamnese: bezieht sich auf die bisherige Entwicklung, die bisherigen<br />

Belastungen und Konflikte sowie das bisherige Erzieherverhalten (der<br />

Eltern und Lehrer)<br />

� Einsatz von Testverfahren (s.u.)<br />

� Die wichtigsten Testverfahren zur Messung der Aggressivität:<br />

� Der „Picture-Frustration-Test“ von Rosenzweig („Rosenzweig P-F-Test”):<br />

� 24 Bilder, auf denen jeweils 2 Personen abgebildet sind, wobei immer eine<br />

von der anderen frustriert wird. Die Pbn haben die Reaktion der<br />

frustrierten Peron in eine Sprechblase einzutragen (projektives Verfahren)<br />

� Jedes Item wird hinsichtlich der Aggressionsrichtung und des<br />

Reaktionstyps ausgewertet, wobei insgesamt 9 Signierungsmöglichkeiten<br />

bestehen:<br />

- Aggressionsrichtung: a) Extrapunitivität (gegen die Umgebung)<br />

b) Intropunitivität (gegen das eigene Ich)<br />

c) Impunitivität (Aggression wird umgangen)<br />

- Reaktionstyp: a) Obstacle-dominance (Hindernis dominiert die<br />

Reaktion)<br />

b) Ego-Defense (Bezug auf Ich dominiert die R.)<br />

c) Need-persistence (Lösung der problematischen<br />

Situation steht im Vordergrund)<br />

� Probleme: Aggressionsintensität bleibt unberücksichtigt; es bedürfte<br />

dringend einer Aktualisierung (Test stammt aus dem Jahr 1948)<br />

� Der „Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten<br />

Situationen“ von Petermann & Petermann (EAS):<br />

� 22 bildhafte Items alltäglicher Situationen mit jeweils 3<br />

Antwortalternativen, die den Kategorien „sozial erwünscht“, „leicht<br />

aggressiv“ und „schwer aggressiv“ zugeordnet werden. Darüber hinaus<br />

97


epräsentieren die Items unterschiedliche Formen von Aggression (offen.<br />

Verdeckt, nach außen, nach innen, verbal, physisch etc. etc.)<br />

� Test gibts für Jungen und Mädchen und ist für Kinder von 9 bis 14 Jahre<br />

normiert (allerdings nur bezüglich der Intensität und nicht der Art der<br />

Aggressionen)<br />

� Prävention und Intervention:<br />

� Maßnahmen gegen Gewalt an der Schule haben sich nach Olweus auf 3<br />

Ebenen zu beziehen:<br />

1) Schulebene (Schulklima etc.)<br />

2) Klassenebene (Klassenklima etc.)<br />

- z.B. mit dem „Konstanzer Trainings-Modell“ von Tennstädt et al.<br />

3) Persönliche Ebene<br />

- Training in Einzel- und Gruppensitzungen, Entspannungsübungen,<br />

Förderung einer differenzierten Wahrnehmung, der Selbstkontrolle und<br />

des Einfühlungsvermögens etc.<br />

� Wichtig: Bei aller Sorge um die Täter dürfen auch die Opfer nicht vergessen<br />

werden!<br />

98


B 8: Pädagogisch-psychologische Evaluation in Schule und Hochschule<br />

1. Allgemeines zu Evaluation<br />

� Definition: Allgemein gesprochen ist Evaluation die systematische (im Idealfall auf<br />

sozialwissenschaftlichen Methoden beruhende und von externen Experten<br />

durchgeführte) Bewertung einzelner Handlungsformen oder mehrerer<br />

Handlungsalternativen.<br />

� Konkret: Evaluiert werden können…<br />

� Zielvorgaben (z.B. die Konsequenzen unterschiedlicher Lehrpläne für ein<br />

Fach etc. etc.)<br />

� Handlungsweisen einzelner Personen (z.B. die Lehrqualität eines<br />

Lehrers)<br />

� Techniken und Verfahrensweisen (z.B. unterschiedliche<br />

Unterrichtsformen)<br />

� Programme (z.B. die Ergebnisse einer Aufklärungskampagne zur<br />

Verkehrssicherheit)<br />

� Systeme (z.B. unterschiedliche Schulsysteme)<br />

Problem: Da die genannten Aspekte oft vermischt sind (z.B. Merkmale der<br />

Lehrerpersönlichkeit und Unterrichtsform), ist eine Trennung der Effekte<br />

vielfach nur bedingt möglich!<br />

� Verschiedene Evaluationsmodelle: Je nach Zielsetzung und Art der Durchführung<br />

lassen sich verschiedene Formen von Evaluation unterscheiden:<br />

� Wulf unterscheidet zwischen…<br />

1) Praxisorientierter Evaluation (sie dient der konkreten Verbesserung der<br />

Ist-Situation)<br />

2) Entwicklungsorientierter Evaluation (ihr Ziel ist die Auswahl und<br />

Optimierung von Hilfsmitteln, etwa der Entwicklung von Lehrtexten)<br />

3) Theorieorientierter Evaluation (ist weniger auf handlungsleitende als auf<br />

wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ausgerichtet)<br />

� Vor dem Hintergrund der Curriculumsentwicklung wird unterschieden<br />

zwischen…<br />

1) Mikro- und Makroevaluation (erstere zielt auf einzelne Aspekte des<br />

evaluierten Programms, letztere zielt auf ein Gesamturteil)<br />

2) Innerer- und äußerer Evaluation (erstere wird von den Entwicklern bzw.<br />

Trägern eines Programms selbst durchgeführt, letztere von externen<br />

Experten => Trennung zw. Entwicklung und Evaluation)<br />

3) Summativer- und formativer Evaluation (erstere erfolgt nach Abschluss<br />

der zu evaluierenden Maßnahme, letztere während der Durchführung =><br />

fortlaufende Kontrolle und Optimierung)<br />

� Stake unterscheidet zwischen….<br />

� 3 Evaluationsfeldern: „Voraussetzungen“, „Prozesse“ und „Ergebnisse“<br />

� Für jedes dieser Felder können u.a. Intentionen (Ziele), Beobachtungen<br />

(empirische Fakten), Normen (Bewertungsmaßstäbe, z.B. die der<br />

Auftraggeber) und Urteile (wertende Aussagen der Evaluatoren) erhoben<br />

werden.<br />

99


� Das sog. KIPP-Modell der Evaluation (von Stufflebeam) unterscheidet<br />

zwischen…<br />

1) Kontext (Erheben der Rahmenbedingungen, Problemanalyse)<br />

2) Input (Verfügbare Ressourcen, Realisierungsmöglichkeiten, Kosten-<br />

Nutzen-Analysen)<br />

3) Prozess (fortlaufende Kontrolle neu eingeführter Maßnahmen)<br />

4) Produkt (Bewertung der Alternativen nach der Erprobungsphase)<br />

� Im Idealfall werden im Rahmen von Evaluationsstudien die Folgen zweier oder<br />

mehrerer Alternativen miteinander verglichen; wird nur eine Handlungsweise<br />

evaluiert, müssen vor der Durchführung andere Maßstäbe festgelegt werden, an denen<br />

sich die Bewertung orientieren kann.<br />

� Mögliche Maßstäbe sind dabei:<br />

� Teilnehmererwartung („Die Schüler waren mit der neuen Methode<br />

zufrieden“)<br />

� Vorhergehende Situation („das Klassenklima hat sich erheblich<br />

verbessert.“)<br />

� Persönliche oder externe Zielsetzung („wir wollten / wir sollten die<br />

Unfallrate mit unserer Kampagne um 20% reduzieren“)<br />

� Probleme: Wird nur eine Handlungsweise evaluiert, ist auch bei positiver<br />

Evaluation keine Aussage über die Gütegrad möglich. Auch Kausalaussagen<br />

sind, wenn überhaupt, nur bei Vergleichsstudien möglich.<br />

� Kosten: Wissenschaftliche Evaluationen sind aufwendig und bringen nicht nur<br />

finanzielle Kosten mit sich<br />

� Allein die Tatsache einer Evaluation wird von den Betroffenen u. U. als<br />

Abwertung ihres bisherigen Vorgehens erlebt.<br />

� Unruhe bei allen Beteiligten => Störung des alltäglichen Betriebs<br />

� Negative Ergebnisse können zu einer Beeinträchtigung der Lebenssituation<br />

der Beteiligten führen (weniger Aufträge, Studienbewerber etc. etc.)<br />

� Zusätzliche Arbeitsbelastung bei allen Beteiligten<br />

� Zeitverzögerung (wenn eine Maßnahme auch ohne vorherige Evaluation<br />

eingeführt werden könnte)<br />

� Evtl. Schädigung der Betroffenen durch probeweise eingesetzte Maßnahmen<br />

(z.B. neuere Konzepte in Modellschulen, die sich plötzlich doch als<br />

kontraproduktiv erweisen)<br />

� Vorteile einer professionell durchgeführten Evaluation: Wissenschaftlich ausgebildete<br />

Evaluatoren bringen a) Fachkompetenz, b) Methodenwissen und c) die nötige<br />

Objektivität mit.<br />

2. Wichtige Aspekte einer Evaluationsstudie<br />

� Ablauf einer idealen Evaluationsstudie (in der Realität so kaum durchführbar):<br />

1) Konsensfähige und exakte Beschreibung der zu evaluierenden Alternativen<br />

(z.B. Gesamtschule vs. 3-gliedriges Schulsystem)<br />

2) Festlegung der Bewertungskriterien einschließlich der zu verwendenden<br />

Messinstrumente<br />

3) Aufstellung konsensfähiger Entscheidungsregeln, die für alle möglichen<br />

Ergebnisse eine eindeutige Handlung vorsehen<br />

4) Durchführung<br />

5) Auswertung<br />

6) Berichtlegung<br />

7) Zusätzliche Aufnahme aller zunächst übersehenen Aspekte in die<br />

Entscheidungsregeln<br />

100


8) Beibehaltung der Entscheidungsregeln und Durchführung der<br />

evaluationsgestützten Entscheidung<br />

9) Bei veränderten Rahmenbedingungen oder dem Auftreten neuer Alternativen<br />

erneute Evaluation<br />

� Besonders wichtig ist die Festlegung und Operationalisierung der Ziel- und<br />

Bewertungskriterien: Worum soll es in der Evaluation gehen und nach welchen<br />

Kriterien soll entschieden werden, ob die Ergebnisse positiv oder negativ zu bewerten<br />

sind.<br />

� Der Evaluator selbst kann hier lediglich eine beratende Funktion einnehmen!<br />

� 2 Methoden:<br />

� MAUT (Multiattributive Nutzenmessung): Vor der Durchführung werden<br />

die verschiedenen Vorteile, die die zu evaluierenden Maßnahme mit sich<br />

bringen könnte (bessere Noten, besserer Selbstwert etc.), explizit gemacht<br />

und von den Betroffenen und/oder Experten gewichtet. Auf diese Weise<br />

kann nach der Evaluation der Gesamtnutzen der Maßnahme errechnet<br />

werden.<br />

� Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Ergebnisse einer Evaluation<br />

nicht nach den gleichen Kriterien, sondern für jede Person individuell und<br />

entsprechend ihrer jeweiligen Zielvorstellungen zu bewerten (v. a. bei der<br />

Einzelberatung sinnvoll).<br />

� Methodische Probleme bei der Durchführung:<br />

� Selbst wenn Alternativen verglichen werden, liegt Evaluationsstudien<br />

allenfalls ein „quasi-experimentelles“ Design zugrunde (bei gravierenden<br />

Mängeln wird ein Programm schon während der Evaluationsphase modifiziert<br />

etc. etc.)<br />

� Es wird nahezu immer mit Klumpenstichproben gearbeitet!<br />

� Auswertungsfragen: Der Auswertung können 3 Strategien bzw. Modelle zugrunde<br />

liegen:<br />

1) Das allgemeinpsychologische Modell: geht davon aus, dass die Auswirkungen<br />

der jeweils evaluierten Maßnahme prinzipiell bei allen Personen gleich sind.<br />

2) Das differentialpsychologische Modell: geht davon aus, dass<br />

Personenunterschiede zumindest im Hinblick auf bestimmte Modellparameter<br />

(z.B. die Ausgangswerte einer Person) für die Wirkung einer Maßnahme<br />

relevant sind und diese daher berücksichtigt werden müssen.<br />

3) Das individualpsychologische Modell: geht davon aus, dass die Wirkung einer<br />

Maßnahme letztlich nur auf Individualebene entschieden werden kann (was<br />

faktisch jedoch kaum bzw. nur sehr selten durchführbar ist)<br />

� Berichtlegung:<br />

� Schriftliche Berichte: neigen, wenn sie sich an die Politik bzw. Öffentlichkeit<br />

wenden, zu radikalisierten Ursachenzuschreibungen und Vereinfachungen<br />

� Mündliche Berichte: Gefahr der falschen Rollenzuschreibung: Evaluator wird<br />

nicht mehr als neutraler Experte, sondern als Meinungsvertreter<br />

wahrgenommen<br />

� Wissenschaftliche Publikationen: Materialien sollten für Sekundäranalysen<br />

zur Verfügung gestellt werden<br />

� Über die Verwertung der Evaluationsergebnisse entscheidet nicht der Evaluator,<br />

sondern die Auftraggeber (z.B. Uni), die Betroffenen (z.B. die Hochschullehrer aber<br />

auch die Studenten, die eine schlecht evaluierte Veranstaltung nicht mehr besuchen),<br />

politische Gremien oder die allgemeine Öffentlichkeit.<br />

101


3. Internationale Schulleistungsvergleiche (siehe auch: A 6)<br />

� Die Funktion von internationalen Schulleistungsvergleichen (auch „Large-Skale<br />

Assessments“ genannt) besteht darin, a) Informationen über den Leistungsstand des<br />

jeweiligen Schulsystems zu sammeln („Bildungsmonitoring“) und<br />

b) Steuerungswissen für eine mögliche Qualitätsentwicklung zur Verfügung zu stellen<br />

(Qualitätssicherung und -entwicklung).<br />

� Was Schulleistungstests leisten: Sie informieren…<br />

� …über welche Kompetenzen die Schüler innerhalb eines Landes in der<br />

untersuchten Domäne verfügen<br />

� …inwiefern diese Leistungen vom internationalen Leistungsniveau<br />

abweichen<br />

� …über die Kopplung zwischen Leistung und Hintergrundmerkmalen<br />

(Sozialstatus, Geschlecht, Migrationshintergrund)<br />

� …über spezifische Stärken und Schwächen von Schülern und damit auch<br />

des Schulsystems sowie speziellen Unterrichtskulturen<br />

� Was Schulleistungstests (noch) nicht leisten:<br />

� Sie liefern letztlich keine Erklärung, wie die gefundenen<br />

Länderunterschiede im Einzelnen zustande kommen.<br />

� Was wird untersucht? – In Internationalen Schulleistungsleistungstests sollten nur<br />

solche Leistungsbereiche untersucht werden, die sich a) objektiv, reliabel und valide<br />

messen lassen, b) zentral für schulisches Lehren und Lernen sind und c) in den<br />

beteiligten Ländern eine vergleichbare Rolle spielen.<br />

� Diese Kriterien treffen am ehesten auf kognitive Leistungen zu (Mathe,<br />

Naturwissenschaften, Lesen, Schreiben). Sie werden dementsprechend am<br />

häufigsten untersucht.<br />

� Soziale Kompetenzen werden dagegen weitgehend ausgeklammert. Zum einen<br />

lassen sie sich schwieriger messen, zum anderen bestehen im Bezug auf<br />

psychosoziale Lernziele z. T. erhebliche kulturelle Unterschiede.<br />

� Trotzdem werden in jüngerer Zeit neben kognitiven Leistungen auch<br />

zunehmend andere Bereiche berücksichtigt (z.B. die Fähigkeit zu<br />

selbstreguliertem Lernen, motivationale Voraussetzungen oder Einstellungen)<br />

� Die IEA-Studie CIVIC-Education untersucht z.B. die politische<br />

Einstellung von Jugendlichen in unterschiedlichen Ländern.<br />

� Neben den Leistungswerten werden in Large-Scale-Assessments zahlreiche<br />

Hintergrundvariablen erfasst (sozialer Hintergrund der Pbn, Ausstattung der<br />

Schulen, Prozessmerkmale des Unterrichts etc.)<br />

� Konzeption von internationalen Schulleistungsvergleichen:<br />

1. Definition des Untersuchungsgegenstandes<br />

� Nachdem geklärt ist, welcher Bereich untersucht werden soll, ist zu prüfen,<br />

ob dieser Bereich in den unterschiedlichen Ländern bzw. Schulsystemen<br />

eine vergleichbare Rolle spielt (curriculare Passung); dabei gibt es<br />

grundsätzlich 2 Vorgehensweisen:<br />

a) Herausarbeitung des kleinsten gemeinsamen Nenners aus den<br />

Lehrplänen.<br />

- Problem: Unterschiedliche Abfolge und Gewichtung der<br />

Lehrplaninhalte<br />

b) Entwicklung eines normativen Modells (Literacy-Konzept): Dabei wird<br />

gefragt, welche allgemeinen Kompetenzen in allen Teilnehmerstaaten<br />

von Schülern einer bestimmten Jahrgangsstufe / eines bestimmten<br />

Alters erwartet werden.<br />

102


� Die curriculare Passung, sprich: die Sicherstellung, dass für einen<br />

Kompetenzbereich in den verschiedenen Teilnehmerstaaten vergleichbare<br />

Lerngelegenheiten bestehen, ist besonders in den Fächern wichtig, für die<br />

Schule gewissermaßen ein Vermittlungsmonopol hat (z.B. Mathematik).<br />

2. Systematische Sammlung und Dokumentation von Aufgaben und<br />

Stimulusmaterial (Texte, Tabellen, Problemstellungen etc.)<br />

3. Auswahl durch Fach- und Ländervertreter<br />

� Wichtig: Beachtung der unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen<br />

Kontexte.<br />

4. Übersetzung der Aufgaben in die verschiedenen Landessprachen<br />

5. Feldtests an kleinen Stichproben zwecks Überprüfung der Gütekriterien<br />

(z.B. transkulturelle Validität)<br />

6. Hauptuntersuchung mit einer für die Zielpopulation repräsentativen<br />

Stichprobe<br />

� Entscheidung: Alters- oder Klassenstichprobe? (Siehe: A 6)<br />

� Methodische Fragen:<br />

� Abgrenzung und Differenzierung der untersuchten Kompetenzbereiche:<br />

� I.d.R. ist es möglich, Leistungen innerhalb einer Domäne auf einer<br />

Dimension abzubilden (liegt wohl nicht zuletzt an dem Einfluss<br />

allgemeiner Intelligenz) – gleichzeitig können mittels der verschiedenen<br />

Subtests jedoch auch Teildimensionen identifiziert werden, was eine<br />

gezieltere Analyse von Stärken und Schwächen innerhalb einer Domäne<br />

erlaubt (=> Kompetenzstufen):<br />

- In der PISA-Studie ließen sich z.B. im Bereich Naturwissenschaften 7<br />

Teilkompetenzen voneinander abgrenzen: darunter u. a. divergentes<br />

Denken, mentale Modelle, Umgang mit Graphiken etc.<br />

- Im Bereich Lesen fanden sich u. a. Unterschiede zwischen narrativen<br />

und expositorischen Texten.<br />

� Interkulturelle Validität und Äquivalenz (siehe: A 6):<br />

� Methoden: Geprüft wird die Äquivalenz mit Analysen zum „Differential<br />

Item Functioning“; erforderlich sind sensible Übersetzungen und eine<br />

interkulturelle Zusammenstellung der Aufgaben<br />

� Die Grundannahme internationaler Schulleistungstests, nämlich dass die<br />

gestesteten Kompetenzen die Grundlage für eine erfolgreiche<br />

Lebensbewältigung bilden, wurde empirisch bisher nicht geprüft (könnte<br />

allerdings anhand von Längsschnittstudien geschehen)<br />

� Ausblick: Angestoßen durch die internationalen Schulleistungsvergleiche vollzieht<br />

sich in der deutschen Bildungspolitik derzeit ein Paradigmenwechsel: Man<br />

verabschiedet sich von einer reinen Input-Steuerung (etwa durch Lehrpläne) und lässt<br />

sich stattdessen zunehmend von den Resultaten schulischer Bildung leiten (Output-<br />

Steuerung).<br />

103


4. Lehrevaluation<br />

� Definition: Lehrevaluation ist die Bewertung von universitärer Lehre durch<br />

Studierende oder Fachkolleginnen und –kollegen (Peers).<br />

� Die Evaluation der Hochschullehre ist mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben<br />

(Hochschulrahmengesetz und Landeshochschulgesetze); durch die Einführung<br />

der Studiengebühren gewinnt sie zusätzlich an Relevanz!<br />

� Die wichtigsten Ziele der Lehrevaluation sind:<br />

� Übergeordnetes Ziel: Sicherung und Verbesserung der Qualität von Lehre<br />

und Studium<br />

� Spezifische Ziele:<br />

� Verkürzung der Studienzeiten und Erhöhung der Studienerfolgsquoten<br />

� Wettbewerb und Profilierung zwischen den Universitäten<br />

� Motivierung und Kontrolle der Lehrenden<br />

� Leistungsvergleich und leistungsbezogene Mittelvergabe (an Lehrstühle<br />

etc.)<br />

� Hilfe bei Laufbahnentscheidungen (etwa bei anstehenden Berufungen,<br />

Vertragsverlängerungen etc.)<br />

� Verbesserung der Berufsqualifizierung der Absolventen<br />

� Transparenz für Universitäts- und Veranstaltungswahl (für Studenten)<br />

� Informationsgrundlage für Verbesserungen<br />

� Gegenstände der Lehrevaluation:<br />

� Makroebene:<br />

� Evaluation eines Studiengangs: als Erfolgsindikatoren werden z.B. die<br />

Studiendauer, die Studienerfolgsquote und die Anzahl der Studienabschlüsse<br />

in Regelstudienzeit erhoben; außerdem werden Rahmenbedingungen<br />

erfasst wie z.B. die Raum- und Materialausstattung etc.<br />

� Evaluation eines Curriculums (sprich: der Inhalte eines Studienganges):<br />

Lehre der einzelnen Veranstaltungen, inhaltliche und zeitliche<br />

Abstimmung des Lehrangebots, Lehr- und Prüfungsorganisation etc.<br />

� Mikroebene:<br />

� Evaluation einzelner Lehrveranstaltungen<br />

- Lehrqualität<br />

Problem: Qualitätsbegriff ist schwer zu definieren, da er von den<br />

Zielvorstellungen abhängig ist<br />

- Lehreffektivität<br />

Problem: Die Effektivität müsste an den Leistungen der Studenten<br />

gemessen werden, dazu wären jedoch aufwendige Designs notwendig<br />

(Vortest, Nachtest, Follow up-Untersuchung + Kontrollgruppe), die bei<br />

der Lehrevaluation so gut wie nie zur Anwendung kommen.<br />

- Lehrveranstaltungszufriedenheit<br />

Erhebt man die Einstellung der Studenten zu einer Lehrveranstaltung,<br />

stellt sich das Validitätsproblem nicht!<br />

� Träger der Lehrevaluation: Meist wird eine Kombination aus interner- und externer<br />

Evaluation gewählt:<br />

1) Dabei verfassen die Angehörigen eines Lehrstuhls bzw. Instituts zunächst<br />

einen Selbstbericht, in den die wichtigen statistischen Daten (Studiendauer,<br />

Prüfungsnoten etc.) und eine Darstellung der Stärken und Schwächen eingehen<br />

2) Danach kommt ein externer Evaluator (z.B. ein Kollege von einer anderen<br />

Uni), der auf Basis des Selbstberichts und seiner eigenen Beobachtungen ein<br />

Gutachten erstellt.<br />

104


� Methoden der Lehrevaluation:<br />

� Makroebene: Hochschulstatistische Daten; Selbstberichte der verschiedenen<br />

Studiengänge, mündliche/schriftliche Befragung der Beteiligten<br />

� Mikroebene: Befragungen der Teilnehmer mittels Fragebögen (mittlerweile<br />

liegen mehrere validierte Fragebögen vor (z.B. das „Heidelberger Inventar<br />

zur Lehrveranstaltungsevaluation“)<br />

� Die Fragebögen umfassen sowohl globale Urteile als auch die Bewertung<br />

spezieller Merkmale:<br />

- Lehrendenvariablen (z.B. Strukturierung, Engagement, Anregung)<br />

- Themenvariablen (z.B. Interessantheit, Praxisrelevanz)<br />

- Studierendenvariablen (z.B. Häufigkeit der Teilnahme, Arbeitseinsatz)<br />

- Rahmenbedingungen (z.B. Raumverhältnisse)<br />

� Verwendet werden sowohl Items in Aussageform (Likert-Skala) als auch<br />

offene Fragen (für Anregungen, Kritik etc.)<br />

� Probleme der Lehrevaluation:<br />

� Validitätsproblematik: Ob Studentenurteile ein valides Maß für die<br />

Lehrqualität sind, ist fraglich; sie korrelieren nur gering mit den<br />

Selbsteinschätzungen der Lehrenden und lediglich mittelhoch mit den Urteilen<br />

externer Evaluatoren, beeinflusst bzw. verzerrt werden studentische Urteile vor<br />

allem durch das jeweilige Vorinteresse.<br />

� Fehlende Wirkung: Meist bleiben Lehrevaluationen ohne sichtbare<br />

Konsequenzen; die öffentliche Bekanntmachung der Ergebnisse wird<br />

freigestellt und es folgen keine Beratungs- und Qualifizierungsangebote für die<br />

Lehrenden!<br />

105


C: PÄDAGOGISCH-PSYCHOLOGISCHE PRÄVENTION; INTER-<br />

VENTION <strong>UND</strong> BERATUNG<br />

C1: Prävention b. Rechenschwierigkeiten und Lese-Rechtschreib-Schwäche<br />

1. Allgemeines zu mathematischer Kompetenz und ihren Determinanten<br />

� Langzeitstudien zeigen, dass der Erwerb mathematischer Kompetenzen bereits im<br />

Kindergartenalter beginnt.<br />

� Dabei lassen sich zwei Arten von Prädiktoren (bzw. Vorläuferkompetenzen)<br />

unterscheiden:<br />

1) Spezifische Prädiktoren (beeinflussen ausschließlich die späteren<br />

Mathematikleistungen): Mengen-Zahlen-Kompetenz<br />

2) Unspezifische Prädiktoren (wirken sich nicht nur auf die späteren<br />

Mathematikleistungen, sondern auch auf andere Kompetenzen, wie z.B. die<br />

Lese-Rechtschreibfähigkeit aus): Intelligenz, Kapazität des Arbeitsgedächtnisses,<br />

Zugriffsgeschwindigkeit auf das LZG<br />

� Die Vorhersagekraft der Mengen-Zahlen-Kompetenz ist wesentlich größer als<br />

die der unspezifischen Prädiktoren.<br />

� Trotzdem sollten letztere nicht unterschätzt werden; neben dem direkten<br />

Einfluss auf die späteren Mathematikleistungen, haben sie nämlich, sofern<br />

sie den Erwerb einer Mengen-Zahlen-Kompetenz begünstigen, auch einen<br />

indirekten Einfluss.<br />

� Förderprogramme, die die spezifischen Vorläuferkompetenzen trainieren und sich<br />

direkt auf mathematische Inhalte beziehen (inhaltsspezifische Trainings), sind<br />

wesentlich effektiver als unspezifische Trainings (in denen z.B. allgemeine<br />

Denkoperationen, visuelle Wahrnehmung uns so geübt werden)!<br />

� Die begrenzten Gedächtnisressourcen jüngerer Kinder sollten durch<br />

Darstellungsmittel zur visuellen Veranschaulichung des Zahlenraums (z.B.<br />

Zahlenstrahl) entlastet werden.<br />

� Sofern sie klar strukturiert sind und wiederholt eingesetzt werden, entlasten<br />

externe Repräsentationen nicht nur das Arbeitsgedächtnis, sondern<br />

erleichtern darüber hinaus den Aufbau mentaler Repräsentationen!<br />

� Der Erwerb mathematischer Basiskompetenzen vollzieht sich auf 3 Ebenen bzw. in 3<br />

Schritten, wobei die Ebenen nicht unbedingt für alle Anzahlen gleichzeitig<br />

durchlaufen werden.<br />

� Ebene I: Erwerb numerischer Basisfertigkeiten (unpräziser Mengenbegriff;<br />

Zählprozedur, exakte Zahlenfolge)<br />

� Entwicklung eines, wenn auch unpräzisen, Mengenbegriffs: Mengen<br />

können zwar hinsichtlich ihrer Größe („viel“/„wenig“) verglichen, aber noch<br />

nicht numerisch bestimmt werden.<br />

� Es werden Zahlwörter und die Prozedur des Zählens gelernt: Gegenstände<br />

können abgezählt werden und die Reihenfolge der Zahlen wird als<br />

unveränderlich begriffen (exakte Zahlenfolge); die Zahlwörter werden<br />

jedoch noch nicht mit den korrespondierenden Mengen in Verbindung<br />

gebracht, sondern lediglich in ihrer Ordnungsfunktion wahrgenommen.<br />

106


� Ebene II: Anzahlkonzept (Mengenbewusstsein von Zahlen = Zahlen als<br />

Anzahlen; Mengenrelationen)<br />

� Entwicklung eines Mengenbewusstseins von Zahlen: Die Verknüpfung des<br />

Mengenkonzepts mit den Zahlen erfolgt in 2 Schritten.<br />

a) Unpräzises Anzahlkonzept: Kinder lernen, den Zahlen eine quantitative<br />

Bedeutung beizumessen; allerdings ordnen sie den Zahlen dabei noch<br />

keine exakten-, sondern lediglich unbestimmte Mengen zu (1 = „wenig“;<br />

20 = „viel“; 100 = „sehr viel“) – und verstehen den Mengenbegriffe im<br />

Sinne von „viel“ bzw. „wenig zählen müssen“.<br />

b) Präzises Anzahlkonzept: Kinder erkennen, dass die Länge des Zählens<br />

exakt mit der ausgezählten Menge korrespondiert und die Menge durch<br />

die zuletzt genannte Zahl numerisch bezeichnet wird.<br />

� Unabhängig vom Anzahlkonzept entwickelt sich ein erstes Verständnis von<br />

Mengenrelationen: es wird a) erkannt, dass sich Mengen in Teile zerlegen<br />

lassen (Teil-Ganzes) und b) dass sie durch Zufügung bzw. Abzug einzelner<br />

Elemente größer bzw. kleiner werden (Zunahme-Abnahme-Schema).<br />

� Ebene III: Anzahlrelationen (Mengenbewusstsein von Zahlrelationen)<br />

� Die Verknüpfung des Anzahlkonzepts mit dem Verständnis für<br />

Mengenrelationen führt zu einem tieferen Verständnis der Zahlstruktur:<br />

Zum einen wird erkannt, dass Anzahlen sich wiederum aus Anzahlen<br />

zusammensetzen und dementsprechend wie Mengen zerlegt werden können<br />

(5 = 3 und 2), zum anderen wird erkannt, dass und wie sich die Differenzen<br />

zwischen Anzahlen als Zahlen ausrücken lassen („5 ist um 2 mehr als 3“)<br />

- Auf dieser Ebene ist der Einsatz anschaulicher Darstellungsmittel<br />

besonders wichtig!<br />

� Fazit: Mathematische Frühförderung sollte darauf zielen, basale Fertigkeiten für<br />

den Umgang mit Mengen und Zahlen zu schulen, diese anschließend zum<br />

Anzahlkonzept zu verknüpfen und Anzahlrelationen bewusst zu machen.<br />

2. Drei deutsche Trainingsprogramme zur Prävention von Rechenschwäche<br />

A) „Komm mit ins Zahlenland“<br />

� Das Programm stellt die Zahlen von 1 bis 10 in personalisierter, Phantasie<br />

anregender Weise dar und regt zu diversen Zähl- und Zahlspielen ein.<br />

� z.B. gehört zu jeder Zahl ein fester Wohnort mit Haus und Garten, eine<br />

Zahlenpuppe (die „Eins“ trägt eine Zipfelmütze, die „Zwei“ zwei Brillengläser<br />

etc.), eine bestimmte Geschichte (die Eins hat ein Einhorn etc.) …<br />

� Nach 10-wöchigem Training mit 3-6-jährigen zeigen sich folgende Effekte:<br />

� Das Programm ermöglicht den Erwerb basaler Grundfertigkeiten, wie z.B. die<br />

Fähigkeit Mengen zu erfassen und herzustellen (Ebene I)<br />

� Darüber hinaus unterstützt es durch Zählspiele und Zahl-Mengen-Zuordnungen<br />

den Erwerb des unpräzisen Zahlkonzepts (Ebene IIa)<br />

� Die Möglichkeit zur Ausbildung höherer Kompetenzstufen (insbes. Ebene IIIb)<br />

sind jedoch begrenzt, da das Zunahme-um-eins-Prinzip nicht hinreichend geübt<br />

wird und die „Beseelung“ des Zahlenraums dem Verständnis abstraktnumerischer<br />

Operationen entgegensteht.<br />

� Kritik: Kinder lernen eher, Zahlen als beseelte Wesen statt als vom Kontext<br />

losgelöste Symbole zu verstehen!<br />

� Eine Überprüfung langfristiger Effekte des Programms steht noch aus; die Frage, was<br />

es zur Prävention schulischer Rechenschwierigkeiten beiträgt, muss insofern offen<br />

bleiben.<br />

107


B) Zahlenbegriffsförderung in der ehemaligen DDR<br />

� In der ehemaligen DDR wurde die mathematische Kompetenz der Kinder bereits 2<br />

Jahre vor Schulbeginn systematisch zu fördern versucht. Das Training umfasste dabei<br />

alle 3 Kompetenzebenen; den Kindern wurde also nicht nur das Anzahlkonzept<br />

(Ebene II) vermittelt, sondern sie wurden auch in der Bildung und numerischen<br />

Benennung von Differenzen geschult (Ebene IIIb).<br />

� Ergo: Eine frühe Förderung auf allen Kompetenzebenen ist möglich und<br />

sinnvoll!<br />

� Zusätzlich gab es ein besonderes Trainingsprogramm für Risikokinder, mit denen v. a.<br />

Übungen auf der 1. Ebene vertieft wurden. Die Ergebnisse dieses Zusatzprogramms<br />

waren jedoch eher enttäuschend (fehlender Transfer)!<br />

� Ergo: Auch bei schwachen Kindern sollte eine Förderung bis zur 3. Ebene<br />

angestrebt werden!<br />

C) „Mengen, Zählen, Zahlen“ (MZZ; Krajewski, Nieding, Schneider: 2005)<br />

� Dem Würzburger Trainingsprogramm „Mengen, Zählen, Zahlen“ (MZZ) liegt das<br />

oben genannte Entwicklungsmodell zugrunde; es versucht dementsprechend,<br />

sukzessive und systematisch das für alle 3 Ebenen notwendige Wissen aufzubauen:<br />

1) Zunächst lernen die Kinder zu zählen und die Ziffern (Ebene I)<br />

2) Darauf folgt die Förderung eines präzisen Anzahlkonzepts (Ebene IIb); sie<br />

bildet einen Schwerpunkt des Programms und erfolgt anhand von Übungen, bei<br />

denen Mengen auszuzählen- und den in einer Reihe angeordneten Zahlen<br />

zuzuordnen sind.<br />

3) Den zweiten Schwerpunkt bildet das Verständnis der Anzahlrelationen (Ebene<br />

III). Den Kindern wird vermittelt, dass von einer zur nächsten (An-)Zahl immer<br />

genau eins hinzukommt (Zunahme-um-Eins-Prinzip) und dass sich Anzahlen aus<br />

kleinern Anzahlen zusammensetzen lassen.<br />

� Methoden:<br />

� Die Übungen werden mittels fester und abstrakter Darstellungsformen<br />

veranschaulicht; das wichtigste Darstellungsmittel ist dabei die<br />

„Zahlentreppe“: Mit ihr können nicht nur die Ordnung der Zahlenfolge<br />

(präzises Anzahlkonzept; IIb), sondern auch die Zahlbeziehungen (Ebene III)<br />

veranschaulicht werden.<br />

� Wichtig sind außerdem metakognitive und selbstinstruierende Elemente<br />

sowie das Modellverhalten der Erzieherin.<br />

� Durchführung: Das Programm wird täglich über einen Zeitraum von 10 Wochen<br />

durchgeführt. Wo? – Im Kindergarten natürlich!<br />

� Befunde: Trainierte Kinder weisen im Vergleich zu nicht trainierten Kindern einen<br />

erheblichen (und bis zum Ende des Kindergartens anhaltenden) Zuwachs in der<br />

Mengen-Zahlen-Kompetenz auf. Inwiefern sich das Programm präventiv auf spätere<br />

Rechenschwierigkeiten auswirkt, ist noch zu untersuchen.<br />

108


3. Methoden zur Früherkennung von L-R-Schwierigkeiten<br />

A) Vorbemerkung<br />

� LRS wird i.d.R. erst spät diagnostiziert (3./4.Klasse); zu diesem Zeitpunkt ist die<br />

Störung meist schon durch eine Vielzahl weiterer Symptome überlagert<br />

(Sekundärsymptomatik), wodurch eine Behandlung enorm erschwert wird.<br />

� Es bedarf daher sowohl einer frühen Risiko-Diagnose, als auch früher<br />

Präventionsmaßnahmen!<br />

� „Phonologische Informationsverarbeitung“: Es besteht heute weitgehende<br />

Einigkeit darüber, dass L-R-Schwierigkeiten v. a. durch Defizite in der<br />

„phonologischen Informationsverarbeitung“ bedingt sind. Der Terminus fungiert dabei<br />

als Sammelbegriff für die verschiedenen Prozesse der Lautverarbeitung, wobei sich 3<br />

Arten von Prozessen unterscheiden lassen:<br />

1) Phonologische Bewusstheit: meint das Bewusstsein über die lautliche Struktur<br />

der Sprache<br />

� Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn bezieht sich dabei auf die<br />

gröberen Strukturen (Erkennen von Reimen, Wörtern und Silben);<br />

phonologische Bewusstheit im engeren Sinn (auch phonemische<br />

Bewusstheit) auf die Feinstruktur der Sprache (Erkennung von Lauten)<br />

2) Phonologisches/Phonetisches Rekodieren im KZG: meint die Verarbeitung<br />

sprachlicher Infos im KZG; genauer: die Fähigkeit, Lautfolgen im<br />

Arbeitsspeicher bereitzuhalten (beim Lesen und Schreiben werden schriftliche<br />

Symbole im Arbeitsgedächtnis lautsprachlich repräsentiert, um sie möglichst<br />

lange aktiviert zu halten)<br />

3) Phonologisches Rekodieren beim Zugriff auf das semantische Lexikon: Die<br />

Fähigkeit, sprachliche Infos möglichst schnell aus dem LZG abzurufen!<br />

B) Risiko-Screenings im Vorschulalter<br />

� Das Bielefelder Screening (BISC, 1999): überprüft die visuelle Aufmerksamkeit und<br />

die 3 Komponenten der phonologischen Informationsverarbeitung, sprich: die<br />

phonologische Bewusstheit, die Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses<br />

und Zugriffsgeschwindigkeit auf das semantische Lexikon.<br />

� Aufgabentypen:<br />

� Der Schwerpunkt liegt auf der Erfassung der phonologischen<br />

Bewusstheit; ihr sind 4 Subtests gewidmet:<br />

1) Reimerkennungsaufgaben<br />

2) Silbentrennung<br />

3) Aufgrund vorgesprochener Laute und Lautfolgen Wörter erraten<br />

4) Erkennen, ob ein Laut in einem vorgesprochenen Wort als<br />

Anfangssilbe vorkommt<br />

� Kapazität des phonologischen KZG: Nachsprechen von Pseudowörtern<br />

� Zugriffsgeschwindigkeit auf das semantische Lexikon: Schnelles<br />

Benennen der Farben unfarbiger oder falschfarbiger Objekte<br />

� Durchführung: 10 Monate und 3 Monate vor- sowie 14 Wochen nach der<br />

Einschulung.<br />

� Bewertung: Das BISC führt zu ausgesprochen guten Ergebnissen<br />

� Hoher RATZ-Index (Trefferquote im Verhältnis zur Zufallstrefferquote):<br />

� Hohe Sensitivität (Anteil entdeckter Problemkinder)<br />

� Hohe Prädiktortrefferquote: Anteil der als Risikokinder eingestuften Pbn,<br />

die später (Ende 2. Schuljahr) tatsächlich Probleme bekommen<br />

� BISC wird meist nur mit einer Förderung der phonologischen Bewusstheit<br />

verknüpft; ein Training der beiden anderen Komponenten phonologischer<br />

109


Infoverarbeitung scheint nämlich nach bisherigen Befunden nicht sonderlich<br />

effektiv zu sein (Grund: nur schwer trainierbar!).<br />

� Die Differenzierungsprobe von Breuer und Weuffen (2005): testet die<br />

Differenzierungsfähigkeit in 5 sprachbezogenen Wahrnehmungsleistungen:<br />

nämlich die optische-, kinästhetisch-artikulatorische-, phonematisch-akustische-,<br />

melodische- und rhythmische Differenzierungsfähigkeit.<br />

� Ist bereits 1 Jahr vor Schuleintritt durchführbar, wird aber auch im Rahmen<br />

von Schuleingangsuntersuchungen eingesetzt.<br />

� Ziel ist weniger eine globale Risikoprognose, als vielmehr die Ermittlung<br />

einzelner förderungsbedürftiger Wahrnehmungsleistungen, die als<br />

Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb betrachtet werden.<br />

� Kritik: geringe Itemzahl pro Subtest (fragliche Reliabilität);<br />

Längsschnittstudien zur prognostischen Validität liegen nicht vor<br />

C) Risiko-Screenings zu Schulbeginn<br />

� Vorteile einer Prognose bei Schulbeginn:<br />

� Ökonomischere Gruppentestung möglich<br />

� Testung der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinn möglich (verändert<br />

sich rapide und hängt stark vom Erstleseunterricht ab)<br />

� Der „Gruppentest zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“<br />

(2004) und der Einzeltest „Rundgang durch Hörhausen“ (2001) beschränken sich<br />

auf eine Testung der phonologischen Bewusstheit im weiteren und engeren Sinn.<br />

� Grund: Diese Vorläuferfähigkeit kann am besten gefördert werden.<br />

� Die prognostische Validität der beiden Tests ist zufriedenstellend.<br />

� Das Münsteraner Screening ist eng an das BISC angelehnt und testet<br />

dementsprechend auch die beiden anderen Komponenten der phonologischen<br />

Infoverarbeitung und die visuelle Aufmerksamkeit, verzichtet dafür aber auf eine<br />

Testung der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinn.<br />

� Befunde zur prognostischen Validität des Screenings liegen bisher nicht vor.<br />

� Es gibt auch Verfahren für die Mitte des 1. Schuljahres; allerdings sind deren<br />

Ergebnisse stark von Unterrichtseinflüssen abhängig.<br />

D) Ausblick<br />

� Die prognostische Validität der verschiedenen Früherkennungsverfahren ist meist<br />

zufriedenstellend.<br />

� Trotzdem ist VORSICHT angeraten:<br />

1) Rund die Hälfte aller späteren Problemkinder werden nicht als<br />

Risikokinder identifiziert!<br />

2) Falscher Alarm (in über 30% der Fälle) führt zu einer massiven<br />

Verunsicherung der Eltern.<br />

� Kompetenzen in den Bereichen Grammatik und Wortschatz bleiben in den<br />

prognostischen Verfahren unberücksichtigt, weil es sich bei ihnen nicht um<br />

unmittelbare Vorläuferkompetenzen der Lese-Rechtschreibleistung handelt.<br />

� Da sie aber massiven Einfluss auf das spätere Leseverständnis haben, sollten<br />

auch sie schon früh erhoben und wo nötig, gezielt gefördert werden (s.u.).<br />

110


4. Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit<br />

� 3 Arten von Prävention lassen sich unterscheiden:<br />

� „Universelle Präventionsmaßnahmen“ richten sich an unausgelesene<br />

Gruppen<br />

� „Selektive Präventionsmaßnahmen“ richten sich ausschließlich an<br />

„Risikokinder“<br />

� „Indizierte Präventionsmaßnahmen“ richten sich an Kinder, bei denen bereits<br />

Schwierigkeiten aufgetreten sind<br />

� Präventive Maßnahmen zur Verbesserung der späteren Lese-Rechtschreib-Leistungen<br />

konzentrieren sich v.a. auf die frühe Förderung der phonologischen Bewusstheit.<br />

� Zwar haben auch die anderen Komponenten der phonologischen<br />

Infoverarbeitung Einfluss auf den Schriftspracherwerb, sie lassen sich aber<br />

kaum trainieren.<br />

� Die Effektivität von Trainingsprogrammen zur phonologischen Bewusstheit<br />

konnte dagegen in diversen Längsschnittstudien nachgewiesen werden.<br />

� Klassisch ist in diesem Zusammenhang v.a. eine Studie von Lundberg,<br />

Frost und Petersen (1988): Darin wurden in einer Experimentalgruppe<br />

über 9 Monate jeden Tag 15-20 Minuten Trainingseinheiten zur<br />

phonologischen Bewusstheit durchgeführt (Lauschspiele; Reime erkennen<br />

und reproduzieren; Segmentierung der Sprache in Wörter und Sätze,<br />

Anlautidentifikation, Übungen zur Phonemsynthese und –analyse) �<br />

Ergebnis: die Lese-und-Rechtschreib-Leistungen der Experimentalgruppe<br />

lagen noch im 2. Schuljahr signifikant über denen der Kontrollgruppe<br />

(Wow!)!<br />

� Das Würzburger Trainingsprogramm „Hören-Lauschen-Lernen“ (HLL;<br />

Schneider): orientiert sich in seinem Aufbau an den Aufgabentypen der besagten<br />

Studie.<br />

� Lauschspiele � Reimaufgaben � Sätze und Wörter � Silbentrennung �<br />

Anlautidentifikation � Phonemsynthese und –analyse<br />

� Ergänzung (seit 2004): Buchstaben-Laut-Zuordnungstraining!<br />

� Diverse Längsschnittstudien zur Bewertung des Programms konnten zeigen:<br />

a) …dass die spätere Lese-Rechtschreib-Kompetenz durch das Vorschul-<br />

Training signifikant verbessert wird.<br />

b) …dass Kinder aller Leistungsgruppen von dem Training gleichermaßen<br />

profitieren.<br />

c) …dass auch Kinder, die nach dem BISC zur Risikogruppe gehören, mit<br />

dem Programm erfolgreich trainiert werden können (ihre Lese-<br />

Rechtschreib-Leistungen unterschieden sich nach dem Training nur<br />

unwesentlich von denen einer untrainierten, aber „normalen“<br />

Kontrollgruppe)<br />

d) …dass die Frühförderung dann am effektivsten ist, wenn neben der<br />

phonologischen Bewusstheit auch die Kenntnis von Buchstaben vermittelt-<br />

und deren Zuordnung zu Lauten (Buchstaben-Laut-Zuordnung) trainiert<br />

wird (= Bestätigung der sog. „Phonologischen Verknüpfungshypothese“)<br />

e) …dass auch Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache von dem Training<br />

profitieren.<br />

� Prävention zu Beginn der Schulzeit:<br />

� Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit, die zu Beginn der<br />

Schulzeit durchgeführt werden, zeigen wesentlich geringere Transfereffekte als<br />

vorschulisches Training.<br />

111


� Evaluationsstudien zur Wirksamkeit unterschiedlicher Lese-Instruktionsmethoden<br />

(z.B. synthetischer vs. ganzheitlicher Ansatz) haben keine Effekte<br />

ergeben.<br />

5. Förderung anderer Bereiche (Grammatik und Lesemotivation)<br />

� Die Lesefertigkeit (im Sinne einer schnellen und automatisierten Worterkennung)<br />

muss vom Leseverständnis (im Sinne eines adäquaten Umgangs mit Texten)<br />

unterschieden werden.<br />

� Diese beiden Komponenten sind zwar nicht völlig unabhängig voneinander, sie<br />

sind aber auch nicht besonders eng miteinander korreliert.<br />

� Ein umfassendes Modell zur Lesekompetenz, in dem nicht nur die Lesefertigkeit,<br />

sondern auch das Leseverständnis berücksichtigt werden, stammt von Lundberg:<br />

Dem Modell zufolge setzt sich die Lesekompetenz einerseits aus der Worterkennung,<br />

andererseits aus dem Leseverständnis zusammen.<br />

� Die wichtigsten Voraussetzungen der Worterkennung sind: phonologische<br />

und phonemische Bewusstheit und das davon abhängige phonologische<br />

Rekodieren.<br />

� Weitere Faktoren sind: die Automatisierung (der Worterkennung) und die<br />

orthographische Verarbeitung, die ihrerseits von der Buchstabenkenntnis<br />

und der Beherrschung der Phonem-Graphem-Korrespondenzen abhängen.<br />

� Die wichtigsten Voraussetzungen des Leseverständnisses sind: a) der<br />

Wortschatz und b) syntaktische Kompetenzen<br />

� Weitere Faktoren sind: das Hintergrundwissen und die von der<br />

syntaktischen Entwicklung abhängige Fähigkeit zum Schlussfolgern.<br />

� Aus dem Modell folgt: Eine Förderung des Leseverständnisses müsste in den<br />

Bereichen Grammatik und Wortschatz ansetzen; noch gibt es diesbezüglich jedoch<br />

kaum Untersuchungen.<br />

a) weil bei einer allgemeinen Sprachförderung geringere Effekte als bei<br />

phonologischem Training zu erwarten sind<br />

b) weil Tranfereffekte schwerer nachweisbar sein dürften, da sich die Wirkung<br />

eines solchen Trainings erst in der späteren Grundschulzeit zeigen sollte.<br />

� Förderung von Lesemotivation und Leseinteresse: Die Schaffung einer anregenden<br />

Leseumwelt (v. a. in der Familie) hat einen indirekten Einfluss auf die spätere<br />

Lesekompetenz!<br />

� Wichtige Komponenten einer förderlichen Lesesozialisation („early literacy“)<br />

sind: Vorlesen (wobei die Qualität wichtiger als die Quantität zu sein scheint);<br />

Bilderbücher; Hörspiele; Aneignung von Kinderliedern und Sprachspielen etc.<br />

� Wie groß die Effekte solcher indirekten Präventionsmaßnahmen allerdings<br />

wirklich sind, lässt sich kaum sagen => Hier besteht enormer<br />

Forschungsbedarf!<br />

112


6. Zusammenfassung:<br />

� Bei der Früherkennung von L-R-Schwierigkeiten sind enorme Fortschritte gemacht<br />

worden, trotzdem sollten die Screeningprozeduren nicht überschätzt werden.<br />

� Merkmale eines erfolgreichen Trainings sind:<br />

� Das Training sollte schon in der Vorschule beginnen;<br />

� Außerdem muss es regelmäßig (am besten täglich) und über einen langen<br />

Zeitraum (mind. ½ Jahr) stattfinden.<br />

� Es sollten mehrere Übungen zur phonologischen Bewusstheit im engeren Sinn<br />

enthalten sein (Anlautidentifikation, Phonemanalyse und –synthese)<br />

� Im Sinne der Verknüpfungsthese sollte neben der phonologischen Bewusstheit<br />

auch das Prinzip der Buchstaben-Laut-Verknüpfung trainiert werden.<br />

� Phonologische Infoverarbeitung ist nicht alles! Auch andere Komponenten der<br />

Lesekompetenz (Wortschatz, Grammatik…) sollten berücksichtigt werden!<br />

113


C 2: Kognitive Förderung von Kindern und Jugendlichen<br />

1. Kognitive Bedingungen von Lern- und Gedächtnisleistungen<br />

� Nach Barclay hängt die Gedächtnisleistung von 3 Komponenten ab:<br />

1) Kapazität<br />

� Die Gedächtniskapazität wird einerseits durch architektonische Merkmale<br />

(Strukturaspekt), andererseits durch basale Eigenschaften der<br />

Informationsverarbeitung (Prozessaspekt) determiniert.<br />

2) Strategische Aktivitäten<br />

� Zu den strategischen Aktivitäten gehören einerseits die konkreten Lern-<br />

und Erinnerungsaktivitäten (z.B. Wiederholung etc.), andererseits<br />

übergeordnete (metakognitive) Kontroll- und Regulationsprozesse<br />

(prozedurales Metagedächtnis).<br />

3) Wissensaspekte<br />

� Für die Gedächtnisleistung relevant sind einerseits das Ausmaß und die<br />

Strukturierung des Vorwissens, andererseits das Wissen um die<br />

Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Gedächtnisses (deklaratives<br />

Metagedächtnis)<br />

� Zur Gedächtniskapazität: Während man früher davon ausging, dass die<br />

strukturelle Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses bis ins Erwachsenenalter zunimmt,<br />

geht man heute eher davon aus, dass die Kapazität lediglich durch einen effizienteren<br />

Ablauf der Prozesse gesteigert wird, die Strukturen jedoch unverändert bleiben (s.u.).<br />

Trainieren lässt sich jedoch weder die strukturelle, noch die prozessuale Komponente<br />

der Gedächtniskapazität!<br />

� Robbie Case unterscheidet zwischen einem Arbeits- und einem<br />

Kurzzeitspeicher:<br />

a) Der Arbeitsspeicher („operating space“): ist zuständig für die kognitiven<br />

Prozesse der Informationsverarbeitung!<br />

b) Der Kurzzeitspeicher („storage space“): ist zuständig für die<br />

Informationsspeicherung!<br />

� Annahme: Die Kapazität als solche bleibt ab dem 2. Lebensjahr gleich; was<br />

sich mit dem Alter verändert, ist lediglich das Verhältnis zwischen operating-<br />

und storagespace. Aufgrund der zunehmenden Automatisierung der<br />

Verarbeitungsprozesse brauchen diese nämlich immer weniger Kapazität, so<br />

dass sich das Verhältnis zugunsten des storagespace verschiebt.<br />

� Kurz: Was zunimmt ist die „operationale Effizienz“ und nicht die<br />

Kapazität als solche!<br />

� Nach Baddeley setzt sich das KZG aus 3 Komponenten zusammen: Einem<br />

zentralen Steuerungssystem und 2 modalitätsspezifischen Hilfssystem.<br />

a) Das zentral-exekutive Überwachungs- und Steuerungssystem ist<br />

modalitätsunspezifisch und dient v.a. der Aufmerksamkeitslenkung und<br />

-kontrolle)<br />

b) Die phonologische Schleife („phonological loop“) ist für die Verarbeitung<br />

und Bereithaltung verbaler Infos zuständig<br />

c) Der visuell-räumliche Notizblock („visuo-spatial scratch pad“) ist<br />

dagegen für die Verarbeitung und Speicherung bildhafter Infos zuständig.<br />

� Wie Case geht auch Baddeley davon aus, dass die verfügbare Kapazität in den<br />

beiden Hilfssystemen dabei wesentlich durch die prozessuale Komponente<br />

bestimmt wird.<br />

114


� Strategische Aktivitäten: sind im Gegensatz zu den kapazitätsbedingenden<br />

Faktoren trainierbar.<br />

� Zwei Arten von Strategien lassen sich dabei unterscheiden:<br />

1) Kognitive Gedächtnisstrategien: Wiederholung, Organisation, Elaboration<br />

2) Metakognitive Gedächtnisstrategien: betreffen die Planung (z.B. das<br />

Setzen von Lernzielen), die Selbstüberwachung (Kontrollfragen etc.) und<br />

die Regulation (Anpassung an die jew. Anforderungen durch<br />

Lernzeitallokation etc.) des eigenen Lernverhaltens.<br />

� Wissensaspekte:<br />

� Zwei Formen von Wissen sind für das Lernen relevant:<br />

1) Das Weltwissen: dazu zählt sowohl bereichsspezifisches als auch<br />

übergreifendes Wissen über die Welt<br />

2) Metamemoriales Wissen: dazu zählt sowohl Wissen über das eigene<br />

Gedächtnissystem (systemisches Wissen) als auch Wissen über aktuelle<br />

Gedächtnisinhalte (epistemisches Wissen)<br />

� Ausmaß und Strukturierung des verfügbaren Weltwissens haben zwar großen<br />

Einfluss auf das strategische Verhalten in Lernsituationen (Vgl. Experten-<br />

Novizen-Paradigma) – die Wirkung der Wissensvermittlung bleibt jedoch<br />

meist bereichsspezifisch, weshalb sich diesbezügliche Maßnahmen nur bedingt<br />

für ein allgemeines Gedächtnistraining eignen.<br />

� Anders ist es bei der Vermittlung metamemorialen Wissens: letzteres wirkt<br />

sich direkt auf die Lern- und Gedächtnisleistung aus – und zwar in allen<br />

Bereichen.<br />

� Spezifisches Strategiewissen: in welchem Kontext ist welche Strategie am<br />

effektivsten?<br />

� Generelles Strategiewissen: meint die generelle Überzeugung, dass sich<br />

strategisches Vorgehen förderlich auf die Lern- und Gedächtnisleistung<br />

auswirkt (nimmt mit dem Alter zu)<br />

2. Elemente eines effektiven Lern- und Gedächtnistrainings<br />

� Anders als früher (bis in die 70er Jahre) wird die Effektivität von Lern- und<br />

Gedächtnistrainings heute nicht mehr anhand einfacher Leistungsvergleiche gemessen;<br />

stattdessen wird zwischen mehreren Effektivitätskriterien unterschieden:<br />

� Kurzfristige Veränderung vorhandener Kompetenzen<br />

� Mittelfristige Stabilisierung dieser Veränderung<br />

� Langfristige Aufrechterhaltung veränderter bzw. neu erworbener<br />

Kompetenzen<br />

� Generalisierung auf andere Aufgabenbereiche (distaler Tranfer)<br />

� Auf Grundlage dieser Kriterien hat Hasselhorn 6 wirksame Trainingselemente<br />

identifiziert:<br />

1) Modellgeleitetes Einüben selbständiger Strategieanwendung<br />

� Eine kurzfristige Verbesserung ist bereits bei häufiger Anwendung einer<br />

Strategie zu erreichen, zu einer langfristigen Verbesserung kommt es<br />

jedoch erst bei interaktivem Modelllernen, wobei die Aktivität der Trainers<br />

schrittweise zurückgenommen werden sollte.<br />

� Förderlich ist darüber hinaus die Methode der verbalen Selbstinstruktion!<br />

2) Explizite Vermittlung metamemorialen Strategiewissens<br />

� Längerfristige Aufrechterhaltung und Generalisierung von Strategien<br />

werden durch explizite Infos über deren Nutzen und<br />

Anwendungsmöglichkeiten begünstigt („informed training“ statt „blind<br />

training“)<br />

115


3) Variation des Aufgabenkontexts bzw. der Aufgabenstellung<br />

� Um einen distalen Transfer zu fördern, sollte das trainierte Lernverhalten<br />

in unterschiedlichen Situationen und auf unterschiedliche Lernaufgaben<br />

angewendet werden.<br />

4) Einüben genereller Techniken der Selbstkontrolle und Lernregulation<br />

� „Stop-check-and-study“-Routine: Kinder werden aufgefordert, während<br />

des Lernprozesses immer wieder innezuhalten, um die bis dahin erzielten<br />

Fortschritte zu überprüfen.<br />

5) Inhaltliche Nähe zum schulischen Lernen<br />

� Anwendung der Trainingselemente auch in komplexen schulalltagsnahen<br />

Aufgabenbereichen wie z.B. dem Textlernen<br />

6) Verknüpfung der trainierten Strategien mit persönlicher Zielmotivation<br />

� Der funktionale und persönliche Wert der gelernten Strategien muss den<br />

Kindern eigens verdeutlicht werden!<br />

3. Beispiele komplexer Trainingsprogramme zur Lern- und Gedächtnisleistung<br />

A) „Teufelsgeschichten und Teufelsspiele“ (TUT)<br />

� Ziel: Förderung des verbalen Kurzzeitgedächtnisses von Kindern zw. 5 und 8<br />

Jahren und Prävention von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten.<br />

� Annahme: Effektivere Nutzung des verbalen Kurzzeitgedächtnisses führt zu<br />

einer Verbesserung der phonemischen Bewusstheit => Erleichterung des<br />

Schriftspracherwerbs.<br />

� Inhalt/Methode: Anhand von Merkspielen zu vorher gelesenen Geschichten wird den<br />

Kindern eine einfache Wiederholungsstrategie („rehearsal“) vermittelt.<br />

� Durchführung: Gruppentraining im Kindergarten, 13 Spielstunden a 45 Minuten<br />

� Ablauf:<br />

� Zu Beginn jeder Spielstunde: Vorlesen einer Teufelsgeschichte<br />

� Dabei legt der Spielleiter Bildkarten ab, um die Aufmerksamkeit der<br />

Kinder auf bestimmte Schlüsselwörter zu lenken, die später erinnert<br />

werden sollen.<br />

� Es folgt ein „Basisspiel“, in dem es um die Vermittlung der „Rehearsal-<br />

Strategie“ geht.<br />

� Trainer macht‟s vor und betont die Nützlichkeit – Kinder machen‟s nach<br />

� Mindestens ein „Übungspiel“ zur Festigung der Strategie<br />

� Aufgabentypen: In den Basis- und Übungsspielen kommen insgesamt 3<br />

Aufgabentypen zur Anwendung:<br />

1) „Reihenfolge-Aufgaben“ (serielle Reproduktion)<br />

2) „Ketten-Aufgaben“ (serielle Reproduktion bei zunehmender Itemzahl)<br />

3) „Paar-Such-Aufgaben“ (Zuordnung vorher gelernter Items zu einer Reihe von<br />

Items)<br />

� Evaluation:<br />

� Der Anspruch, durch die Optimierung des KZG L-R-Schwierigkeiten<br />

vorzubeugen, kann nicht eingelöst werden.<br />

� Zwar lernen die Kinder die Anwendung der Rehearsal-Strategie, die Effizienz<br />

des KZG wird dadurch jedoch nicht gesteigert.<br />

� Fazit: Nur für jüngere Vorschulkinder geeignet, die die Rehearsal-Strategie noch<br />

nicht spontan verwenden.<br />

116


B) Training zum Textlernen (von Hasselhorn und Körkel)<br />

� Ziel: Kurzzeittraining für 6.-Klässler zur Verbesserung der Verstehens- und<br />

Behaltensleistungen beim Textlernen.<br />

� Inhalt/ Methode: Förderung von 4 Wissens- und Fertigkeitsbereichen, die als<br />

Voraussetzungen für effektives Textlernen betrachtet werden können.<br />

1) Verfügbarkeit und flexible Nutzung basaler Verstehens- und<br />

Behaltensstrategien<br />

� z.B. das Markieren wichtiger Texteinheiten, Exzerptieren, Generieren<br />

visueller Hilfsvorstellungen etc. etc.<br />

2) Aktive und spontane Verständniskontrolle des Gelesenen (anstelle einer<br />

Wort-für-Wort-Verarbeitung)<br />

3) Reflexives Klären auftretender Verständnisschwierigkeiten<br />

4) Planen und zieladaptives Regulieren des Textlernens<br />

� Durchführung: 5 Sitzungen a 90 Minuten<br />

� Ablauf: Training unterteilt sich in 3 Phasen<br />

� Phase I: Anhand einfacher Texte werden grundlegende Fertigkeiten<br />

vermittelt und eingeübt: z.B. das Unterstreichen wichtiger Sätze, die<br />

Antizipation möglicher Textinhalte anhand der Überschrift, das Anfertigen<br />

zusammenfassender Notizen, die regelmäßige Überprüfung des eigenen<br />

Textverständnisses etc.<br />

� Methode: Die Vermittlung dieser Strategien erfolgt direkt und explizit; ihre<br />

Einübung erfolgt mittels schrittweiser verbaler Selbstinstruktion und im<br />

Rahmen variierender Aufgabenstellungen.<br />

� Phase II: Anhand von Texten, in denen spezifische Schwierigkeiten auftreten<br />

(z.B. logische Widersprüche, unbekannte Wörter, inhaltliche Sprünge) wird ein<br />

reflexiver und lösungsorientierter Umgang mit Verständnisproblemen<br />

eingeübt.<br />

� Die zu lernende Strategie besteht dabei aus 4 Schritten:<br />

a) Identifikation und Lokalisierung des Problems, b) Sammlung möglicher<br />

Lösungswege, c) Entscheidung für den erfolgversprechendsten<br />

Lösungsweg und dessen Umsetzung d) Klärung, inwiefern das<br />

Verständnisproblem dadurch behoben werden konnte.<br />

� Übungsmethode: verbale Selbstinstruktion<br />

� Phase III: Zusammenfassung aller zuvor trainierten Fertigkeiten zu einer<br />

verallgemeinerbaren Heuristik, die die Schüler erneut erproben.<br />

� Evaluation:<br />

� Training verbessert sowohl die metakognitiv-strategischen Fertigkeiten als<br />

auch die Behaltens- und Verstehensleitung beim Textlernen.<br />

� Die Anwendung der darin vermittelten Strategien ist besonders effektiv, wenn<br />

nur wenige Vorkenntnisse zu einem Text bestehen.<br />

C) „Reciprocal Teaching“ (Brown)<br />

� Ziel: Das Programm wurde ursprünglich für die Förderung des Textverständnisses<br />

und der selbständigen Verstehenskontrolle konzipiert, ist mittlerweile aber auch auf<br />

andere Bereiche (mathematisches Denken im Grundschulalter etc.) übertragen<br />

worden.<br />

� Inhalt der Textlern-Version: Vermittlung von 4 Strategien:<br />

1) Das Zusammenfassen wesentlicher Inhalte<br />

2) Das Formulieren verstehensbezogener Fragen an den Text<br />

3) Die Vorhersage weiterer Textinhalte<br />

4) Die Klärung von Mehrdeutigkeiten<br />

117


� Methode: Die Vermittlung dieser Strategien erfolgt nach dem Prinzip des<br />

entdeckenden Lernens in einer Art sokratischem Dialog.<br />

� Ablauf (Instruktionsprinzpien):<br />

� Trainer demonstriert die zu lernende Strategie – und zwar möglichst deutlich<br />

und in angemessenen inhaltlichen Kontexten<br />

� Trainer informiert über die Möglichkeiten und Grenzen der Strategie und<br />

betont ihren Nutzen<br />

� Schrittweise und selbständige Übernahme der Strategien durch die<br />

Trainingsteilnehmer<br />

� Trainer gibt adäquate, dem Kompetenzniveau des jew. Teilnehmers angepasste<br />

Rückmeldung<br />

� Durchführung: ca. 20 Sitzungen à 25 Minuten, in Kleingruppen oder dem<br />

Klassenverband durchführbar<br />

� Trainingsmaterial: Sammlung von über 100 Textabschnitten<br />

� Evaluation: Training führt zu beachtlichen Leistungssteigerungen in standardisierten<br />

Leseverständnistests<br />

D) Textlern-Training von Paris und Jacobs<br />

� Ziel: Steigerung des metakognitiven Wissens über Lesestrategien und Förderung<br />

der Lesekompetenz bei 8- bis 11-Jährigen.<br />

� Methode (Instruktionselemente):<br />

� Explizite und direkte Vermittlung strategischen Wissens zum Textlernen und<br />

-verstehen<br />

� Die Lesestrategien werden durch bildlich dargestellte Metaphern illustriert<br />

(z.B. Detektivbild mit der Aufschrift: „Sei ein Textdetektiv“)<br />

� Die verschiedenen Strategien werden im Klassenverband diskutiert<br />

(Gruppendiskussion)<br />

� Einübung der Strategien und Rückmeldung<br />

� Verwendung möglichst unterschiedlicher Textbeispiele (zwecks<br />

Generalisierung)<br />

� Durchführung: 20 Module, die jew. Aus 3 halbstündigen Einheiten bestehen<br />

� Evaluation: Trainierte Kinder haben a) mehr Wissen über mögliche Lesestrategien,<br />

geben b) an, sie häufiger zu gebrauchen und zeigen c) bessere Leistungen in<br />

verschiedenen Lesetests und Textlernaufgaben.<br />

E) „Wir werden Textdetektive“ (Gold)<br />

� Ziel: Systematische Vermittlung von Lesestrategien im Rahmen des regulären<br />

Deutschunterrichts<br />

� Inhalte: Vermittelt werden kognitive und metakognitive Lesestrategien<br />

(„Detektivmethoden“); darüber hinaus enthält das Programm jew. einen Baustein zur<br />

kognitiven und motivationalen Selbstregulation<br />

� Kognitive Strategien:<br />

� Verknüpfende (elaborative) Strategien: Beachtung der Überschrift (und<br />

darauf aufbauend: Antizipation des Inhalts), Generierung bildlicher<br />

Vorstellungen<br />

� Ordnende (reduktive) Strategien: Wichtiges unterstreichen und Wichtiges<br />

zusammenfassen<br />

� Wiederholende Strategien: Mehrmaliges Lesen<br />

� Metakognitive Strategien:<br />

� Verstehen überprüfen; Behalten überprüfen; Umgang mit<br />

Textschwierigkeiten<br />

118


� Kognitive Selbstregulation:<br />

� Mittel-Ziel-Überlegungen: Wann sind welche Lesestrategien anzuwenden?<br />

� Leseplan: Festlegung des Leseziels � Festlegung und Auswahl der<br />

Lesestrategien � Bewertung des Ergebnisses<br />

� Motivationale Selbstregulation:<br />

� Ringwurfspiel (à la Atkinson) => Schulung einer realistischen Zielsetzung<br />

und Förderung eines günstigen Attributionsstils<br />

� Methode (Instruktionselemente): Explizit-darstellende Vermittlung der Lesestrategien;<br />

Erklärung des Nutzens und der Anwendungsbedingungen von Strategien; modellhafte<br />

Demonstration der kompetenten Strategieanwendung durch die Lehrperson und<br />

Verbalisierung der begleitenden Überlegungen; angeleitetes, später zunehmend<br />

selbstständiges Einüben der Strategieanwendung<br />

� Durchführung: für 5.Klässler gedacht; Einsatz im regulären Deutschunterricht (es liegt<br />

aber auch eine Version für lernschwache Kinder vor)<br />

� Evaluation: zeigt gute Ergebnisse<br />

4. Zusammenfassende Bewertung der Trainingsprogramme<br />

� Kurzfristige Trainingswirkungen lassen sich für nahezu alle Trainingsprogramme<br />

belegen (Pretest-Posttest-Untersuchungen); zu den langfristigen Effekten der<br />

Programme liegen bis dato jedoch kaum Befunde vor.<br />

� Die Generalisierungseffekte der Programme scheinen eher begrenzt zu sein, was sich<br />

daran zeigt, dass sich die Leistung trainierter Kinder zwar in trainingsnahen Aufgaben<br />

verbessert (proximaler Transfer), eine Verbesserung bei trainingsferneren Aufgaben<br />

wie standardisierten Leseverständnistests (distaler Transfer) aber eher selten ist.<br />

� Interindividuelle Differenzen in der Trainingseffektivität: Nicht alle Kinder<br />

profitieren von einem Training gleichermaßen und in gleicher Weise; dabei gilt, dass<br />

die Unterschiede umso größer ausfallen, je größer die Distanz zw. den<br />

Trainingsinhalten und der zur Effektivitätsanalyse verwendeten Prüfungsaufgabe ist<br />

(distaler Transfer)<br />

� Bei vielen Trainingsprogrammen gilt das „Matthäus-Prinzip“: Je besser die<br />

Eingangsvoraussetzungen der Kinder, desto wirksamer das Training! Was die<br />

metakognitiven Ausgangskompetenzen betrifft, konnte dieser Effekt zwar für<br />

die Trainings zum Textlernen ausgeschlossen werden, im Hinblick auf andere<br />

Ausgangskomptenzen kann er jedoch durchaus auftreten.<br />

� Metakognitives Training kann auch zu unerwünschten Nebeneffekten führen. So<br />

kann es z.B. sein, dass vorhandene Lernroutinen durch das Training deautomatisiert<br />

werden, während die neuen Strategien ungewohnt bleiben und dementsprechend ein<br />

hohes Maß an kognitiver Kapazität erfordern (mögliche Erklärung für ausbleibende<br />

Transfereffekte).<br />

� 3 Arten von Strategiedefiziten bei Kindern können unterschieden werden (siehe D 2):<br />

1) Mediationsdefizit: Strategien können auch nach Vermittlung und Training<br />

nicht angewandt werden, da die nötigen Voraussetzungen fehlen<br />

� bei jüngeren Kindergartenkindern<br />

2) Produktionsdefizit: Strategien werden auch nicht spontan angewandt, können<br />

aber nach Vermittlung und Training gewinnbringend genutzt werden.<br />

� Vorschulalter / Schulanfänger<br />

3) Nutzungsdefizit: Strategien werden spontan angewandt, führen aber nicht zu<br />

einer Leistungsverbesserung<br />

� betrifft v. a. Kinder unter 7, oft aber auch ältere Kinder<br />

� Erklärung: Sind die neuen Strategien noch nicht automatisiert, schlucken<br />

sie zuviel Kapazität, um noch einen Nutzen zu bringen.<br />

119


� Einige Konsequenzen:<br />

� Trainingsprogramme sollten möglichst stark individualisieren<br />

(Gruppentrainings daher zweifelhaft)<br />

� Die Strategien dürfen nicht nur theoretisch vermittelt, sondern müssen zwecks<br />

Automatisierung auch hinreichend geübt werden.<br />

� Verwendung variierender Aufgaben, um Generalisierung zu begünstigen<br />

� Berücksichtigung motivationaler Aspekte<br />

5. Klauers Trainingsprogramme zum induktiven Denken<br />

� Theoretischer Hintergrund des Programms:<br />

� Klauers Trainingsprogramme beruhen auf der Theorie des paradigmatischen<br />

Transfers. D.h.: Es sollen v. a. solche Lösungsprozeduren vermittelt werden,<br />

die auf eine möglichst große Anzahl von Problemen angewandt werden<br />

können und auf diese Weise einen breiten Transfer ermöglichen.<br />

� Erfüllt wird dieses Kriterium von Prozessen induktiven Denkens, die<br />

nicht umsonst zum Kernbestand aller Intelligenzmodelle gehören.<br />

� Induktives Denken ist die Ableitung von Regelmäßigkeiten aus konkreten<br />

Beobachtungen. Klauer unterscheidet 3 Facetten bzw. Dimensionen<br />

induktiven Denkens:<br />

1) Anstellen von Vergleichsprozessen zur Feststellung von Gleichheit,<br />

Verschiedenheit oder – bei gleichzeitiger Betrachtung mehrerer Aspekte<br />

– Gleichheit und Verschiedenheit<br />

2) Verglichen werden können Merkmale oder Relationen<br />

3) Materialer Aspekt: Verglichen werden kann verbales, bildhaftes,<br />

geometrisch-figurales oder sonstiges Material.<br />

� Vor diesem Hintergrund lässt sich induktives Denken definieren als das<br />

Entdecken von Gleichheit, Ungleichheit oder Gleichheit und Ungleichheit<br />

bei Merkmalen und Beziehungen unterschiedlichen Materials.<br />

� Sofern damit genau festgelegt ist, welche Operationen zum induktiven<br />

Denken gehören und welche nicht, handelt es dabei um eine präskriptive<br />

Definition.<br />

� Anhand der ersten beiden Dimensionen lassen sich 6 Formen induktiven<br />

Denkens (und damit 6 für das induktive Denken relevante Aufgabentypen)<br />

unterscheiden:<br />

Festzustellen ist… Aufgabenklasse .<br />

1. Gleichheit von Merkmalen Generalisierung<br />

2. Verschiedenheit von Merkmalen Diskrimination<br />

3. Gleichheit und<br />

Verschiedenheit<br />

von Merkmalen Kreuzklassifikation<br />

4. Gleichheit von Relationen Beziehungserfassung<br />

5. Verschiedenheit von Relationen Beziehungsunterscheidung<br />

6. Gleichheit und<br />

Verschiedenheit<br />

von Relationen Systembildung<br />

� Klauers Training zum induktiven Denken liegt in 3 Versionen vor:<br />

� Denktraining für Kinder I (für Kinder zw. 5 und 8 Jahren)<br />

� Denktraining für Kinder II (für Kinder zw. 10 und 13 Jahren)<br />

� Denktraining für Jugendliche (leistungsschwache Jugendliche zw. 14 und 17)<br />

� Allen 3 Versionen liegt dasselbe Grundkonzept zugrunde: In 10 Trainingssitzungen<br />

zu je 45 Minuten werden insgesamt 120 Aufgaben behandelt, die sich zu gleichen<br />

120


Teilen auf die 6 oben genannten Aufgabentypen verteilen (20 pro Aufgabenklasse);<br />

auch die vermittelten Lösungsschemata sind dieselben.<br />

� Unterschiede bestehen lediglich bezüglich der Inhalte und Schwierigkeitsgrade<br />

der Aufgaben. Im Denktraining für Kinder I wird primär mit Bauklötzen und<br />

Bildern gearbeitet, in den beiden anderen neben figuralem auch mit verbalem<br />

und numerischem Material. Die schwierigsten Aufgaben enthält das<br />

Denktraining für Kinder II.<br />

� Durchführung: als Einzel-, Paar- oder Gruppentraining<br />

� Beim jüngeren Kindern ist Einzel- oder Paartraining besser (intensivere<br />

Betreuung), bei älteren Kindern und Jugendlichen dagegen Gruppentraining<br />

(Diskussion)<br />

� Methoden:<br />

� Die Instruktion soll nach dem Prinzip des „gelenkten Entdecken Lassens“<br />

erfolgen; der Trainer sollte sich also einerseits zurückhalten, andererseits den<br />

Lösungsprozess durch gezielte Fragen unterstützen.<br />

� V. a. leistungsstarke Schüler sollen zum „Verbalisieren“ (lautes Denken) und<br />

zur „Selbstreflexion“ (nachträgliches Kommentieren des eigenen Vorgehens)<br />

angehalten werden, für Schüler mit Lernschwierigkeiten empfiehlt Klauer die<br />

Methode der „verbalen Selbstinstruktion“<br />

� Aufgabentypen:<br />

1) Generalisierung:<br />

� Klassenbildung (Suche nach einem Merkmal, das mehrere Objekte<br />

gemeinsam haben)<br />

� Ergänzung von Klassen (Benennung eines Objekts, das zu einer bereits<br />

gebildeten Klasse gehört)<br />

� Gemeinsamkeiten finden (Identifikation gemeinsamer Merkmale<br />

vorgegebener Objekte)<br />

2) Diskrimination:<br />

� Unpassendes Herausstreichen (was passt nicht in die Reihe?)<br />

3) Kreuzklassifikation:<br />

� Systematisierung vorgegebener Objekte anhand relevanter Merkmale<br />

(geschieht durch Eintragung in vorgegebene Tabellen)<br />

4) Beziehungserfassung:<br />

� Folgen ordnen (Objekte sind anhand ihrer Beziehungen zueinander in eine<br />

sinnvolle Abfolge zu bringen, z.B. der Größe nach oder chronologisch)<br />

� Folgen ergänzen (Fortsetzung einer Folge bzw. Einordnung eines neuen<br />

Objekts)<br />

� Einfache Analogie<br />

5) Beziehungsunterscheidung:<br />

� Vorgabe falscher Folgen, die entweder durch Umstellung oder durch das<br />

Herausstreichen eines Objekts richtig gestellt werden sollen<br />

6) Systembildung:<br />

� Vollständige Analogie (Vier Objekte sind durch 2 Relationen miteinander<br />

verbunden)<br />

� Matrize (Erweiterung der vollständigen Analogie auf 6 oder 9 Objekte)<br />

� Ablauf: Pro Sitzung werden 12 Aufgaben bearbeitet.<br />

� 1. Sitzung: Bearbeitung der Aufgaben, ohne auf den Lösungsweg oder die<br />

Aufgabenart einzugehen<br />

� Hinführender Teil zur Motivierung und um mit Material vertraut zu<br />

werden<br />

121


� 2./3./4. Sitzung: Kinder lernen die verschiedenen Aufgabenklassen kennen<br />

und unterscheiden<br />

� 5./6./7. Sitzung: Erarbeitung von Lösungsschemata für die verschiedenen<br />

Aufgabenklassen, wobei jede Aufgabe vor der Bearbeitung einer der sechs<br />

Klassen zuzuordnen ist<br />

� 8./9./10. Sitzung: Einübung und Festigung des vorher Erarbeiteten in<br />

verschiedenen Zusammenhängen<br />

� Evaluation: kann sich auf sehr breite Datenbasis stützen<br />

� Bereichsspezifische Wirksamkeit des Trainings: Hohe Transfereffekte des<br />

Denktrainings auf IQ-Tests mit induktiven Aufgaben; allerdings<br />

verhältnismäßig große Streuung<br />

� Letzteres kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die<br />

Wirksamkeit von den Durchführungsbedingungen des Trainings abhängt.<br />

� Der (distale) Transfer auf schulisches Lernen und Problemlösefähigkeit:<br />

war überraschender Weise noch größer als der proximale Transfer auf IQ-<br />

Tests.<br />

� Mögliche Erklärung: IQ-Tests arbeiten mit sinnarmen Material,<br />

schulische Aufgaben dagegen genau wie die Trainingsaufgaben mit<br />

sinnvollem Material.<br />

� Am größten war der Effekt auf schulisches Lernen in der Sonderschule!<br />

� Nachhaltigkeit der Trainingseffekte: Tests nach 6 Monaten zeigen, dass die<br />

Kompetenzsteigerungen durch das Training relativ stabil sind; eine weitere<br />

Optimierung der Nachhaltigkeit ist durch Auffrischungssitzungen zu<br />

erreichen.<br />

� Fazit: Hervorragendes Training (sowohl was die theoretische Fundierung, als auch<br />

was die praktische Wirksamkeit betrifft):<br />

� Verbessert induktives Denken<br />

� Verbessert schulisches Lernen und Problemlöseleistungen<br />

� Und: beide Effekte sind längerfristig und stabil!<br />

122


C 3: Interventionsprogramme bei Kindern und Jugendlichen<br />

1. Klinisch bedeutsame Aufmerksamkeitsstörungen<br />

� Klinisch bedeutsame Aufmerksamkeitsstörungen:<br />

� Das DSM-IV-TR differenziert zwischen 3 Arten von Aufmerksamkeits-/<br />

Hyperaktivitätsstörungen:<br />

1) Einem Störungstyp mit vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Störungsanteilen<br />

2) Einer vorwiegend durch Unaufmerksamkeit gekennzeichneten Störungsform<br />

3) Einem Mischtypus der Störung<br />

� Anders die ICD-10: Hier wird das Vorliegen von zusätzlicher motorischer<br />

Unruhe und Impulsivität als notwendiges Kriterium für die Diagnose „einfache<br />

Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ angesehen.<br />

� Epidemiologie:<br />

� ADHS ist keine kulturbedingte Störung: sie tritt nämlich nicht nur in den USA,<br />

Kanada und Europa, sondern auch in anderen Kulturkreisen auf!<br />

� DSM-IV-TR (2000) schätzt den Anteil der betroffenen Kinder auf 3-7%<br />

(Prävalenzrate), wobei Jungen wesentlich häufiger betroffen sind als Mädchen<br />

(das Verhältnis liegt zw. 2:1 und 9:1)<br />

� Ätiologie: nach Lauth & Schlottke, die ein integratives Bedingungsmodell der<br />

Störung vorschlagen<br />

� Neurobiologische Grundlage des Syndroms: ist eine Störung der<br />

zentralnervösen Aktivitätsregulation.<br />

� Aufgrund dieses Defizits können die Kinder ihre zentralnervöse Aktiviertheit<br />

(„geistige Wachheit“) nicht oder nur unzureichend auf die Anforderungen<br />

der jeweiligen Situation ausrichten, so dass es immer wieder zu Phasen der<br />

Über- und Unteraktivierung kommt.<br />

� Bedingt durch die Störung der Aktivitätsregulation kommt es zu<br />

Beeinträchtigungen der Verhaltensregulation:<br />

� Einschränkung der Daueraufmerksamkeit, mangelnde Impulskontrolle und<br />

Tendenz zu vermehrter Suche nach neuen Reizen => Impulsivität und<br />

Hyperaktivität<br />

� Ebenfalls beeinträchtigt ist die Fähigkeit zur Handlungsorganisation:<br />

� Kinder führen nur unvollständige Problem- und Zielanalysen durch, prüfen<br />

selten alternative Lösungsmöglichkeiten und sind kaum dazu in der Lage, ihr<br />

Verhalten strategisch zu planen.<br />

� Es fehlt an metakognitivem Wissen:<br />

� Vorerfahrungen werden nicht berücksichtigt etc. etc.<br />

� Es bestehen Schwierigkeiten bei der Begriffsbildung und abstrakten<br />

Denkoperationen<br />

� Zur Verfestigung dieser Auffälligkeiten trägt v. a. das soziale Umfeld bei:<br />

Schlechte Modelle, Misserfolgserlebnisse und Sanktionen, soziale Isolation in<br />

der Gruppe der Peers etc. führen zu Vermeidungsverhalten, negativen<br />

Emotionen etc. (ein Teufelskreis!)<br />

2. Interventionsmöglichkeiten bei Aufmerksamkeitsstörungen<br />

� Das oben genannte Modell verdeutlicht, dass Interventionen bei Aufmerksamkeits-<br />

Hyperaktivitätsstörungen auf verschiedenen Ebenen ansetzen können:<br />

� Verbesserung der Selbstregulationskompetenzen des Kindes<br />

� Schulung der direkten Bezugspersonen des Kindes<br />

� Medikamentöse Behandlung der neurobiologischen Störungsgrundlagen<br />

� Sollte auf Fälle mit besonders krisenhafter Entwicklung beschränkt bleiben.<br />

123


� Grundsätzlich gilt, dass die Heterogenität des Störungsbilds ein stark<br />

individualisiertes Vorgehen notwendig macht.<br />

� Einzelne Elemente einer aufmersamkeitsfördernden Intervention sind dabei:<br />

1. Geeignete Situationsgestaltung (meint die Sicherstellung klar strukturierter<br />

Rahmenbedingungen)<br />

� Räumliche Gestaltung der Lernumgebung (Spielsachen weg vom<br />

Schreibtisch etc.)<br />

� Inhaltliche und optische Gestaltung der Lern- und Unterrichtsmaterialien<br />

(Einteilung längerer Aufgaben in kürzere Abschnitte etc.)<br />

� Aufstellung verbindlicher Regeln (lieber wenige und dafür klar und sachlich<br />

formuliert sowie konsequent sanktioniert)<br />

� Einführung von Routinen und Ritualen<br />

2. Förderung grundlegender Operatoren<br />

� Da aufmerksamkeitsgestörte Kinder häufig Defizite in der<br />

Informationsverarbeitung aufweisen, sollte die Intervention damit beginnen,<br />

diesbezüglich grundlegende Kompetenzen zu vermitteln.<br />

� Anhand aufmerksamkeitsrelevanter Aufgaben (z.B. Zuordnungs- oder<br />

Vergleichsaufgaben) gilt es, „genaues Hinschauen und Hinhören“ zu<br />

trainieren. Wichtig ist dabei, das geforderte Vorgehen vorher genau zu<br />

demonstrieren (der Trainer als Modell)<br />

3. Förderung der Selbstregulationskompetenzen<br />

� Zu diesem Zweck werden Kinder zu verbalen Selbstanweisungen angehalten;<br />

mittels derer sie sich z.B. vor der Bekanntgabe einer Lösung laut zum<br />

Innehalten auffordern sollen („Halt-Stopp-Überprüfen!“); unterstützt<br />

werden kann dieser Prozess durch passende Signalkarten (z.B. „Kind mit<br />

Stoppschild“).<br />

4. Förderung der Handlungsorganisation und des metakognitiven Wissens<br />

� Fertigkeiten zur Handlungsplanung und –steuerung werden ebenfalls mit<br />

Hilfe der verbalen Selbstinstruktion trainiert („Ich mache mir einen Plan!“;<br />

„Was ist mein Ziel?“; „Ich fange jetzt an!“ etc.)<br />

5. Eltern als Mediatoren<br />

� Eltern sind einerseits über das Störungsbild (mögliche Ursachen, Symptome<br />

etc.) aufzuklären, andererseits mit entsprechendem Handlungswissen<br />

auszustatten; sie sollen also zu einem adäquaten und förderlichen Umgang<br />

mit ihren Kindern angeleitet werden.<br />

6. Schulzentrierte Förderung in der Großgruppe<br />

� Strukturierende Maßnahmen zur Organisation des Lehrstoffs und operante<br />

Verfahren (Token-Programme etc.) zur Lenkung des Schülerverhaltens; bei<br />

leichten Fällen sind solche schulischen Interventionen oft ausreichend, bei<br />

schweren sollten sie parallel zur psychologischen Intervention erfolgen.<br />

7. Aufmerksamkeitsförderung im Kindergarten<br />

� Strukturierende Maßnahmen, operante Verfahren<br />

� Frühe Maßnahmen wirken oft präventiv!<br />

3. Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem<br />

Problemverhalten (THOP)<br />

� Das THOP ist für Kinder zw. 3 und 12 Jahren konzipiert; es behandelt zwei<br />

Störungsformen, nämlich einerseits hyperkinetisches und andererseits oppositionelles<br />

Problemverhalten; diese Störungen können sowohl einzeln als auch gemeinsam<br />

auftreten.<br />

124


� Hyperkinetische Störungen: sind durch 3 Kernsymptome gekennzeichnet<br />

a) Störungen der Aufmerksamkeit<br />

- Schlechte Schulleistungen, vorzeitiger Abbruch oder unordentliche<br />

Erledigung mental anstrengender Aufgaben, Flüchtigkeitsfehler etc.<br />

b) Impulsivität<br />

- unüberlegtes und plötzliches Handeln, mangelnder Bedürfnisaufschub<br />

etc.<br />

c) Hyperaktivität<br />

- exzessive motorische Aktivität (Herumkaspern im Klassenzimmer,<br />

vom Essenstisch aufspringen etc.)<br />

� Oppositionelle Verhaltensstörung:<br />

� gekennzeichnet durch ein trotziges, ungehorsames und feindseliges<br />

Verhaltensmuster gegenüber Autoritätspersonen; außerdem: extreme<br />

Reizbarkeit, Wutausbrüche etc.<br />

� Diagnostik: Die Eingangsdiagnostik nimmt die ersten 3 bis 5 Sitzungen in Anspruch<br />

und bildet die Grundlage für das weitere Vorgehen (Festlegung der Therapieziele)<br />

� Psycho-, Verhaltens- und Interaktionsdiagnostik: dient der Feststellung der<br />

Verhaltensauffälligkeiten und emotionalen Auffälligkeiten des Kindes<br />

� Intelligenz- und Leistungsdiagnostik<br />

� Familiendiagnostik: Beziehungen und Interaktionsmuster innerhalb der Familie<br />

� Durchführung: Zwischen 10 und 40 wöchentliche Therapiesitzungen (à 50-60<br />

Minuten); evtl. Nachbehandlung in größeren Abständen<br />

� Methode: Verhaltenstherapeutisches Programm, das sowohl kind- als auch<br />

familienzentrierten Interventionen enthält.<br />

� Kindzentrierte Interventionen: setzten direkt beim Kind an (z.B.:<br />

Selbstinstruktionstraining; Spieltraining, Ärger-Kontroll-Training)<br />

� Familienzentrierte Interventionen: setzen bei den Interaktionsmustern<br />

innerhalb der Familie an und versuchen so, diejenigen Bedingungen zu ändern,<br />

die das auffällige Verhalten verstärken.<br />

� Ablauf: Der Ablauf der Intervention ist in 7 Stufen unterteilt, auf denen jeweils ein<br />

spezifisches Therapieziel im Mittelpunkt steht; den einzelnen Stufen entsprechen<br />

jeweils mehrere, flexibel einsetzbare Interventionsmaßnahmen bzw.<br />

Therapiebausteine.<br />

1) Problemdefinition, Entwicklung des Störungskonzeptes und<br />

Behandlungsplanung<br />

2) Förderung positiver Eltern-Kind-Interaktionen und einer guten Eltern-Kind-<br />

Beziehung<br />

3) Verminderung impulsiven und oppositionellen Verhaltens<br />

4) Spezielle operante Methoden (Punkte-Pläne, Auszeit etc.)<br />

5) Interventionen bei spezifischen Verhaltensproblemen (z.B. im Rahmen der<br />

Hausaufgabenerledigung)<br />

6) Stabilisierung der Effekte<br />

7) Ergänzende kindzentrierte Interventionen (evtl. medikamentöse Behandlung)<br />

� Aufbau: Das THOP besteht aus 2 parallel ablaufenden Teilprogrammen.<br />

1) Das Eltern-Kind-Programm: soll hyperkinetische und oppositionelle<br />

Verhaltensstörungen in der Familie vermindern<br />

2) Das Erzieher-Lehrer-Kind-Programm: soll hyperkinetische bzw. oppositionelle<br />

Verhaltensstörungen im Kindergarten und in der Schule vermindern<br />

125


� Beispiele für Therapiebausteine:<br />

� Elternleidfaden für wirkungsvolle Aufforderungen (gehört zu Stufe 3)<br />

� Regel 1: Stellen sie nur Aufforderungen, wenn sie bereit sind, sie auch<br />

durchzusetzen!<br />

� Regel 2: Verringern sie jegliche Ablenkung, bevor Sie eine Aufforderung<br />

geben!<br />

� Regel 3: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind aufmerksam ist, wenn sie eine<br />

Aufforderung geben!<br />

� Regel 4: Äußern Sie die Aufforderung eindeutig und nicht als Bitte!<br />

� Regel 5: Geben Sie immer nur eine Aufforderung!<br />

� Regel 6: Bitten Sie Ihr Kind, Ihre Aufforderung zu wiederholen!<br />

� Regel 7: Bleiben Sie in unmittelbarer Nähe des Kindes, um sicher zu gehen,<br />

dass Ihr Kind der Aufforderung nachkommt!<br />

� Regel 8: Konzentrieren Sie sich zunächst nur auf wenige Aufforderungen<br />

und protokollieren Sie Ihre Erfahrungen in einem Tagebuch!<br />

� Die kindzentrierten Interventionsmaßnahmen (z.B. Selbstinstruktionstraining)<br />

werden durch Geschichten aus dem Buch „Wackelpeter und Trotzkopf“<br />

eingeleitet, in denen die beiden Figuren von ihren eigenen Erfahrungen mit der<br />

jeweiligen Interventionsmaßnahme berichten und das Kind ermutigen, es auch<br />

mal zu versuchen.<br />

� Mögliche Probleme im Therapieverlauf: Schuldgefühle der Eltern,<br />

Partnerschaftsprobleme der Eltern, zu hoher Erwartungsdruck an die Therapie etc. etc.<br />

� Evaluation: Programm ist vielfach erprobt und hat sich in der Praxis bewährt!<br />

4. Training mit sozial unsicheren Kindern<br />

� Definition: Soziale Unsicherheit ist keine klar definierte Störung; sie weist jedoch<br />

Parallelen zu verschiedenen anderen Störungen auf: etwa zur Trennungsangst,<br />

Überängstlichkeit, sozialer Phobie oder dem elektiven Mutismus (andauernde<br />

Weigerung, in einer oder mehreren sozialen Situationen zu sprechen).<br />

� Sozial unsicheres Verhalten äußert sich sowohl auf verbaler, als auch<br />

nonverbaler Ebene:<br />

� Verbales Verhalten: Betroffene sind eher still, sprechen oft undeutlich oder<br />

stottern und sind oft außer Stande, Gefühle zu äußern etc.<br />

� Nonverbales Verhalten: Betroffene meiden Blickkontakt und soziale<br />

Anforderungssituationen generell, sind im sozialen Kontakt entweder<br />

apathisch oder zappelig etc.<br />

� Sozial unsicheres Verhalten kann dabei personen-, objekt- oder<br />

situationsspezifisch auftreten.<br />

� Epidemologie: Aufgrund der uneinheitlichen Definition sind valide Angaben zur<br />

Epidemologie nur bedingt möglich.<br />

� Sozialphobie.: 0,9%; Trennungsangst: 3,5% etc.<br />

� Schüchterne, zurückgezogene Schüler (nach Lehrerschätzungen): 24-35%<br />

� Ursachen: sind meist ungünstige Lernprozesse<br />

� Modellverhalten der Eltern<br />

� Operantes und klassisches Konditionieren (=> evtl. erlernte Hilflosigkeit)<br />

� Diagnostik: Systematische Verhaltensbeobachtung („Beobachtungsbogen für sozial<br />

unsicheres Verhalten“) + Elternexploration + Ausschluss biologischer Faktoren<br />

(z.B. Seh- und Hörschäden)<br />

� Therapeutischen Vorgehen (typische Interventionsprinzipien und –maßnahmen):<br />

� Modellernen (mit Videos) und Verhaltensübung<br />

126


� Verhaltensübung (in Rollenspielen oder „In-vivo-Übungen“) und Coaching<br />

(exakte Instruktionen, differenziertes Feedback, Fremd- und Selbstverstärkung)<br />

� Kognitive Ansätze: Selbstinstruktionstrainings, Aufbau eines positiven<br />

Selbstkonzepts etc.<br />

� Selbstsicherheitstrainings: kombinieren verschiedene Techniken<br />

� Kompakte Trainings: kombinieren verschiedene Interventionsmaßnahmen,<br />

verfolgen vielfältige und differenzierte Therapieziele und integrieren wichtige<br />

Bezugspersonen (Eltern, Lehrer etc.)<br />

� Ein Beispiel: Das Trainingsprogramm für sozial unsichere Vor- und<br />

Grundschulkinder von Petermann & Petermann (1992)<br />

� Das Programm richtet sich an sozial unsichere Vor- und Grundschulkinder,<br />

wobei bei der Durchführung zw. diesen beiden Altersgruppen zu differenzieren<br />

ist.<br />

� Ablauf: Das Programm setzt sich aus Einzelsitzungen, Gruppensitzungen und<br />

Elternsitzungen zusammen.<br />

� Aufbau: Einzel- und Gruppensitzungen sind dabei vergleichbar aufgebaut und<br />

enthalten verschiedene wiederkehrende Rituale (Konstanz schafft Vertrauen!):<br />

� Begonnen wird mit der Besprechung des sog. „Detektivbogens“<br />

(Selbstbeobachtungsinstrument); es folgt eine Entspannungsphase. Den<br />

Schwerpunkt bildet die materialgeleitete Arbeit (z.B. mit Videos oder<br />

Puppen)<br />

� Ziele und Methoden des Einzeltrainings:<br />

� Bewusstmachung von sozialer Angst und Unsicherheit<br />

� Sensibilisierung der Wahrnehmung für Interaktionsabläufe<br />

- Etwa indem Videos von sozialen Interaktionen gezeigt und analysiert<br />

werden oder indem anhand sparsam gezeichneter Gesichter<br />

(„Wolkenköpfe“) die Identifikation und Unterscheidung von Mimiken<br />

geübt wird.<br />

� Reflexion der eigenen Erwartungen an das Verhalten anderer<br />

� Reflexion der eigenen sozialen Ängste und Unsicherheiten<br />

- Selbstbeobachtung mit dem „Detektivbogen“<br />

� Entwicklung von Kriterien zur Beurteilung von Sozialverhalten<br />

� Entwicklung und Einübung von Verhaltensalternativen<br />

- Rollenspiele<br />

� Ziele und Methoden der Gruppentrainings:<br />

� Positive Gefühle und Fertigkeiten gegenüber anderen, vertrauten Personen<br />

zeigen; eigene Ansprüche durchsetzen und Ansprüche anderer erkennen;<br />

Kontaktaufnahme üben etc. etc.<br />

� Methode: meist Rollenspiele<br />

� Strukturierte Elternberatung: findet parallel statt und dient u. a. dazu, die<br />

Eltern in der Beobachtung ihres Kindes zu schulen, ihnen geeignete<br />

Handlungsstrategien an die Hand zu geben und sich mit ihnen über Fort- bzw.<br />

Rückschritte des Kindes auszutauschen.<br />

5. Training mit aggressiven Kindern<br />

� Aggression kann nach dem DSM-IV und ICD-10 klassifiziert werden als<br />

„oppositionelles Trotzverhalten“ oder „Störung des Sozialverhaltens“<br />

� Zur Definition; Diagnostik („Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in<br />

konkreten Situationen“ / „Beobachtungsbogen für aggressives Verhalten“),<br />

Ursachen etc.: siehe B 7<br />

127


� Trainingsprogramm von Petermann und Petermann:<br />

� Aufbau: Einzelsitzungen, Gruppensitzungen sowie Elterntraining und –beratung<br />

� Ziele:<br />

� Abbau von hinderlichen Wahrnehmungsverzerrungen<br />

� Einübung angemessener Verhaltensalternativen (z.B. kooperatives Verhalten,<br />

konstruktive Formen der Selbstbehauptung und Konfliktlösung etc.)<br />

� Selbstkontrolle<br />

� Empathiefähigkeit etc.<br />

� Methoden:<br />

� Entspannungsverfahren (Kapitän-Nemo-Geschichte)<br />

� Rollenspiele<br />

� Detektivbogen<br />

� Token-Programm (siehe: B 5)<br />

� Modelllernen an Videos etc.<br />

� Weitere Interventionsprogramme:<br />

� Gewaltpräventionsprogramm von Olweus (richtet sich an Schulen)<br />

� Ärger-Kontroll-Training von Feindler<br />

� …<br />

128


C 4: Motivationsförderung<br />

1. Allgemeines (siehe auch: A 4)<br />

� Begriffsklärungen (s.o.):<br />

� Motivation: Aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf<br />

einen positiv bewerteten Zielzustand<br />

� Motiv: Relativ zeitstabile Bevorzugung bestimmter Klassen von Anreizen bzw.<br />

Zuständen.<br />

� Die grundlegenden Motive sind:<br />

- Das Anschlussmotiv (Ziel: Aufbau und Erhalt vertrauensvoller<br />

Sozialbeziehungen)<br />

- Das Machtmotiv (Ziel: Wirkung und Einflussnahme auf andere<br />

Personen)<br />

- Das Leistungsmotiv (Ziel: Leistung in Auseinandersetzung mit einem<br />

Gütemaßstab)<br />

� Motive sind individuell verschieden stark ausgeprägt; darüber hinaus können<br />

sie aufsuchend oder meidend sein (Hoffnung vs. Furcht)<br />

� Vorbemerkung: Leistungsmotivation ist kein normatives, sondern ein empirisches<br />

Konzept!! Dementsprechend geht es in Motivationstrainings nicht darum, etwas zu<br />

implementieren, das von bestimmten Instanzen (Lehrern etc.) als positives Ideal<br />

betrachtet wird, sondern darum, etwas zu fördern, was im Menschen angelegt ist.<br />

� Dass das Leistungsmotiv ein menschliches Essential ist, zeigt sich an den<br />

verschiedenen Phänomenen autonomer Kompetenzmotivation: Kinder, die<br />

versuchen, auf schmalen Mauern zu balancieren etc. etc.<br />

� Die „Funktionslust“ (Bühler) bzw. „effectance motivation“ (White) des<br />

Menschen ist evolutionsbiologisch gesehen hoch adaptiv und hat daher<br />

vermutlich neurophysiologische Grundlagen.<br />

� Zur Ontogenese des Leistungsmotivs:<br />

� 2,5 – 3 Jahre: Aufbau von Gütemaßstäben (individuell, sachlich, sozial),<br />

anhand derer die Resultate des eigenen Handelns als Erfolg bzw. Misserfolg<br />

gewertet werden können; parallel dazu lernen Kinder, sich selbst als Urheber<br />

ihrer Handlungen zu verstehen (Selbstverantwortlichkeit)<br />

� Eine gesunde Entwicklung der Leistungsmotivsmotivation zeichnet sich<br />

durch folgende Merkmale aus:<br />

- Präferenz für mittelschwere Aufgaben (sofern diese den höchsten<br />

Informationswert haben)<br />

- Tendenz, die eigenen Leistungen an individuellen Gütestandards zu<br />

messen<br />

- Selbstwertstützender Attributionsstil<br />

- Erleben von Selbstverantwortlichkeit<br />

129


2. Das Harvard-Motivtrainingsprogramm von McClelland<br />

� Das erste Motivationstraining ist das Harvard-Motivtrainingsprogramm von<br />

McClelland (60er Jahre). Das Programm zielt auf eine Veränderung des<br />

Motivsystems und steht damit eigentlich in Diskrepanz zu McClellands theoretischen<br />

Grundannahmen (Theorie � Praxis).<br />

� McClelland beschreibt Motive nämlich als assoziative Netzwerke, die bereits in<br />

frühkindlicher Zeit erworben werden und überaus stabil sind. Aktiviert werden<br />

die Netzwerke durch Hinweisreize, die je nach Lerngeschichte und individueller<br />

Veranlagung positive oder negative Affekte (Hoffnung vs. Furcht) auslösen.<br />

� Drei funktional voneinander unabhängige Motive lassen sich dabei<br />

unterscheiden:<br />

A) Das Anschlussmotiv<br />

B) Das Machtmotiv<br />

C) Das Leistungsmotiv<br />

� Diese 3 Motive sind evolutionsbiologisch bedingt und daher universell; es<br />

bestehen jedoch interindividuelle Unterschiede bezüglich ihrer Ausprägung<br />

sowie ihrer Stellung im Gesamtgefüge der Motive.<br />

� Diese Unterschiede sind a) bedingt durch unterschiedliche<br />

Lerngeschichten und b) durch generelle neurohormonelle Unterschiede<br />

(Veranlagung).<br />

� Messen lassen sich die interindividuellen Unterschiede im Motivsystem<br />

mit dem Thematischen Apperzeptionstest (TAT).<br />

� Das Leistungsmotiv beschreibt McClelland als hedonistisch verankerten<br />

Selbstoptimierungsmechanismus!<br />

� Fazit: McClellands Theorie zufolge sind Motive eigentlich völlig ungeeignet,<br />

durch kurzfristige Trainings beeinflusst zu werden (frühe, vorsprachliche<br />

Ausbildung, unbewusst, teilweise genetisch bedingt). Trotzdem setzt das von ihm<br />

entwickelte Programm genau dort an.<br />

� Das Harvard-Motivtraining wurde ursprünglich für Manager und Unternehmer<br />

konzipiert, ist aber, entsprechend abgewandelt, auch bei Schülern eingesetzt worden.<br />

In Coachingprogrammen für Manager, Parteien etc. wird es in erweiterter Form noch<br />

heute angeboten.<br />

� Durchführung: In dem sehr aufwendigen Ursprungsprogramm wurden<br />

Führungskräfte über 2 Jahre betreut. Den Kern des Projekts bildete ein<br />

2wöchiger Intensivkurs.<br />

� Ziel war es, das Leistungsmotiv der Teilnehmer durch eine Verstärkung und<br />

Ausdehnung des entsprechenden Netzwerks zu steigern; zu diesem Zweck<br />

wurde z.B. versucht, möglichst viele Situationen an das leistungsmotivationale<br />

Affektsystem zu koppeln.<br />

� Methoden: Selbsterfahrungsübungen, Theorieerarbeitungen, Zielsetzungsübungen<br />

etc. etc.<br />

� Ergebnis: Die Teilnehmer des Trainingsprogramms waren danach wesentlich<br />

unternehmerischer als die Unternehmer einer Kontrollgruppe (sie tätigten z.B.<br />

mehr Investitionen, schufen mehr Arbeitsplätze, erlitten aber auch häufiger<br />

Konkurs)<br />

� Bei Anwendung im schulischen Kontext: unklare Effekte!<br />

� McClelland selbst bezweifelte später, mit seinem Training die basalen Motivsysteme<br />

der Teilnehmer tatsächlich verändert zu haben. Stattdessen führte er die Effekte darauf<br />

zurück, dass die Teilnehmer lediglich Strategien („life management skills“) gelernt<br />

hätten, die für eine hohe Leistungsmotivation typisch sind: anspruchsvolle, aber<br />

realistische Zielsetzung, Einforderung von Feedback etc. etc.<br />

130


3. Das Selbstbewertungsmodell der Leistungsmotivation von Heckhausen (1972)<br />

� Auch wenn McClellands Überlegungen ihre Berechtigung haben und keineswegs<br />

überholt sind, stellt Heckhausens Modell eine wesentlich bessere Grundlage für<br />

Trainingsprogramme dar. Da es weniger grundsätzlich ist, eröffnet es nämlich gleich<br />

mehrere Möglichkeiten, auf die Leistungsmotivation einzuwirken.<br />

� Heckhausens Modell beschreibt das Leistungsmotiv nicht als Persönlichkeitsmerkmal,<br />

sondern als ein komplexes Selbstbewertungssystem.<br />

� Die Ausprägung des Leistungsmotivs hängt dabei von 3 sich gegenseitig<br />

stabilisierenden Teilprozessen ab:<br />

1. dem Anspruchsniveau bzw. der Zielsetzung<br />

2. dem präferierten Attributionsstil (von Erfolg und Misserfolg)<br />

3. der daraus resultierenden Selbstbewertung<br />

� Ausgehend davon kommt Heckhausen zu einer differenzierten Unterscheidung<br />

zwischen erfolgs- und misserfolgsmotivierten Personen:<br />

� Erfolgszuversichtliche Personen:<br />

� …zeichnen sich durch eine realistische Zielsetzung aus: Sie bevorzugen<br />

mittelschwere Aufgaben, also Aufgaben, die am meisten über ihre<br />

Leistungsfähigkeit aussagen<br />

� Die Folge ist ein positives Attributionsmuster; schließlich liegt es bei<br />

mittelschweren Aufgaben nahe, Erfolg auf Fähigkeit oder Anstrengung,<br />

Misserfolg dagegen auf Pech oder mangelnde Anstrengung<br />

zurückzuführen. Darüber hinaus werden Leistungsverbesserungen bei<br />

mittelschweren Aufgaben am ehesten sichtbar.<br />

� Die Folge ist eine ausgewogene bzw. positive Selbstbewertungsbilanz<br />

(Freude und Stolz nach Erfolg sind größer als die negativen Affekte nach<br />

Misserfolg � realistische Zielsetzung � … (ein „Engelskreis“)<br />

� Bei misserfolgsängstlichen Personen ist es umgekehrt:<br />

� Sie bevorzugen extrem leichte oder extrem schwere Aufgaben, da diese<br />

am wenigsten über ihr Leistungsniveau aussagen. Evtl.<br />

Kompetenzzuwächse bleiben ebenso verborgen.<br />

� Die Folge ist ein negatives Attributionsmuster: Erfolg wird auf externale<br />

Faktoren (wie Glück oder die Leichtigkeit der Aufgabe) zurückgeführt;<br />

Misserfolge dagegen auf mangelnde Fähigkeit<br />

� Die Folge ist eine asymmetrische bzw. negative Selbstbewertungsbilanz.<br />

Ein Erfolg bedeutet wenig, während Misserfolge als enorm belastend erlebt<br />

werden � unkluge Zielsetzung �… (ein Teufelskreis)<br />

� Mit Heckhausens kognitivem Modell der Leistungsmotivation (kognitive Wende) hat<br />

sich die Perspektive von Trainingsprogrammen grundlegend geändert: Anstatt zu<br />

versuchen, das Leistungsmotiv generell zu stärken (damit es in der Gesamthierarchie<br />

der Motive aufsteigt), konzentriert man sich heute darauf, die Richtung des<br />

Leistungsmotiv zu verändern: nämlich von misserfolgsängstlich zu<br />

erfolgszuversichtlich!<br />

� Zu diesem Zweck wird an den 3 Teilprozessen der Leistungsmotivation<br />

angesetzt: Es wird also versucht, den Teilnehmern a) zu einer realistischen<br />

Zielsetzung zu verhelfen, ihnen b) einen günstigen Attributionsstil<br />

anzugewöhnen und c) eine positive Selbstbewertungsbilanz zu fördern.<br />

� Pionierarbeit leisteten in diesem Zusammenhang Krug & Hanel (1976): s.u.<br />

131


4. Neuere Trainingsprogramme<br />

A) Außerschulisches Training<br />

� Krug und Hanel (1976) arbeiteten auf der Basis von Heckhausens Modell mit<br />

misserfolgsängstlichen und dementsprechend leistungsschwachen Viertklässlern.<br />

� Die Schüler wurden in 16 Sitzungen, die außerhalb des regulären Unterrichts<br />

stattfanden, darauf trainiert, sich realistische Ziele zu setzen, günstige<br />

Attributionen zu tätigen und zu einer positiven Selbstbewertungsbilanz zu<br />

kommen.<br />

� Um verfestigte Defensivstrategien zu vermeiden, wurde dabei zunächst mit<br />

schulfernem Material (Geschicklichkeitsspielen) gearbeitet; danach ging das<br />

Training jedoch zunehmend zu Material aus dem laufenden Unterricht<br />

über.<br />

� Der Trainer fungierte als Modellperson (äußerte laut die relevanten<br />

Kognitionen); auch die Schüler wurden dazu aufgefordert, ihre Kognitionen<br />

zu verbalisieren und dabei gegebenenfalls vom Trainer (oder Mitschülern)<br />

korrigiert; später: Übergang zum stummen Verbalisieren („internal<br />

speech“).<br />

� Ergebnisse: Es konnten nicht nur die 3 trainierten Prozesse im Sinne des<br />

Trainings verändert werden, sondern auch die Richtung des Leistungsmotivs,<br />

sprich: die Hoffnung auf Erfolg nahm zu, die Furcht vor Misserfolg dagegen ab.<br />

B) Unterrichtsintegriertes Training<br />

� Um einen besseren Transfer auf schulisches Lernen zu ermöglichen, versuchte man,<br />

Motivationstrainings direkt in den Unterricht zu integrieren.<br />

� In einem Projekt von DeCharms (1979) wurden Lehrer zu diesem Zweck<br />

zunächst in die Grundlagen der Motivationspsychologie eingeführt und darin<br />

trainiert, sich selbst als Urheber ihrer Handlungen zu erleben („origin training“);<br />

im Anschluss daran wurden sie aufgefordert, selbst Unterrichtsmaßnahmen zu<br />

entwickeln, mittels derer sie dieses Gefühl an ihre Schüler weitergeben können.<br />

� Ergebnis: Eines der wenigen Trainingsprogramme, bei denen es neben<br />

Motivationseffekten auch Leistungseffekte gab!<br />

� Rheinberg & Krug (1999) führten mit Fünftklässlern ein Motivationstraining<br />

im Klassenverband durch; dabei wurde den Schülern anhand von<br />

Geschicklichkeitsspielen zunächst der Zusammenhang zw. den 3 Teilprozessen<br />

beigebracht (Kurzform des Trainings von Krug & Hanel); anschließend: Rechen-<br />

und Schreibaufgaben, wobei die Schüler auf den Arbeitsblättern a) ihre<br />

individuelle Zielsetzung, b) den Grad der Zielerreichung, c) eine<br />

Ursachenerklärung und d) ihre Zufriedenheit mit dem Ergebnis festhalten<br />

sollten.<br />

� Ergebnis: Realistischere Zielsetzung; weniger Furcht vor Misserfolg, mehr<br />

Hoffnung auf Erfolg<br />

� Damit die 3 Teilprozesse der Leistungsmotivation im Unterricht effektiv trainiert<br />

werden können, müssen folgende Kriterien erfüllt sein:<br />

� Die verwendeten Aufgaben müssen ein eindeutiges Ergebnis haben.<br />

� Die verwendeten Aufgaben müssen eine deutliche Schwierigkeitsstaffelung<br />

aufweisen.<br />

� Die verwendeten Aufgaben müssen zumindest so vertraut sein, dass den<br />

Schülern eine Einschätzung des Schwierigkeitsgrades möglich ist.<br />

� Die Ergebnisse müssen zumindest teilweise von der aufgebrachten Anstrengung<br />

oder anderen kontrollierbaren Faktoren abhängen.<br />

132


� Die Lösung der Aufgaben sollte nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen, damit<br />

der Zusammenhang zw. den 3 Teilprozessen für die Schüler erkennbar bleibt.<br />

� Am besten lassen sich diese Elemente im Sportunterricht verwirklichen; bei<br />

Fächern mit überwiegend kognitiven Inhalten sind die Kriterien am ehesten in<br />

Wiederholungs- und Übungsphasen realisierbar.<br />

C) Individuelle Bezugsnorm im Unterricht<br />

� Die Bezugsnormorientierung des Lehrers hat starken Einfluss auf die<br />

Leistungsmotivation der Schüler.<br />

� Eine individuelle Bezugsnormorientierung wirkt sich dabei v.a. aus 2 Gründen<br />

positiv aus:<br />

1) Gerät durch die individuelle Bezugsnormorientierung das Potenzial eines<br />

Schülers stärker in den Blick als seine Grenzen; Misserfolge werden<br />

dementsprechend eher auf variable Ursachen wie Anstrengung<br />

zurückgeführt als auf mangelnde Fähigkeit.<br />

2) Fördert die individuelle Bezugsnormorientierung eine realistische<br />

Zielsetzung; anstatt sich an den Klassenbesten zu messen, wird<br />

leistungsschwachen Schülern nahegelegt, sich an den eigenen Standards zu<br />

orientieren.<br />

� Die Forschung zur Bezugsnormorientierung wirkte sich sowohl auf die<br />

Motivationstrainings, als auch auf den Unterricht aus.<br />

� Neben den genannten Punkten vermitteln neuere Motivationstrainings, dass<br />

Zielsetzung und Selbstbewertung sich v. a. am individuellen Leistungsniveau<br />

orientieren sollten.<br />

� Darüber hinaus wird zunehmend versucht, Lehrer darin zu trainieren, die<br />

individuelle Bezugsnorm im Unterricht stärker zur Geltung zu bringen.<br />

� Stärkere Individualisierung des Unterrichts; wo möglich, Abstimmung<br />

der Aufgabenschwierigkeit auf die Voraussetzungen der Schüler; Lob und<br />

Notenvergabe sollten stärker vom Leistungsniveau abhängig gemacht<br />

werden etc. etc.<br />

D) Integrierte Förderung kognitiver und motivationaler Effekte<br />

� Motivationstrainings mit kognitiver Förderung zu verknüpfen, ist aus 2 Gründen<br />

sinnvoll:<br />

1) Sind die positiven Effekte von Motivationstrainings nur dann wirklich stabil,<br />

wenn sie mit größerem Lern- und Leistungserfolg einhergehen.<br />

2) Wird das Leistungsmotiv in Situationen, in denen es um eine Verbesserung der<br />

eigenen Kompetenzen geht, in besonderem Maße aktiviert.<br />

� 2 Beispiele für kombinierte Trainingsprogramme:<br />

� Rheinberg und Schliep (`85): Eine Gruppe von 11-14-jährigen mit ungünstigen<br />

Leistungsmotivkennwerten und ungewöhnlicher Rechtschreib-Schwäche wurden<br />

im Rahmen eines Rechtschreibtrainings (nach dem morphematischen Prinzip)<br />

zugleich bezüglich ihrer Leistungsmotivation gefördert.<br />

� Ergebnis: Das Programm zeigte sowohl günstige Effekte bezüglich der<br />

Rechtschreibkompetenzen als auch bezüglich des Leistungsmotivs<br />

� Fries, Lund und Rheinberg (1999): Anreicherung des Denktrainings II von<br />

Klauer mit Elementen des Motivationstrainings.<br />

� Ergebnis: Das integrierte Training erwies sich sowohl gegenüber dem<br />

reinen Denktraining, als auch gegenüber einer reinen Motivförderung als<br />

überlegen! Insbesondere die kognitiven Leistungszuwächse wurden durch<br />

die Kombination gesteigert; aber auch die Motivförderung konnte,<br />

zumindest bezüglich der Misserfolgskomponente, optimiert werden.<br />

133


E) Kombinierte Förderung von Selbstregulation (Volition) und Motivation<br />

� Motivationale Komponenten allein reichen nicht aus, um effektives Lernen zu<br />

ermöglichen; darüber hinaus bedarf es Kompetenzen, den eigenen Lernprozess zu<br />

regulieren.<br />

� Beispiele für Trainingsprogramme, in denen die Förderung motivationaler und<br />

volitionaler Komponenten miteinander kombiniert wird.<br />

� Training zur Förderung der Selbstregulationskompetenz v. Zimmermann:<br />

zielt darauf, durch die Vermittlung konkreter Lernstrategien die<br />

Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Zwar werden motivationale Komponenten dabei<br />

nicht direkt gefördert, sofern der Einsatz von Strategien die Selbstwirksamkeit<br />

(self efficacy) erhöht, wird die Leistungsmotivation jedoch zumindest indirekt<br />

gefördert. – So zumindest die Annahme; theoretische Befunde gibt es<br />

diesbezüglich bisher nicht!<br />

� Das Prozessmodell der Selbstregulation von Schmitz: kombiniert<br />

verschiedene Selbstregulations-, Volitions- und Motivationskonzepte. Um es zu<br />

evaluieren, wurden Studenten konkrete Maßnahmen zur Zielsetzung,<br />

Selbstüberwachung (Monitoring) und Bewertung vermittelt; zum Monitoring<br />

gehörte dabei die Führung eines Lerntagebuchs.<br />

� Ergebnis: Verbessertes Zeitmanagement und erhöhte Konzentration, aber<br />

kaum Einflüsse auf Motivationsvariablen.<br />

� „Mental Contrasting and Implementation Intentions“ (MCII, 2005): Das<br />

Modell kombiniert 2 Techniken: a) das mentale Kontrastieren des (als attraktiv<br />

ausgemalten) Zielzustandes mit dem gegenwärtigen, als unbefriedigend<br />

erfahrenen Zustand und b) die Formulierung konkreter Durchführungsvorsätze.<br />

Während die erste Technik zu realistischen und motivierenden<br />

Zielsetzungen anregt, dient die zweite Technik dazu, volitionale Prozesse zu<br />

unterstützen.<br />

� Noch ist dieses Programm im Schulkontext nicht erprobt worden; da es sich<br />

auf die Vermittlung effektiver Techniken beschränkt, anstatt in das<br />

Motivsystem als solches eingreifen zu wollen, ist es jedoch äußerst<br />

vielversprechend.<br />

5. Fazit:<br />

� Weitere Trainingsprogramme: Neben den besprochenen Trainingsprogrammen gibt es<br />

auch reine (Re-)Attributionstrainings; ein Modell, das die Förderung günstiger<br />

Attributionen mit weiteren Komponenten (wie z.B. der Vermittlung von<br />

Lernstrategien) verknüpft, ist das Münchner Motivationstraining; als effektiv haben<br />

sich außerdem Elterntrainings erwiesen!<br />

� Wichtig: Motivationsfördernde Maßnahmen im Unterricht dürfen sich keineswegs auf<br />

das Leistungsmotiv beschränken! Mindestens ebenso wichtig ist die Förderung des<br />

Interesses:<br />

� Emotionale Valenz des Unterrichtsgegenstands (ist nach Ryan und Deci<br />

abhängig davon, inwiefern die Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz<br />

und sozialer Eingebundenheit befriedigt werden): Ermöglichung von Autonomie<br />

und Kompetenzerfahrungen; kooperative Lernumgebung!<br />

� Wertbezogene Valenz (inhaltsspezifisch): Beteiligung der Schüler an der<br />

Themenwahl, Relevanz und Alltagsbezug des Stoffs, Spannende Aufgaben- und<br />

Fragenstellungen, ansprechendes Unterrichtsmaterial etc. etc.<br />

134


C 5: Ein Entspannungsverfahren für Kinder und Jugendliche<br />

1. Allgemeines zu Entspannungstechniken u. zur progressiven Muskelrelaxation<br />

� Entspannungsverfahren lassen sich anhand folgender Dimensionen unterscheiden:<br />

� Entspannungsinstruktion: selbstinstruktiv vs. fremdinstruktiv<br />

aktiv vs. passiv (suggestiv)<br />

� Entspannungsreaktion: physisch vs. psychisch<br />

� Bekannte Entspannungstechniken sind:<br />

� Bei Erwachsenen: Hypnose, Autogenes Training, Meditation, Biofeedback,<br />

progressive Muskelentspannung<br />

� Bei Kindern: Kapitän-Nemo-Geschichten, progressive Muskelentspannung<br />

� Indikation: v. a. bei Angst und Stress, aber auch bei Aggressionen, Schlafstörungen,<br />

Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität etc. etc.<br />

� Die Technik der progressiven Muskelentspannung geht auf Jacobson (1929) zurück:<br />

� Das Verfahren wird fremdinstruktiv eingeübt; Ziel es jedoch, den Übenden dazu<br />

zu befähigen, sich selbstinstruktiv in den gewünschten Entspannungszustand zu<br />

versetzen.<br />

� Einzelne Muskelgruppen werden nacheinander angespannt – und dann wieder<br />

entspannt; das führt einerseits zu Wärme- und Schweresensationen, andererseits<br />

wird durch den Kontrasteffekt der Unterschied zw. An- und Entspannung<br />

verdeutlicht.<br />

� Im Fortgeschrittenenstadium soll man dazu in der Lage sein, die unnötig<br />

angespannten Muskelgruppen selbständig zu erkennen!<br />

� Da die Technik der progressiven Muskelrelaxation mittlerweile in verschiedensten<br />

Versionen vorliegt, ist es kaum möglich, globale Aussagen zur Effektivität des<br />

Verfahrens zu machen.<br />

� Insgesamt sind die Erfahrungen jedoch sehr positiv!<br />

2. Progressive Muskelentspannung mit Jugendlichen<br />

� Der Einsatz von Entspannungsverfahren bei Jugendlichen ist mit verschiedenen<br />

Problemen belastet:<br />

� Jugendliche (insbes. Jungen) haben häufig eine ablehnende Haltung gegenüber<br />

Entspannungsverfahren, da sie ihrem Selbstbild widersprechen.<br />

� Entspannung wird von ihnen mit Schwäche, Hilflosigkeit und Unterlegenheit<br />

assoziiert!<br />

� Aufgrund erhöhter Selbstaufmerksamkeit sind Jugendliche anfälliger für<br />

Schamgefühle als Kinder oder Erwachsene<br />

� Jugendliche nutzen Entspannungsverfahren häufig nicht zur aktiven<br />

Problembewältigung, sondern als Flucht- und Vermeidungsritual.<br />

� Bei Entspannungsverfahren mit Jugendlichen sollte daher folgendes beachtet werden:<br />

� Alter, Geschlecht, persönliche Entwicklung, Bezugsgruppe und Setting<br />

(Einzel- oder Gruppenverfahren) müssen berücksichtigt werden.<br />

� Verfahren sollten im Sitzen und nicht im Liegen durchgeführt werden.<br />

� Zwischen den Jugendlichen und dem Erwachsenen muss ein<br />

Vertrauensverhältnis bestehen.<br />

� Durch eine konkrete Beschreibung des Vorgehens und der Ziele muss<br />

Motivation aufgebaut werden.<br />

135


� Progressive Muskelentspannung ist für Jugendliche besonders geeignet, da<br />

körperbezogen, aktiv (und nicht suggestiv), gut erlernbar und schnell wirksam.<br />

� Effekte: weniger Aufregung, höhere Konzentrationsfähigkeit, Gefühl<br />

körperlicher Fitness<br />

� Einsatz: z.B. im Anschluss an eine sportliche Aktivität<br />

� Für Jugendliche liegt eine Kurzform der progressiven Muskelentspannung vor, die<br />

sich auf die Relaxation von 10 Muskelgruppen beschränkt und ca. 15 bis 20 Minuten<br />

dauert.<br />

� Sitzhaltung einnehmen und Augen schließen<br />

� An- und (plötzliche) Entspannung der einzelnen Muskelgruppen:<br />

1) Anspannen von Hand, Unterarm und Oberarm der dominanten Seite<br />

2) Gleiches Vorgehen bei der nichtdominanten Seite<br />

3) Anspannen der Augenregion<br />

- Stirnrunzeln<br />

- Augenbrauen Zusammenziehen<br />

4) Anspannen der Schultern<br />

- Schultern zurückziehen<br />

- Schultern hochziehen<br />

5) Anspannen des Rumpfes<br />

- Bauch einziehen<br />

- Rücken zu Hohlkreuz durchdrücken<br />

6) Anspannen von Ober-, Unterschenkel und Fuß der dominanten<br />

Körperseite<br />

7) Gleiches Vorgehen bei der nicht-dominanten Seite<br />

� Die Anspannung dauert ca. 5-7 Sekunden; die Entspannungsphase ca. 30-40<br />

Sekunden; die beiden Phasen werden dabei für jede Muskelgruppe unmittelbar<br />

wiederholt; danach darf die betreffende Muskelgruppe nicht mehr bewegt<br />

werden, da der Entspannungseffekt sonst unterbrochen wird.<br />

� Nach der Übung ist es wichtig, die Jugendlichen korrekt „zurückzuholen“:<br />

� Arme und Beine recken, 3 Mal tief durchatmen und Augen öffnen<br />

� Einige Minuten sitzen bleiben, bis Kreislauf ausreichend aktiviert ist<br />

� Beim Ersteinsatz sollten lediglich 2 bis 3 Übungen mit Wiederholung<br />

durchgeführt werden.<br />

136


C 6: Pädagogische Verhaltensmodifikation bei Kindern u. Jugendlichen<br />

1. Theoretischer Hintergrund der pädagogischen Verhaltensmodifikation<br />

� Ziel der „pädagogischen Verhaltensmodifikation“ ist es, durch die systematische<br />

Veränderung der situativen Rahmenbedingungen und/oder die Veränderung der<br />

Konsequenzen eines Verhaltens, dieses zu beeinflussen.<br />

� Kurz: Die „pädagogische Verhaltensmodifikation“ ist das pädagogische<br />

Pendant zur klinischen Verhaltenstherapie!<br />

� Die pädagogische Verhaltensmodifikation beruht auf den Erkenntnissen des<br />

Behaviorismus. Wie dieser geht sie davon aus, dass menschliches Verhalten zu einem<br />

Großteil gelernt ist und dementsprechend von bestimmten Umweltfaktoren abhängig<br />

ist.<br />

� Die entscheidenden Lernformen sind:<br />

1) Klassische Konditionierung (respondentes Lernen): Durch die<br />

wiederholte Verknüpfung eines unbedingten (oder konditionierten) Reizes<br />

mit einem neutralen Reiz, wird die Reaktion auf den ersteren auf letzteren<br />

übertragen.<br />

� Ist v. a. für emotionale Lernprozesse (Prüfungsangst; Schulangst etc.)<br />

und den Erwerb von Vorlieben und Werthaltungen relevant!<br />

2) Operante Konditionierung (operantes bzw. instrumentelles Lernen): Die<br />

Auftretenswahrscheinlichkeit einer Verhaltensweise wird durch deren<br />

Konsequenzen bestimmt.<br />

� 4 Arten von Konsequenzen lassen sich dabei unterscheiden:<br />

- Positive Verstärkung (Darbietung eines angenehmen Reizes)<br />

- Negative Verstärkung (Entzug eines unangenehmen Reizes)<br />

- Bestrafung, Typ I (Darbietung eines unangenehmen Reizes)<br />

- Bestrafung, Typ II (Entzug eines angenehmen Reizes)<br />

� Das Prinzip der operanten Konditionierung ist das für die pädagogische<br />

Verhaltensmodifikation wichtigste Prinzip!<br />

3) Modelllernen (nach Bandura)<br />

� Verhaltensmodifikationen setzten eine genaue Analyse des Verhaltens und seiner<br />

Rahmenbedingungen voraus.<br />

� Nach der sog. SORKC-Gleichung müssen folgende Faktoren beachtet<br />

werden:<br />

� S: Stimulusbedingungen (auslösende Reize, Hinweisreize etc.)<br />

� O: Organismusvariablen (Persönlichkeit des Lerners, Vorlieben etc.)<br />

� R: Reaktion (Problem- bzw. Zielverhalten)<br />

� K: Verhaltenskonsequenzen (wirksame Verstärker)<br />

� C: Kontingenzverhältnisse (v. a. Häufigkeit und zeitliche Abfolge der R-<br />

K-Beziehung)<br />

� Versuchsdesigns zur Überprüfung verhaltensmodifikatorischer Effekte:<br />

� A-B-Plan: Nach Ermittlung der Grundrate (A) folgt eine<br />

Interventionsmaßnahme (B)<br />

� Problem: Veränderungen der Grundrate können nicht eindeutig auf die<br />

Interventionsmaßnahme zurückgeführt werden!<br />

� Umkehrpläne (z.B. A-B-A-B-Design): Treatment wird vorübergehend<br />

abgesetzt, um zu sehen, ob sich das Verhalten daraufhin wieder der Grundrate<br />

annähert.<br />

� Problem: Ausblendung eines effektiven Treatments ist ethisch<br />

problematisch!<br />

137


� Multiple Grundratenpläne: Kombination mehrerer zeitversetzter A-B-<br />

Pläne, wobei entweder eine Verhaltensweise bei unterschiedlichen Personen,<br />

unterschiedliche Verhaltensweisen bei einer Person oder das gleiche Verhalten<br />

einer Person in unterschiedlichen Settings in den Blick genommen wird.<br />

� Problem: Das Design setzt voraus, dass die beobachteten Verhaltensweisen<br />

unabhängig voneinander sind, was nicht immer sicher gestellt werden<br />

kann.<br />

� Kriteriums-Veränderungs-Pläne: Verhaltensänderung soll sukzessive<br />

erreicht werden; also gewissermaßen A-B-Pläne, bei denen die B- bzw.<br />

Treatmentphase in mehrere Teilphasen unterteilt wird.<br />

� Problem: Nicht geeignet, wenn eine qualitative Verhaltensänderung<br />

angestrebt wird.<br />

� Alternierende Behandlungspläne: Variation der Behandlung<br />

2. Verhaltensmodifikatorische Techniken<br />

A) Token-Programme<br />

� Token sind münzartige Marken, die unmittelbar auf positive Verhaltensweisen<br />

vergeben- oder bei unerwünschtem Verhalten wieder entzogen werden. Nach einer<br />

gewissen Zeit können sie gegen verschiedene „Eintauschverstärker“ („back-upreinforcer“)<br />

eingewechselt werden.<br />

� Token haben demnach eine zweifache Funktion: Zum einen dienen sie als<br />

generalisierte Verstärker, zum anderen haben sie eine Feedback-Funktion.<br />

� Die Anwendung eines Token-Systems erfolgt in 6 Phasen:<br />

1) Definition, Präzisierung und pädagogische Begründung des Zielverhaltens<br />

� Ausgangs- und Zielverhalten sind genau zu operationalisieren<br />

2) Auswahl von Eintauschverstärkern<br />

� Je größer die Variabilität der Eintauschverstärker, desto besser!<br />

3) Zuordnung von Verhaltensweisen-Token-Eintauschverstärkern und Festlegung<br />

von Kontrollprozeduren (z.B. „Punktethermometer“)<br />

4) Einführung<br />

5) Evtl. Korrekturen<br />

6) Ausblendung und Generalisierung<br />

� Was unbedingt zu vermeiden ist:<br />

� Bestrafung eines Schülers, indem ohne vorherige Absprache Token abgezogen<br />

werden<br />

� Vorübergehender Ausschluss eines Schülers von der Möglichkeit, sich Token<br />

zu verdienen<br />

� Verteilung von Token bereits vor einer Leistung<br />

B) Kontingenzverträge<br />

� Kontingenzverträge sind Verträge zw. Erzieher und Kind, in denen genau festgelegt<br />

wird, welches Verhalten welche Konsequenzen nach sich zieht. Der Vorteil solcher<br />

Verträge besteht darin, dass sie für beide Parteien Verhaltenssicherheit schaffen und<br />

die Interaktion versachlichen. Ihr letztendliches Ziel ist der Eigenvertrag, also der<br />

Vertragsschluss mit sich selbst zur autonomen Verhaltenskontrolle (s.u.)<br />

� Vertragsmanagement durchläuft 4 Phasen:<br />

1) Ausgangsverhalten (Ist-Zustand) und Zielverhalten (Soll-Zustand) klären und<br />

operationalisieren<br />

2) Vertragsaushandlung<br />

3) Vertragsformulierung und Inkraftsetzung<br />

4) Kontrolle der Vertragstreue und evtl. Korrekturen des Vertrages<br />

138


� Regeln, die im schulischen Bereich zu beachten sind:<br />

� Regeln zum Vertragsabschluss:<br />

� Gerechtigkeit (Verstärkung muss im ausgewogenen Verhältnis zur<br />

Leistung stehen)<br />

� Eindeutigkeit (klare und verständliche Vertragbedingungen)<br />

� Freiwilligkeit (Vertrag darf nicht aufoktroyiert, sondern muss gemeinsam<br />

ausgehandelt werden)<br />

� Belohnung (besser als Bestrafung)<br />

� Gewohnheit (systematischer Einsatz)<br />

� Regeln zum Verstärkereinsatz:<br />

� Kontinuität<br />

� Staffelung (im Sinne eines „shapings“)<br />

� Zu verstärken ist Leistung, nicht Gehorsam!!<br />

C) Selbstkontrollverfahren<br />

� Die Verfahren zur Selbstkontrolle gehören zu den kognitivistischen Ansätzen der<br />

Verhaltensmodifikation.<br />

� Der erste Schritt der Selbstkontrolle besteht in der Selbstüberwachung („selfmonitoring“);<br />

die vermehrte Aufmerksamkeit auf das eigene Verhalten initiiert<br />

dabei häufig schon eine erste Verhaltensänderung.<br />

� Es folgt die Selbstbewertung (hinsichtlich der Erreichung der zuerst fremd-,<br />

dann selbstgesetzten Ziele)<br />

� Selbstbekräftigung (entweder durch positive Gedanken oder externe Verstärker:<br />

Dinge, Aktivitäten etc.)<br />

� Der Eigenvertrag: ist ein Kontingenzvertrag mit sich selbst. Ein solcher Vertrag<br />

muss sukzessive vorbereitet werden:<br />

� 1. Stufe: Der vom Erzieher aufgesetzte und kontrollierte Vertrag<br />

� Übergangsstufen: Schüler wird an der Aushandlung der Vertragsbedingungen<br />

beteiligt und erhält zunehmend die Verantwortung dafür, auch die Einhaltung<br />

des Vertrages zu kontrollieren.<br />

� Der vom Schüler selbst formulierte und kontrollierte Vertrag (Eigenvertrag)!<br />

� Die Technik der Selbstinstruktion: basiert auf der bewussten Versprachlichung<br />

problemrelevanter Elemente und Begriffe; sie wird in unterschiedlichen Kontexten<br />

eingesetzt (Lernverhalten, Sozialverhalten, komplexe Problemlösungen, kreatives<br />

Schaffen etc.).<br />

� Das auf Meichenbaum zurückgehende Selbstinstruktionstraining läuft in 5<br />

Schritten ab:<br />

1) Kognitives Modellieren: Lehrer demonstriert die Aufgabenlösung, wobei er<br />

sein Vorgehen laut kommentiert<br />

2) Offene, externe Anleitung: Schüler wiederholt die Aufgabe, wobei der<br />

Lehrer ihn mittels sprachlicher Instruktionen dirigiert.<br />

3) Offene Selbst-Anleitung: Schüler wiederholt die Aufgabe und instruiert sich<br />

dabei selbst (übernimmt also die Verbalisierung des Modells)<br />

4) Überführung offener in verdeckte Selbstanleitung: Schüler wiederholt<br />

flüsternd die Aufgabe<br />

5) Verdeckte Selbstanleitung: Schüler spricht „innerlich“ und schließlich gar<br />

nicht mehr.<br />

139


C 7: Trainingsprogramme für Eltern und Erzieher/innen<br />

1. Allgemeines zu Elterntrainings<br />

� Verhaltenstherapeutisch orientierte Elterntrainings werden sowohl als Präventions- als<br />

auch als Interventionsmaßnahme eingesetzt; ihr Ziel ist es, durch die Vermittlung<br />

von Erziehungskompetenzen Verhaltensauffälligkeiten b. Kindern entgegenzuwirken.<br />

� Als besonders effektiv haben sich Eltertrainings bei jüngeren Kindern mit<br />

oppositionellen und aggressiven Verhaltensauffälligkeiten erwiesen (sie sind<br />

hier die Therapieform der Wahl!); Elterntrainings werden aber auch in andere<br />

Interventionsprogramme integriert (etwa bei Angststörungen, Essstörungen etc.)<br />

� Elterntrainings haben eine hohe Abbrecherquote (30-40%); dass dem so ist, hat<br />

verschiedene Gründe.<br />

� Familiäre Gründe: niedriger sozioökonomischer Status; niedrige kognitive<br />

Leistungsfähigkeit der Eltern; partnerschaftliche Probleme der Eltern;<br />

mangelnde elterliche Einsicht in die Erkrankung des Kindes; Abwehrhaltung<br />

gegenüber externer Hilfe (Erziehung als Privatsache) etc. etc.<br />

� Trainingsfaktoren: ungünstige Rahmenbedingungen (lange Anfahrtswege etc.);<br />

Training wird als zu zeitraubend, zu „theoretisch“ oder zu schulmeisterhaft<br />

empfunden etc. etc.<br />

2. Das Münchener Trainingsmodell<br />

� Das Münchener Trainingsmodell ist ein verhaltenstherapeutisch orientiertes<br />

Elterntraining, das den Teilnehmern die Grundlagen der Verhaltensanalyse und<br />

praktisches Handlungswissen für den Umgang mit konkreten Erziehungsproblemen zu<br />

vermitteln versucht.<br />

� Das Modell zeichnet sich durch folgende Vorteile aus:<br />

� Sprachliche Instruktionen werden weitgehend durch Rollenspiele-, theoretische<br />

Erläuterungen durch anschauliche Demonstrationsexperimente ersetzt.<br />

� Im Zentrum des Trainings stehen ein oder zwei konkrete, von den Eltern<br />

eingebrachte Erziehungsprobleme und keine globale Störung wie z.B.<br />

aggressives Verhalten; es handelt sich somit um ein störungsunspezifisches<br />

Training!<br />

� Vermeidung von Überforderung; möglichst genaue Abstimmung auf die<br />

Bedürfnisse der Eltern<br />

� Durchführung als Kompakttraining (3 bis 4 Blocksitzungen von jeweils 2<br />

Stunden)<br />

� Durchführung in einer Gruppe von 3 bis 4 Elternteilen („Leidensgenossen“) und<br />

2 Therapeuten<br />

� Zumindest in der Anfangsphase keine Paare, um paardynamische<br />

Belastungen aus der Gruppe fernzuhalten.<br />

� Das Modell betont, dass es ihm nicht um eine Veränderung des Erziehungsstils<br />

geht, sondern darum, neue Handlungsspielräume zu gewinnen!<br />

� Inhaltlich gliedert sich das Training in 3 Interventionsschritte (Beobachten –<br />

Interpretieren – Handeln):<br />

1) Ziel des ersten Interventionsschritts ist es, die Teilnehmer darin zu schulen, das<br />

Verhalten ihrer Kinder möglichst genau und unter Berücksichtigung der<br />

situativen Rahmenbedingungen zu beobachten (Beobachtung)<br />

� Einführung: Man stellt sich vor, es werden die Ziele und Regeln der<br />

gemeinsamen Arbeit festgelegt und die Teilnehmer werden durch ein<br />

einführendes Rollenspiel mit der Methode des Rollenspiels vertraut gemacht<br />

140


� Beobachtungsübung: Ein Elternteil beschreibt ein Problemverhalten, das<br />

dann in einem Rollenspiel (ca. 2 Minuten) nachgespielt wird; anhand einer<br />

Videoaufzeichnung wird das Verhalten anschließend möglichst detailliert<br />

beschrieben (Mimik, Situation etc.), wobei Wertungen und Interpretationen<br />

bewusst ausgeklammert werden sollen.<br />

2) Ziel des zweiten Interventionsschrittes ist es, das Verhalten des Kindes in<br />

Abhängigkeit von seiner Umwelt interpretieren zu lernen (Interpretation).<br />

� Durchführung eines experimentellen Demonstrationsspiels<br />

- z.B. das sog. „Hilfespiel“: dabei bekommt ein Teilnehmer eine<br />

schwierige Aufgabe (z.B. ein Puzzle), wobei der Therapeut zunächst mit<br />

unzweckmäßigen Hilfestellungen in den Lösungsprozess eingreift<br />

(Zeitdruck, nicht kontingentes Lob, unnötige Unterstützung etc.), dann<br />

aber in einem 2. Durchgang zweckmäßige Hilfe leistet und damit das<br />

positive Verhalten demonstriert.<br />

� Systematische Beobachtung und Auswertung (!) des Demonstrations- bzw.<br />

Rollenspiels anhand einer Videoaufzeichnung<br />

3) Im dritten Interventionsschritt geht es um die gemeinsame Erarbeitung und<br />

Erprobung zweckmäßiger Handlungsalternativen.<br />

� Analyse des Problemereignisses (Verhaltensanalyse): anhand der im ersten<br />

Interventionsschritt erhobenen Beobachtungsdaten.<br />

� Gewinnung von Lösungsansätzen: Brainstorming und Erprobung der<br />

Vorschläge in Rollenspielen<br />

� Kennzeichnung der Lösungsarten: handelt es sich um interaktive, situative<br />

oder präventive Lösungen?!<br />

3. Tripple P („Positive Parenting Program“)<br />

� Tripple P ist ein in Australien (von Matt Sanders) entwickeltes Elterntraining, das<br />

vorwiegend präventiv ausgerichtet ist. Ziel des Programms ist es, Eltern bewährte<br />

(überwiegend verhaltenstherapeutisch ausgerichtete) Erziehungsstrategien zu<br />

vermitteln, um auf diese Weise eine positive Eltern-Kind-Beziehung zu<br />

ermöglichen. Längerfristig soll auf diese Weise Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern,<br />

insbes. aggressiven und oppositionellen Verhaltensstörungen, vorgebeugt werden.<br />

� Inhaltlich bietet Triple-P im Grunde nichts Neues; das Programm stellt vielmehr eine<br />

Sammlung evaluierter Erziehungsmethoden dar, deren theoretische Grundlagen v. a.<br />

aus der Lernpsychologie stammen (Sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura,<br />

operante Lernprinzipien etc.).<br />

� Das Programm orientiert sich dabei an 5 Leitprinzipien positiver Erziehung:<br />

1) Sorgen Sie für eine sichere und interessante Umgebung!<br />

2) Regen Sie Ihr Kind zum Lernen an (etwa durch Aufmerksamkeit,<br />

beschreibendes Lob, Zuneigung etc.)!<br />

3) Verhalten Sie sich konsequent!<br />

4) Erwarten Sie nicht zuviel (realistische Ziele)!<br />

5) Beachten Sie Ihre eigenen Bedürfnisse!<br />

� Prinzipiell lässt sich zwischen 3 Präventionsebenen unterschieden:<br />

1) Universelle präventive Intervention: richtet sich an die gesamte Bevölkerung,<br />

im Fall von Triple-P: an alle Eltern<br />

2) Selektive präventive Intervention: richtet sich an Personen bzw. Familien mit<br />

Risikofaktoren (z.B. alleinerziehende, arbeitslose oder psychisch kranke Eltern)<br />

3) Indizierte präventive Intervention: richtet sich an Eltern, deren Kinder bereits<br />

erste Symptome einer Störung aufweisen<br />

141


� Um möglichst viele Familien zu erreichen und das Angebot gleichzeitig an die<br />

Bedürfnisse der Eltern anzupassen, unterscheidet Triple-P zwischen<br />

5 Interventionsebenen (Mehrebenenansatz):<br />

1) Universelle Information über Erziehung:<br />

� richtet sich an alle interessierten Eltern<br />

� Vermittlung grundlegender Infos durch Broschüren („Positive Erziehung“),<br />

sog. „Tipp-Sheets“ („Kleine Helfer“), Videos, Vorträge etc.<br />

� Unterstützung durch Medienkampagne (Werbespots, Radiobeiträge etc.)<br />

2) Kurzberatung für spezifische Erziehungsprobleme<br />

� richtet sich an Eltern mit kurzfristigem Beratungsbedarf<br />

� erfolgt durch Telefonberatung oder 1 bis 4 kurze Einzelsitzungen (ca. 20<br />

Minuten), wobei auch hier v. a. mit dem vorhandenen Infomaterial (s.o.)<br />

gearbeitet wird.<br />

3) Kurzberatung und aktives Training<br />

� richtet sich an Eltern mit etwas intensiverem Beratungsbedarf (selektive<br />

Präventionsstrategie)<br />

� beschränkt sich aber ebenfalls auf einige wenige Sitzungen, wobei das<br />

Verhalten jetzt aber aktiv (in Form von Rollenspielen) eingeübt wird<br />

4) Intensives Elterntraining<br />

� Indizierte Prävention für Eltern, deren Kinder Verhaltensschwierigkeiten<br />

aufweisen, ohne jedoch das Vollbild der Diagnose zu erfüllen<br />

� Erfolgt entweder als Einzeltraining, Gruppentraining mit 5 – 6 Familien oder<br />

als telefonisch unterstütztes Selbsthilfeprogramm<br />

� Vier 2-stündige Sitzungen, in denen anhand eines Arbeitsbuches und eines<br />

Videos verschiedene Erziehungsstrategien vermittelt und eingeübt werden<br />

5) Erweiterte Interventionen auf Familienebene<br />

� richtet sich an Eltern, bei denen das intensive Elterntraining nicht gefruchtet<br />

hat oder bei denen zusätzlich familiäre Schwierigkeiten wie Ehekonflikte<br />

oder Alkoholismus eine Rolle spielen.<br />

� Ergänzung des intensiven Elterntrainings (Stufe 4) um weitere Module: z.B.<br />

Hausbesuche, Video-Home-Trainings (VHT), Einübung von<br />

Entspannungstechniken, Partnerberatung etc.<br />

� Evaluation: Triple-P zeigt auf allen Interventionsebenen nachhaltige Effekte, sowohl<br />

was das Elternverhalten als auch das Problemverhalten der Kinder betrifft!<br />

142


C 8: Pädagogisch-psychologische Beratung<br />

1. Erziehungsberatung:<br />

� Die institutionelle Erziehungsberatung ist ein Angebot der Jugendhilfe und als solches<br />

gesetzlich geregelt (Kinder- und Jugendhilfegesetz, KJHG); sie richtet sich an<br />

Kinder und Jugendliche (bis 27 Jahren), Eltern und andere Erziehungsberechtigte und<br />

dient zur Unterstützung bei Familien- und Erziehungsproblemen verschiedenster<br />

Art.<br />

� Zentrale Rahmenbedingungen: Die Nutzung des Beratungsangebots erfolgt<br />

freiwillig und ist kostenfrei; die Berater stehen in der Schweigepflicht und<br />

kommen aus unterschiedlichen Disziplinen (Psychologen, Pädagogen,<br />

Sozialarbeiter, Ärzte etc.)<br />

� Verbreitung: Heute gibt es in Deutschland rund 1.100 Erziehungsberatungsstellen<br />

in öffentlicher (ca. 40%) oder freier Trägerschaft (ca. 60%); die<br />

Nachfrage nach Beratungsangeboten steigt – die Existenz von Beratungsstellen<br />

ist jedoch nach wie vor nicht ausreichend im Bewusstsein der Bevölkerung<br />

verankert, weshalb es intensiver Öffentlichkeitsarbeit bedarf!<br />

� Beratungsanlässe: Beziehungsprobleme, Entwicklungsauffälligkeiten (Ängste,<br />

aggressives Verhalten etc.), Schul- bzw. Ausbildungsprobleme, Scheidung der<br />

Eltern, Anzeichen für sexuellen Missbrauch/Misshandlungen, Suchtprobleme...<br />

� Besondere Kennzeichen der Erziehungsberatung:<br />

� Personenbezogener, partizipativer und ressourcenorientierter Ansatz (mit<br />

besonderer Hinwendung zu benachteiligten Zielgruppen)<br />

� Ziel ist Ressourcenstärkung und Hilfe zur Selbsthilfe!<br />

� Gesundheitsförderlicher und präventiver Ansatz mit stark pädagogischer<br />

Ausrichtung<br />

� Anders als in der Psychotherapie geht meist nicht um Symptome mit<br />

Krankheitswert, stattdessen orientiert sich die Erziehungsberatung an<br />

alltagspraktischen Problemen (universelle/selektive/ indizierte Prävention)<br />

� Einbezug der Familie und des sozialen Umfelds (finanzielle Lage,<br />

Wohnsituation etc.)<br />

� weniger individuumszentriert als Psychotherapie<br />

� Erziehungsberatung findet nicht notwendigerweise in Face-to-Face-Interaktionen<br />

statt; darüber hinaus gibt es telefonische- und zunehmend auch Online-<br />

Beratungsangebote<br />

� Typischer Ablauf eines problemzentrierten Beratungsprozesses:<br />

1) Diagnose: Erfassung und Definition des Problems<br />

� Diagnostik erfolgt durch ausführliche Anamnese (biographische Daten,<br />

Klärung der Problemlage und familiären Situation etc.), wobei<br />

gegebenenfalls auch standardisierte Testverfahren einzusetzen sind.<br />

� Generierung einer Hypothese!<br />

2) Formulierung des Ziels und Planung geeigneter Interventionsmaßnahmen<br />

3) Durchführung der Interventionsmaßnahmen<br />

4) Evaluation<br />

� Qualitätssicherung in der Erziehungsberatung:<br />

� Zu unterscheiden ist zw. Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Die<br />

Strukturqualität (Standards für die räumliche und personelle Ausstattung von<br />

Beratungsstellen etc.) und Prozessqualität (Umgang mit den Daten etc.) wird<br />

weitgehend durch das KJHG geregelt; die Ergebnisqualität ist nur schwer zu<br />

überprüfen (Mangel an validen Verfahren und Kriterien) => Hier besteht<br />

Forschungsbedarf!<br />

143


� Ein hinreichend evaluiertes und zunehmend verbreitetes Programm der<br />

Erziehungsberatung stellt Triple-P dar (s.o.).<br />

2. Schulberatung allgemein<br />

� Gesellschaftliche Funktionen von Schule:<br />

� Globales Ziel von Schule ist die Sozialisation der Schüler; Sozialisation meint<br />

dabei einerseits die Eingliederung in die Gesellschaft (Reproduktionsfunktion),<br />

andererseits die Personwerdung des Einzelnen (Personalisationsfunktion)<br />

� Spezifische Ziele bzw. Funktionen von Schule sind:<br />

� Qualifikationsfunktion (Wissensvermittlung)<br />

� Persönlichkeitsförderung<br />

� Legitimationsfunktion (Weitergabe gesellschaftstragender Werte und<br />

Normen)<br />

� Selektions- und Allokationsfunktion (Leistungsbewertung und Zuordnung<br />

zu entsprechenden Bildungsgängen)<br />

� Rückmeldungsfunktion<br />

� Typische Zielkonflikte:<br />

� Konflikte zwischen administrativen Regelungen und pädagogischen<br />

Zielsetzungen<br />

� Konflikte zwischen schulischen und elterlichen Zielen (etwa bezüglich des<br />

Bildungsganges)<br />

� Konflikte zwischen verschiedenen Wert- und Zielvorstellungen<br />

� Schulberatung hat eine Informations-, Unterstützungs- und Steuerungsfunktion.<br />

Welche dieser Komponenten im Vordergrund steht, hängt vom Beratungsanlass ab.<br />

Dabei lassen sich 3 Arten von Beratungsanlässen unterscheiden:<br />

1) Orientierungsprobleme � Orientierungsberatung<br />

� Themen: Einschulung, Versetzung, Übergang in die Sek I, Kurswahl,<br />

Berufswahl etc. (kurz: Laufbahnentscheidungen)<br />

� Adressaten: Schüler, (Eltern)<br />

� Beratende: Lehrer, Berufsberater, Beratungslehrer<br />

2) Psychosoziale Probleme � Beratung bei psychosozialen Problemen<br />

� Themen: Prüfungsangst, Lernstörungen, Mobbing, Scheidungsfolgen etc.<br />

� Adressaten: Schüler, (Eltern)<br />

� Beratende: Lehrer, Beratungslehrer, Schulpsychologen, Sozialarbeiter<br />

� Themen: Disziplinprobleme, Burnout etc.<br />

� Adressaten: Lehrer<br />

� Beratende: Schulpsychologen, Beratungslehrer, Supervisor, Coachs<br />

3) Systemprobleme � Systemberatung<br />

� Themen: Akzentuierung des Schulprofils, Umsetzung nationaler<br />

Bildungsstandards, Lehrerfortbildungen, traumatische Ereignisse (Erfurt,<br />

Meisen…) etc.<br />

� Adressaten: Alle an der Schule beteiligten (Schulleitung, Lehrer, Schüler,<br />

Eltern, Sekreteriatspersonal etc.)<br />

� Beratende: Schulpsychologen, Personal- und Organisationsentwickler,<br />

Schulleitungen etc.<br />

� Die Grenzen zwischen den verschiedenen Beratungsfeldern sind meist fließend:<br />

Verhaltensauffälligkeiten eines Schülers z.B. hängen immer auch mit Systemvariablen<br />

zusammen.<br />

144


� Was ein Berater können muss:<br />

� Die 3 Grundhaltungen eines Beraters sind nach Rogers: Empathie, Akzeptanz<br />

(bedingungslose Zuwendung) und Kongruenz (Echtheit); sie zu erlernen, ist<br />

schwierig<br />

� Erlernbare Kompetenzen eines Beraters sind:<br />

� Fachkompetenz (Allgemeines Wissen über Schule und Lehr-Lern-Prozesse,<br />

aber auch spezialisiertes Wissen, etwa zu ADHS oder Legsthenie)<br />

� Methoden- und Prozesskompetenz: Beherrschung diagnostischer Verfahren,<br />

Techniken der Gesprächsführung etc.<br />

� Soziale Kompetenz: Aufbau eines Vertrauensverhältnisses etc.<br />

3. Schulpsychologischer Dienst im Speziellen<br />

� Institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen des schulpsychologischen Diensts:<br />

� Die für Bildung und Erziehung zentralen Artikel im Grundgesetz sind Art.6 u. 7:<br />

� Art. 6 spricht den Eltern das Grundrecht auf Pflege und Erziehung ihrer<br />

Kinder zu. Im Art. 7 beansprucht der Staat einen eigenständigen schulischen<br />

Bildungs- und Erziehungsauftrag, der dem Elternrecht gleichgeordnet ist.<br />

� Schulpsychologische Beratung bewegt sich dementsprechend im<br />

Spannungsfeld dieser beiden Erziehungsinstitutionen.<br />

� Im Bildungsgesamtplan der „Bund-Länder-Kommission“ (1973) wurden<br />

ehrgeizige Richtwerte für den Ausbau der Schul- und Bildungsberatung<br />

festgelegt: Ein Schulpsychologe für jeweils 5000 Schüler, ein Beratungslehrer<br />

für jeweils 500 Schüler!<br />

� Diese Werte wurden jedoch bis heute von kaum einem Bundesland erreicht;<br />

die Situation ist daher nach wie vor unbefriedigend; zwar wurden<br />

flächendeckend Beratungsstellen eingeführt; diese sind jedoch chronisch<br />

unterbesetzt (bestehen meist nur aus einem Psychologen und einer<br />

Verwaltungskraft)<br />

� Aufgrund der Bildungshoheit der Länder ist der schulpsychologische Dienst in<br />

den verschiedenen Bundesländern z.T. unterschiedlich geregelt.<br />

� Institutionelle Verankerung: Nur in manchen Bundesländern (wie z.B.<br />

Bayern) sind die schulpsychologischen Beratungsstellen direkt den<br />

Schulämtern angegliedert.<br />

� Regionale Präsenz: Während in manchen Bundesländern nach dem<br />

Fachprinzip vorgegangen wird (überregionale Zuständigkeit für bestimmte<br />

Aufgabenbereiche), werden Schulpsychologen in anderen Bundesländern<br />

bestimmten Regionen (Regionalprinzip) zugeordnet.<br />

� Berufliche Qualifikation: In manchen Bundesländern (z.B. Berlin und<br />

Hessen) wird von Schulpsychologen entweder eine Doppelqualifikation als<br />

Lehrer und Psychologe oder eine praktische pädagogische Tätigkeit nach<br />

dem Psychologiestudium erwartet; in Bayern gibt es das Fach „Psychologie<br />

mit schulpsychologischem Schwerpunkt“, das im Rahmen des<br />

Lehramtsstudiums als Hauptfach angerechnet wird.<br />

� Selbstverständnis/Beratungskonzepte: Einzelfallbezogene Schülerhilfe vs.<br />

schulorientierte Schulpsychologie (Systemberatung)<br />

� Für die Schulpsychologie relevante Teildisziplinen sind: klinische Psychologie,<br />

Entwicklungspsychologie, Pädagogischen Psychologie, Pädagogik, Soziologie<br />

� Probleme schulpsychologischer Beratung:<br />

� Überlastung aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (s.o.)<br />

� Oftmals geringe Bereitschaft auf Seiten der Schüler, den schulpsychologischen<br />

Dienst in Anspruch zu nehmen<br />

145


� Skepsis von Seiten der Lehrer, denen Psychologen oft zu wenig pädagogische<br />

Erfahrung haben.<br />

� Schulpsychologische Beratung erfolgt auf 3 Ebenen, wobei der Übergang zw. den<br />

Ebenen fließend ist:<br />

1. Individuelle Ebene (Beratung von Einzelpersonen)<br />

� Mögliche Adressaten und Themen (s.o.): Schüler (Lern- und Verhaltensprobleme,...),<br />

Lehrer (Burnout,…), Eltern (Schullaufbahnentscheidungen,…)<br />

� Unterscheidung zwischen 3 Beratungsmodi:<br />

- Individuumzentriert-dyadischer Beratungsmodus<br />

- Mediatorischer Beratungsmodus (Einbeziehung des Umfelds;<br />

Teilnahme eines Mediators)<br />

- Systemischer Beratungsmodus (Mehrebenenansatz)<br />

2. Gruppenebene (Beratung von Gruppen)<br />

� Schülergruppen: Programme und Trainings im intellektuellen- und<br />

psychosozialen Bereich<br />

- z.B. Denktraining von Klauer, Antiaggressionstraining von Petermann<br />

& Petermann<br />

� Elterngruppen: Förderung erzieherischer Kompetenzen (z.B. mit Triple-P)<br />

� Lehrergruppen: Supervision, Teamberatung, Fortbildungsseminare etc.<br />

3. Institutionelle bzw. Systemebene (Beratung der Institution Schule)<br />

� Während sich der schulpsychologische Dienst früher v. a. auf<br />

Einzelberatungen beschränkte, wird die Systemebene in jüngerer Zeit<br />

zunehmend wichtiger!<br />

� Zwei grundlegende Strategien zur Veränderung von Schule:<br />

- Veränderungen von oben („top-down“): durch gesetzliche Vorgaben<br />

- Veränderungen von unten („bottom-up“): Veränderungen einzelner<br />

Schulen, die ihrerseits „Schule machen“<br />

� Die Systemberatung sollte auf eine Verzahnung beider<br />

Veränderungsprozesse zielen.<br />

� Was zu beachten ist:<br />

� Die 3 Ebenen sollten nicht unabhängig voneinander betrachtet werden; das Beste<br />

ist eine systemische Sichtweise, die die Wechselwirkungen zwischen den<br />

verschiedenen Ebenen beachtet!<br />

� Interventionen sollten auf allen 3 Ebenen ansetzen!<br />

� Schulpsychologen sollten um Überparteilichkeit bemüht sein und nicht als<br />

Verbündete bestimmter Systemparteien (z.B. Eltern oder Lehrer) auftreten.<br />

� Ziel ist ein kooperatives Beratungssystem, in das alle Beteiligten (Eltern<br />

Lehrer, Schüler etc.) integriert sind!<br />

146


D: <strong>PSYCHOLOGIE</strong> <strong>DES</strong> LERNERS<br />

C 1: Intelligenz / Hochbegabung und schulisch-akademische Leistung<br />

1. Verschiedene Intelligenzmodelle und IQ-Tests<br />

A) Allgemeines<br />

� Intelligenz kann definiert werden als die allgemeine Fähigkeit zum Denken oder<br />

Problemlösen in neuartigen Situationen. Nach Sternberg ist Intelligenz die<br />

allgemeine Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und sich neuen<br />

Umweltgegebenheiten anzupassen. Wechsler beschreibt intelligentes Verhalten als<br />

„zweckvoll“ und „vernünftig“.<br />

� Da es sich bei Intelligenz um ein hypothetisches Konstrukt handelt, das je nach<br />

zugrunde liegendem Modell unterschiedlich beschrieben wird, gibt es jedoch<br />

keine allgemein anerkannte Definition!<br />

� Grundsätzlich lassen sich 3 Arten von Intelligenzmodellen unterscheiden:<br />

� Eindimensionale Intelligenzmodelle: stehen in der Tradition Spearmans und<br />

gehen von einem alle kognitiven Teilleistungen beeinflussenden Generalfaktor<br />

(„g“) aus.<br />

� Mehrdimensionale Intelligenzmodelle: gehen dagegen von mehreren,<br />

voneinander unabhängigen Intelligenzfaktoren aus. Sie stehen in der Tradition<br />

Thurstones.<br />

� Kognitionspsychologische Intelligenzmodelle: versuchen, die für<br />

Intelligenzleistungen notwendigen Prozesse zu identifizieren und zu beschreiben<br />

B) Eindimensionale Intelligenzmodelle<br />

� Die Zwei-Faktoren-Theorie von Spearman (20er Jahre) geht davon aus, dass die<br />

kognitive Leistungsfähigkeit einer Person von einem bereichsunspezifischen<br />

Generalfaktor („g“) und mehreren spezifischen Faktoren („s1-n“) abhängt, die<br />

ihrerseits voneinander unabhängig sind und in die der Generalfaktor in<br />

unterschiedlichem Maß einfließt.<br />

� Während der Generalfaktor mit der allgemeinen Intelligenz gleichzusetzen ist,<br />

entsprechen den spezifischen Faktoren bestimmte Teilfertigkeiten (z.B.<br />

Wortschatz etc,); sie dienen der Aufklärung der Restvarianz.<br />

� Spearmans Modell ist von seinen Schülern verschiedentlich weiterentwickelt worden.<br />

Auf der Ebene zwischen dem Generalfaktor und den spezifischen Faktoren wird z.B.<br />

häufig zwischen einer verbal-schulischen- und einer praktischen Intelligenz<br />

unterschieden.<br />

� Der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder bzw. Erwachsene (HAWIK<br />

und HAWIE) teilen sich in einen Verbal- und einen Handlungsteil auf.<br />

� Skalen, die zum Verbalteil zählen, sind z.B. „allgemeines Wissen“,<br />

„Wortschatz-Test“, „Rechnerisches Denken“, „Allgemeines Verständnis“,<br />

„Objekte finden“<br />

� Skalen, die zum Handlungsteil gehören, sind u.a. „Bilder ergänzen“, „Bilder<br />

ordnen“, „Figuren legen“ etc.<br />

� Die Theorie der fluiden und kristallinen Intelligenz von Cattell (1957) ist genau<br />

wie das Intelligenzmodell von Spearman hierarchisch gegliedert; geht aber nicht von<br />

einem, sondern von 2 Generalfaktoren aus.<br />

1) Die fluide Intelligenz (gf): entspricht der Leistungsfähigkeit des<br />

neurophysiologischen Apparates (Hardware) und ist damit verantwortlich für<br />

die Basisprozesse der Informationsverarbeitung; nach Cattell ist die fluide<br />

147


Intelligenz angeboren und weitgehend unabhängig von persönlichen<br />

Lernerfahrungen (~ Spearmans Generalfaktor „g“)<br />

� Testskalen zur fluiden Intelligenz (v.a. im CFT verwendet) beziehen sich u.a.<br />

auf die Gedächtnisspanne, die Fähigkeit zum induktiven Schließen und die<br />

Identifikation und Generierung figuraler Beziehungen.<br />

2) Die kristalline bzw. kristallisierte Intelligenz: ist die umweltbedingte<br />

Komponente der allgemeinen Intelligenz; sofern sie auf persönlichen<br />

Lernerfahrungen beruht, kann sie als das Produkt aus flüssiger Intelligenz und<br />

Sozialisationseinflüssen beschrieben werden. Sie umfasst das deklarative und<br />

prozedurale Wissen einer Person sowie deren sprachlichen Fähigkeiten.<br />

� Testskalen zur kristallinen Intelligenz betreffen z.B. das verbale Verständnis.<br />

� Anders als die fluide Intelligenz, die ab einem gewissen Alter abnimmt,<br />

nimmt die kristalline Intelligenz kontinuierlich zu oder bleibt zumindest<br />

gleich!<br />

C) Mehrdimensionale Intelligenzmodelle<br />

� Das Primärfaktormodell von Thurstone (1938) geht davon aus, dass sich die<br />

menschliche Intelligenz aus 7 voneinander unabhängigen Primärfaktoren<br />

zusammensetzt.<br />

� Statt wie Spearman eine allgemeine Intelligenz zu postulieren, spricht Thurstone<br />

von sieben primären mentalen Fähigkeiten:<br />

1) Verbales Verständnis (verbal comprehension)<br />

2) Wortflüssigkeit (verbal fluency)<br />

3) Schlussfolgerndes Denken (reasoning)<br />

4) Räumliches Vorstellungsvermögen (spatial visualisation)<br />

5) Merkfähigkeit; KZG (memory)<br />

6) Rechenfähigkeit (number)<br />

7) Wahrnehmungs- & Auffassungsgeschwindigkeit (perceptual seed)<br />

� Je nach Aufgabentyp fließen die einzelnen Fähigkeiten in unterschiedlichem<br />

Ausmaß in die Leistung einer Person mit ein.<br />

� Guilford (1959): unterscheidet zwischen 3 Dimensionen, anhand derer er versucht,<br />

die menschliche Intelligenz zu strukturieren.<br />

� Er differenziert zwischen Denkoperationen, Denkinhalten und<br />

Denkprodukten.<br />

� Zu den von ihm genannten Denkoperationen gehören Erkenntnis,<br />

Gedächtnis, Bewertung, divergente Produktion und konvergente<br />

Produktion.<br />

� Zu den Denkprodukten zählt Guilford z.B. Einheiten, Klassen, Systeme<br />

und Transformationen.<br />

� Bezüglich der Inhalte unterscheidet er u.a. zwischen semantischen,<br />

symbolischen und figuralen Inhalten.<br />

� Aus der Kombination dieser 3 Dimensionen ergibt sich ein Würfel mit 120<br />

Zellen, die laut Guilford jeweils als eigenständige Intelligenzfaktoren zu<br />

betrachten sind.<br />

� Aufgrund dieses enormen Umfangs ist das Modell für die Praxis kaum<br />

brauchbar; entscheidend ist jedoch, dass Guilford der erste ist, der Kreativität<br />

(=divergente Produktion) als eigenständige Komponente von Intelligenz<br />

thematisiert (s.u.)<br />

148


� Gardners Modell der multiplen Intelligenzen (1983): Gardner polemisiert gegen die<br />

gängigen IQ-Tests und postuliert 6 voneinander unabhängige Intelligenzen:<br />

� Die 6 von ihm postulierten Intelligenzen sind:<br />

1) Sprachliche Intelligenz<br />

2) Logisch-mathematische Intelligenz<br />

3) Räumliche Intelligenz<br />

4) Musikalische Intelligenz<br />

5) Motorische Intelligenz<br />

6) Personale Intelligenz (= emotionale bzw. soziale Intelligenz)<br />

� Problem: mangelnde empirische Fundierung; beliebig erweiterbar!<br />

D) Das Berliner Intelligenzstrukturmodell (BIS) von Jäger<br />

� Das Berliner Intelligenzstrukturmodell von Jäger ist gegenwärtig zumindest im<br />

deutschsprachigen Raum das empirisch fundierteste Intelligenzmodell. Es geht davon<br />

aus, dass sich jede Intelligenzleistung bimodal aus einer operativen- und einer<br />

inhaltlichen Komponente (bzw. „Modalität“) zusammensetzt.<br />

� Insgesamt werden 4 operative Fähigkeiten und 3 mögliche Inhalte unterschieden, so<br />

dass sich eine zweidimensionale Matrix mit 12 Feldern ergibt.<br />

� Die operativen Fähigkeiten beziehen sich auf die allgemeinen kognitiven<br />

Prozesse, die zur Bearbeitung bestimmter Aufgaben notwendig sind.<br />

Unterschieden wird zwischen…<br />

1) der Bearbeitungsgeschwindigkeit (B)<br />

2) dem Gedächtnis (G) (= Merkfähigkeit)<br />

3) dem Einfallsreichtum (E)<br />

4) und der Verarbeitungskapazität (K)<br />

� Davon abzugrenzen sind die 3 inhaltsbezogenen Fähigkeitskomponenten.<br />

Unterschieden wird zwischen…<br />

1) Sprachgebundenem Denken (verbaler Inhalt, V)<br />

2) Zahlengebundenem Denken (numerischer Inhalt, N)<br />

3) und anschauungsgebundenem Denken (figural-bildhafter Inhalt, F)<br />

� Aus der Kreuzung der inhaltlichen und operativen Komponenten ergeben sich 12<br />

spezifische Teilfähigkeiten, die zusammen die „allgemeine Intelligenz“ („g“) einer<br />

Person bilden.<br />

� Das Modell ermöglicht es, jede Intelligenzleistung als Kombination aus einer<br />

operativen und einer inhaltsgebundenen Komponente darzustellen.<br />

� Das Merken von Zahlen = GN; das Erkennen figuraler Analogien = KF; das<br />

Aufschreiben möglichst vieler Wörter zu einem Anfangsbuchstaben = EV etc.<br />

� Auf diesem Modell baut der Berliner Intelligenzstruktur-Test (BIS-Test) auf, der in<br />

2 Versionen vorliegt (s.u.):<br />

� BIS-4 (Berliner Intelligenzstrukturtest, Form 4): ab 15<br />

� BIS-HB (Berliner Intelligenzstrukturtest für Jugendliche) für Jugendliche zw. 12<br />

und 16; besonders für die Begabungs- und Hochbegabungsdiagnostik geeignet.<br />

E) Kognitionspsychologische Intelligenzmodelle<br />

� Campione und Brown: unterscheiden zwischen einer „Architektur“-Ebene und einer<br />

übergeordneten exekutiven Ebene der Intelligenz<br />

� Die „Architektur“-Ebene: stellt gewissermaßen die „Hardware“ des<br />

kognitiven Apparats dar; sie wird von Campione und Brown im Sinne des<br />

Dreispeicher-Gedächtnismodells beschrieben.<br />

� Die auf dieser Ebene angesiedelten Komponenten (Speicherkapazität und<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit) lassen sich kaum trainieren.<br />

149


� Die übergeordnete exekutive Ebene besteht nach Campione und Brown v.a.<br />

aus 2 Komponenten: Dem Vorwissen und dem metakognitiven Wissen<br />

(Person-, Regel- und Strategiewissen)<br />

� Diese Komponenten lassen sich durchaus trainieren und sind zusammen<br />

mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit wichtige Faktoren bei der<br />

Erklärung von Intelligenzunterschieden.<br />

� Das triarchische Intelligenzmodell von Sternberg: unterscheidet zwischen<br />

analytischen-, kreativen- und praktischen Fähigkeiten. Leistungen in diesen<br />

Bereichen lassen sich aus Sicht dreier „Subtheorien“ näher beschreiben.<br />

1) Die Komponentensubtheorie besagt, dass es 3 Komponenten gibt, die zur<br />

Informationsverarbeitung notwendig sind. Diese sind universell und umfassen…<br />

� sog. „Metakomponenten“, die der Planung und Überwachung der<br />

kognitiven Prozesse dienen („Monitoring“),<br />

� sog. „Performanzkomponenten“, die der Ausführung dienen (Kodierung,<br />

Kombinieren und Vergleichen etc. etc.),<br />

� und Komponenten des Wissenserwerbs, die der Speicherung und<br />

Assimilation von Wissen dienen (LZG).<br />

2) Die Zwei-Facetten-Subtheorie bezieht sich auf das Verhältnis von Erfahrung<br />

und Intelligenz und beschreibt 2 Fähigkeiten:<br />

� Zum einen die Fähigkeit, mit Neuem umzugehen, zum anderen die Fähigkeit,<br />

Prozesse zu automatisieren.<br />

3) Die Kontextsubtheorie besagt, dass die Intelligenz immer im kulturellen<br />

Kontext betrachtet werden muss. Sie umfasst die Komponenten, die im<br />

Zusammenhang mit der jeweiligen Umwelt stehen (Anpassung, Selektion,<br />

Umformung)<br />

2. Kreativität<br />

� Mit seiner Unterscheidung zwischen divergenter und konvergenter Produktion hat<br />

GUILFORD in den 60er / 70er Jahren das Kreativitätskonstrukt in die Diskussion um<br />

die Intelligenz eingeführt.<br />

� Nach GUILFORD zeichnet sich das Konstrukt „Kreativität“ durch 4 Merkmale aus:<br />

1) Sensitivität gegenüber Problemen<br />

� Insofern erfordert Kreativität nicht zuletzt Vorwissen bzw. Expertise.<br />

2) Flüssigkeit des Denkens<br />

� Die Leichtigkeit, Ideen und Assoziationen zu generieren.<br />

3) Flexibilität<br />

� Fähigkeit zum Perspektivwechsel, Wechsel von Bezugssystemen etc.<br />

4) Originalität<br />

� Kreative Produkte sind neu und selten!<br />

3. Intelligenz- und Leistungsentwicklung<br />

� Zum Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulleistung: siehe A 4 und B 4<br />

� Der Zusammenhang zw. Intelligenz und Schulleistung ist wesentlich größer als<br />

der zwischen Intelligenz und außerschulischen bzw. außerakademischen<br />

Leistungen; hier scheinen Erfahrung und Übung die entscheidenden<br />

Determinanten zu sein!<br />

� Intelligenz nimmt im Laufe der Entwicklung zu; die Unterschiede zwischen den<br />

Individuen bleiben jedoch ab Ende der Grundschulzeit relativ konstant!<br />

� Ob die Intelligenz im frühen Erwachsenenalter ihren Höhepunkt erreicht, ist umstritten<br />

und ließe sich aufgrund des Flynn-Effekts lediglich mit Hilfe von Längsschnittstudien<br />

untersuchen.<br />

150


� Flynn-Effekt: Der durchschnittliche Intelligenzquotient der Gesamtpopulation<br />

nimmt zu (ca. 3 Punkte pro Jahrzehnt)<br />

� Mögliche Erklärungen: wachsende Vertrautheit mit Testmaterial, stärkere<br />

schulische Förderung<br />

� Entgegen früherer Annahmen gibt es heute verschiedene Belege für die<br />

Trainierbarkeit von Intelligenz – insbesondere bei leistungsschwachen Kindern.<br />

� Vgl. Denktraining von Klauer<br />

4. Anlage-Umwelt-Problem: Soziale u. genetische Determinanten der Intelligenz<br />

� Begrifflichkeiten:<br />

� Die Erblichkeit bzw. Heritabilität eines Merkmals ist definiert als der Anteil<br />

genetisch bedingter Varianz an der (phänotypischen) Gesamtvarianz dieses<br />

Merkmals!<br />

� Interpretation: Der Erblichkeitskoeffizient (zw. 0 und 1) sagt demnach<br />

nichts über Individuen aus! Er besagt lediglich, zu welchem Anteil die<br />

Unterschiede zwischen den Personen einer Population unter den<br />

gegebenen Umweltbedingungen auf Erbanlagen zurückzuführen sind (bei<br />

identischen Umweltbedingungen wäre er 1, was aber nicht bedeuten würde,<br />

dass die Umwelt keinen Einfluss auf die Entwicklung des Einzelnen hat)<br />

� Bezüglich der Umwelteinflüsse muss zwischen Einflüssen unterschieden<br />

werden, die zur Ähnlichkeit- (gemeinsame Umwelt), und solchen, die zur<br />

Unähnlichkeit zwischen Individuen beitragen (spezifische Umwelt).<br />

� Verhaltensgenetische Studien versuchen, die genetisch bedingten und die durch<br />

die Umwelt bedingten Unterschiede anteilig zu bestimmen.<br />

� Die Methoden und Ergebnisse verhaltensgenetischer Studien:<br />

� Die Verhaltensgenetik arbeitet üblicherweise mit Zwillings-, Adoptions- und<br />

sonstigen Familienstudien.<br />

� Am häufigsten ist dabei der Vergleich gemeinsam ausgewachsener<br />

eineiiger (EZ) und zweieiiger Zwillinge (ZZ). Ist die Ähnlichkeit zw. EZ in<br />

einem Merkmal größer als die von ZZ, ist dies ein Hinweis auf Erblichkeit;<br />

sind die Koeffizienten für ZZ mehr als halb so hoch wie die für EZ, ist dies<br />

ein Hinweis auf den Einfluss der gemeinsamen Umwelt.<br />

- Eine Voraussetzung dieses Ansatzes ist die sog. „Equal Environments<br />

Assumption“, der zufolge die Umwelt zur Ähnlichkeit EZ nicht stärker<br />

beiträgt als zur Ähnlichkeit ZZ.<br />

� Einfacher (aber seltener) ist der Vergleich getrennt aufgewachsener<br />

eineiiger Zwillinge; hier können sämtliche Ähnlichkeiten auf genetische<br />

Einflüsse zurückgeführt werden; die Korrelation bezüglich eines Merkmals<br />

(etwa die Korrelation zw. den IQ-Werten) kann dementsprechend als direkter<br />

Schätzwert für die Erblichkeit dieses Merkmals interpretiert werden.<br />

� Die Unterschiede zw. gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen<br />

können als Schätzwert für den Einfluss der spezifischen Umwelt interpretiert<br />

werden.<br />

� Adoptionsstudien: Die Korrelation nicht verwandter, aber in der gleichen<br />

Familie aufgewachsener Kinder kann als Schätzwert für den Einfluss der<br />

gemeinsamen Umwelt interpretiert werden.<br />

� Auch wenn die Schätzmethoden im Einzelnen fehleranfällig sind, ergibt sich aus<br />

den unterschiedlichen Forschungsdesigns insgesamt ein konsistentes<br />

Gesamtbild; Ergebnisse (nach Loehlin):<br />

� Erblichkeit des IQ: ca. 50% (nimmt jedoch im Erwachsenenalter zu)<br />

� Einfluss der gemeinsamen Umwelt auf den IQ: ca. 25%<br />

151


� Einfluss der spezifischen Umwelt auf den IQ: ca. 15%<br />

� Messfehler: ca. 10%<br />

� Umwelt und genetische Faktoren beeinflussen sich wechselseitig:<br />

� Nach PLOMIN kann das auf 3 verschiedene Arten geschehen. Er unterscheidet<br />

zwischen passiver-, evokativer- und aktiver Genom-Umwelt-Passung:<br />

1) Passive Genom-Umwelt-Passung:<br />

� Eltern schaffen durch ihren Lebensstil eine bestimmte Erziehungsumwelt<br />

(z.B. durch das Vorhandensein von Büchern etc.), durch die das Kind<br />

beeinflusst wird. Entspricht diese Umwelt den Anlagen des Kindes, liegt<br />

eine passive Genom-Umwelt-Passung vor. Dass die Erziehungsumwelt<br />

dem Genom des Kindes entspricht, ist bei biologischen Eltern<br />

wahrscheinlicher als z.B. bei Adoptiveltern.<br />

2) Evokative Genom-Umwelt-Passung:<br />

� Kinder beeinflussen ihre Umwelt durch ihr Verhalten bzw. ihre Art.<br />

Freundlich veranlagte Kinder evozieren beispielsweise mehr Zuwendung<br />

als schwierige. Die Umwelt einer Person reagiert gewissermaßen auf<br />

deren Genom.<br />

3) Aktive Genom-Umwelt-Passung:<br />

� Menschen wählen ihre Umweltbedingungen zu großen Teilen aktiv aus<br />

und gestalten sie entsprechend ihrer Anlagen (z.B. bei der Berufswahl<br />

oder der Wahl von Partnern und Freunden).<br />

� Die Tatsache, dass die Erblichkeit mit dem Alter zunimmt, kann durch die mit<br />

dem Alter zunehmende Bedeutung der evokativen und aktiven Genom-<br />

Umwelt-Passung erklärt werden.<br />

� Richtigstellung häufiger Missverständnisse:<br />

� Anders als oft behauptet wird, sind genetische Einflüsse und Umwelteinflüsse<br />

keineswegs so eng verwoben, dass sie sich nicht voneinander trennen ließen! –<br />

Vielmehr verfügt die Verhaltensgenetik mittlerweile über Methoden, die eine<br />

zuverlässige Schätzung beider Einflussgrößen ermöglichen!<br />

� Der so ermittelte Erblichkeitskoeffizient darf jedoch nicht auf einzelne<br />

Individuen angewandt werden. Nicht 50% der Intelligenz gehen auf die Gene<br />

zurück, sondern 50% der Intelligenzunterschiede gehen auf die Gene zurück!<br />

Dem entspricht, dass Erblichkeit keine Konstante ist, sondern ihrerseits von<br />

den Umweltbedingungen der betreffenden Gruppe abhängig ist; je ähnlicher<br />

diese sind, desto höher der Anteil genetisch bedingter Unterschiede!<br />

� Implikationen für die pädagogische Psychologie:<br />

� Es gilt Anlageunterschiede als Entwicklungsgegebenheiten ernst zu nehmen<br />

(„Erziehung kann nicht alles!“), ohne sie vorschnell als deterministisch<br />

anzusehen („Erziehung kann nicht nichts!“); am besten ist eine Förderung, die<br />

den natürlichen Anlagen entspricht!<br />

� Ein Forschungsschwerpunkt sollte künftig auf die spezifische Umwelt<br />

(Peerbeziehungen) etc. gelegt werden!<br />

152


5. Hochbegabung<br />

A) Definition:<br />

� Die gängige Definition von Hochbegabung richtet sich nach der Intelligenz. Danach<br />

sind Personen hochbegabt, wenn sie mindestens 2 Standardbeweichungen über dem<br />

Durchschnitt liegen, also einen IQ von 130 oder mehr haben, was einem<br />

Bevölkerungsanteil von 2% entspricht!<br />

� Vorteil: Gut operationalisierbar!<br />

� Nachteil: Ausklammerung nicht intellektueller Hochbegabungen (etwa im Sport<br />

oder in der Kunst)<br />

� Renzullis „Drei-Ringe-Modell“: ist das wohl bekannteste Hochbegabungsmodell.<br />

� Dem Modell zufolge setzt sich Hochbegabung aus 3 konstitutiven Komponenten<br />

zusammen:<br />

1) Überdurchschnittliche Fähigkeiten (dazu zählt v. a. überdurchschnittliche<br />

Intelligenz, aber auch spezifische Fähigkeiten)<br />

2) Kreativität (Flüssigkeit, Flexibilität, Originalität)<br />

3) Aufgabenengagement (Motivation, Interesse, Beharrlichkeit etc.)<br />

� Nachteile:<br />

� Modell enthält kaum Aussagen über die funktionalen Zusammenhänge<br />

zwischen den 3 Bereichen bzw. „Ringen“.<br />

� Durch die Aufnahme der motivationalen Komponente, wird Leistung als<br />

konstitutiver Bestandteil von Hochbegabung angesehen (Keine<br />

Unterscheidung zw. Kompetenz und Performanz � Ausklammerung der<br />

„Underachiever“)<br />

� Das Münchener Modell der Hochbegabung von Heller: ist wesentlich<br />

differenzierter als das Modell Renzullis.<br />

� Es unterscheidet zwischen Fähigkeitsfaktoren (Intelligenz, Kreativität, soziale<br />

Kompetenz, künstlerische Fähigkeiten etc.) und Leistungsbereichen<br />

(Mathematik, Wissenschaften, soziale Beziehungen, Kunst etc.).<br />

� Ob die vorhandenen Fähigkeiten (Prädiktoren) umgesetzt werden und sich in<br />

entsprechenden Leistungen (Kriterium) niederschlagen, hängt a) von nichtkognitiven<br />

Persönlichkeitsmerkmalen (Leistungsmotivation, Lernstrategien<br />

etc.) und b) von Umweltfaktoren (Klassenklima, kritische Lebensereignisse<br />

etc.) ab, die somit als Moderatoren zu betrachten sind.<br />

� Ein Test, der auf diesem Modell aufbaut, ist die „Münchener Testbatterie für<br />

Hochbegabung“<br />

B)Empirische Befunde zu Hochbegabten:<br />

� Verbreitete Mythen über Hochbegabung, die so nicht haltbar sind:<br />

� Mythos von der universellen Begabung: Hochbegabte Kinder und Jugendliche<br />

schneiden keineswegs in allen intellektuellen Bereichen gleichermaßen<br />

überdurchschnittlich ab!<br />

� Mythos von der außergewöhnlichen intellektuellen Begabung: Eine Reihe<br />

von Kindern mit sportlicher oder musisch-künstlerischer Hochbegabung weisen<br />

keinen überdurchschnittlichen IQ auf!<br />

� Mythos von den überehrgeizigen Eltern: Eltern, die ihre hochbegabten Kinder<br />

zu sehr unter Druck setzen und sich in ihrem Ruhm sonnen wollen, sind eher die<br />

Ausnahme!<br />

� Mythos von der überdurchschnittlich guten körperlichen und seelischen<br />

Verfassung Hochbegabter: LEWIS TERMAN versuchte mit seiner<br />

Langzeitstudie zur biographischen Entwicklung Hochbegabter (1921-1996)<br />

genau das zu belegen und tatsächlich konnte er zeigen, dass Hochbegabte im<br />

153


Durchschnitt keineswegs schlechter, oftmals sogar besser angepasst sind, als<br />

normal begabte Personen. Insbesondere in der Gruppe der Höchstbegabten gab<br />

es jedoch Pbn, die soziale Probleme aufwiesen!<br />

� Der Mythos, dass Hochbegabung zu beruflichem Erfolg oder gar<br />

Berühmtheit führt: Auch hier ist die Terman-Studie zu zitieren. Zwar waren die<br />

Teilnehmer insgesamt überdurchschnittlich erfolgreich; es gab jedoch nur<br />

wenige außergewöhnliche Karrieren zu verzeichnen; besonders markant: Zwei<br />

spätere Nobelpreisträger waren zuvor aufgrund eines zu geringen IQs nicht in<br />

die Studie aufgenommen worden.<br />

� Nicht-kognitive Faktoren (wie Leistungsmotivation, Selbstbewusstsein<br />

etc.) sowie Umweltfaktoren (sozialer Status etc.) scheinen für beruflichen<br />

Erfolg entscheidender zu sein als der IQ!<br />

� Mögliche Probleme hochbegabter Kinder und mögliche Erklärungen für „Underachievement“<br />

� Schere zwischen mentalem und sozial-emotionalem Entwicklungsstand �<br />

soziale Unangepasstheit; Probleme mit Mitschülern, wenig Freunde etc.<br />

� Unterforderung in der Schule � Langeweile, Konflikte mit Lehrern,<br />

Schulabsentismus etc.<br />

� 2 Typen von hochbegabten Jugendlichen lassen sich unterscheiden: Die<br />

Gruppe der „Blaumacher“ bildet den geringeren Teil und ist im Großen<br />

und Ganzen unproblematisch (Schulleistung bleibt meist trotz Schwänzens<br />

überdurchschnittlich), größer ist der Anteil Hochbegabter mit einer<br />

„Schulaversion“ (sie zeigen von Anfang an schulmeidendes Verhalten und<br />

erzielen dadurch zunehmend schlechtere Leistungen).<br />

� Zu hoher Leistungsdruck von Seiten der Eltern � Überforderung, negatives<br />

Selbstbild etc.<br />

C) Fördermöglichkeiten:<br />

� Die meisten im schulischen Kontext angewandten Fördermaßnahmen lassen sich<br />

einem von 2 Grundmodellen zuordnen; diese Grundmodelle werden als<br />

„Enrichment“ (Vertiefung) und „Akzeleration“ (Beschleunigung, Raffung)<br />

bezeichnet.<br />

� Der Begriff „Enrichment“ bezieht sich auf Zusatzmaßnahmen im Unterricht<br />

(z.B. Sonderaufgaben) oder spezielle Kurse außerhalb der regulären<br />

Unterrichtszeit; während derartige Maßnahmen im deutschsprachigen Raum<br />

noch relativ selten sind, finden sie in den USA zunehmende Verbreitung.<br />

� „Purdue Three-Stage Enrichment Model“ (von Feldhusen und Kolloff):<br />

Hochbegabte nehmen außerhalb der regulären Unterrichtszeit an einem<br />

speziellen Kurs teil, der aus 3 Modulen besteht und v. a. darauf zielt,<br />

selbstreguliertes Lernen zu fördern.<br />

- 1. Modul: Verhältnismäßig einfache Aufgaben zum logischen Denken<br />

- 2. Modul: Förderung der kreativen Problemlösefähigkeit<br />

- 3. Modul: Planung und Durchführung eigener Forschungsprojekte<br />

� „Enrichment Triad“ bzw. „Revolving Door Model“ (von Renzulli):<br />

Die Schule wählt einen „Talent Pool“ aus den 15-20% der fähigsten und<br />

leistungsstärksten Schüler aus, denen ein besonderes, ihren jeweiligen<br />

Interessen entsprechendes Förderprogramm zuteil wird. Das Programm<br />

gliedert sich dabei in 3 Teile („Enrichment Triad“):<br />

- 1. Teil: Wissensvertiefung<br />

- 2. Teil: Logisches Denken<br />

- 3. Teil: Eigenständiges Forschungsprojekt<br />

154


� Das Konzept der „Akzeleration“ meint Maßnahmen, die zu einer<br />

Beschleunigung der Schulkarriere führen (vorzeitige Einschulung, Klasse<br />

überspringen, Aufnahme in Klassen mit verkürztem Ausbildungsgang)<br />

� Anders als oft befürchtet wird, führt das Überspringen von Klassen meist<br />

nicht zu sozialen Belastungen oder schulischen Leistungsproblemen.<br />

� Innere Differenzierung in leistungsheterogenen Gruppen meint Differenzierungsmaßnahmen<br />

innerhalb des Unterrichts: etwa durch Sonderaufgaben, Übergabe<br />

besonderer Verantwortung etc.<br />

� Vorteile: Schwächere Schüler können von den stärkeren profitieren (und<br />

umgekehrt); kein Elitedünkel, etc.<br />

� Nachteile: Diverse Studien (wie z.B. IGLU und PISA) zeigen jedoch, dass eine<br />

innere Differenzierung in den seltensten Fällen hinreichend gelingt, so dass der<br />

Unterricht in sehr leistungsheterogenen Gruppen meist doch auf Kosten der<br />

Hochbegabten geht!<br />

� Äußere Differenzierung: kann auf unterschiedliche Weise stattfinden; z.B. indem<br />

man Hochbegabte an Kursen für höhere Jahrgangsstufen teilnehmen lässt, indem man<br />

spezielle Hochbegabtenklassen bildet oder sie auf Eliteschulen schickt.<br />

� Beispiel für ein Hochbegabteninternat: St. Afra in Meißen<br />

� Hochbegabten-Förderklassen: z.B. am Würzburger Deutschhaus-Gymnasium<br />

� Das Würzburger Projekt zeigt, dass sich Kontroll- und Förderklasse in den<br />

Schulleistungen zumindest anfangs kaum unterschieden. Wohl aber gab es<br />

Unterschiede, was die Arbeitshaltung und Leistungsmotivation betrifft;<br />

diese waren nämlich in der Kontrollklasse, wohl aufgrund besserer<br />

Erfahrungen in der Grundschule, signifikant höher. Die Förderklasse<br />

konnte in diesem Punkt allerdings aufholen, was für die Effektivität der<br />

Differenzierungsmaßnahme spricht.<br />

155


D 2: Gedächtnisentwicklung und schulische/akademische Leistung<br />

1. Überblick über die wichtigsten „Determinanten“ des Gedächtnisses<br />

� Die (selektive) Aufmerksamkeit: Nur die Infos, auf die wir unsere Aufmerksamkeit<br />

richten, werden uns bewusst – und evtl. im LZG gespeichert; der Rest wird<br />

ausgeblendet und geht verloren.<br />

� Die (Arbeits-)Gedächtniskapazität: Der Begriff der Kapazität bezieht sich einerseits<br />

auf die Speichergröße und -dauer, andererseits auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

des Arbeitsgedächtnisses; ein Maß für die Gedächtniskapazität ist die sog.<br />

„Gedächtnisspanne“: sie liegt bei Erwachsenen bei 7+/- 2 Items.<br />

� Vorwissen: Unser Wissen ist in Form assoziativer Netzwerke organisiert; inhaltliches<br />

Vorwissen erleichtert daher sowohl die Enkodierung neuen Wissens (sofern es leichter<br />

ist, ein vorhandenes Netzwerk zu erweitern, als ein neues zu schaffen), als auch den<br />

Abruf (sofern in einem dichten Assoziationsnetz derselbe Knotenpunkt auf<br />

verschiedenen Assoziationswegen erreicht werden kann).<br />

� Das Metagedächtnis: Unter Metagedächtnis versteht man das Wissen über<br />

Gedächtnisvorgänge; einer Metaanalyse von Schneider zufolge besteht zwischen dem<br />

Metagedächtnis und der Gedächtnisleistung ein Zusammenhang von r = .41 (nicht<br />

überragend, aber stabil); vermittelt wird dieser Zusammenhang vermutlich v.a. über<br />

die Anwendung von Strategien, die bei gutem Metagedächtnis stärker ausgeprägt ist.<br />

� Deklaratives Metagedächtnis: das faktisch verfügbare und verbalisierbare<br />

Wissen um Gedächtnisvorgänge<br />

� Wissen über Personmerkmale: Wie gut ist das eigene Gedächtnis und das<br />

Gedächtnis anderer?<br />

� Wissen über Aufgabenmerkmale: Was macht bestimmte<br />

Gedächtnisaufgaben schwerer als andere?<br />

� Wissen über Strategiemerkmale: Welche Enkodier- und Abrufstrategien<br />

gibt es und welche Funktion und Bedeutung haben sie?<br />

� Prozedurales Metagedächtnis: Die Fähigkeit zur Planung, Überwachung bzw.<br />

Kontrolle und Regulation gedächtnisbezogener Aktivitäten („monitoring“ und<br />

„controll“)<br />

� z.B. die Fähigkeit, sich einen Lernstoff sinnvoll einzuteilen bzw. auf<br />

schwer zu Merkendes mehr-, auf Einfaches weniger Zeit zu verwenden<br />

(Allokation der Lernzeit) usw.<br />

� Lern- und Gedächtnisstrategien: sind kognitive Operationen, die der Optimierung<br />

der obligatorischen Verarbeitungsprozesse dienen und insofern über diese<br />

hinausgehen. Sie werden bewusst gesteuert und sind zielgerichtet. 3 Arten von<br />

Lernstrategien lassen sich unterscheiden:<br />

� Kognitive Lernstrategien (= Informationsverarbeitungsstrategien)<br />

� Wiederholung - Mneomonische Strategien (Mnemotechniken)<br />

� Organisation - Strukturierende Strategien<br />

� Elaboration - Generative Strategien<br />

� Metakognitive Lernstrategien (= Kontrollstrategien)<br />

� Planung (z.B. das Setzen von Zielen, die Antizipation von Problemen etc.)<br />

� Selbstüberwachung (Verständniskontrolle etc.)<br />

� Bewertung<br />

� Regulation (Lernzeitallokation etc.)<br />

� „Stützstrategien“ (des externen Ressourcenmanagements)<br />

� Gestaltung der Lernumgebung, Beschaffung von gutem Lernmaterial etc.<br />

� „Skripts“ bzw. „Generalized Event Representations“: sind Schemata, die sich auf<br />

häufig wiederkehrende Ereignisse beziehen (Kontext, Akteure, Handlungen etc.)<br />

156


2. Die Entwicklung des Gedächtnisses in der frühen Kindheit (0-4 Jahre)<br />

A) Gedächtnis bei Säuglingen und Kleinkindern<br />

� Es ist empirisch belegt, dass bereits Neugeborene über Gedächtniskompetenzen<br />

verfügen.<br />

� Wiedererkennung (Recognition) ist eine dieser Kompetenzen: Die Fähigkeit<br />

dazu ist schon von Geburt an vorhanden und verbessert sich in den ersten<br />

Lebensmonaten beträchtlich.<br />

� Bei Säuglingen wird die Wiedererkennungsleistung meist mit Hilfe des<br />

Habituationsverfahrens bzw. der Präferenzmethode geprüft: Fixieren<br />

Babys Stimuli, die ihnen schon einmal präsentiert wurden, weniger lang als<br />

neue Stimuli, erkennen sie diese offenbar wieder (kann z.B. mit Bildpaaren<br />

getestet werden, wobei immer ein bekanntes und ein unbekanntes Bild<br />

zusammen dargeboten werden)<br />

� Assoziatives Lernen und motorisches Gedächtnis: Schon 3 Monate alte<br />

Säuglinge, die gelernt haben, durch Strampeln ein Mobile in Bewegung zu<br />

setzen (assoziatives Lernen), merken sich diese Kontingenz bis zu 8 Tagen<br />

(Verfahren der konjugierten Verstärkung nach Carolyn Rovee-Collier).<br />

� Der situative Kontext, in dem Fall: ein um das Bett herum aufgespanntes<br />

Muster, fungiert dabei als „retrieval cue“ (Abrufreiz): War das Muster in<br />

der Lern- und Abrufphase dasselbe, erinnerten sich die Babys nämlich<br />

leichter!<br />

� Die freie Reproduktion (Recall) ist eine komplexere Form des Erinnerns. Auch sie<br />

wird jedoch schon von sehr jungen Kindern (ca. ab 1 ½ Jahren) in Ansätzen<br />

beherrscht. Im Unterschied zu Rekognitionsleistungen entwickelt sich die<br />

Reproduktionsfähigkeit im Verlauf der Kindheit und Jugend jedoch noch in<br />

beträchtlichem Maß weiter (s.u.).<br />

� Da Imitationslernen die Fähigkeit zur freien Reproduktion (Recall) voraussetzt,<br />

dient bei Säuglingen und Kleinstkindern die verzögerte Imitation als Maß für<br />

Recall.<br />

� Meltzoff: Kindern zw. 9 und 14 Monaten werden an Gegenständen, auf<br />

die sie selbst keinen Zugriff haben, neue Handlungen vorgeführt. Bietet<br />

man den Kindern die betreffenden Gegenstände 24 Stunden später zum<br />

Eigengebrauch an, imitieren sie die am Tag davor gesehenen Handlungen!<br />

Nach einer Woche erinnern sich nur noch die älteren Pbn!<br />

� Autobiographisches Gedächtnis und infantile Amnesie: Ereignisse, die sich vor<br />

dem 3. Lebensjahr abgespielt haben, können später nicht mehr erinnert werden.<br />

� Mögliche Erklärungen:<br />

� Theory of Mind: Ein Selbstkonzept bildet sich erst ab 2-3 Jahren heraus –<br />

vorher können Ereignis nicht als selbst erlebt abgespeichert werden (s.u.)!<br />

� Veränderung der Repräsentation: Erinnerungen der frühen Kindheit<br />

werden in einem anderen (nicht sprachlichen) Format enkodiert, weshalb<br />

sie später nicht mehr abgerufen werden können.<br />

� Reifung: Die Hirnstrukturen, die bewusstes Erinnern ermöglichen, sind in<br />

den ersten Lebensjahren noch nicht voll funktionsfähig!<br />

� Wissensstrukturen: Es fehlt Kindern an adäquaten Wissenstrukturen<br />

(„Skripts“), um erlebte Ereignisse einzuordnen.<br />

157


B) Gedächtnis im Vorschulalter (2-4 Jahre)<br />

� Viele Befunde sprechen dafür, dass das implizite („unwillkürliche“) Gedächtnis<br />

schon in früher Kindheit voll entfaltet ist, während das explizite („willkürliche“)<br />

Gedächtnis sich erst allmählich entwickelt.<br />

� Zur Unterscheidung der beiden Gedächtnisformen:<br />

� Explizites Gedächtnis: Inhalte sind bewusst und können dementsprechend<br />

verbal beschrieben bzw. als mentale Vorstellung visualisiert werden.<br />

� Implizites Gedächtnis: Nachwirkungen einer Lernerfahrung, derer man sich<br />

nicht bewusst ist.<br />

� Zur Messung der beiden Gedächtnisformen:<br />

� Bildergänzungsaufgabe (Russo et al.): 4- und 6-Jährige bekommen für jew.<br />

3 Sekunden 12 Bilder gezeigt (Benennungsphase); nach einer 10minütigen<br />

Spielpause die bereits gesehenen, sowie 12 neue Bilder, jeweils in<br />

Fragmentform dargeboten, wobei die Fragmente so lange ergänzt werden, bis<br />

die betreffenden Bilder entweder erkannt oder ganz sichtbar sind. Dabei<br />

sollen die Pbn a) so schnell wie möglich angeben, um was es sich handelt<br />

(„implizite“ Aufgabe) und b) angeben, welche Bilder sie schon aus der<br />

vorhergehenden Benennungsphase kennen („explizite“ Aufgabe); erstere<br />

wird von 4- und 6-Jährigen gleich gut gelöst, bei letzterer bestehen deutliche<br />

Altersunterschiede!<br />

� Diskrepanz zw. Rekognition und Reproduktion => Grund: In Rekognitionsaufgaben<br />

stehen „retrieval cues“ zur Verfügung; in Reproduktionsaufgaben nicht; da<br />

Kleinkinder i.d.R. kein intentionales Memorierverhalten zeigen, sind sie auf solche<br />

cues jedoch stark angewiesen.<br />

� Die Bedeutung von Skripts: Schon sehr junge Kinder (unter 3 Jahren!) organisieren<br />

wiederkehrende Ereignisse (etwa das tägliche Schlafengehen) in Form von Skripts<br />

(schematisierte „Drehbücher“).<br />

� Die LOGIK-Studie zeigt: Drei- bis Vierjährige können Geschichten mit<br />

Skriptcharakter („Geburtstagsparty“) besser reproduzieren als Geschichten, die<br />

sich nicht in ein allgemeines Schema einordnen lassen. In höherem Alter nimmt<br />

der Einfluss des Skriptwissens ab.<br />

3. Die Entwicklung des Gedächtnisses zwischen 5 und 15 Jahren<br />

� Die entscheidenden Entwicklungen des sprachlichen Gedächtnisses finden zw. 5 und<br />

15 Jahren statt. In dieser Zeit sind dementsprechend die größten Leistungszuwächse<br />

zu beobachten.<br />

A) Die Gedächtniskapazität<br />

� Die Gedächtnisspanne ist die Anzahl von Items (Wörter, Zahlen oder Buchstaben),<br />

die nach kurzer Präsentation in der richtigen Reihenfolge reproduziert werden kann.<br />

� Sie nimmt in der Grundschulzeit rapide zu:<br />

� 4 Zahlen im Alter von 4 Jahren � 6-7 Zahlen im Alter von 12 Jahren<br />

� Mögliche Erklärungen für die alterskorrelierte Verbesserung der Gedächtnisspanne:<br />

� Kapazitätshypothese: Aufgrund neuronaler Reifungsprozesse kommt es zu einer<br />

sukzessiven und strukturellen Steigerung der Gedächtniskapazität!<br />

� Erhöhte Item-Identifikationsgeschwindigkeit<br />

� Mangelnde Speicherfähigkeit für Reihenfolge-Infos bei Kindern<br />

� Vermehrte Anwendung von Strategien<br />

158


� Die Kapazitätshypothese wird heute von den meisten Forschern angezweifelt.<br />

Stattdessen tendiert man zunehmend dazu, Verbesserungen des Gedächtnisses auf<br />

Prozessmerkmale zurückzuführen.<br />

� V. a. 2 Modelle sind dabei populär: Das eine führt die Verbesserung der<br />

Gedächtnisspanne auf eine höhere Item-Identifikations- und<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit zurück (Case), das andere Modell erklärt die<br />

Verbesserung mit einer erhöhten Artikulationsgeschwindigkeit (Baddeley).<br />

� Die Theorie von Robbie Case: geht davon aus, dass sich im Lauf der Entwicklung<br />

nicht die Verarbeitungskapazität, sondern lediglich deren Effizienz ändert (s.o.).<br />

� Case unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem „operating space“<br />

(Arbeitsspeicher) und dem „storage space“ (Kurzzeitspeicher).<br />

� Durch biologische Reifung (Myelinisierung der Nervenbahnen), v.a. aber durch<br />

die zunehmende Automatisierung kognitiver Prozesse (Übung und Anwendung<br />

von Strategien), laufen diese zunehmend schneller ab und brauchen weniger<br />

Platz im „operating space“ – mit dem Ergebnis, dass mehr Speicherplatz im<br />

„storage space“ zur Verfügung steht!<br />

� Die Theorie von Baddeley: unterscheidet im Zusammenhang mit dem<br />

Arbeitsgedächtnis zwischen einer zentralen Exekutive und 2 Dienstleistungssystemen:<br />

eines davon („visuo-spatial scratch pad“) ist für die Verarbeitung bildhafter Infos<br />

zuständig, das andere („phonological loop“) für die Verarbeitung verbaler Infos.<br />

� Für die Verarbeitung verbaler Infos gilt dabei: Je mehr Wörter in einer<br />

bestimmten Zeitspanne artikuliert werden können, umso länger die<br />

Sequenzen, die im „phonological loop“ simultan gespeichert bzw. verarbeitet<br />

werden können.<br />

� Daher auch der Wortlängeneffekt (je kürzer die Wörter, desto mehr werden<br />

gemerkt)<br />

� Die Verbesserung der Gedächtnisspanne ist vor diesem Hintergrund auf die<br />

Artikulationsgeschwindigkeit zurückzuführen, die mit zunehmendem Alter<br />

steigt!<br />

B) Gedächtnisstrategien<br />

� Befunde zur Entwicklung der einzelnen Strategien:<br />

� Anwendung von Wiederholungsstrategien: ist a)alterskorreliert u. b)effektiv<br />

Flavell (1966): Kindergartenkindern, Zweit- und Fünftklässlern wurde eine<br />

Serie von Bildern gezeigt mit der Aufforderung, sie sich in der richtigen<br />

Reihenfolge zu merken; nach der Präsentation bekamen die Pbn 5 Min. Zeit, sich<br />

auf die Reproduktion der Sequenz vorzubereiten.<br />

� Nur 10% der Kindergartenkinder bewegten dabei ihre Lippen oder<br />

wiederholten die Wörter laut; von den Fünftklässlern wendeten dagegen<br />

85% diese Strategie an.<br />

� Dabei konnte für jede Altersgruppe gezeigt werden, dass die Anwendung der<br />

Strategie zu besseren Leistungen führt.<br />

� Die Organisation des Lernstoffs: ist ebenfalls alterkorreliert und effektiv<br />

Schneider: zeigte 7- und 10-jährigen Kindern mehrere Bildkarten und forderte<br />

sie explizit dazu auf, „alles zu tun, was ihnen später hilft, sich an die Dinge zu<br />

erinnern.“<br />

� Von den 7-Jährigen ordneten nur 10% die Bilder nach ihrer<br />

Kategorienzugehörigkeit (z.B. Tiere, Fahrzeuge, Möbel etc.); von den 10-<br />

Jährigen wandten dagegen 60% diese Strategie an und erzielten<br />

dementsprechend bessere Ergebnisse!<br />

� Elaborationsstrategien: werden im Gegensatz zu Wiederholungs- und<br />

Organisationsstrategien erst verhältnismäßig spät (frühe Adoleszenz)<br />

159


angewandt; darüber hinaus gibt es bis ins Erwachsenenalter große<br />

interindividuelle Unterschiede, was die Effektivität ihrer Nutzung betrifft (s.u.:<br />

Nutzungsdefizit).<br />

� Zur Interpretation der Daten:<br />

� Querschnittstudien (Gruppendaten) zur Anwendung von Strategien legen nahe,<br />

dass die strategischen Fertigkeiten mit dem Alter kontinuierlich zunehmen.<br />

Längsschnittstudien (Individualdaten) wie die Münchener Längsschnittstudie<br />

LOGIK (s.u.) zeigen dagegen, dass der Übergang zum Gebrauch von Strategien<br />

bei den meisten Kindern eher abrupt als graduell verläuft.<br />

� Grundsätzlich gilt: Je komplexer eine Strategie, desto später wird sie erlernt;<br />

über ein umfassendes und flexibel einsetzbares Strategierepertoire verfügen<br />

Kinder bzw. Jugendliche vermutlich erst im Alter zw. 15 und 16.<br />

� Wichtig: Wie Studien mit Naturvölkern zeigen, handelt es sich bei Strategien um<br />

ein Kulturprodukt; sie treten demnach keineswegs zwangläufig auf, sondern<br />

müssen vermittelt werden!<br />

� Insofern in verschiedenen Altersstufen mehr oder weniger spezifische Probleme<br />

auftreten, lassen sich bezüglich des Strategieerwerbs 3 Stadien unterscheiden:<br />

1) Mediationsdefizit (tritt v. a. bei jüngeren Kindergartenkindern auf): Strategien<br />

können auch nach Vermittlung und Training nicht angewandt werden, da<br />

offenbar die nötigen Voraussetzungen (Mediatoren) fehlen.<br />

2) Produktionsdefizit (lässt sich v. a. bei Vorschulkindern und Schulanfängern<br />

beobachten): Strategien können zwar nach Vermittlung und Training<br />

gewinnbringend genutzt werden, werden aber nicht spontan, sondern nur nach<br />

Aufforderung angewandt.<br />

� Das Produktionsdefizit ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass das<br />

Wissen über die Nützlichkeit einer Strategie (als ein Teil des deklarativen<br />

Metagedächtnisses) noch nicht hinreichend ausgebildet ist!<br />

3) Nutzungsdefizit (z. T. sogar noch bei Erwachsenen beobachtbar): Strategien<br />

werden zwar angewandt, führen aber nicht zu einer Leistungsverbesserung.<br />

� Das Nutzungsdefizit kann 2 Ursachen haben:<br />

a) eine unzureichende Automatisierung der Strategie (Anwendung<br />

schluckt noch zu viel Kapazität)<br />

b) eine mangelnde Sensitivität dafür, wann und wie die Strategie<br />

wirkungsvoll einsetzbar ist<br />

� Das Nutzungsdefizit geht mit motivationalen Problemen einher („Wozu<br />

das Ganze, wenn es ohnehin nichts bringt?“), denen im Unterricht<br />

entgegengewirkt werden muss.<br />

� Das Nutzungsdefizit muss keineswegs notwendigerweise auftreten und ist<br />

daher in der Forschung umstritten; tatsächlich tritt es vermutlich v. a. bei<br />

komplexeren Lernstrategien auf.<br />

C) Inhaltliches Vorwissen<br />

� Unser Wissen ist in Netzwerken organisiert, in dem ähnliche Inhalte miteinander<br />

verknüpft sind. Mit zunehmendem Alter bzw. Wissen wächst sowohl die Menge an<br />

Knoten, als auch die Anzahl an Verbindungen, was sowohl die Enkodierung als auch<br />

den Abruf von Gedächtnisinhalten erleichtert.<br />

� Wie stark dieser Effekt ist, zeigt u.a. ein klassisches Experiment von<br />

CHI (1978): Schachexperten und Schachneulinge bekamen die Aufgabe, in einer<br />

kurzen Lernphase präsentierte Schachpositionen auf einem leeren Schachbrett zu<br />

rekonstruieren. Die Versuchsgruppen wurden dabei so gewählt, dass Alter und<br />

Wissen negativ miteinander korrelierten: Die Experten waren zw. 6 und 10<br />

Jahre alt, die Novizen Erwachsene unterschiedlichen Alters.<br />

160


� Ergebnis: Obwohl die Schachexperten jünger waren als die Neulinge und<br />

über eine geringere Gedächtnisspanne verfügten, schnitten sie wesentlich<br />

besser ab als diese. Vorwissen hat demnach einen so großen Einfluss auf die<br />

Gedächtnisleistung, dass dadurch sogar Altersunterschiede nivelliert werden<br />

können.<br />

� Erklärung: besseres „Chunking“ bei Experten!<br />

D) Metagedächtnis<br />

� Das deklarative Metagedächtnis: ist erst gegen Ende der Grundschulzeit<br />

einigermaßen konsolidiert<br />

� Untersucht wird die Entwicklung des dekl. MG anhand von Interviewstudien:<br />

� Eine klassische Interviewstudie von KREUTZER zeigt, dass sich das<br />

deklarative Metagedächtnis im Lauf der Grundschulzeit beständig verbessert,<br />

so dass Fünftklässler bereits über ein recht spezifisches Wissen über Person-,<br />

Aufgaben- und Strategiemerkmale verfügen.<br />

� In der LOGIK-Studie (s.u.) wurde dieser Befund repliziert.<br />

� Das prozedurale Metagedächtnis: Im Hinblick auf die Entwicklung des<br />

prozeduralen Metagedächtnisses, muss zwischen Überwachungsprozessen<br />

(„monitoring“) und Prozessen der Selbstregulation („Controll“) unterschieden werden.<br />

� A) Die Fähigkeit zur Überwachung („monitoring“) eigener Lernprozesse wird<br />

üblicherweise anhand von Leistungsvorhersagen und Performanzurteilen<br />

getestet. Zwar sind diese bereits bei Grundschülern z. T. recht präzise, sie<br />

entwickeln sich jedoch bis zur Adoleszenz weiter.<br />

1) Paradigma der Leistungsvorhersage: „Feeling of knowing“ (FOK)<br />

- Dabei werden die Kinder gefragt, ob sie sich zutrauen, momentan nicht<br />

erinnerte Items in einer Wiedererkennungsaufgabe zu identifizieren.<br />

2) Paradigma der Leistungsvorhersage: „Ease of learning“ (EOL)<br />

- Dabei werden Kinder gebeten, vor der Bearbeitung einer<br />

Gedächtnisaufgabe einzuschätzen, wie sie darin abschneiden werden,<br />

sprich wie viele Items sie sich merken werden.<br />

3) Paradigma der Leistungsvorhersage: „Recall Readiness”<br />

- Jüngere Kinder haben oft Probleme ihre Reproduktionsbereitschaft<br />

(recall readiness) richtig einzuschätzen, was dazu führt, dass sie<br />

Lernvorgänge oft zu früh abbrechen (Selbstüberschätzung?!).<br />

4) Paradigma der Performanzurteile: „Judgement of learning” (JOL)<br />

- Dabei sollen die Kinder nach der Bearbeitung einer Gedächtnisaufgabe<br />

einschätzen, wie sie beim nächsten Lerndurchgang abschneiden werden.<br />

� B) Selbstregulative Fähigkeiten („control“) => noch deutlichere Alterstrends<br />

als beim „monitoring“:<br />

� Allokation der Lernzeit: Vorschulkinder verwenden auf leicht zu lernendes<br />

Material (z.B. hoch assoziative Wortpaare wie Hund – Katze) genauso viel<br />

Zeit wie auf leicht zu lernendes Material; erst ab ca. 10 Jahren wird auf<br />

leichten Lernstoff signifikant weniger Zeit verwendet!<br />

� Zum Zusammenhang zwischen Metagedächtnis und Gedächtnis (r = .41):<br />

� Ein unzureichend entwickeltes deklaratives Metagedächtnis, genauer: fehlendes<br />

Wissen über die Relevanz von Strategien, wird als Ursache für das<br />

Produktionsdefizit angesehen (s.o.); aus diesem Grund nimmt der<br />

Zusammenhang zw. Metagedächtnis und Gedächtnis mit dem Alter zu!<br />

� Rückkopplungshypothese (Flavell): Die Beziehung zwischen Trainingserfolg<br />

und Metagedächtnis ist bidirektional!<br />

161


E) Die Fuzzy-Trace-Theorie (Brainerd& Reyna)<br />

� Die Fuzzy-Trace-Theorie unterscheidet wird dabei zwischen 2 Repräsentationstypen<br />

(„verbatim“ und „gist“). Bei der Enkodierung von Informationen, werden immer<br />

beide Typen parallel generiert; welcher der beiden Typen dominanter ist, hängt dabei<br />

vom Alter ab.<br />

� Verbatim (im Vorschulalter dominant): exakte Repräsentation;<br />

„wortwörtliches Gedächtnis“; gespeichert werden Oberfächenmerkmale eines<br />

Items bzw. Sachverhalts in Form sog. „verbatim traces“<br />

� Gist (nach dem Vorschulalter dominant): abstrakte Repräsentation;<br />

„Gedächtnis fürs Wesentliche“; gespeichert wird die Bedeutung eines<br />

Sachverhalts in Form sog. „fuzzy traces“<br />

� Gist- und verbatim traces sind funktional dissoziiert. D.h.: sie werden separat<br />

gespeichert und durch entsprechende Hinweisreize unabhängig voneinander<br />

abgerufen.<br />

� Dabei gilt, dass verbatime Informationen wesentlich schneller vergessen werden<br />

als Gist-Informationen (fuzzy traces sind stabiler, langfristiger verfügbar,<br />

leichter abrufbar und manipulierbar)<br />

� „Reduction to essence rule“: Kein Wunder also, dass das<br />

Informationsverarbeitungssystem Repräsentationen favorisiert, die so nah wie<br />

möglich am „fuzzy“-Ende des Kontinuums liegen. Kurz: Wir merken uns das<br />

Wesentliche einer Info lieber als deren Oberflächenmerkmale!<br />

� Die altersbedingten Unterschiede der Gedächtnisleistungsfähigkeit werden von<br />

Baynerd und Reyna v.a. auf 2 Ursachen zurückgeführt:<br />

1) Die Entwicklung des Gedächtnisses ist der Fuzzy-Trace-Theorie zufolge durch<br />

einen „verbatim-gist-shift“ gekennzeichnet: Während im Vorschulalter noch<br />

die verbatime Verarbeitung dominiert, werden im Verlauf der Grundschulzeit die<br />

Gist-Repräsentationen zunehmend dominanter.<br />

� Kurz: Jüngere Kinder sind darauf spezialisiert, wortwörtliche Information<br />

aus dem Kurzzeitgedächtnis abzurufen (adaptiver Vorteil beim<br />

Spracherwerb), ältere hingegen sind besser darin, „das Wesentliche“ aus dem<br />

Langzeitgedächtnis abzurufen.<br />

2) Ein weiterer Bestandteil der Fuzzy-trace-Theorie ist das sog.<br />

Optimierungsmodell, im Zuge dessen Entwicklungsveränderungen nicht auf<br />

strategisches Verhalten oder das Metagedächtnis zurückgeführt werden, sondern<br />

auf die altersabhängige Sensitivität gegenüber Interferenzen: Demnach liegen<br />

die schlechteren Gedächtnisleistungen jüngerer Kinder v.a. darin begründet, dass<br />

diese sich schlechter konzentrieren- und aufgabenirrelevante Informationen nur<br />

bedingt unterdrücken können.<br />

� Als Beleg für die Bedeutsamkeit von Interferenzen wird die Reihenfolge<br />

angesehen, in der sog. starke und schwache (im vorhergehenden Durchgang<br />

nicht erinnerte) Gedächtnisinhalte erinnert werden. Da die Wiedergabe<br />

schwacher Inhalte durch sog. Outputinterferenzen stärker beeinträchtigt wird<br />

als die Wiedergabe gedächtnisstarker Inhalte, ergibt sich bei der Wiedergabe<br />

mehrerer Items nämlich ein typisches Muster (Cognitive-Triage-Effekt): Da<br />

die Output-Interferenzen zu Beginn einer Wiedergabephase noch<br />

verhältnismäßig gering sind, werden zuerst schwache Items wiedergegeben<br />

(=> wodurch die Outputinterferenz steigt) => Es folgt einer Reihe<br />

gedächtnisstarker Inhalte, wodurch die Outputinterferenz wieder sinkt, so<br />

dass am Ende noch einmal schwache Inhalte wiedergegeben werden können.<br />

162


D 3: Metakognitives Wissen und Lern-/Denkstrategien<br />

1. Subkategorien der Metakognition:<br />

� 2-Komponentenmodell (Flavell u.a.): Klassischer Weise wird im Hinblick auf<br />

Metakognition zwischen 2 Komponenten unterschieden: dem Wissen über die eigenen<br />

Kognitionen (deklarative Wissenskomponente) und der Kontrolle über die eigenen<br />

Kognitionen (prozedurale Kontrollkomponente).<br />

� HASSELHORN (dem Arsch) ist diese Unterscheidung nicht genau genug. Er schlägt<br />

daher folgende Klassifikation kognitiver Prozesse vor:<br />

1) Systemisches Wissen<br />

a) Wissen über das eigene kognitive System und seine Funktionsgesetze<br />

(Wissen über eigene Stärken und Schwächen etc.)<br />

b) Wissen über Lernanforderungen (adäquate Einschätzung von<br />

Aufgabenschwierigkeiten)<br />

c) Wissen über Strategien<br />

2) Epistemisches Wissen<br />

a) Wissen über die eigene kognitive Verfassung und Lernbereitschaft<br />

b) Wissen über die Inhalte und Grenzen des eigenen Wissens (Wo sind Lücken<br />

usw.?)<br />

c) Wissen über Verwendungsmöglichkeiten des eigenen Wissens<br />

3) Exekutive Prozesse (entspricht der Kotrollkomponente im klassischen Modell)<br />

a) Planung eigener Lernprozesse<br />

b) Überwachung eigener Lernprozesse<br />

c) Steuerung bzw. Regulation eigener Lernprozesse<br />

4) Sensitivität für die Möglichkeiten kognitiver Aktivitäten (muss nicht bewusst<br />

sein)<br />

a) Erfahrungswissen<br />

b) Intuition<br />

5) Metakognitive Erfahrung bezüglich der eigenen kognitiven Aktivität<br />

(bewusst)<br />

a) Bewusste kognitive Empfindungen (z.B. „verwirrt sein“ über scheinbare<br />

Widersprüche in einem Text etc.)<br />

b) Bewusste affektive Zustände (z.B. „bedrückt“ sein, weil man etwas nicht<br />

versteht etc.)<br />

� Auch wenn die verschiedenen Subkomponenten der Metakognition im Einzelnen<br />

unterschiedliche Funktionen haben, weisen alle mindestens eines von 2 Merkmalen<br />

auf: Sie enthalten entweder eine Reflexion über den eigenen Lernprozess oder<br />

beziehen sich auf strategische Aktivitäten!<br />

� Die metakognitive Reflexion kann dabei entweder vergangenheitsbezogen<br />

(Nachdenken über das Lernen) oder gegenwartsbezogen (Nachdenken während<br />

des Lernens) sein!<br />

� Über das Bindeglied der Reflexion sind die einzelnen Komponenten der<br />

Metakognition so eng miteinander verknüpft, dass sie sich empirisch z.T. kaum<br />

voneinander trennen lassen.<br />

� Inter-individuelle Unterschiede in den metakognitiven Kompetenzen lassen sich nach<br />

Baker durch 3 Klassen von Einflussfaktoren erklären:<br />

1) Biologische Reifungsmechanismen<br />

2) Soziale Einflüsse<br />

3) Ausmaß und Intensität von Eigenaktivität<br />

163


2. Lernstrategien:<br />

A) Kognitive Lernstrategien<br />

� Wiederholungsstrategien (Rehearsal): dienen dazu, Inhalte vom KZG ins LZG zu<br />

übertragen; zum Lernen komplexer Zusammenhänge ist die Wiederholungsstrategie,<br />

sofern man sie nicht mit anderen Strategien kombiniert, jedoch ungeeignet. Ihre<br />

Anwendung bietet sich v.a. für das Lernen isolierter Fakten an.<br />

� Effektiv sind dabei v.a. „kumulative“ Wiederholungsstrategien, also solche, bei<br />

denen nicht jedes Item einzeln, sondern mehrere Items zusammen wiederholt<br />

werden.<br />

� Organisationsstrategien: zielen auf die interne Verknüpfung und Strukturierung des<br />

Lernmaterials (Reduktion); auf diese Weise können komplexe Inhalte zu größeren<br />

Einheiten zusammengefasst werden (Chunking), was sowohl die Enkodierung, als<br />

auch den späteren Abruf der betreffenden Infos erleichtert.<br />

� Die Kategorisierung erfolgt dabei meist nach semantischen Kriterien: Erstellen<br />

von Mindmaps und Begriffshierarchien, Exzerpte erstellen, Wichtiges<br />

unterstreichen, Gliederung eines Texts in Unterabschnitte, Sortieren von Infos<br />

Clusterbildung etc.<br />

� Elaborationsstrategien (=generative Strategien): Hierbei werden die neuen Infos zu<br />

bereits Bekanntem in Bezug gesetzt; anders als bei Organisationsstrategien wird der<br />

Stoff also nicht reduziert, sondern sinnvoll erweitert, z.B. indem…<br />

� Vorwissen aktiviert-, weitere Beispiele gesucht-, Querverbindungen hergestellt,<br />

bildliche Vorstellungen generiert- oder nach Analogien gesucht wird.<br />

� Ebenfalls zu den Elaborationsstrategien zu zählen sind sog. „Mnemotechniken“:<br />

z.B. die Loci-Methode, Eselsbrücken („333- bei Issos Keilerei“) oder die<br />

„Schlüsselwortmethode“ (lat. „cubare“ => „Die Kuh liegt auf der Bahre“)<br />

B) Metakognitive Lernstrategien<br />

� Planung: Welches Ziel soll angestrebt werden (Zielsetzung) und wie soll es erreicht<br />

werden (Auswahl geeigneter Strategien)?<br />

� Die Zielsetzung betrifft nicht nur das primäre Ziel (etwa einen Text lernen),<br />

sondern auch sekundäre Ziele (etwa die angestrebte Dauer)<br />

� Die Auswahl geeigneter Strategien setzt eine Aufgabenanalyse und eine Prüfung<br />

der eigenen Ressourcen voraus; darüber hinaus sind evtl. Probleme, die beim<br />

Lernprozess auftreten könnten, zu antizipieren.<br />

� Überwachung: Bin ich auf dem richtigen Weg?<br />

� Permanenter Vergleich zwischen dem Ist- und Soll-Zustand; Registrierung von<br />

Problemen, Einschätzung des eigenen Fortschritts etc.<br />

� Die Überwachung („monitoring“) löst ihrerseits Regulationsprozesse („control“)<br />

aus: Allokation der Lernzeit, Wiederholung etc.<br />

� Bewertung: Habe ich das gesteckte Ziel erreicht?<br />

� Abschließende Bewertung ermöglicht eine Verbesserung bei zukünftig zu<br />

bearbeiteten Aufgaben (führt zu einer Steigerung des deklarativen<br />

Metagedächtnisses)<br />

D) Das „Modell des Guten Informationsverarbeiters“ (GIV/GIP) von Pressley<br />

� Im Zentrum des Modells steht die effektive Anwendung von Strategien. Diese hängt<br />

dem Modell zufolge von verschiedensten Komponenten ab, die ihrerseits wiederum<br />

miteinander interagieren.<br />

� Der GIV verfügt einerseits über generelles-, andererseits über spezifisches<br />

Strategiewissen.<br />

164


� Die Anwendung komplexerer Strategien (Organisation und Elaboration)<br />

erfordert jedoch nicht nur metakognitives, sondern auch bereichsspezifisches<br />

Vorwissen. Auch über dieses verfügt der GIV!<br />

� Darüber hinaus ist er dazu in der Lage, sein Strategiewissen durch die Evaluation<br />

der eigenen Lernprozesse selbständig zu erweitern („Selbstoptimierung“)…<br />

3. Verschiedene Lerntypen und Lernstile<br />

� Offner (1924): unterschied schon früh zwischen formalen und materialen Lerntypen.<br />

� Während materiale Lerntypen eine Präferenz für bestimmte Inhalte (etwa<br />

Musik oder Naturwissenschaften) haben, sind formale Lerntypen durch einen<br />

bevorzugten Lernstil (mechanisch, logisch mnemotechnisch) gekennzeichnet.<br />

� Diese typologische Unterscheidung gilt heute jedoch als überholt; in der Realität<br />

kommen allenfalls Mischformen vor!<br />

� Witkin (1977): unterscheidet zwischen verschiedenen „kognitiven Stilen“; dabei<br />

handelt es sich aus seiner Sicht um stabile, intelligenzunabhängige<br />

Verarbeitungspräferenzen<br />

� Die bekanntesten kognitiven Stile sind: „Feldabhängigkeit“ vs.<br />

„Feldunabhängigkeit“ und „Impulsivität“ vs. „Reaktivität“<br />

� Feldabhängige Personen tendieren zu ganzheitlicher Wahrnehmung,<br />

haben Schwierigkeiten, wichtige Details zu fokussieren und sind weniger<br />

kompetent in der Anwendung und Überwachung kognitiver Strategien.<br />

Dafür haben sie jedoch ein gutes Gedächtnis für soziale Situationen und<br />

arbeiten gut in Gruppen (Interessen: Literatur und Geschichte)<br />

� Feldunabhängige Personen tendieren dagegen zu einer analytischen<br />

Betrachtungsweise und sind besser in der Anwendung und Überwachung<br />

kognitiver Strategien (Interessen: Mathe und Naturwissenschaften)<br />

� Neuere Befunde haben gezeigt, dass die besagten Stile keineswegs unabhängig<br />

von der Intelligenz sind; darüber hinaus führen sie nicht nur zu qualitativ-,<br />

sondern auch zu quantitativ unterschiedlichen Lernleistungen: Feldunabhängige<br />

Personen sind feldabhängigen nämlich überlegen!<br />

� Aktuell wird nicht mehr zwischen kognitiven Stilen, sondern zwischen verschiedenen<br />

„Lernstilen“ bzw. „Lernorientierungen“ unterschieden; die Art des Lernens wird<br />

dabei zu den jeweils verfolgten Zielen in Bezug gesetzt:<br />

� Lernende mit einer „meaning orientation“: sind intrinsisch motiviert, lernen<br />

also um der Sache willen und sind dementsprechend autonomer von externen<br />

Vorgaben; diese motivationale Ausgangslage schlägt sich wiederum in einer<br />

tiefen Verarbeitung („deep-level approach“) nieder; d.h. es werden<br />

Organisations- und Elaborationsstrategien angewendet und Verknüpfungen<br />

hergestellt!<br />

� Andere Bezeichnung: „Comprehension learners“; verwendeter Lernstil:<br />

„Tiefenverarbeitung“ („deep-level approach“) bzw. „holistische Strategie“<br />

� Lernende mit einer „reproducing orientation“: machen sich große Sorgen um<br />

das Bestehen der Prüfungen und sind dementsprechend vorwiegend extrinsisch<br />

motiviert. Der korrespondierende Lernstil zielt auf das Behalten unverbundener<br />

Fakten und wird daher auch als „Oberflächenverarbeitung“ („surface-level<br />

approach“) bzw. „serielle Strategie“ bezeichnet.<br />

� Andere Bezeichnung: „Operation learners“<br />

� Lernende mit einer „achieving orientation“: sind durch die Hoffnung auf<br />

Erfolg extrinsisch motiviert und werden als selbstbewusst und rücksichtslos<br />

gekennzeichnet; ihnen entspricht keine spezifische Lernstrategie<br />

� Im Ggs. z. d. beiden anderen Typen empirisch nicht sonderlich abgesichert!<br />

165


4. Selbstreguliertes bzw. selbstgesteuertes Lernen<br />

� Die Fähigkeit zur Selbstregulation entspricht der Fähigkeit, sich Ziele zu setzen und<br />

die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen an diese Ziele anzupassen.<br />

� Selbstreguliertes Lernen kann dementsprechend auch als eigenverantwortliches<br />

Lernen charakterisiert werden.<br />

� In mehr oder minder allen Modellen zum selbstregulierten Lernen wird der Aspekt der<br />

Selbstregulation als Wechselspiel kognitiver, metakognitiver und motivationaler<br />

Prozesse beschrieben.<br />

� Im „Drei-Schichten-Modell“ (Boekaerts) des selbstregulierten Lernens wird<br />

von drei Regulationssystemen ausgegangen:<br />

1. Regulation des Selbst (Ziel- und Ressourcenwahl)<br />

2. Regulation des Lernprozesses (Verwendung metakognitiven Wissens zur<br />

Überwachung und Steuerung des Lernprozesses)<br />

3. Regulation der Informationsverarbeitung (Auswahl und Anwendung<br />

kognitiver Strategien)<br />

� Das Prozessmodell (Schmitz) betrachtet selbstreguliertes Lernen weniger als<br />

statische mentale Fähigkeit, denn als systematische Abfolge dreier Prozesse bzw.<br />

Phasen:<br />

1. Präaktionale Phase: Setzung von Zielen, an denen sich die Selbstregulation<br />

orientiert<br />

2. Aktionale (bzw. volitionale) Phase: Zielumsetzung => Exekutive<br />

Metakognition bzw. „Self-monitoring“<br />

3. Postaktionale Phase: Vergleich zw. dem Ist- und Sollzustand => Evtl.<br />

Änderung der Ziele und/oder Strategien<br />

� Das Phasenmodell (von Zimmerman): geht ebenfalls von einer zyklischen<br />

Abfolge dreier Phasen aus; berücksichtigt aber neben den relevanten Prozessen<br />

auch dispositionelle Personenmerkmale<br />

1) Vorbereitungsphase:<br />

� Aufgabenanalyse (Zielsetzung und strategische Planung)<br />

� Motivationale Überzeugungen (Lernzielorientierung, Ergebniserwartung)<br />

2) Handlungsphase<br />

� Selbstbeobachtung (Registrieren, Experimentieren)<br />

� Selbstkontrolle (Selbstinstruktion, Strategien, Aufmerksamkeitsfokus)<br />

3) Selbstreflexionsphase<br />

� Selbstbeurteilung (Kausalattribution, Selbstbewertung)<br />

� Selbstbeobachtung (Selbstzufriedenheit, Affekt etc.)<br />

� Die Förderung selbstregulierten Lernens: ist nicht nur wichtig, sondern, wie zahlreiche<br />

Studien belegen, auch möglich!<br />

� Trainingsprogramme zum selbstregulierten Lernen arbeiten meist mit<br />

Lerntagebüchern, Selbstinstruktion etc. (siehe irgendwo oben)<br />

� Ein Beispiel für ein solches Trainingsprogramm ist das „Self-Regulation<br />

Empowerment Program“ von Zimmerman.<br />

� Prinzipiell gilt: Trainings sind dann am effektivsten, wenn sie die Förderung<br />

selbstregulierten Lernens mit fachlicher Förderung verknüpfen!<br />

166


D 4: Bereichsspezifisches Wissen und Expertiseerwerb<br />

1. Expertiseforschung<br />

� „Expertise“ geht mit überdurchschnittlichen Leistungen in einem Gebiet einher und<br />

umfasst sowohl ein besonders reichhaltiges, bereichs- und aufgabenspezifisches<br />

Wissen (deklarative Komponente), als auch besondere bereichsspezifische<br />

Problemlösefähigkeiten (prozedurale Komponente).<br />

� Besonders die Gedächtnisleistungen in dem betreffenden Gebiet werden durch<br />

Expertise verbessert: Bessere Enkodierung, besserer Abruf, schnellere<br />

Verarbeitung von Information (insbes. durch „Chunking“, sprich durch die<br />

Verknüpfung von Einzelinfos zu größeren Einheiten).<br />

� Kurz: Die Überlegenheit von Experten ist bedingt durch: a) umfangreicheres<br />

Wissen, b) ein qualitativ hochwertigere Organisation dieses Wissens und<br />

c) schnellere Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse!<br />

� Methoden der Expertiseforschung:<br />

� Experten-Novizen-Paradigma => kontrastive Untersuchungen (s.o.: Chi)<br />

� Prospektive Längsschnittstudien wären prinzipiell am Besten geeignet, den<br />

Expertiseerwerb zu untersuchen, sie sind jedoch praktisch kaum umsetzbar (da<br />

man vorher nicht weiß, wer sich zum Experten entwickelt, bräuchte man riesige<br />

Stichproben!)<br />

� In der Praxis wird daher meist auf retrospektive Befragungen zurückgegriffen,<br />

bei denen ausgewiesene Experten nachträglich zu ihrer Entwicklung befragt<br />

werden.<br />

� Theorien und Modelle des Expertiseerwerbs:<br />

� Das Modell zum Erwerb von Fertigkeiten (von Fitts und Posner): geht von 3<br />

qualitativ verschiedenen Stufen des Fertigkeitserwerbs aus.<br />

1) „Kognitive Stufe“: Aufgabenanalyse und Differenzierung zw. Wichtigem<br />

und weniger Wichtigem => Aufbau von deklarativem Wissen<br />

2) „Assoziative Stufe“: Überführung des auf der ersten Stufe erworbenen<br />

deklarativen Wissens in prozedurales Wissen => Effektivere Gestaltung<br />

der kognitiven Prozesse<br />

3) „Autonome Stufe“: Aufgabenausführung (z.B. Autofahren) erfolgt im<br />

Wesentlichen automatisch; bewusste Kognitionen und Kontrollprozesse<br />

nur noch selten<br />

� „Chunking-Theorie“ (von Chase und Simon): Das Wissen von Experten<br />

zeichnet sich nicht nur durch einen größeren Umfang aus, sondern v. a. durch die<br />

Verknüpfung von Einzelinfos zu größeren Einheiten (sog. „Chunks“); auf diese<br />

Weise können mehr Infos gleichzeitig verarbeitet werden!<br />

� „Skilled-memory-Theorie“ (Ericsson): Das Wissen von Experten ist nicht nur<br />

durch einen größeren Umfang und die Verfügbarkeit von mehr Chunks<br />

gekennzeichnet, sondern qualitiativ besser organisiert: Dichteres semantisches<br />

Netzwerk => dadurch kann mit neuartigen Problemen flexibler umgegangen<br />

werden (Aktivierung spezifischer Knoten führt zur Aktivierung benachbarter<br />

Bereiche); Infos können besser abgerufen werden (ein Knoten kann auf<br />

verschiedenen Assoziationswegen erreicht werden); bessere Elaboration etc. etc.<br />

167


� Expertise und Fähigkeit: Ist Expertise eine erlernte oder angeborene Kompetenz?<br />

� Empirische Befunde:<br />

� Die Korrelationen zw. allgemeiner Intelligenz und beruflichem Erfolg<br />

fallen eher niedrig aus und nehmen mit zunehmender Berufserfahrung<br />

weiter ab.<br />

� Schneider (s.o.): Fußballexperten und –novizen unterschiedlichen Alters<br />

(3.-, 5.- und 7.-Klässler) wurden hinsichtlich ihrer Behaltensleistung bei<br />

einer einfachen (auch für Nicht-Experten verständlichen)<br />

Fußballgeschichte verglichen.<br />

a) Erwartungsgemäß: Experten erzielten durchweg bessere Leistungen!<br />

b) Überraschend: Experten mit hohem und niedrigem IQ erzielten<br />

vergleichbare Ergebnisse; Defizite in der Intelligenz scheinen demnach,<br />

zumindest bei Aufgaben, die nur wenig strategische Kompetenz<br />

erfordern, durch reichhaltiges Vorwissen kompensiert werden zu<br />

können.<br />

� Schneider: Die Auswertung von Längsschnittdaten zur Entwicklung<br />

hochtalentierter Tennisspieler (darunter Graf und Becker) zeigt, dass für<br />

den späteren Erfolg (Platz in der Weltrangliste) v. a. folgende Prädiktoren<br />

entscheidend waren:<br />

- Erlebte elterliche Unterstützung<br />

- Umfang und Intensität der Übung<br />

- Habituelle Leistungsmotivation<br />

� Ericssons Modell der „deliberate practice“ (anstrengungsbetonte Übung):<br />

� Der Expertiseerwerb erfolgt in 3 Stufen:<br />

- Spielerische Erfahrungen im Zielbereich<br />

- Intensive Übung unter Anleitung eines guten Trainers bzw. Lehrers<br />

- Intensive Übung unter Anleitung eines Trainers bzw. Lehrers, der<br />

selbst Experte auf dem betreffenden Gebiet ist<br />

� These: Die Ausgangsbegabung ist irrelevant für den Erwerb von<br />

Expertise, die entscheidenden Faktoren sind stattdessen: gelenkte<br />

Erfahrung, bereichsspezifische Übung („deliberate practice“), inhaltliches<br />

Interesse, eine ausgeprägte Leistungsbereitschaft und volitionale<br />

Kompetenzen. Ihren Höhepunkt erreicht die Expertise dabei meist erst<br />

nach 10 Jahren intensiver Übung („10-Jahres-Regel“)<br />

� Das „Schwellenmodell“ (Schneider): Ein gewisses (meist<br />

überdurchschnittliches) Begabungsniveau ist eine notwendige Voraussetzung<br />

für den Erwerb einer bereichsspezifischen Expertise. Ist diese Voraussetzung<br />

erfüllt, entscheiden begabungsferne Merkmale, wie Engagement, Ausdauer,<br />

Konzentration und Erfolgsmotivation über das Leistungsvermögen, das erreicht<br />

werden kann.<br />

� Der für die verschiedenen Bereiche kritische Schwellenwert lässt sich<br />

dabei jedoch kaum eindeutig festlegen!<br />

� Fazit: Intelligenz und Begabung sind zwar nicht die entscheidenden, aber auch<br />

nicht zu vernachlässigende Faktoren beim Erwerb von Expertise!<br />

� Zumal eine intensive Auseinandersetzung mit einem Bereich, umso<br />

wahrscheinlicher ist, je besser man darin schon zu Beginn der<br />

Auseinandersetzung ist!<br />

168


2. Erwerb von Lese- und Rechenexpertise<br />

� Leseexpertise erfordert:<br />

� Phonologische Bewusstheit (klangliche Segmentierung von Sprache)<br />

� Dekodieren von Wörtern (Übersetzung der Schriftsymbole in Laute)<br />

� Erkennen von Wortbedeutungen (Rekodieren)<br />

� Integration von Wörtern zu einem Satz<br />

� Höhere Kompetenzen zum Leseverständnis<br />

� Rechenexpertise erfordert:<br />

� Basales arithmetisches Wissen (Ergebniswissen, Einmaleins etc.)<br />

� Allgemeines Weltwissen (zur Übersetzung eines mathematischen Problems in<br />

eine interne Repräsentation)<br />

� Konzeptuelles Wissen (Übersetzung der Aufgabeninfos)<br />

� Lösungsstrategisches Wissen (zur Optimierung und Überwachung des<br />

Rechenprozesses)<br />

� Operationales Wissen (zur Ausführung der Rechnungen)<br />

169


D 5: Leistungsmotivation (siehe A 4) und Leistungsängstlichkeit<br />

1. Allgemeines zu Leistungsängstlichkeit<br />

� Leistungsangst (~Prüfungsangst/Schulangst) lässt sich definieren als Bedrohungserleben<br />

in evaluativen Situationen. Da dabei v. a. die soziale Identität und der<br />

Selbstwert als bedroht erlebt werden, handelt es sich bei Leistungsangst um eine<br />

soziale Angst; sie basiert meist auf antizipierter Scham im Falle des Versagens.<br />

� Die Unterscheidung zwischen „State“ und „Trait“ ist im Fall der<br />

Leistungsängstlichkeit nicht eindeutig zu treffen; am ehesten lässt sich sagen, es<br />

handele sich um ein situationsgebundenes Persönlichkeitsmerkmal (wobei<br />

hoch leistungsängstliche Schüler meist generell ängstlicher sind!)<br />

� Zu unterscheiden ist Leistungsangst von Schulphobie (klinisch) und<br />

Schuleschwänzen.<br />

� Leistungsangst äußert sich wie alle Ängste auf 3 Ebenen:<br />

1. Physiologische Ebene:<br />

� Erregungsanstieg des autonomen Nervensystems � unspezifische<br />

Reaktionen wie Herzklopfen, erhöhter Blutdruck, Schweißausbrüche,<br />

beschleunigte Atmung etc.<br />

2. Kognitive bzw. emotional-subjektive Ebene:<br />

� Angstbezogene Kognitionen in Leistungssituationen lassen sich grob in 2<br />

Gruppen aufteilen, die den beiden Hauptkomponenten der Leistungsangst<br />

entsprechen (nach Liebert & Morris):<br />

a) „Emotionality“-Komponente („Aufgeregtheit“): Wahrnehmung der<br />

körperlichen Erregungssymptome (Schwitzen, Zittern etc.)<br />

- „Emotionality“ tritt typischerweise am Anfang einer Prüfung auf und<br />

nimmt dann rasch ab<br />

b) „Worry“-Komponente („Besorgtheit“): umfasst aufgabenirrelevante<br />

Gedanken und Sorgen wie z.B. die Antizipation möglicher Misserfolge,<br />

selbstwertschädigende Leistungsvergleiche, eine übersteigerte Beschäftigung<br />

mit Noten etc. etc.<br />

- „Worry“-Kognitionen zeigen sich recht kontinuierlich im<br />

Prüfungsverlauf und halten auch nach der Prüfung eine Weile an<br />

3. Verhaltensebene:<br />

� Aufschiebung der Prüfungsvorbereitung, unstrukturierteres Vorgehen bei der<br />

Vorbereitung, mehr Gesamtlernzeit, aber weniger effektive Nutzung etc.<br />

� Merkmale leistungsängstlicher Schüler/innen:<br />

� Haben ein negativ getöntes Selbstbild, sind stark misserfolgsorientiert und<br />

tendieren zu ungünstigen Attributionen<br />

� Sind durch Hilflosigkeit und Unsicherheit gekennzeichnet (Nervosität etc.)<br />

� Nehmen in der sozialen Hierarchie eher einen unteren Rangplatz ein, sind oft<br />

sogar sozial isoliert.<br />

� Wirken überfordert und haben schlechtere Noten<br />

� Häufigeres Fehlen und Kranksein<br />

� Prinzipiell: Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen!<br />

2. Theorien zur Entstehung von Leistungsängstlichkeit<br />

� Theorien zur Entwicklung einer entsprechenden Disposition:<br />

� Physiologische Reaktionen sind genetisch bedingt; ihr phylogenetischer<br />

Ursprung lässt sich evolutionsbiologisch erklären: sie dienen dazu, den Körper<br />

auf eine Flucht- oder Angriffsreaktion vorzubereiten.<br />

170


� Transaktionsmodell: Die konkrete Ausbildung genetischer Dispositionen<br />

hängt jedoch nicht zuletzt von Sozialisationseinflüssen ab; im Fall der<br />

Leistungsängstlichkeit kommt dabei v. a. dem Elternverhalten eine<br />

entscheidende Rolle zu (zu hohe Ansprüche, geringe Empathie etc.)<br />

� Psychoanalytische Erklärung: Traumatisierende Erfahrungen mit den Eltern<br />

und Konflikte zwischen Ich und Über-Ich => Moralische Angst<br />

� Lerntheoretische Ansätze: Modelllernen, klassisches Konditionieren, operantes<br />

Konditionieren<br />

� Theorie zur Aktualgenese von Leistungsangst (Wie entsteht Leistungsangst in einer<br />

konkreten Situation?):<br />

� Die (Coping-)Theorie von LAZARUS beschreibt die Entstehung von Angst als<br />

mehrstufigen Bewertungsprozess:<br />

1. Primary Appraisal: In einem ersten Schritt werden Situationen im Hinblick<br />

auf das eigene Wohlergehen bewertet (Relevanz?<br />

Nützlichkeit/Schädlichkeit?)<br />

2. Secondary Appraisal: In einem 2. Schritt werden die eigenen Ressourcen<br />

eingeschätzt, genauer: die zur Verfügung stehenden<br />

Bewältigungsmöglichkeiten (Coping)<br />

� Ergibt die zweite Bewertung, dass keine direkte Handlung möglich ist,<br />

um die Bedrohung zu beseitigen, reagiert man mit Angst!<br />

3. Leistungsangst und Schulleistung<br />

� Nach einer Metaanalyse von Seipp beträgt die durchschnittliche Korrelation zw. Angst<br />

und Leistung r = -.21. Obwohl dieser Zusammenhang lediglich schwach negativ ist,<br />

sollte er nicht unterschätzt werden.<br />

� Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Schulangst und Leistung sich<br />

wechselseitig beeinflussen: Ängstlichkeit mindert das Leistungsvermögen,<br />

schlechte Leistungen wiederum erhöhen die Angst; es wäre jedoch verfehlt, die<br />

schlechteren Leistungen ängstlicher Schüler pauschal auf ein geringeres<br />

Kompetenzniveau zurückzuführen. Die negative Korrelation zwischen<br />

Leistungsängstlichkeit und Leistung bleibt nämlich auch dann bestehen, wenn<br />

man das Kompetenzniveau kontrolliert.<br />

� Faustregel: Schüler mit hoher Leistungsängstlichkeit (Prozentrang von<br />

mind. 75) schneiden etwa eine halbe Ziffernnote schlechter ab, als aufgrund<br />

ihrer Kompetenzen zu erwarten wäre!<br />

� Längsschnittstudien zeigen, dass der langfristige Lernzuwachs durch<br />

Leistungsangst nicht beeinträchtigt wird! Mögliche Gründe dafür: Kompensation<br />

durch mehr Lernzeit; Unterscheidung zw. Unterrichts- und Prüfungssituation;<br />

Selbstselektion<br />

� Generell gilt: Die leistungsmindernde Wirkung der Leistungsangst geht primär von<br />

der „worry“-Komponente aus!<br />

� Mögliche Erklärungen für den negativen Zusammenhang zw. Leistungsangst und<br />

Leistung:<br />

� „Habit-Interferenz-Modell“ (Mandler, Sarason): In Leistungssituationen<br />

werden 2 antagonistische Triebe aktiviert: der Aufgabentrieb und der Angsttrieb.<br />

Letzterer führt bei zu starker Ausprägung zu aufgabenirrelevanten<br />

Reaktionstendenzen, durch die die Aufgabenlösung beeinträchtigt wird.<br />

� Sprich: Leistungsängstliche Schüler lassen sich durch ihre Sorgen und<br />

Selbstzweifel von der Aufgabenlösung ablenken (Aufmerksamkeitshypothese)<br />

171


� Kuhn: Leistungsängstliche Personen sind durch eine „Lageorientierung“ (s.o.)<br />

gekennzeichnet � oberflächlichere Aufgabenbearbeitung, unzureichende<br />

Strategieanwendung etc.<br />

� „Yerkes-Dodson-Gesetz“: Bei einfachen Aufgaben wirkt Erregung<br />

leistungsoptimierend, bei schwierigen Aufgaben dagegen leistungsmindernd!<br />

Am besten ist ein mittleres Erregungsmaß!<br />

4. Diagnostik und Prävention/Intervention<br />

� Zur Diagnose von Leistungsängstlichkeit stehen verschiedene Fragebögen zur<br />

Verfügung:<br />

� „State Anxiety Questionaire“ (TAG) von Mandler & Sarason (1952): gilt heute<br />

als überholt, da er weder zwischen habitueller Angstneigung (Trait) und<br />

konkreter Angst (State), noch zwischen den Subkomponenten „worry“ und<br />

„emotionality“ unterscheidet (=> unidimensionale Auswertung)!<br />

� Anders im „State-Trait-Anxiety Inventory” (STAI) von Spielberger (1970),<br />

der zumindest zwischen „State“ und „Trait“ unterscheidet (=> bidimenionale<br />

Auswertung)!<br />

� Das „Differentielle Leistungsangst Inventar“ (DAI) von Rost und Schermer<br />

(1997) ist aktuell das differenzierteste Instrument zur Individualdiagnosstik: es<br />

unterscheidet nicht nur zwischen verschiedenen Erscheinungsweisen, sondern<br />

erfasst darüber hinaus die Auslösefaktoren, die stabilisierenden Bedingungen<br />

und die präferierten Bewältigungsstrategien (= die entscheidenden Elemente<br />

einer Verhaltensanalyse!)<br />

� Präventive Maßnahmen im schulischen Kontext:<br />

� Vermeidung unangekündigter Leistungskontrollen<br />

� Frühzeitige und möglichst genaue Absprache der relevanten Inhalte<br />

� Bei schriftlichen Tests: Bereitstellen strukturell ähnlich aufgebauter Übungstests<br />

� Zulassung vorher abgesprochener Hilfsmittel<br />

� Individuelle Bezugsnormorientierung bei der Leistungsrückmeldung<br />

� Möglichkeiten bieten, schlechte Leistungen auszugleichen<br />

� Lieber mehrere kleinere als wenige große Prüfungen!<br />

� Zur Intervention empfehlen sich v. a. kognitiv-verhaltenstherapeutische<br />

Maßnahmen!<br />

172


D 6: Entwicklung sozialer Kognitionen und Kompetenzen<br />

1. Allgemeines zu sozialer Kognition<br />

� Definition: Soziale Kognition umfasst einerseits das allgemein verfügbare Wissen<br />

über psychische Vorgänge und soziale Ereignisse (Inhalt), andererseits das situativ<br />

eingebettete Verständnis von Menschen, zwischenmenschlichen Beziehungen und<br />

sozialen Gruppen (Prozess).<br />

� Die Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Prozess sozialer Kognition ist<br />

plausibel: zu wissen, was Freundschaft heißt, bedeutet schließlich noch lange<br />

nicht, eine Freundschaft knüpfen und führen zu können.<br />

� Soziale Kognition bezieht sich a) auf innerpsychische Prozesse des jeweiligen<br />

Gegenübers, b) auf die psychologische Qualität zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen und c) auf die Fähigkeit, dem jew. Gegenüber Bewusstsein,<br />

Selbstbestimmung und eine mentale Repräsentation der Umwelt zuzuschreiben.<br />

� Zur Bedeutung sozialer Kognition:<br />

� Soziale Interaktionen orientieren sich überwiegend an etablierten<br />

Handlungsskripts (ins Restaurant gehen etc.), zu einer tiefer gehenden<br />

Verarbeitung sozialer Situationen (bei der man z.B. das eigene Handeln aus der<br />

Perspektive des Anderen betrachtet) kommt es dementsprechend nur, wenn die<br />

Routine versagt (etwa bei Beziehungskonflikten).<br />

� Eine entwickeltere soziale Kognition zieht kompetenteres Sozialverhalten nach<br />

sich.<br />

� Das zeigt sich z.B., wenn man Kindern nicht nur die einschlägigen Aufgaben<br />

(z.B. zum False Belief) vorlegt, sondern sie darüber hinaus beim Spielen<br />

beobachtet (und die Ergebnisse hinterher miteinander vergleicht)<br />

� Prosoziales Verhalten setzt Empathie voraus etc. etc.<br />

� Zum Gegenstand sozialer Kognition: Soziale Kognition unterscheidet sich in<br />

mehrerer Hinsicht von der (einfacheren) Kognition über Objekte:<br />

� Variabilität des Erscheinens (Mimik, Bewegung, Tonfall etc.)<br />

� Intentionalität (Selbstverursachter Wandel)<br />

� Reagibilität (Verhalten des Gegenübers ist immer auch eine Reaktion auf das<br />

eigene Verhalten)<br />

� Grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen Menschen (von sich selbst auf andere zu<br />

schließen, ist meist gar nicht so verkehrt)<br />

� Emotionales Berührtsein<br />

� Komplexe Interaktionen (unterschiedliche Perspektiven und Intentionen sind zu<br />

berücksichtigen)<br />

� Forschungsansätze zur sozialen Kognition:<br />

� Forschung zur Personwahrnehmung:<br />

� Die wichtigsten Ergebnisse (Details in Abs. 2):<br />

- Schon Säuglinge unterscheiden zwischen Personen und Objekten (s.u.)<br />

- Personenkonzepte von Kindern sind stärker am Verhalten-;<br />

Personenkonzepte von Jugendlichen stärker an psychischen<br />

Dispositionen und (!) deren situativer Differenzierung orientiert.<br />

� Forschung zur Perspektivübernahme (kognitiv-strukturtheoretischer Ansatz)<br />

� Kognitive Perspektivübernahme: meint die Fähigkeit, das Denken anderer<br />

aus deren Situation zu erschließen; überprüft werden kann diese Fähigkeit<br />

mit dem Paradigma des Informationsprivilegs (wie interpretiert ein Dritter<br />

eine Bildergeschichte, aus der ein Bild herausgenommen wurde?!)<br />

� Emotionale Perspektivübernahme (Verstehen) ≠ Empathie (Nachfühlen)<br />

173


� Fazit: Sowohl die Fähigkeit zur kognitiven, als auch die zur emotionalen<br />

Perspektivübernahme setzen die Fähigkeit voraus, die<br />

Situationsgebundenheit von Emotionen, Kognitionen oder Handlungen zu<br />

erkennen. Sieht man von Vorläuferkomptenzen ab, entwickelt sich diese<br />

Fähigkeit ca. ab 4 Jahren!<br />

� Forschung zu Handlungserklärungen (attributionstheoretischer Ansatz)<br />

� Das Kovariationsmodell (von KELLEY): Handlungen können internal-,<br />

external- oder situational attribuiert werden. Auf welche Weise attribuiert<br />

wird, hängt dabei von 3 Faktoren ab:<br />

- Konsens (Reagieren andere in dieser Situation / auf diesen Stimulus in<br />

vergleichbarer Weise?)<br />

- Konsistenz (Reagiert die betreffende Person auf diesen Stimulus auch<br />

ansonsten so?)<br />

- Distinktheit (Reagiert die Person auf andere Stimuli in gleicher Weise?)<br />

� Zu den besagten Faktoren hinzu kommen folgende 2 Zusatzbedingungen:<br />

- Das Abwertungsprinzip (die angenommene Bedeutung einer best.<br />

Ursache sinkt, wenn noch weitere Ursachen angenommen werden<br />

können)<br />

- Das Aufwertungsprinzip (Liegen ein verhaltenshemmender und ein<br />

verhaltensförderlicher Faktor gleichzeitig vor, wird der förderliche<br />

Einfluss höher angesetzt)<br />

� Ergebnisse: Die Anwendung der 3 Prinzipien Konsens, Konsistenz und<br />

Distinktheit erfolgt erst nach dem Kindergartenalter. Das<br />

Abwertungsprinzip wird erst ab 8 Jahren genutzt, das Aufwertungsprinzip<br />

erst im Jugendalter!<br />

� Forschung zur Zuschreibung mentaler Repräsentationen (Theory of Mind-<br />

Ansatz)<br />

4. Der Theory of Mind-Ansatz<br />

A) Allgemeines zur Theory of Mind<br />

� Die „Theory oft mind“ (TOM) ist eine Art intuitive Alltagspsychologie; genauer: es<br />

handelt sich dabei um die Fähigkeit, uns selbst und anderen mentale Zustände<br />

zuzuschreiben (z.B. Absichten, Wünsche, Emotionen oder Überzeugungen), und<br />

diese aus dem Verhalten zu erschließen.<br />

� Mentale Zustände sind durch 3 Merkmale gekennzeichnet:<br />

1. Sie sind unserer inneren Erfahrung zugänglich.<br />

2. Sie fungieren als theoretische Konstrukte in einer intuitiven<br />

Verhaltenstheorie.<br />

- Peter weint, weil er „traurig ist“ / eigentlich ins Kino „will“ etc.<br />

3. Sie sind intentional auf etwas gerichtet.<br />

- An etwas denken, sich etwas wünschen etc.<br />

� Wellman beschreibt die „Theory of Mind“ als „Belief-desire-theory“: Wir<br />

erklären uns menschliches Verhalten, indem wir uns selbst und anderen<br />

Wünsche bzw. Absichten (Desires) und Überzeugungen (Beliefs) zuschreiben!<br />

� Die „Theory of Mind“-Forschung fragt einerseits, ab wann Kinder beginnen, sich<br />

selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben, anderseits, inwiefern sie diese<br />

Zustände im Sinne der 3 oben genannten Kriterien verstehen.<br />

� Als das entscheidende Indiz gilt dabei die Frage, ob Überzeugungen<br />

unabhängig vom Zustand der Realität repräsentiert werden können oder nicht.<br />

Überprüft wird diese Frage anhand von „False Belief“-Aufgaben (s.u.)<br />

174


� Die „Theory of Mind“ setzt voraus, das mentale Repräsentationen als solche<br />

mental repräsentiert sind (Metarepräsentationen); das Konzept weist somit eine<br />

enge Verwandtschaft zum Konzept der Metakognition auf (s.o.).<br />

� Die für die Ausbildung der „Theory of Mind“ entscheidenden Entwicklungsschritte<br />

finden im Alter zwischen 3 und 4 Jahren statt: Ab ca. 3 ½ bis 4 Jahren sind Kinder<br />

nämlich dazu in der Lage, falsche Überzeugungen zu erkennen.<br />

� Bereits vorher erwerben Kinder jedoch grundlegende Fertigkeiten, ohne die eine<br />

„Theory of mind“ nicht denkbar wäre; die drei Wichtigsten sind:<br />

1) Ab ca. 9 Monaten sind Kinder dazu in der Lage, andere als intentionale<br />

Agenten wahrzunehmen („Joint attention“).<br />

2) Im 2. Lebensjahr entwickeln Kinder ein Selbstkonzept; sie lernen also,<br />

zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden („self recognition“)<br />

3) Darüber hinaus entwickeln Kinder mit 2 Jahren ein Verständnis für<br />

Wünsche<br />

B) Entwicklung der „Theory of Mind“<br />

� Die wichtigsten Entwicklungsschritte im 1. Lebensjahr:<br />

� Säuglinge zeigen von Geburt an eine Präferenz für Gesichter und unterscheiden<br />

schon früh zwischen Menschen und Objekten.<br />

� Letzteres zeigt sich z.B. am sozialresponsiven Verhalten der Babys (Lächeln,<br />

Vokalisieren).<br />

� Ab 7 Monaten unterscheiden Babys zwischen Lebewesen und unbelebten<br />

Objekten nach dem Kriterium der selbstinitiierten Bewegung � Wahrnehmung<br />

anderer als responsive Agenten, die man z.B. durch Schreien herbeibewegen<br />

kann.<br />

� Zwischen 9 und 12 Monaten: Wahrnehmung anderer als intentionale Agenten<br />

(„Joint Attention“)<br />

� Dyadische Interaktionen werden zunehmend durch triadische Interaktionen<br />

abgelöst (geteilte Aufmerksamkeit auf ein gemeinsames Bezugsobjekt).<br />

� Kinder beginnen, der Blickrichtung Erwachsener hin zu bestimmten<br />

Referenzobjekten zu folgen („Attention following“)<br />

� Einsatz von Zeigegesten (referentielle Gesten), um Aufmerksamkeit<br />

Erwachsener zu lenken<br />

� Dishabituierung auf abgebrochene Handlungen (Ergo: Kinder verfügen bereits<br />

über einfache Handlungsskripts)<br />

Trotz dieser Kompetenzen ist nicht von einer Repräsentation mentaler Zustände auszugehen,<br />

die Zeigegesten etc. sind vielmehr behavioral zu verstehen: hinter ihnen<br />

steht keine naive Alltagspsychologie, sondern das Wissen um Kontingenzen: mache<br />

ich das, passiert das…<br />

� Die wichtigsten Entwicklungsschritte im 2. Lebensjahr:<br />

� Zw. 15 und 24 Monaten: Kinder erkennen sich selbst im Spiegel (Rouge-Test)<br />

� Ab dem 2. Lebensjahr: Symbolspiel (setzt jedoch keine Theory of Mind im<br />

engeren Sinn voraus!)<br />

� Ab ca. 18 Monaten: zeigen Kinder emphatisches Verhalten; d.h. sie sind<br />

emotional berührt vom Missgeschick anderer und versuchen, zu helfen. �<br />

Hinweis darauf, dass Emotionen als innere Erfahrungen verstanden werden<br />

� Ab 2 Jahren: Kinder sagen „ich will / er will“, auch wenn eine Handlung noch<br />

nicht ausgeführt wurde oder nicht zielführend war � Mentale Repräsentation<br />

von Wünschen und Absichten!<br />

175


� Ab 3 ½ bis 4 Jahren entwickeln Kinder ein Verständnis von Überzeugungen; d.h.:<br />

sie verstehen zum einen, dass Überzeugungen handlungsleitend sind, zum anderen,<br />

dass es sich dabei um mentale Repräsentationen handelt, die als solche von der<br />

Realität abweichen können.<br />

� False-Belief-Aufgabe von Wimmer & Perner (1983): Maxi und die<br />

Schokolade! Kindern wird folgende Geschichte erzählt: Maxi verstaut eine<br />

Schokolade im grünen Schrank; während er draußen beim Spielen ist, benutzt sie<br />

die Mutter zum Kochen und legt sie danach in den blauen Schrank. Wo sucht<br />

Maxi die Schokolade, wenn er vom Spielplatz zurückkommt?<br />

� Nahezu alle 3-Jährigen geben die falsche Antwort; ca. 50% der 4- bis 5-<br />

Jährigen und 90% der 6- bis 7-Jährigen geben dagegen die richtige<br />

Antwort!<br />

� Die Leistung der 3-Jährigen verbessert sich auch dann nur unwesentlich,<br />

wenn sie ausdrücklich zu genauem Nachdenken aufgefordert- oder eigens<br />

noch mal darauf hingewiesen werden, dass Maxi nicht sehen konnte, dass<br />

seine Mutter die Schokolade in den anderen Schrank geräumt hat.<br />

� Ergo: 3-Jährige können Überzeugungen anderer noch nicht unabhängig<br />

von der Realität repräsentieren!<br />

� False-Belief-Aufgabe von Gopnik et al. (1988): Die Smartiesrolle<br />

Kindern wird eine Smartiesrolle gezeigt und sie werden danach gefragt, was sie<br />

darin vermuten. Nachdem sie „Smarties“ geantwortet haben, zeigt ihnen der VL,<br />

dass in Wirklichkeit Stifte in der Verpackung sind. Auf die Frage, welchen Inhalt<br />

sie vorhin vermutet hätten, antworten unter 4-Jährige: „Buntstifte!“<br />

� 3-Jährige haben demnach sogar Schwierigkeiten, ihre eigenen falschen<br />

Überzeugungen zu erkennen!<br />

� Ergo: Ihre Fehler in False-Belief-Aufgaben sind nicht auf unzureichende<br />

Perspektivübernahme zurückzuführen, sondern auf das mangelnde<br />

Verständnis eigener und fremder mentaler Zustände.<br />

� Von Kritikern wird oft behauptet, die Probleme mit False-Belief-Aufgaben seien<br />

nicht grundsätzlicher Art, sondern lediglich durch die unnötig komplizierte<br />

Versuchsanordnung bedingt. Als Beleg dafür wird darauf verwiesen, dass schon<br />

jüngere Kinder zu Täuschung und Lüge in der Lage sind.<br />

� Dieser Einwand lässt sich jedoch leicht entkräften: Die Täuschungsmanöver<br />

jüngerer Kinder setzen keine „Theory of Mind“ voraus, sondern sind<br />

gelernte Strategien zur Vermeidung negativer Konsequenzen (daher auch<br />

die Ungeschicklichkeit kindlicher Lügen: das ganze Gesicht voller<br />

Schokolade aber Leugnen, genascht zu haben!).<br />

� Das Verständnis falscher Überzeugungen geht mit einer Reihe weiterer Kompetenzen<br />

einher, die ebenfalls erst zwischen 3 und 4 Jahren erworben werden:<br />

� Das Wissen über die Genese von Überzeugungen bzw. ein Verständnis<br />

dafür, wie Wissen zustande kommt.<br />

� Erst ab 4 Jahren können Kinder die Frage beantworten, woher sie etwas<br />

wissen (z.B. woher sie den Inhalt einer zuvor für kurze Zeit geöffneten<br />

Schachtel kennen)<br />

� Dem entspricht, dass die TOM-Entwicklung in engem Zusammenhang zur<br />

Gedächtnisentwicklung steht (Stichwort: Metagedächtnis!)<br />

� Zw. 3 und 5 Jahren: markante Verbesserung der Recall-Leistungen, weil nun<br />

ein Bewusstsein dafür entsteht, wie die eigenen Gedächtnisinhalte zustande<br />

kommen, was eine bessere Kontrolle der betreffenden Prozesse ermöglicht!<br />

� Erklärung für die infantile Amnesie: Weil es Kindern unter 3 Jahren an einer<br />

Theory of Mind fehlt, werden Ereignisse nicht als selbst erlebt enkodiert!<br />

176


� Bezüglich der Perspektivübernahme lassen sich 2 Ebenen unterscheiden:<br />

� Ebene 1: Verstehen, dass ein anderer etwas sieht, das man selbst nicht sehen<br />

kann und vice versa! � Ab 2 ½ Jahren!<br />

� Ebene 2: Verstehen, dass ein anderer das gleiche Objekt anders sieht als man<br />

selbst (z.B. von hinten) � Ca. ab 4 Jahren!<br />

� Unterscheidung zwischen Schein und Sein ist ebenfalls erst ab 4 J. möglich!<br />

� „Der Schwamm sieht aus wie ein Fels (Schein), ist aber ein Schwamm<br />

(Sein)“!<br />

� Fazit: Das Konzept von Überzeugungen ist ein genuines und universelles<br />

(kulturübergreifendes!) Entwicklungsphänomen; es entwickelt sich mit 4 Jahren.<br />

C) Sonstiges<br />

� TOM-Defizite finden sich bei:<br />

� Kindern mit Autismus: Mangelnde Sensibilität für Gesichtswahrnehmung und<br />

Störung im Sozialverhalten beeinträchtigen die TOM-Entwicklung � Oft bis ins<br />

Erwachsenenalter unzureichende Repräsentation falscher Überzeugungen!<br />

� Taubheit: Sprachlicher Input enorm wichtig für die mentale Entwicklung und<br />

somit auch für die Ausbildung einer TOM.<br />

� Familiären Belastungen (Depressive Mutter, sexueller Missbrauch etc.)<br />

� Gründe für individuelle Unterschiede der TOM-Entwicklung:<br />

� Erziehungsstil der Eltern<br />

� Sprachliche Interaktion<br />

� Bildungsniveau der Mutter<br />

� Sozialschicht<br />

� Art zu spielen (je phantasievoller, desto früher TOM)<br />

� Unterschiede in Sozialkompetenz lassen sich z.T. auf TOM zurückführen, sofern ein<br />

frühes Verständnis menschlichen Verhaltens Konfliktlösungs-Fähigkeiten und<br />

Kommunikation fördert.<br />

D) Theoretische Erklärungen der Theory of Mind:<br />

� Die Theorie-Theorie (Wellman, Gopnik etc.): beschreibt die kognitive Entwicklung<br />

des Kindes, analog zum Paradigmenwechsel in der Wissenschaftsgeschichte, als einen<br />

Wandel intuitiver, domänenspezifischer Theorien (konzeptueller Wandel). Das<br />

Konzept von Überzeugungen, das im Alter von 4 Jahren zu der naiven<br />

Wunschpsychologie hinzukommt, lässt sich demnach trainieren, indem Evidenz für<br />

die richtige Theorie geliefert wird!<br />

� Modularitätstheorien (z.B. Leslie, Baron-Cohen): Die TOM ist modular angelegt<br />

und von Geburt an vorhanden (nativistische Sichtweise); die Defizite jüngerer Kinder<br />

werden dementsprechend nicht auf falsche Konzepte zurückgeführt, sondern auf zu<br />

hohe Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsanforderungen; das Konzept der falschen<br />

Überzeugungen kann dementsprechend nicht trainiert werden, sondern ist eine Frage<br />

der Reifung!<br />

� Problem: Schwer vereinbar mit interindividuellen Unterschieden in der TOM-<br />

Entwicklung.<br />

� Die Simulationstheorie (z.B. Harris): Kinder verstehen die geistigen Prozesse<br />

anderer, indem sie sie in ihrem eigenen Innern simulieren, sich also überlegen, was sie<br />

in der besagten Situation tun, denken fühlen würden. Das Problem mit False-Belief-<br />

Aufgaben ist darauf zurückzuführen, dass den Kindern darin gleich 2 Simulationen<br />

zugemutet werden: Sie müssen nicht nur den mentalen Zustand des anderen, sondern<br />

auch die Realität, wie sie sich ihm zeigt, simulieren!<br />

� Problem: Kinder können auch eigene falsche Überzeugungen nicht als solche<br />

erkennen (Vgl. Smartiesrolle)<br />

177


D 7: Entwicklungsveränderungen im Erwachsenenalter und Alter<br />

1. Allgemeines zur Entwicklung im Erwachsenenalter<br />

� Mit Entwicklungen im Erwachsenenalter setzt sich die Psychologie der Lebensspanne<br />

(„Life-Span-Psychologie“) auseinander.<br />

� Die wichtigsten Annahmen der „Life-span-Psychologie“<br />

1. Lebenslange Entwicklung: die Ontogenese ist ein lebenslanger Prozess.<br />

2. Mulitdirektionalität der Ontogenese: Entwicklung bedeutet nicht nur<br />

Wachstum, sondern auch Abbau.<br />

3. Plastizität: Die Entwicklung ist nicht vollständig determiniert (etwa durch<br />

Erbanlagen), sondern zeichnet sich durch eine hohe Plastizität aus.<br />

� Einteilung der Ontogenese:<br />

� Frühe Kindheit, Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter<br />

� Mittleres Erwachsenenalter: 35-65 Jahre<br />

� Differenzierung und Expansion von Aufgaben, Kompetenzen und<br />

Ressourcen (Partnerschaft, Beruf, Elternschaft)<br />

� Höheres Erwachsenenalter: 65-80 Jahre<br />

� Wichtigste Entwicklungsaufgabe: Übergang von Expansion zu<br />

Konzentration (Abschied von bestimmten Bereichen, etwa dem Beruf, und<br />

Pflege der verbleibenden Bereiche)<br />

� Hohes Alter: > 80 Jahre<br />

� Die generelle Architektur des Lebenslaufs: Die Entwicklung im Alter ist nach<br />

Baltes v. a. durch 3 Funktionen gekennzeichnet:<br />

1) Die positiven Auswirkungen des evolutionären Selektionsdrucks nehmen mit<br />

dem Alter ab, da evolutionäre Selektionsmechanismen nach der reproduktiven<br />

Phase weniger wirksam sind (eine Krankheit wie Alzheimer z.B. würde sich im<br />

Jugendalter nicht halten können)<br />

2) Der Bedarf an Kultur nimmt mit dem Alter zu (Altersheime, Pflege,<br />

intellektuelle Förderung etc.)<br />

3) Gleichzeitig lässt der Wirkungsgrad von Kultur mit dem Alter nach; sprich:<br />

kulturelle Ressourcen wie Weiterbildung etc. sind weniger effektiv als bei<br />

jüngeren.<br />

� Gründe: a) Abnahme des biologischen Potentials; b) je mehr Vorwissen /<br />

Erfahrung besteht, desto schwieriger sind Fortschritte zu erzielen („Law of<br />

Practice“)!<br />

� Veränderungen in der relativen Ressourcenallokation:<br />

� In funktionaler Hinsicht lassen sich Entwicklungsziele 3 allgemeinen<br />

Kategorien zuordnen:<br />

a) Zuwachs<br />

b) Aufrechterhaltung des bestehenden Funktionsniveaus<br />

c) Regulation von Verlusten<br />

� Im Laufe des Lebens wird ein zunehmender Anteil an Ressourcen (Zeit,<br />

Aufmerksamkeit, Anstrengung etc.) in die Ziele der Aufrechterhaltung (a) und<br />

Verlustregulation (b) investiert, während der Anteil der in das Entwicklungsziel<br />

Zuwachs (c) investierten Ressourcen zunehmend abnimmt.<br />

� Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK) von Baltes &<br />

Baltes: beschreibt Entwicklung als Wechselspiel dreier übergeordneter<br />

Entwicklungsprozesse: nämlich Selektion, Optimierung und Kompensation! Ziel<br />

dieser Prozesse ist die Maximierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Minimierung<br />

von Verlusten (Eine Entwicklung ohne Verluste ist nicht möglich! Man kann nicht<br />

zugleich super Tennisspieler und Konzertpianist sein!)<br />

178


� Zu den einzelnen Prozessen:<br />

a) Selektion: meint die Auswahl bestimmter Funktionsbereiche, auf die die zur<br />

Verfügung stehenden Ressourcen verwendet werden.<br />

- Elektive Selektion: Auswahl von Entwicklungszielen, die den eigenen<br />

Werten und Kompetenzen möglichst gut entsprechen.<br />

- Verlustbasierte Selektion: „Auswahl“ von Entwicklungszielen<br />

entsprechend der eigenen Möglichkeiten und der Erfordernisse.<br />

b) Optimierung: meint die Produktion von Entwicklungsgewinnen (etwa durch<br />

den Erwerb neuer Fertigkeiten, Übung, Zeitinvestition, den Gebarauch<br />

externer Hilfe etc.)<br />

- z.B. regelmäßiges Joggen für die körperliche Fitness und seelische<br />

Ausgewogenheit.<br />

c) Kompensation: meint die Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus bei<br />

Verlusten (etwa durch Mobilisierung latenter Reserven, vermehrte<br />

Anstrengung, erhöhte Zeitinvestition, den Gebrauch externer Hilfe etc.)<br />

� Selektion, Optimierung und Kompensation können bewusst oder unbewusst,<br />

aktiv oder passiv, intern oder extern erfolgen:<br />

� Beispiel für passive Selektion: Einschulung in ein neusprachliches<br />

Gymnasium (weil kein altsprachliches zur Verfügung steht)<br />

� Beispiel für unbewusste Optimierung: implizites Lernen (etwa beim<br />

Spracherwerb)<br />

� Beispiel für externe Kompensation: Verwendung eines Rollstuhls<br />

2. Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter<br />

� Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung unterscheiden zwischen<br />

biologischen und kulturellen Determinanten kognitiver Leistung; empirisch stützen<br />

sie sich auf die gefundenen Unterschiede zw. alterungsresistenten und<br />

alterungsanfälligen intellektuellen Fähigkeiten.<br />

� Die bekanntesten 2-Komponenten-Modelle:<br />

� Tetens: absolutes- vs. relatives Vermögen<br />

� Cattell: fluide- vs. kristalline Intelligenz<br />

� Bates: Mechanik vs. Pragmatik<br />

� Bates: unterscheidet zwischen „Mechanik“ und „Pragmatik“ der Kognition.<br />

1. Die Mechanik der Kognition: ist biologisch bestimmt. Die mit ihr<br />

verbundenen Fähigkeiten (Verarbeitungsgeschwindigkeit, Kurzzeitgedächtnis<br />

etc.) zeigen i.d.R. einen schnellen Anstieg im Kindes- und<br />

Jugendalter, eine annähernd lineare Abnahme im Erwachsenenalter sowie<br />

eine Beschleunigung dieses Rückgangs im hohen Alter; sie sind also stark<br />

alterungsanfällig!<br />

2. Die Pragmatik der Kognition: ist kulturell bedingt und umfasst das<br />

deklarative und prozedurale Wissen, das sich eine Person im Laufe ihres<br />

Lebens angeeignet hat (Wortschatz, Weltwissen etc.). Im Vergleich zur<br />

Mechanik ist dieses Wissen nur sehr bedingt alterungsanfällig: es nimmt<br />

bis ins Erwachsenenalter zu und fällt erst im hohen Alter wieder ab.<br />

- Normativ-pragmatische Wissensbestände: werden im Kontext<br />

allgemeiner Sozialisationsvorgänge (z.B. in der Schule) erworben und<br />

lassen sich mittels psychometrischer Verfahren messen.<br />

- Personenspezifisches pragmatisches Wissen: ist individuell und hängt<br />

von den jeweiligen Interessen und Erfahrungen einer Person ab (=><br />

bereichsspezifische Expertise)<br />

179


� Mechanik und Pragmatik sind dabei nicht unabhängig voneinander, sondern<br />

interagieren miteinander:<br />

� Die Mechanik bildet die Voraussetzung für den Erwerb pragmatischen<br />

Wissens – umgekehrt können sich jedoch auch mechanische Prozesse nur in<br />

Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten entwickeln.<br />

� Pragmatisches Wissen kann altersbedingte Verluste in der Mechanik<br />

abschwächen oder sogar ganz ausgleichen (Kompensation)! Die positiven<br />

Auswirkungen von Expertise bleiben dabei jedoch bereichsspezifisch!<br />

� Beispiel für die relative Bedeutsamkeit beider Komponenten: Das<br />

Leistungsmaximum im Korrespondenzschach (3 Tage Zeit für einen Zug)<br />

wird im Durchschnitt mit ca. 46 Jahren erreicht, das Leistungsmaximum im<br />

Turnierschach (etwa 3 Minuten pro Zug) dagegen mit 36 Jahren.<br />

� Determinanten der mechanischen Entwicklung:<br />

� Bezüglich der näheren Beschreibung der mechanischen Entwicklung lassen sich<br />

2 Ansätze unterscheiden:<br />

a) Ressourcenorientierte Ansätze suchen nach einigen wenigen übergreifenden<br />

Ursachen für die altersbedingte Verschlechterung der Mechanik.<br />

b) Prozessorientierte Ansätze gehen dagegen von mehreren, übergreifenden<br />

und spezifischen Ursachen aus.<br />

� Innerhalb der Prozessorientierung konzentriert man sich v.a. auf folgende<br />

Determinanten der mechanischen Entwicklung:<br />

1. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit (bildet den stärksten Prädiktor für<br />

Altersunterschiede)<br />

2. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses<br />

3. Die Fähigkeit zu Inhibition, also zur Unterdrückung irrelevanter Infos<br />

(wird z.B. mit dem Stroop-Test ermittelt)<br />

� In jüngerer Zeit werden darüber hinaus neurologische Determinanten gesucht:<br />

� Neuroanatomische Veränderung des Stirnhirns (das v. a. für exekutive<br />

Funktionen erfüllt, sprich: der Verhaltenskoordination und –planung dient)<br />

� Neurochemisch: Abnahme der Dopaminrezeptoren<br />

� Zur Erfassung mechanischer Leistungsveränderungen: Standardmaße zur Mechanik<br />

der Kognition (wie z.B. Tests zur fluiden Intelligenz) sind durch pragmatische<br />

(Testvertrautheit etc.) und andere Einflüsse (Motivation etc.) kontaminiert: Die<br />

gefundenen Altersunterschiede können daher nicht mit Sicherheit auf Unterschiede in<br />

der Mechanik zurückgeführt werden.<br />

� Eine Lösung des Problems bietet das „Testing the limits“-Paradigma: dabei<br />

werden Vpn durch Übung so nah wie möglich an ihre jew. Leistungsmaxima<br />

herangeführt! Derartige Versuche machen deutlich, dass das mechanische<br />

Leistungsmaximum früher anzusetzen ist, als es die klassischen Verfahren<br />

vermuten lassen.<br />

� Historische Plastizität:<br />

� Der Vergleich unterschiedlicher Generationen ist aus mehreren Gründen<br />

problematisch:<br />

� Kohorteneffekte: Stabile Unterschiede zw. Personen unterschiedlicher<br />

Geburtsjahrgänge (Vgl. etwa den Flynn-Effekt)<br />

� Periodeneffekte: Einfluss spezifischer historischer Ereignisse (z.B. Krieg)<br />

� Gesellschaftlicher Wandel: Generelle und zeitlich ausgedehnte Veränderung<br />

der Umweltbedingungen<br />

� Aber: Längsschnittstudien sind zwar notwendig für den interindividuellen<br />

Vergleich intra-individueller Veränderungen; was die durchschnittliche Größe<br />

von Entwicklungsveränderungen in der Population betrifft, führen sie jedoch<br />

180


nicht unbedingt zu genaueren Ergebnissen als Querschnittstudien (mögliche<br />

Ursachen: Übungseffekte, selektiver Drop-out).<br />

� Ontogenetische Plastizität – Zur Wirkung kognitiver Interventionen im Alter.<br />

� Die wichtigsten Ergebnisse kognitiver Interventionsstudien (Pretest –<br />

Intervention – Posttest):<br />

1. Kognitive Plastizität bleibt bei geistig gesunden Erwachsenen bis ins hohe<br />

Alter erhalten!<br />

2. Der positive Transfer trainierter oder geübter Leistungen auf andere<br />

Aufgaben ist i.d.R. gering!<br />

3. Altersunterschiede zwischen jungen und älteren Erwachsenen nehmen an<br />

den Leistungsobergrenzen („testing the limits“) zu!<br />

4. Die Koordination mehrerer Wahrnehmungs- und Handlungsstränge ist für<br />

ältere Erwachsene besonders schwierig!<br />

� Fazit: Trainiert werden können nur Fertigkeiten (pragmatische<br />

Komponente), nicht aber Fähigkeiten (Mechanik). Dafür sprechen a) die<br />

engen Grenzen des positiven Transfers und b) die Interventionsresistenz der<br />

Altersunterschiede in den Leistungsobergrenzen!<br />

� Praktische Konsequenz: Kognitive Intervention im Alter sollte sich v.a. auf<br />

Fertigkeiten konzentrieren, die möglichst unverändert in den Alltag der<br />

betreffenden Person integriert werden können und dort praktischen Nutzen<br />

haben!<br />

� Die Differenzierungshypothese der Intelligenz (Spearman: „Gesetz der<br />

nachlassenden Gewinne“) beschreibt die intellektuelle Entwicklung über die<br />

Lebensspanne als Abfolge von Differenzierung und Dedifferenzierung.<br />

� Der Generalfaktor der Intelligenz verliert im Laufe der Kindheit in Folge der<br />

Reifung und Ausdifferenzierung des Gehirns und durch den Erwerb spezifischer<br />

Wissensbestände an Gewicht (Differenzierung), bleibt vom Jugendalter bis ins<br />

späte Erwachsenenalter relativ konstant und nimmt im hohen Alter wieder zu<br />

(Dedifferenzierung)!<br />

� Die Annahme, die dahinter steht, ist nicht zuletzt Folgende: Der begrenzende<br />

Faktor niedriger Leistungen ist bereichsübergreifender Art (=> ein intakter<br />

kognitiver Apparat); hohe Leistungen dagegen werden überwiegend durch<br />

bereichsspezifische Bedingungen begrenzt!<br />

� Dedifferenzierungsprozesse im Alter:<br />

� Im hohen Alter gehen nicht mehr nur die mechanischen, sondern auch die<br />

pragmatischen Fähigkeiten irgendwann zurück<br />

(Richtungsdedifferenzierung)<br />

� Die Interkorrelationen verschiedener intellektueller Fähigkeiten sind im<br />

hohen Alter deutlich höher als im Erwachsenenalter (intrasystemische<br />

Kovarianzdedifferenzierung)<br />

� Die intellektuellen Fähigkeiten korrelieren im hohen Alter wesentlich stärker<br />

mit sensorischen und sensomotorischen Fähigkeiten (Sehschärfe,<br />

Gleichgewicht etc.) als im Erwachsenenalter (intersystemische<br />

Kovarianzdedifferenzierung)<br />

� Wichtige Entwicklungstendenzen: a) Heritabilität, b) relative Stabilität (Stabilität<br />

der interindividuellen Unterschiede), c) normativ-pragmatisches Wissen sowie d) die<br />

Differenziertheit der Struktur intellektueller Fähigkeiten nehmen von der Kindheit bis<br />

ins späte Erwachsenenalter zu und ihm hohen Alter wieder ab!<br />

� Erklärung: Zu- und wieder abnehmende Genom-Umweltpassung!<br />

� Grundlegendes Dilemma des Alterns: Weil die Zuverlässigkeit der Sinne und des<br />

Bewegungsapparates nachlässt, nimmt zwar der Bedarf an kognitiver<br />

181


Verhaltenskontrolle mit dem Alter zu, die Fähigkeit zu kognitiver Kontrolle nimmt<br />

jedoch ab (Veränderung des Stirnhirns etc.). Kognitives Altern kann dementsprechend<br />

als Verknappung einer zunehmend nachgefragten Ressource begriffen werden!<br />

� Möglichkeiten, dieses Dilemma abzuschwächen:<br />

� Aerobe Fitness (Bewegung an der frischen Luft: Walking etc.): führt zu<br />

besseren kognitiven Leistungen, insbesondere was die kognitive Kontrolle<br />

betrifft, indem alterungsbedingte strukturelle Veränderungen des Gehirns<br />

hinausgezögert werden. Mögliche Erklärungen: a) stärkere Durchblutung<br />

frontaler Hirnregionen, b) Zunahme neuronaler Plastizität, c) Abnahme des<br />

Kontrollbedarfs von Sensorik und Sensomotorik (� Freisetzung kognitiver<br />

Ressourcen!)<br />

� Intelligent unterstützende Umwelten (=Externe Hilfsmittel): Z.B. ein<br />

Navigationssystem, das Älteren das Autofahren erleichtert, indem nicht mehr<br />

auf den richtigen Weg bzw. eine Karte geachtet werden muss<br />

3. Persönlichkeitsentwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter<br />

� Verschiedene Forschungsansätze und –perspektiven:<br />

� Bezüglich der Persönlichkeitsentwicklung lassen sich 3 Forschungsansätze<br />

unterscheiden:<br />

a) Persönlichkeitsforschung: untersucht die strukturelle Stabilität,<br />

Niveaustabilität, relative Stabilität und Profilstabilität von<br />

Persönlichkeitseigenschaften bzw. Eigenschaftsmustern über die<br />

Lebenspanne hinweg; inhaltlich orientiert sie sich dabei meist an den „Big<br />

Five“ (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Neues, Verträglichkeit,<br />

Gewissenhaftigkeit)<br />

b) Forschung zu Selbstkonzept, Selbstdefinition und Identität: fragt weniger<br />

danach, wie eine Person objektiv ist, als vielmehr danach, wie sie sich selbst<br />

sieht; betont wird dabei v. a. die soziale und situationale Bedingtheit des<br />

Selbstkonzepts und der Identität!<br />

c) Forschung zu selbst-regulativen Prozessen: untersucht u. a.<br />

Selbstevaluationen, Zielorientierungen, Bewältigungsverhalten (Coping),<br />

Kontrollüberzeugungen, emotionale Regulation etc. Sie bietet sich damit am<br />

ehesten an, eine Brücke zu den Untersuchungen zur kognitiven Entwicklung<br />

zu schlagen.<br />

� Zwei mögliche Perspektiven:<br />

� Personale Perspektive: Konstrukte wie das „Selbst“, die „Persönlichkeit“<br />

etc. werden als Explans verstanden, d.h. sie werden zur Verhaltenserklärung<br />

herangezogen.<br />

� Subpersonale Perspektive: betrachtet diese Konstrukte dagegen als<br />

Explanandum; untersucht werden etwa die verschiedenen Funktionen des<br />

Selbstkonzepts etc.<br />

� Die wichtigsten Ergebnisse der Persönlichkeitsforschung: Insgesamt sprechen die<br />

Befunde für eine hohe Stabilität von Persönlichkeitseigenschaften über die<br />

Lebensspanne.<br />

� Strukturelle Stabilität (Stabilität der Anzahl sowie der Varianzen und<br />

Kovarianzen der erhobenen Persönlichkeitsdimensionen): ab dem 10. Lebensjahr<br />

gegeben<br />

� Hohes Maß an relativer Stabilität (Stabilität interindividueller Unterschiede):<br />

r =.65.<br />

� Niveaustabilität (einzelner Eigenschaften) an sich recht hoch, nimmt aber<br />

insbes. im hohen Alter ab; dabei zeigen sich folgende Tendenzen: leichte<br />

182


Abnahme der Dimensionen Extraversion, Offenheit und Neurotizismus, dafür<br />

aber Zunahme der Dimensionen Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit<br />

� Problem: Daten zur Niveaustabilität werden meist aus Querschnittsstudien<br />

entnommen (=> mögliche Kohorteneffekte!)<br />

� Profilstabilität: geringer als die übrigen Stabilitäten<br />

� Mögliche Erklärung (s.u.): Unterschiedliche Entwicklungsaufgaben<br />

erfordern unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale!<br />

� Trotz der recht hohen Stabilität von Persönlichkeitseigenschaften und<br />

Eigenschaftsmustern ist auch der Bereich von Selbst und Persönlichkeit durch<br />

Plastizität gekennzeichnet.<br />

� Verschiedene Selbstkonzepte (etwa als Berufstätiger, Vater, Hobbymusiker etc.)<br />

erleichtern die Anpassung an veränderte Entwicklungsbedingungen; im Sinne<br />

des SOK-Modells können sie genau wie intellektuelle Fähigkeiten als personale<br />

Ressourcen beschrieben werden.<br />

� Welche Ziele (Beruf, Familie, Gesundheit, Freunde etc.) und Selbstkonzepte im<br />

Vordergrund stehen, hängt nicht zuletzt vom Alter ab.<br />

� Während z.B. im Alter zw. 25 und 35 meist der „Beruf“ ganz vorne auf der<br />

Prioritätenliste steht, ist es ab 35 eher die Familie und spätestens ab 85 meist<br />

die Gesundheit!<br />

� 2 Formen von Bewältigungs- bzw. „Coping“-Verhalten lassen sich<br />

unterscheiden:<br />

� Assimilatives Bewältigungsverhalten: problemorientiertes Verhalten zur<br />

Erreichung bestimmter Ziele � unterstützt Optimierungsprozesse und ist<br />

dementsprechend v. a. in der ersten Lebenshälfte wichtig!<br />

� Akkomodatives Bewältigungsverhalten: Aufgabe nicht erreichbarer Ziele,<br />

Reduktion des Anspruchsniveaus und positive Neubewertung besser<br />

erreichbarer Ziele � unterstützt verlustbasierte Selektionsprozesse und<br />

gewinnt dementsprechend in höherem Erwachsenenalter zunehmend an<br />

Bedeutung!<br />

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