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KLINISCHE PSYCHOLOGIE

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<strong>KLINISCHE</strong> <strong>PSYCHOLOGIE</strong><br />

Von: Josua Handerer<br />

Kontakt: Josua.Handerer@t-online.de<br />

1


1.1. Allgemeines:<br />

1. Einführung<br />

1.1.1. Häufigkeit und Definition psychischer Störungen<br />

Die klinische Psychologie bzw. Psychopathologie beschäftigt sich mit den<br />

Ursachen und der Entwicklung gestörten (=abnormem) Verhaltens.<br />

Zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen:<br />

a) Psychische Erkrankungen sind die vierthäufigste Ursache krankheitsbedingter<br />

Fehltage (AU-Tage = Ausfalltage am Arbeitsplatz); ihr prozentualer Anteil<br />

beträgt 9,8%!<br />

Zum Vergleich: die beiden häufigsten Gründe sind Erkrankungen am<br />

Muskel-Skelett-System (22,6%) oder Atmungssystem (15,5%)<br />

b) Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nimmt massiv zu (zw. 1997 und<br />

2004 stieg ihr Anteil um 70%!)<br />

Die Definition psychischer Störungen und abnormen Verhaltens ist problemtisch;<br />

es bedarf dazu immer mehrerer Kriterien.<br />

1) Statistische Seltenheit<br />

Abnormes Verhalten ist statistisch selten! Geistige Behinderung liegt z.B.<br />

bei einem IQ < 70 vor.<br />

Aber: - Nicht jedes seltene Verhalten gilt als „gestört“ (z.B. extreme<br />

Begabungen)<br />

2) Verletzung sozialer Normen<br />

Abnormes Verhalten weicht von sozialen Normen ab und stellt damit eine<br />

Belästigung oder Bedrohung für das Umfeld dar.<br />

Aber: - Nicht jede Störung verletzt soziale Normen (z.B. Angst)<br />

Nicht jedes Verhalten, das soziale Normen verletzt, gilt als<br />

psychische Störung (z.B. Kriminalität)<br />

Soziale Normen sind stark vom kulturellen Kontext<br />

abhängig und in diesem Sinne relativ (z.B. Homosexualität,<br />

Drogengebrauch, Stimmen hören etc.)<br />

3) Persönliches Leid<br />

Psychische Störungen fördern persönliches Leid!<br />

Aber: - Nicht jede psychische Störung beinhaltet Leid (z.B. Manie)<br />

Nicht alle Leiden (Hunger, Schmerz etc.) sind psychopathologisch!<br />

4) Beeinträchtigung der Lebensführung<br />

Abnormität geht mit Einschränkungen in der Lebensführung einher (z.B.<br />

Flugangst etc.)<br />

Aber: - Gilt nicht für alle Störungen (z.B. Transvestismus)<br />

Nicht alle Einschränkungen (z.B. nicht singen können) sind<br />

psychopathologisch!<br />

5) Unangemessenheit des Verhaltens<br />

Unangemessene Reaktionen auf Situationen (z.B. übertriebene finanzielle<br />

Sorgen trotz großen Reichtums)<br />

2


FAZIT: Die Klassifizierung psychopathologischen Verhaltens hängt stark vom<br />

sozialen und kulturellen Kontext ab und ist dementsprechend wandelbar; dies<br />

spiegelt sich nicht zuletzt in den verschiedenen Überarbeitungen der diagnostischen<br />

Manuale (DSM, ICD) wider!<br />

Homosexualität z.B. galt in den ersten beiden Versionen des DSM (genauer:<br />

bis 1973) noch als Störung – und wird von manchen immer noch als solche<br />

angesehen („Habemus papam!“)<br />

1.1.2. Wissenschaftstheoretisches<br />

In der klinischen Psychologie ist es aufgrund verschiedener Faktoren besonders<br />

schwer, das Ideal der Objektivität ist zu erreichen:<br />

Kulturellen und soziale Abhängigkeit psychischer Störungen (s.o.)<br />

Eigene Betroffenheit<br />

Schon gesundes Verhalten lässt sich nicht vollständig erklären<br />

Thomas Kuhn: Paradigmen beeinflussen, welche Art von „Rätseln“ untersucht<br />

wird, wie sie untersucht werden (Methoden), was dabei beobachtet wird und wie<br />

die Beobachtungsergebnisse interpretiert werden.<br />

Frühere Paradigmen der Psychopathologie (geschichtlicher Rückblick):<br />

Dämonologie (Mittelalter): Psychische Störungen als Besessenheit =><br />

„Therapie“: Exorzismus; Hexenverbrennung<br />

Asyle (ab 15.Jh): als Fluchtorte für psychisch Kranke<br />

Aktuelle Paradigmen in der Psychopathologie und –therapie (s.u.):<br />

1) Das biologische Paradigma<br />

2) Das psychoanalytische Paradigma<br />

3) Das Humanistische bzw. existentielle Paradigma<br />

4) Lerntheoretische bzw. behavioristische Paradigmen<br />

5) Das kognitive Paradigma<br />

6) Das Diathese-Stress-Modell (ein integratives Paradigma)<br />

Experiment zur Wirkung von Paradigmen (Langer und Abelson, 1974):<br />

Verhaltenstherapeuten und Psychoanalytikern wird ein Interview mit einem Mann<br />

präsentiert, der entweder als „Stellenbewerber“ (A) oder als „Patient“ (B) charakterisiert<br />

wird; Aufgabe der Therapeuten ist es, die „Angepasstheit“ dieses Mannes einzustufen.<br />

Ergebnis: In Bedingung A: kein Unterschied, in Bedingung B: Analytiker halten das<br />

Verhalten des „Patienten“ für wesentlich gestörter als die Verhaltenstherapeuten<br />

Erklärung: Analytiker beschränken sich bei ihrer Einschätzung nicht nur auf das<br />

gezeigte Verhalten, sondern gehen darüber hinaus!<br />

3


2. Gegenwärtige Paradigmen der Psychopathologie<br />

2.1. Das biologische Paradigma<br />

2.1.1. Grundannahmen:<br />

Somatogene Hypothese: Alle psychischen Störungen sind organisch bedingt, sprich:<br />

auf somatische bzw. physiologische Ursachen zurückzuführen.<br />

Solche Ursachen können sein:<br />

a) Vererbung<br />

b) Biochemie des Nervensystems<br />

c) Fehlentwicklung oder Verletzung von Gehirnstrukturen<br />

Beispiele:<br />

Schizophrenie (=> genetische Disposition)<br />

Manie (=> Überschuss an Noradrenalin)<br />

Demenzen (=> Schädigung von Gehirnstrukturen)<br />

Interventionsmaßnahmen zielen auf die Beeinflussung biologischer Prozesse<br />

(Medikamente, chirurgische Eingriffe); die Wirksamkeit nichtbiologischer<br />

Interventionen (Psychotherapie) wird dabei jedoch nicht geleugnet; auch sie können<br />

körperliche Prozesse beeinflussen.<br />

2.1.2. Forschungsansätze:<br />

Die Verhaltensgenetik: untersucht, inwiefern individuelle Unterschiede im<br />

Verhalten auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden können.<br />

Sie bedient sich dabei folgender Methoden:<br />

1) Familienstudien<br />

Dabei werden Personen, die eine Störung aufweisen (sog.<br />

„Indexfälle“), identifiziert und anschließend untersucht, ob<br />

Verwandte dieser Personen ein im Vergleich zur Normalpopulation<br />

höheres Risiko aufweisen, ebenfalls an dieser Störung zu erkranken<br />

(Prävalenzrate).<br />

Beispiel (Schizophrenie): Verwandte ersten Grades (50% genetische<br />

Übereinstimmung) haben ein 10 Mal höheres Risiko an Schizophrenie<br />

zu erkranken als die Normalpopulation (10% zu 1%)!<br />

2) Zwillingsstudien<br />

Dabei werden ein- und zweieiige Zwillinge (100- und 50%ige<br />

Übereinstimmung) hinsichtlich einer Krankheit verglichen; stimmen<br />

sie darin überein, spricht man von Konkordanz!<br />

Ist die Konkordanz bei eineiigen Zwillingen höher als bei zweieigen,<br />

ist das ein Index für die Erblichkeit der betreffenden Krankheit, da ja<br />

sowohl eineiige-, als auch zweieiige Zwillinge jeweils denselben<br />

Umwelteinflüssen ausgesetzt sind (Annahme der gleichen Umwelt!)<br />

4


3) Adoptionsstudien<br />

Dabei werden Kinder untersucht, die getrennt von ihren psychisch<br />

kranken Eltern aufwachsen.<br />

Vorteil: Anders als bei Familien- und Zwillingsstudien kann hier der<br />

Einfluss von Erziehungseinflüssen von vornherein ausgeschlossen<br />

werden.<br />

4) Linkage-Analysen<br />

Untersuchung von vererbten genetischen Markern: Treten in<br />

Indexfamilien genetische Besonderheiten auf?!<br />

Zwischen Phäno- und Genotyp muss genau unterschieden werden: ersterer ist<br />

nicht statisch, sondern entwickelt sich in Abhängigkeit vom Genotyp und der<br />

Umwelt!<br />

Wichtig: Psychische Störungen sind Störungen des Phänotyps und nicht des<br />

Genotyps! Ob sie auftreten oder nicht, hängt dementsprechend nicht nur von der<br />

genetischen Disposition, sondern auch von Umwelteinflüssen ab!<br />

Biochemie des Nervensystems:<br />

Das Nervensystem besteht auf Neuronen, die sich ihrerseits aus Zellkörper,<br />

Zellkern (Nukleus), mehreren kurzen Dendriten und einem (oder mehreren)<br />

langen Axonen zusammensetzen; an letzteren befinden sich die „Endknöpfe“,<br />

die zusammen mit dem synaptischen Spalt und der postsynaptischen Membran<br />

eine Synapse bilden.<br />

Aktionspotenziale führen dazu, dass die synaptischen Vesikel in den<br />

„Endknöpfen“ eines Axons Neurotransmitter in den synaptischen Spalt<br />

freigeben; diese lagern sich an entsprechenden Rezeptoren der postsynaptischen<br />

Membran an und ermöglichen so die Weiterleitung des Signals an das folgende<br />

Neuron (Öffnung von Ionenkanälen Veränderung des Membranpotenzials).<br />

Ausgeschüttete Neurotransmitter, die sich nicht an Rezeptoren anlagern konnten,<br />

werden entweder abgebaut oder durch einen Wiederaufnahmemechanismus (Re-<br />

Uptake) in die präsynaptische Zelle zurückgeholt.<br />

Die im Zusammenhang mit psychischen Störungen wichtigsten Neurotransmitter<br />

sind: a) Noradrenalin<br />

b) Serotonin<br />

c) Dopamin<br />

d) Gamma-Aminobuttersäure (GABA)<br />

Psychopathologische Symptome werden meistens durch den Mangel oder<br />

Überschuss eines bestimmten Neurotransmitters verursacht. Ursachen für ein<br />

solches Ungleichgewicht können sein:<br />

Fehler in der Synthese des betreffenden Neurotransmitters (= gestörter<br />

Stoffwechselprozess)<br />

Gestörter Re-Uptake-Mechanismus<br />

Defekt, Mangel oder Überschuss postsynaptischer Rezeptoren<br />

5


2.1.3. Bewertung:<br />

Gefahr des Reduktionismus: Psychische Störungen sollten nicht auf ihre<br />

biologischen Grundlagen reduziert werden!<br />

1) Wäre eine solche Reduktion willkürlich (man könnte ebenso gut noch eine<br />

Ebene „tiefer“ gehen und die Biologie auf Atomphysik reduzieren)<br />

2) Ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile (Emergenzprinzip)!<br />

Ein biologisches Modell bedeutet in keinem Fall, dass psychotherapeutische Methoden<br />

unwirksam sind!<br />

2.2. Das lerntheoretische (behavioristische) Paradigma<br />

2.2.1. Theoretischer Hintergrund:<br />

Historischer Hintergrund: Die Behavioristen (Watson etc.) wollten Anfang des<br />

20.Jh. weg von der Introspektion, hin zu naturwissenschaftlichen Methoden; sie<br />

forderten daher, Bewusstseinsvorgänge ganz aus den psychologischen Überlegungen<br />

auszuklammern („Black Box“) und sich stattdessen ganz auf beobachtbares Verhalten<br />

zu konzentrieren (Reiz-Reaktions-Zusammenhänge)!<br />

Grundannahme: Pathologisches Verhalten ist genau wie normales Verhalten erlernt!<br />

Klassische Konditionierung (Pawlow, Watson): Die wiederholte Kopplung<br />

eines bedingten Reizes (CS) an einen unbedingten (UCS) führt zum Erlernen<br />

einer bedingten Reaktion (UCR => CR)!<br />

Beispiele: Der Pawlowsche Hund (Glocke + Futter => Speichelsekretion);<br />

Watson und der kleine Albert (Weiße Ratte + lautes Metallgeräusch =><br />

Angstreaktion); auch allergische Reaktionen sind z. T. kondioniert, deshalb<br />

fängt es oft schon an zu jucken, wenn man eine Katze nur sieht!<br />

Psychopatholgische Anwendung: v.a. bei emotionalen Störungen (z.B.<br />

Phobien)<br />

Operante Konditionierung (Thorndike, Skinner): fasst die Konsequenzen eines<br />

Verhaltens ins Auge (instrumentelles Lernen); positive Verstärkung =<br />

Hinzufügung eines positiven Reizes; negative Verstärkung = Entzug eines<br />

aversiven Reizes; „Shaping“ = sukzessive Annäherung an ein Zielverhalten<br />

durch Verstärkung<br />

Beispiel: „Skinner-Box“ (Ratten lernen, einen Hebel zu betätigen, um sich<br />

Futter zu verschaffen)<br />

Psychopathologische Anwendung: z.B. das Erlernen aggressiven Verhaltens<br />

im Kindes- und Jugendalter (durch Verstärkung); Zwei-Faktoren-Theorie<br />

der Angst (s.u.)<br />

Modelllernen bzw. stellvertretendes Lernen (Bandura): zeigt, dass Lernen<br />

auch ohne offene Reaktion oder direkte Verstärkung stattfinden kann<br />

„Zwei-Faktoren-Theorie der Angst“ (Mowrer & Miller):<br />

Das zugrundeliegende Experiment: Ratten lernen in einem<br />

Konditionierungsexperiment (Klingel + Stromschlag) nicht nur das Fürchten,<br />

sondern auch entsprechende Vermeidungsreaktionen.<br />

6


Zwei Lernschritte bzw. Faktoren sind entscheidend:<br />

1) In einem ersten Schritt wird durch klassische Konditionierung Angst als<br />

Reaktion auf einen Reiz gelernt Innere Schmerz- Furchtreaktion<br />

2) Im zweiten Schritt wird die Angst durch operante Konditionierung zum<br />

Antrieb für das Erlenen von Vermeidungsverhalten, sofern letzteres durch<br />

die Reduktion der Angst negativ verstärkt wird Offene<br />

Vermeidungsreaktion<br />

Angst lässt sich vor diesem Hintergrund aus 2 Perspektiven betrachten:<br />

a) als emotionale Reaktion, die gelernt wird wie jede andere Reaktion<br />

b) als Stimulus bzw. Antrieb für Vermeidungsverhalten<br />

Drei-Ebenen-Modell: Psychische Störungen sind multidimensional; sie äußern sich<br />

auf 3 Ebenen:<br />

1) Verhaltensebene<br />

2) Physiologisch-humorale Ebene<br />

3) Subjektiv-kognitive Ebene<br />

Bewertung des behavioristischen Paradigmas:<br />

Noch ist es nicht gelungen, psychische Störungen auf spezifische Lernprozesse<br />

zurückzuführen.<br />

2.2.2. Interventionsmaßnahmen (Verhaltenstherapie)<br />

Die Verhaltenstherapie entstand in den 50er Jahren; sie verwendet Lernmethoden<br />

(klassisches und operantes Konditionieren sowie Modelllernen), um abnormes<br />

Verhalten, Denken und Fühlen zu verändern.<br />

Bekannte Interventionsmaßnahmen sind:<br />

Gegenkonditionierung: Löschung einer Reaktion A + Konditionierung einer<br />

neuen Reaktion B, indem unangenehme Reize an positive gekoppelt werden.<br />

Systematische Desensibilisierung (nach Wolpe): Aufstellen einer<br />

Angsthierarchie; Kopplung der angstbesetzten Reize an Entspannungsübungen<br />

=> der Patient stellt sich, während er entspannt ist, die Reihe der<br />

angstauslösenden Situationen vor<br />

Aversives Konditionieren: Konditionierung von Angstreaktionen zur<br />

Blockierung unerwünschter Verhaltensweisen (Vgl. Clock-Work-Orange); z.B.<br />

bei Drogensucht; wird heute jedoch aus ethischen Gründen kaum noch<br />

angewendet<br />

Flooding / Implosionstherapie: Intensive Darbietung des angstauslösenden<br />

Reizes => Überstrapazierung des Angstreflexes => Körperliche Erschöpfung<br />

und Hemmung der Reflexbereitschaft<br />

Operante Konditionierung: SORCK-Gleichung von Kanfer und Phillips (s.u.)<br />

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2.3. Das kognitive Paradigma und sonstige Paradigmen<br />

2.3.1. Das Kognitive Paradigma<br />

Wichtige Vertreter: BECK, ELLIS<br />

Kognitive Psychologen nehmen nicht nur das Verhalten, sondern auch die<br />

Kognitionen in den Blick.<br />

Kognitionen = Wahrnehmungsprozesse, Urteile, Attributionen etc.<br />

Auch Konditionierungsprozesse werden als kognitive Prozesse aufgefasst: das<br />

klassische Konditionieren z.B. als aktiver Lernvorgang, bei dem die Beziehung<br />

zw. zwei Ereignissen gelernt wird!<br />

Dysfunktionalen Kognitionen wird eine wichtige Rolle bei der Entstehung und<br />

Aufrechterhaltung psychischer Störungen zugeschrieben. Sie zu verändern, gilt daher<br />

als Hauptziel psychotherapeutischer Intervention. Neben kognitiven Methoden werden<br />

aber auch immer verhaltenstherapeutische Maßnahmen eingesetzt ( daher:<br />

kognitive Verhaltenstherapie!)<br />

Rational-emotive Verhaltenstherapie (Ellis): zielt v.a. auf die „Austreibung“<br />

irrationaler Überzeugungen<br />

Kognitive Umstrukturierung (Reattributionstrainings; Selbst-Instruktion etc.)<br />

2.3.2. Sonstige Paradigmen<br />

Das psychodynamische Paradigma: Freud & Co.<br />

„Psychodynamisch“ bezieht sich auf die Wechselwirkung der drei Instanzen<br />

(„Ich“, „Es“, „Über-Ich“)<br />

Das humanistische bzw. existentielle Paradigma: Rogers & Co.<br />

2.4. Das Diathese-Stress-Modell<br />

Das Diathese-Stress-Modell ist ein integratives Modell; es berücksichtigt nämlich<br />

sowohl biologische als auch psychologische und umweltbedingte Faktoren.<br />

Grundannahme: Zur Ausbildung einer Störung bedarf es sowohl einer „Diathese“<br />

als auch einer „Stress“-Komponente.<br />

Eine „Diathese“ ist eine Prädisposition für eine Krankheit; sie kann<br />

biologischer (z.B. Genetik, Infektionen, schlechte Ernährung etc.),<br />

psychologischer (z.B. kognitiver Stil) oder soziokultureller Art sein (z.B.<br />

Schlankheitswahn).<br />

„Stress“ meint schädliche oder ungünstige Umweltreize (z.B. der Tod eines<br />

Partners, ein Trauma, der Verlust des Arbeitsplatzes etc.)<br />

Vorhersagen: Wo keine Diathese vorliegt, ist die Stresskomponente meist irrelevant<br />

(sie führt zu keiner Störung), umgekehrt führt eine Diathese i.d.R. nur dann zu einer<br />

Störung, wenn entsprechende Umweltbelastungen hinzukommen.<br />

Vorteil: Das Diathese-Stress-Modell erlaubt es, die verschiedenen Paradigmen<br />

miteinander zu verknüpfen und deren Einseitigkeiten zu überwinden. Die<br />

verschiedenen Komponenten einer Störung (biologische, psychologische etc.) können<br />

je nach Art der Störung unterschiedlich gewichtet und bei der Behandlung<br />

berücksichtigt werden.<br />

8


3. Klassifikation und Diagnostik<br />

3.1. Die wichtigsten Klassifikationssysteme (DSM-IV und ICD-10)<br />

3.1.1. Geschichte diagnostischer Systeme<br />

1882: Der Statistik-Ausschuss der „Royal Medico-Psychological Association“ erstellt<br />

das erste Klassifikationsschema psychischer Krankheiten; es wird jedoch nicht einmal<br />

von den Mitgliedern allgemein anerkannt.<br />

1939: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erweitert die „International List of<br />

Causes of Death“ (ICD) um psychische Störungen.<br />

1952: Die „American Psychiatric Association“ (APA) veröffentlicht ihr eigenes<br />

„Diagnostic and Statistical Manual of mental diseases“ (DSM-I).<br />

Psychoanalytisch ausgerichtet<br />

1980: Die APA veröffentlicht das DSM-III, das nicht nur wesentlich umfangreicher<br />

als seine Vorgänger ist (über 400 Seiten), sondern auch ansonsten zahlreiche<br />

Veränderungen aufweist:<br />

Der Begriff der „Neurose“ wird entfernt<br />

Um die Reliabilität zu steigern, werden statt beschreibender Definitionen<br />

(„Prosa“) klare diagnostische Kriterien genannt<br />

Einführung des multiaxialen Systems: Jede Person soll im Hinblick auf 5<br />

Dimensionen bzw. Achsen beurteilt werden<br />

1992: Die WHO veröffentlicht die ICD-10 („International Classification of<br />

Diseases“, 10. Revision), die dem DSM-IV recht ähnlich ist.<br />

1994: DSM-IV (s.u.)<br />

2000: DSM-IV-TR (für Textrevision) ist die aktuellste Version des<br />

Diagnosehandbuchs, unterscheidet sich inhaltlich aber kaum vom DSM-IV<br />

2010/11: Geplante Veröffentlichung des DSM-V<br />

3.1.2. Das Wichtigste zum DSM-IV<br />

Allgemeines:<br />

Name: „Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen“ (DSM)<br />

Herausgeber: „American Psychiatric Association“ (APA)<br />

Verwendung: international; in Deutschland eher in forschungsorientierten<br />

Einrichtungen<br />

Grundannahme: Störungen können als Symptom-Gruppen (Cluster)<br />

beschrieben werden!<br />

Bei der Diagnose nach dem DSM-IV sind 5 verschiedene Dimensionen bzw. Achsen<br />

zu berücksichtigen (enorme Informationsmenge):<br />

1) Achse I: Alle psychischen Störungen außer Persönlichkeitsstörungen und<br />

geistiger Behinderung<br />

die für die Diagnose wichtigste Achse<br />

enthält 14 verschiedene Störungsgruppen (s.u.): z.B. Affektive Störungen...<br />

2) Achse II: Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung<br />

enthält Langzeitstörungen und wird deshalb von Achse I unterschieden<br />

zu den versch. Arten von Persönlichkeitsstörungen: s.u.<br />

3) Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren (= körperliche Störungen)<br />

Z.B. Diabetes; Herzerkrankungen etc.<br />

9


Kodiert werden körperliche Störungen nur dann, wenn sie einen Einfluss auf<br />

die diagnostizierte psychische Störung haben (dieser kann z.B. auch darin<br />

bestehen, dass bestimmte Medikamente nicht verschrieben werden können)<br />

4) Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme<br />

z.B. Eheprobleme, finanzielle Probleme, Tod eines Angehörigen etc.<br />

5) Achse V: Globale Beurteilung des beruflichen und sozialen Funktionsniveaus<br />

(= Angepasstheit)<br />

Engl.: „Global Assessment of Functioning“ (GAF)<br />

Funktionsniveau (Leistungsfähigkeit, soz. Integriertheit etc.) wird auf einer<br />

Skala von 1-100 eingestuft, wobei zw. 91 und 100 eine hervorragendes, zw.<br />

1 und 10 ein massiv gestörtes Funktionsniveau vorliegt!<br />

Die wichtigsten Kategorien der Achse I:<br />

1. Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder<br />

Adoleszenz diagnostiziert werden<br />

z.B. Trennungsangst, Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätsstörung,<br />

Lernstörungen etc. (s.u.)<br />

2. Delir, Demenz, amnestische und andere kognitive Störungen<br />

Delir = Bewusstseinstrübung; Demenz = Abbau der geistigen Fähigkeiten;<br />

amnestische Störungen = Störungen des Gedächtnisses, die weder auf Delir<br />

noch Demenz zurückgeführt werden können<br />

3. Substanzinduzierte Störungen<br />

liegen vor, wenn die Drogeneinnahme die berufliche und soziale<br />

Leistungsfähigkeit beeinträchtigt<br />

4. Schizophrenie und andere psychotische Störungen (gestörter Realitätsbezug…)<br />

5. Affektive Störungen (bei massiven Gemütsschwankungen)<br />

3 Unterarten: Major Depression, Manie, bipolare Störung<br />

6. Angststörungen (bei irrationaler und überproportionaler Angst)<br />

6 Unterarten: spezifische Phobien, Panikstörung, generalisierte<br />

Angststörung, Zwangsstörung, posttraumatische Belastungsstörung, akute<br />

Belastungsstörung<br />

7. Somatoforme Störungen (körperliche Symptome ohne physiologische Ursache)<br />

5 Unterarten: Somatisierungsstörung, Konversionsstörung, Schmerzstörung,<br />

Hypochondrie, körperdysmorphe Störung<br />

8. Vorgetäuschte Störungen<br />

9. Dissoziative Störungen (plötzliche Bewusstseinsänderungen, die das Gedächtnis<br />

und Identitätsgefühl beeinträchtigen)<br />

Unterarten: dissoziative Amnesie („Memento“), dissoziative Fugue<br />

(„Stiller“), dissoziative Identitätsstörung („Fight Club“),<br />

Depersonalisationsstörung (Kafka)<br />

10. Psychosexuelle Störungen<br />

Unterarten: Paraphilien (z.B. Exhibitionismus, Sadismus etc.), sexuelle<br />

Funktionsstörungen (Impotenz, EP etc.), Störungen der Geschlechtsidentität<br />

11. Essstörungen<br />

2 Hauptkategorien: a) Anexoria nervosa (Magersucht); b) Bulimia nervosa<br />

12. Schlafstörungen<br />

2 Hauptkategorien: a) Dyssomnien (Störung der Schlafquantität und<br />

-qualität); b) Parasomnien (ungewöhnliche Ereignisse während des Schlafs:<br />

Schlafwandeln, Alpträume etc.)<br />

13. Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert<br />

z.B.: Intermittierende explosive Störung (Wutausbrüche), Kleptomanie,<br />

Pyromanie, pathologisches Spielen, Trichotillomanie (= Haare ausreißen)<br />

10


14. Anpassungsstörungen<br />

Symptome in Folge von Belastungsfaktoren (z.B. Tod eines Verwandten)<br />

Kategorien der Achse II:<br />

Persönlichkeitsstörungen = überdauernde, tiefgreifende, unflexible und<br />

schlecht angepasste Verhaltensmuster und Erlebensweisen<br />

Cluster<br />

A<br />

Cluster<br />

B<br />

Cluster<br />

C<br />

a) Paranoide PS<br />

b) Schizoide PS<br />

c) Schizotypische PS<br />

d) Antisoziale PS<br />

e) Borderline PS<br />

f) Histrionische PS<br />

g) Narzisstische PS<br />

h) Vermeidend-selbstunsichere PS<br />

i) Dependente PS<br />

j) Zwanghafte PS<br />

Restkategorie (auf Achse I oder II?!): „Andere Zustände, die von klinischem<br />

Interesse sein können“<br />

Darunter fallen alle möglichen Gründe, wegen derer man einen Therapeuten<br />

aufsuchen kann: z.B. Schulschwierigkeiten, antisoziales Verhalten,<br />

zwischenmenschliche Probleme (etwa zw. Geschwistern), Berufsprobleme (z.B.<br />

Unzufriedenheit mit der Arbeit) usw. usw.<br />

Allgemeines zur Diagnose:<br />

Zu jedem Krankheitsbild werden unter B. mehrere Symptome genannt, von<br />

denen immer eine bestimmte Mindestanzahl vorliegen muss, um eine Diagnose<br />

zu rechtfertigen.<br />

Darüber hinaus setzt jede Diagnose voraus, dass…<br />

a) …eine deutliche Einschränkung des sozialen und beruflichen Lebens<br />

vorliegt und/oder über subjektives Leiden geklagt wird (C.)<br />

b) …die Symptome nicht auf die direkte Wirkung einer Substanz oder eines<br />

medizinischen Krankheitsfaktors zurückgeführt- und nicht durch eine<br />

andere Störung besser erklärt werden können.<br />

3.1.3. Das Wichtigste zum ICD-10<br />

Allgemeines:<br />

Name: Die 10. Revision der International Classification of Deseases (ICD-10)<br />

Herausgeber: Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />

Aufbau: Die ICD umfasst möglichst alle Krankheiten; psychische Störungen<br />

werden im 5. Kapitel (Abschnitt F) behandelt<br />

Verwendung: eher im europäischen Raum, im dt. Gesundheitswesen weiter<br />

verbreitet als das DSM-IV<br />

Psychische Störungen werden in 10 Hauptgruppen gegliedert:<br />

F0: Organische, einschließlich psychischer Störungen<br />

Hirnverletzungen und –schädigungen unterschiedlichster Art<br />

F1: Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen<br />

F2: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen<br />

F3: Affektive Störungen<br />

F4: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen<br />

F5: Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren<br />

Essstörungen, nichtorganische Schlafstörungen, sex. Funktionsstörungen<br />

F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen<br />

11


F7: Intelligenzminderung<br />

F8: Entwicklungsstörungen<br />

F9: Verhaltens- und emotionale Störungen in der Kindheit und Jugend<br />

Kodierung:<br />

Allgemein:<br />

F = psychische Störung<br />

1. Zahl nach dem F = Hauptgruppe (s.o.)<br />

2. Zahl nach dem F = Nähere Spezifizierung<br />

Zahlen nach dem Punkt = Zusatzinfos<br />

Beispiel: F 32.2 = Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen<br />

3 = Hauptgruppe 3 (Affektive Störungen)<br />

2 = Depressive Episode<br />

.2 = mit psychotischen Symptomen<br />

Vergleich zum DSM-IV:<br />

Gemeinsamkeiten: Große Ähnlichkeit bezüglich der einzelnen Kategorien<br />

Unterschiede: Im Unterschied zum DSM-IV verlangt die ICD-10 keine<br />

multiaxiale Beurteilung; außerdem: andere Kodierung (s.o.)<br />

3.1.4. Chancen und Probleme der Klassifikation<br />

Chancen: Diagnostische Systeme…<br />

…geben Auskunft über die Ursachen einer Störung<br />

…erlauben Prognosen<br />

…erleichtern die Auswahl einer optimalen Behandlungsmethode<br />

…bilden die Grundlage weiterer Forschung<br />

Klassifikationssysteme reduzieren Information, so dass zwangsläufig ein Teil der<br />

Einmaligkeit der untersuchten Person verloren geht.<br />

Aber: Klassifizieren ist ein unabdingbarer Teil menschlichen Denkens!<br />

Ob die für die Klassifikation berücksichtigten Infos die entscheidenden sind, kann<br />

nicht mit Sicherheit gesagt werden; es könnte also durchaus sein, dass triviale<br />

Ähnlichkeiten überbetont und relevante Ähnlichkeiten (noch) vernachlässigt werden.<br />

Klassifikationen können zu Stigmatisierungen führen.<br />

Die Anzahl der zur Diagnose notwendigen Symptome (s.o.) ist mehr oder minder<br />

willkürlich!<br />

Sowohl das DSM-IV als auch die ICD-10 sind kategoriale Klassifikationssysteme, sie<br />

verlangen dem Kliniker also diskrete Ja-/Nein-Entscheidungen ab: Liegt eine<br />

Störung vor oder nicht? Dass sich „normales“ und „abnormes“ Verhalten auf einem<br />

Kontinuum bewegen und in verschiedenen Ausprägungen auftreten können, bleibt<br />

damit unberücksichtigt.<br />

Aber: Auch dimensionale Klassifikationen (Einstufung auf einer quantitativen<br />

Skala) haben Nachteile:<br />

1. Müssen auch sie einen Grenzpunkt beinhalten, der eine diskrete<br />

Klassifikation erlaubt.<br />

2. Liegt dimensionalen Variablen (wie z.B. Bluthochdruck) häufig eine diskrete<br />

Variable (z.B. das Vorhandensein eines Gens) zugrunde.<br />

Diagnostische Systeme implizieren, dass die von ihnen verwendeten Kategorien<br />

kulturell unabhängig sind (im DSM-IV wird eine solche Unabhängigkeit für manche<br />

Störungen sogar explizit postuliert).<br />

Zwar gibt es in der Tat kulturübergreifende Symptome (so z.B.<br />

Wahnvorstellungen bei Schizophrenie oder Energielosigkeit bei Depression), die<br />

12


Beurteilung dieser Symptome kann jedoch in Abhängigkeit vom kulturellen<br />

Kontext variieren.<br />

Auch die Symptome selbst sind z.T. kulturabhängig: z.B. sind Schuldgefühle bei<br />

Depressionen in westlichen Gesellschaften sehr häufig, in Japan und im Iran<br />

dagegen eher selten.<br />

Sogar bestimmte Krankheiten als ganze können kulturell bedingt sein: Anorexia<br />

z.B. tritt (fast) nur in westlichen Gesellschaften auf.<br />

Trotz standardisierter Interviews bleibt auf Seiten des Therapeuten nach wie vor ein<br />

großer Ermessensspielraum und damit Raum für subjektive Verzerrungen: Was z.B.<br />

ist ein „übersteigertes Selbstwertgefühl“?<br />

Reliabilität = Genauigkeit, mit der ein Test ein bestimmtes Merkmal misst<br />

Drei Arten von Reliabilität lassen sich unterscheiden:<br />

1. Interrater-Reliabilität: Übereinstimmungsgrad zw. 2 Beobachtern<br />

Sensitivität: Übereinstimmung darin, dass eine bestimmte Diagnose<br />

vorliegt!<br />

Spezifität: Übereinstimmung darin, dass eine bestimmte Diagnose nicht<br />

vorliegt!<br />

2. Test-Retest-Reliabilität: Übereinstimmungsgrad zweier Messungen an<br />

derselben Person<br />

3. Interne Konsistenz: Zusammenhang der Items eines Tests<br />

Die Reliabilitäten der DSM-IV und ICD-10-Diagnosen sind größtenteils<br />

zufriedenstellend; die meisten Kappa-Koeffizienten (um die zufällige<br />

Übereinstimmung bereinigte Interrater-Reliabilität) liegen über bzw. knapp<br />

unter .70 (=gut)!<br />

Tatsächliche Reliabilität (unter klinischen Alltagsbedingungen) vermutlich<br />

etwas niedriger!<br />

Validität = Genauigkeit, mit der ein Test das misst, was er messen soll<br />

Drei Arten diagnostischer Validität (=Konstruktvalidität):<br />

1. Ätiologische Validität: ist gegeben, wenn für die Störung von Patienten mit<br />

gleicher Diagnose die gleichen lebensgeschichtlichen Umstände<br />

verantwortlich sind.<br />

Bei Schizophrenie z.B.: Genetische Prädisposition, aufreibende<br />

Vorkommnisse, virale Infektion der Mutter etc.<br />

2. Übereinstimmungsvalidität: ist gegeben, wenn sich weitere Symptome, die<br />

nicht zur eigentlichen Diagnose gehören, als charakteristisch erweisen.<br />

Bei Schizophrenie z.B.: geringe soziale Fertigkeiten, Beeinträchtigung<br />

des Gedächtnisses etc.<br />

3. Vorhersagevalidität: ist gegeben, wenn Patienten mit derselben Diagnose<br />

einen ähnlichen Verlauf aufweisen und ähnlich auf best.<br />

Behandlungsmethoden reagieren.<br />

Bei Schizophrenie z.B.: Episodischer Verlauf, gutes Ansprechen auf<br />

medikamentöse Therapien<br />

13


4. Klinische Erhebungsverfahren<br />

4.0. Allgemeine Vorbemerkungen<br />

Klinische Erhebungsverfahren dienen dazu, herauszufinden…<br />

…was mit einem Menschen nicht stimmt<br />

…wie sich die Störung auf den verschiedenen Ebenen äußert (emotional,<br />

kognitiv, auf der Verhaltensebene und auf der Persönlichkeitsebene)<br />

…wo die Ursachen der betreffenden Störung liegen könnten<br />

…welche Behandlungen präventiv oder kurativ wirksam sein könnten<br />

…wie wirksam therapeutische Interventionen sind<br />

Grundsätzlich kann zwischen psychologischen und biologischen Verfahren<br />

unterschieden werden. Welche Verfahren bevorzugt und wie sie im Einzelnen<br />

angewandt werden, hängt dabei nicht zuletzt vom zugrundegelegten Paradigma ab.<br />

Reliabilität und Validität der Verfahren ist unterschiedlich!<br />

4.1. Psychologische Erhebungsverfahren<br />

4.1.1. Klinische Interviews<br />

Ein „Interview“ ist jeder zwischenmenschliche Austausch, der zum Sammeln von<br />

Informationen genutzt wird. Unterschieden werden kann zwischen strukturierten und<br />

weniger strukturierten Interviews.<br />

In strukturierten Interviews sind sowohl die Formulierung als auch die<br />

Reihenfolge der Fragen vorgegeben (s.u.).<br />

Vorteil: Erhöhte Reliabilität; standardisierte Daten<br />

In der Praxis liegen klinischen Interwies jedoch meistens nur grobe Leitlinien<br />

zugrunde. Jeder Therapeut entwickelt so im Laufe seiner Berufszeit einen<br />

eigenen Interviewstil.<br />

Problem: Geringe Reliabilität einzelner Interwies; es muss jedoch bedacht<br />

werden, dass i.d.R. mehrere Interviews geführt werden.<br />

Strukturierte Interviews: sind z.B. das „Strukturierte Klinische Interview für die<br />

Achse I des DSM-IV“ (SKID-I) oder das „Diagnostische Interview bei psychischen<br />

Störungen“ (DIPS)<br />

Aufbau des SKID-I: Das SKID ist ein verzweigtes Interview, d.h. die Antwort<br />

des Patienten auf eine Frage bestimmt, welche Frage als nächstes gestellt wird<br />

(Entscheidungsbaum).<br />

Screening zur Erfassung der Kernsymptome<br />

Detaillierte Nachfrage zu Störungsbildern, bei denen die Kernsymptome<br />

vorliegen<br />

Beurteilung der Symptome auf einer dreistufigen Skala<br />

Dauer: 1 ½ Stunden, wenn keine gravierende Symptomatik vorliegt,<br />

entsprechend länger, wenn mehrere Problembereiche vorliegen<br />

Problem: kann ermüdend und belastend sein (z.B. Retraumatisierung)<br />

Merkmale eines klinischen Interviews:<br />

a) Beachtung non-verbalen Verhaltens<br />

Es geht in klinischen Interviews nicht nur darum, was der Patient antwortet,<br />

sondern auch darum, wie er antwortet.<br />

b) Einfluss des Paradigmas<br />

Das Paradigma des Interviewers bestimmt, was für Infos gesucht-, wie sie<br />

gewonnen- und wie sie interpretiert werden.<br />

14


c) Bedeutung der Beziehung<br />

Ein klinisches Interview setzt auf Seiten des Patienten Vertrauen und auf<br />

Seiten des Therapeuten ein hohes Maß an Empathie voraus.<br />

d) Unklare Verlässlichkeit der Information<br />

Problematisch ist a) dass sich die Klienten über ihre eigene Lage oft nicht<br />

hinreichend bewusst sind, um sie zu erörtern und b) dass ihre Antworten in<br />

hohem Maß von situativen Faktoren abhängig sind (Erscheinungsbild des<br />

Therapeuten etc.)<br />

4.1.2. Psychologische Tests<br />

Psychologische Tests sind standardisierte Prozeduren, um die Leistung oder<br />

Persönlichkeit einer Person zu messen; sie können ergänzende Infos für eine Diagnose<br />

liefern, wenn das Interview zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.<br />

Dass psychologische Tests standardisiert sind, heißt, dass ihre Auswertung<br />

anhand statistischer Normen erfolgt, die aus der Normalpopulation gewonnen<br />

wurden.<br />

Unterscheiden werden kann zwischen:<br />

1. Persönlichkeitsfragebögen (NEO-FFI etc.)<br />

2. Projektiven Persönlichkeitstests (TAT etc.)<br />

3. Intelligenztests (HAWIE, HAWIK, CFT etc.)<br />

4. Spezifischen Tests (etwa zur Erhebung des dispositionellen und<br />

zustandsgebundenen Angstniveaus: State-Trait-Angstinventar)<br />

Beispiele für Persönlichkeitsfragebögen:<br />

Das „Minnesota Multiphasic Personality Inventory“ (MMPI) ist der im<br />

klinischen Kontext am häufigsten eingesetzte Persönlichkeitstest! Eher ein<br />

Inventar klinischer Störungen als ein allgemeiner Persönlichkeitstest.<br />

Die „Symptom-Checkliste-90“ (SC-90): enthält 90 Items und misst insgesamt<br />

9 Skalen, nämlich: Somatisierung, Zwanghaftigkeit, soziale Unsicherheit,<br />

Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivität, phobische Angst, paranoides Denken<br />

und Psychotizismus. Generell geht es darum, die subjektiv empfundene<br />

Beeinträchtigung durch körperliche und psychische Symptome innerhalb eines<br />

Zeitraums von 7 Tagen zu erheben.<br />

Das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI): erhebt mehrere Skalen;<br />

darunter: Lebenszufriedenheit, Leistungsorientierung, soziale Orientierung,<br />

Gehemmtheit, Aggressivität und Extraversion.<br />

Das NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI): basiert auf dem Fünf-<br />

Faktoren-Modell der Persönlichkeit („big five“), erhoben werden<br />

1. Neurotizismus; 2. Extraversion; 3. Offenheit für Erfahrungen;<br />

4. Verträglichkeit; 5. Gewissenhaftigkeit.<br />

Zu projektiven Tests:<br />

In projektiven Tests geht es um die subjektive Beurteilung mehrdeutigen<br />

Reizmaterials; die hinter den Tests stehende Grundannahme wird als<br />

„Projektionshypothese“ bezeichnet; sie besagt, dass in den Antworten der Pbn<br />

unbewusste Einstellungen und Motive zu Tage treten.<br />

Beispiele für projektive Tests:<br />

Rohrschach-Test: sammelt Assoziationen zu 10 Klecksbildern<br />

Thematischer Apperzeptionstest (TAT): Pbn schreiben zu einer Reihe<br />

bildhafter Szenen kurze Geschichten<br />

Scenotest: Mithilfe von Figuren und Gegenständen sollen Alltagsszenen<br />

aufgestellt werden<br />

Problem projektiver Tests: Schwierige Auswertung; fragliche Reliabilität<br />

15


4.1.3. Beobachtungsverfahren<br />

Die klinische Verhaltensbeobachtung orientiert sich an dem sog. SORKC-Modell<br />

(Kanfer und Phillips):<br />

S (Stimuli): bezieht sich auf die Stimuli und Umgebungsfaktoren, die dem<br />

problematischen Verhalten vorausgehen<br />

Bei Schlafstörungen z.B. das Schlafzimmer<br />

O (Organismus): bezieht sich auf die relevanten psychologischen und<br />

physiologischen Faktoren innerhalb der Person, die den Umwelteinfluss<br />

moderieren.<br />

Bei Schlafstörungen z.B. eine hohe Erregung durch Ehe- oder<br />

Berufsprobleme<br />

R (Reaktion): bezieht sich auf die Verhaltensmuster, die das Problem bedingen<br />

bzw. damit einhergehen<br />

Bei Schlafstörungen z.B. wach im Bett liegen, etwas essen, fernsehen etc.<br />

K (Kontingenz): bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen R und C.<br />

C (Konsequenzen): bezieht sich auf die Ereignisse, die der Reaktion folgen und<br />

diese verstärken bzw. bestrafen.<br />

Kurzfristige Konsequenzen: positive Verstärkung (interessanter Film, gutes<br />

Essen); negative Verstärkung (Ablenkung von Sorgen)<br />

Mittel- und langfristige Konsequenzen: „Bestrafung“ (Konzentrationsprobleme,<br />

Müdigkeit etc.)<br />

Prinzipiell kann zwischen direkten Beobachtungsverfahren und<br />

Selbstbeobachtungsverfahren unterschieden werden:<br />

Direkte Verhaltensbeobachtung: während der Sitzungen, bei Hausbesuchen<br />

oder im Rahmen sog. Verhaltensexperimente, wozu z.B. Rollenspiele, In-vivo-<br />

Expositionen und „Behaviour Avoidance Tests“ (BAT) zählen.<br />

Ein BAT wäre z.B. die sukzessive Annäherung an einen phobischen Reiz<br />

(etwa eine Spinne).<br />

Erleichtert werden kann die direkte Beobachtung z.B. durch die Methode<br />

des „lauten Denkens“<br />

Selbstbeobachtung: in Form von Selbstaussage-Fragebögen,<br />

Tagebucheinträgen oder Protokollen; erfolgt die Selbstbeobachtung in Echtzeit<br />

spricht man auch von einer „Ökologischen Momentaufnahme“ (ÖMA)<br />

Probleme: Gedächtnisverzerrungen, Reaktanz! Letztere ist jedoch nicht nur<br />

ein Nachteil, sondern therapeutisch von großem Nutzen!<br />

4.2. Biologische Erhebungsverfahren<br />

4.2.1. Bildgebende Verfahren<br />

Computertomographie (CT): ist ein Verfahren zur Darstellung von Gehirnstrukturen<br />

Dabei wird aus vielen einzelnen Röntgenaufnahmen (aus unterschiedlichen<br />

Winkeln und Schichten) ein Bild von der Dichteverteilung des Körper- bzw.<br />

Gehirngewebes errechnet!<br />

Es gilt: Je dichter das Gewebe => desto mehr Röntgenstrahlen werden<br />

absorbiert => desto heller das auf die Detektorplatte projizierte Bild<br />

Magnetresonanz- bzw. Kernspintomographie (MRT): ist ebenfalls ein Verfahren<br />

zur Darstellung von Gehirnstrukturen<br />

Durch elektromagnetische Impulse werden die Wasserstoffatome (genauer:<br />

deren Kerne => H+) zunächst in eine Richtung ausgerichtet („Alignment“) und<br />

anschließend ihr Eigendrehimpuls („Spin“) registriert (=elektromagnetisches<br />

16


Signal). Auf diese Weise kann die Wasserstoffkonzentration und damit die<br />

Durchblutungsstärke der verschiedenen Hirnregionen sichtbar gemacht werden.<br />

Vorteile: MRT liefert nicht nur bessere Bilder als die CT, sondern benötigt auch<br />

weniger Strahlung!<br />

Funktionelle Kernspintomographie (fMRT): dient der Abbildung zerebraler<br />

Prozesse!<br />

fMRT basiert auf dem BOLD-Effekt („Blood Oxygenation Level Dependent<br />

Contrast“): In aktivierten Hirnregionen steigt der Anteil sauerstoffhaltigen Bluts<br />

(„Oxyhämaglobin“); oxygeniertes (O2-haltiges) Blut ist dabei magnetischer als<br />

Deoxyhämaglobin und sendet dementsprechend ein stärkeres BOLD-Signal aus.<br />

Positronenemissionstomographie (PET): kann sowohl zur Abbildung von<br />

Hirnstrukturen, als auch zur (räumlichen und zeitlichen) Abbildung zerebraler<br />

Prozesse genutzt werden!<br />

Verschiedene stoffwechselrelevante Moleküle (z.B. Sauerstoff oder Glukose)<br />

werden chemisch mit kurzlebigen Radionukletiden markiert und in den<br />

Blutkreislauf injiziert; die so markierten Moleküle sammeln sich an den Orten<br />

des Stoffwechsels an und die durch ihren Zerfall ausgelöste (γ-) Strahlung wird<br />

aufgezeichnet.<br />

Viele Vorteile (geringe Strahlenbelastung, sehr genau, in-vivo-Untersuchungen<br />

etc.), aber: sau-teuer (wegen der Gewinnung der Radionukletiden)<br />

4.2.2. Psychophysiologische Methoden<br />

Die Psychophysiologie befasst sich mit den physischen Prozessen, die als<br />

Begleiterscheinung psychischer Ereignisse auftreten oder mit den psychischen<br />

Merkmalen einer Person zusammenhängen.<br />

Somatisches Nervensystem: steuert bewusste Vorgänge (z.B. die Kontraktion<br />

von Muskeln) und kann willkürlich gesteuert werden<br />

Autonomes (=vegetatives oder viszerales) Nervensystem: steuert unbewusste<br />

Vorgänge (z.B. die Atmung oder Verdauung) und kann nur bedingt willkürlich<br />

gesteuert werden<br />

Unterteilt sich in Sympathikus (überwiegend exzitatorisch: Erhöhung der<br />

Herzfrequenz etc.) und Parasympathikus (überwiegend dämpfend:<br />

Verlangsamung des Herzschlages etc.)<br />

Elektrokardiogramm (EKG): misst die Aktionspotenziale des Herzmuskels und<br />

damit die Herzfrequenz<br />

Elektroenzephalogramm (EEG): misst die spontane oder evozierte elektrische<br />

Aktivität der Großhirnrinde<br />

Blutdruck:<br />

Systolischer Blutdruck (maximaler Wert während der Austreibungsphase):<br />

normalerweise bei ca. 120 mmHg (Millimeter Quecksilber)<br />

Diastolischer Blutdruck (minimaler Wert während der Füllungsphase):<br />

normalerweise bei ca. 80 mmHg<br />

Skin Conductance Response (SCR); Skin Resistance Response (SRR): gibt<br />

Auskunft über die Hautleitfähigkeit und damit über die Schweißproduktion: je mehr<br />

Schweiß, desto besser die Hautleitfähigkeit bzw. desto geringer der Hautwiderstand<br />

17


4.2.3. Neurochemische Methoden<br />

Neurochemische Verfahren dienen dazu, die Menge der Neurotransmitter bzw. ihrer<br />

Rezeptoren zu messen.<br />

Bei Post-Mortem-Untersuchungen werden verschiedene Hirnregionen<br />

verstorbener Patienten mit Substanzen infundiert, die sich an bestimmte<br />

Rezeptoren binden, und anschließend die Bindungsmenge ermittelt.<br />

Eine andere Möglichkeit besteht darin, Blut, Urin oder Gehirn- und<br />

Rückenmarksflüssigkeit von Patienten auf Metaboliten zu untersuchen, um auf<br />

die Menge des entsprechenden Neurotransmitters zu schließen.<br />

Metaboliten sind Abbauprodukte von Neurotransmittern; der wichtigste<br />

Metabolit von Dopamin ist z.B. Homovanillinsäure (HVA), von Serotonin<br />

ist es 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HTAA)<br />

4.2.3. Neuropsychologische Verfahren<br />

Neuropsychologische Tests dienen dazu, anhand von Verhaltensstörungen bzw.<br />

kognitiven Defiziten auf Funktionsstörungen des Gehirns zu schließen.<br />

Haben recht hohe Validität, da die Kompensation neurologischer Störungen in<br />

den Testaufgaben weitaus schwieriger ist als bei Alltagstätigkeiten.<br />

Beispiele für neuropsychologische Tests:<br />

Die Halstead-Reitan-Batterie: umfasst vier Tests<br />

1. Taktiler Leistungstest (Zeit): Einpassung unterschiedlich geformter Klötze<br />

in ein Formenbrett (mit verbundenen Augen natürlich!)<br />

2. Taktiler Leistungstest (Gedächtnis): Das Formenbrett muss anschließend<br />

aus dem Gedächtnis gezeichnet werden => Test 1 und 2 sind Indikatoren für<br />

eine Läsion im rechten Parietallappen<br />

3. Kategorientest: Erschließen von Kategorisierungsregeln anhand nonverbaler<br />

Rückmeldungen (Zuordnung von Bildern zu Zahlen zw. 1 und 4) =><br />

Allgemeiner Indikator für eine Hirnschädigung<br />

4. Lautwahrnehmungstest: Zuordnung sinnloser Silbenreihen zu Worten =><br />

Funktion der linken Hemisphäre<br />

Die Luria-Nebraska-Batterie: besteht aus 11 Teilen und testet u.a. motorische<br />

Fertigkeiten, rhythmische, melodische und räumliche Fertigkeiten,<br />

Sprachverständnis, Ausdrucksvermögen und Gedächtnis.<br />

Der Uhren-Test (wird in der Demenzdiagnostik eingesetzt): Aufgabe ist es, auf<br />

einen Kreis eine bestimmte Uhrzeit samt Zahlen und Zeigern einzuzeichnen<br />

Maximal erreichbare Punktzahl beträgt 7: Ist die 12 oben => 2 Punkte; sind<br />

alle Zahlen eingezeichnet => 1 Punkt; sind Stunden- und Minutenzeiger<br />

vorhanden => 2 Punkte; entspricht ihre Position der vorgegebenen Uhrzeit<br />

=> 2 Punkte<br />

Uni- bzw. kontralateraler Neglect: Aufmerksamkeitsstörung, bei der eine<br />

Körperhälfte inklusive Gesichtsfeld ignoriert wird; tritt meist nach rechtsseitiger<br />

Parietallappenschädigung auf und kann folgendermaßen getestet werden:<br />

Uhrentest => Neglectpatienten tragen alle Zahlen in einer Hälfte ein<br />

Halbierung horizontaler Linien => Neglectpatienten vernachlässigen die Linien<br />

auf der einen Seite ganz und „halbieren“ die beachteten Linien (bei<br />

rechtshemisphärischer Störung) rechts vom Mittelpunkt<br />

18


6. Methoden zur Untersuchung gestörten Verhaltens<br />

6.1. Wissenschaftstheoretisches<br />

6.1.1. Was ist Wissenschaft?<br />

Wissenschaft ist das Streben nach systematisiertem Wissen durch Beobachtung.<br />

Dazu gehört einerseits die systematische Erhebung und Bewertung von<br />

Informationen, andererseits die Entwicklung von Theorien zur Erklärung dieser<br />

Informationen.<br />

Wissenschaftliche Aussagen müssen eine Vielzahl von Gütekriterien erfüllen; die<br />

wichtigsten sind:<br />

Sie müssen überprüfbar sein (=> präzise Formulierung und Falsifizierbarkeit)<br />

Sie müssen zuverlässig sein (=> Replizierbarkeit, Reliabilität und Objektivität)<br />

Sie müssen valide sein (=> d.h. auf die Wirklichkeit übertragbar sein)<br />

6.1.2. Was sind Theorien und theoretische Konstrukte?<br />

Wissenschaftliche Theorien dienen dazu, Zusammenhänge zu erklären. Sie müssen<br />

empirisch überprüft werden („context of justification“); erlauben aber gleichzeitig die<br />

Bildung von Hypothesen und geben so der empirischen Forschung erst ihre Richtung<br />

(„context of discovery“)!<br />

Theorien enthalten Konstrukte (z.B. das Konstrukt „Angst“), die sich zwar nicht<br />

unmittelbar beobachten lassen, dafür aber die beobachteten Zusammenhänge<br />

vereinfachen und damit überhaupt erst verständlich machen! Solche theoretischen<br />

Konstrukte überbrücken häufig Zeit-Raum-Beziehungen und können auf<br />

unterschiedliche Weise operationalisiert werden!<br />

„Angst“ z.B. kann erklären, warum Personen auf ganz unterschiedliche<br />

Situationen (Gewitter, Prüfung etc.) auf ähnliche Weise reagieren; das Konstrukt<br />

überbrückt somit die Lücke zwischen Situation und Reaktion und vereinfacht<br />

dadurch die beobachteten Zusammenhänge. Operationalisiert werden kann<br />

„Angst“ z.B. durch einen Fragebogen oder physiologische Maße (Zittern,<br />

Herzrate, Schweiß etc.).<br />

6.2. Forschungsmethoden der klinischen Psychologie<br />

6.2.1. (Einzel-)Fallstudien<br />

Eine Einzelfallstudie beruht auf der Sammlung von familiengeschichtlichen,<br />

biographischen und anderen krankheitsrelevanten Informationen zu einem einzelnen<br />

Patienten. Auf welche Art von Infos dabei besonders Wert gelegt wird, hängt vom<br />

zugrunde gelegten Paradigma ab.<br />

Eine berühmte Fallstudie ist Freuds Studie über „Anna O.“; sie bildete den<br />

Ausgangspunkt für Freuds Theorie der Hysterie und legte damit den Grundstein<br />

für die Psychoanalyse!<br />

Einzelfallstudien erlauben weder Kausalitätsaussagen, noch dürfen sie verallgemeinert<br />

werden. Trotzdem sind sie in bestimmten Zusammenhängen durchaus sinnvoll!<br />

Sie ermöglichen die detaillierte Darstellung eines seltenen Phänomens bzw.<br />

einer neuen Diagnose- oder Therapiemethode!<br />

Besonders zur dissoziativen Identitätsstörung (s.u.) gibt‟s viele<br />

Einzelfallstudien, da sie sehr selten und recht spektakulär ist!<br />

Entkräftung angeblich universal gültiger Aussagen einer Theorie!<br />

Entwicklung neuer Forschungshypothesen!<br />

19


6.2.2. Epidemiologische Forschung<br />

Die Epidemiologie untersucht a) die Häufigkeit und b) die Verteilung einer Störung<br />

in einer Population; sie versucht dabei v.a., folgende 3 Merkmale zu bestimmen:<br />

1) Die Prävalenz: ist eine Kenngröße für die Häufigkeit einer Krankheit; sie<br />

entspricht dem Anteil erkrankter Personen einer Population zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt bzw. über einen bestimmten Zeitraum.<br />

Berechnung: Anzahl der Kranken / Anzahl aller Untersuchten<br />

Drei Arten von Prävalenz können unterschieden werden:<br />

a) Punktprävalenz: Anteil der Kranken zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />

b) Periodenprävalenz: Anteil der Kranken über einen bestimmten<br />

Zeitraum (z.B. im Jahr 2009)<br />

c) Die Lebenszeitprävalenz: Anteil derjenigen Personen, die bis zum<br />

Zeitpunkt der Befragung mindestens ein Mal von der Krankheit<br />

betroffen waren.<br />

2) Die Inzidenz: entspricht der Anzahl der Neuerkrankten in einer definierten<br />

Population während einer bestimmten Zeit (üblicherweise einem Jahr)!<br />

Randbemerkung: Die so ermittelten Prävalenz- und Inzidenzraten sind jedoch<br />

keineswegs eindeutig, sondern hängen u.a. von der gewählten Population<br />

(Männer, Frauen, Jugendliche, Deutsche, Amis etc.), den zugrundegelegten<br />

Diagnosekriterien (DSM-IV, ICD-10 etc.) und den verwendeten<br />

Interviewverfahren zur Ermittlung der Symptome ab.<br />

Die Angaben schwanken daher z.T. enorm!<br />

3) Risikofaktoren: Bedingungen, deren Vorliegen die Wahrscheinlichkeit einer<br />

Erkrankung erhöht!<br />

Z.B. Geschlecht; sozioökonomischer Status; genetische Vorbelastung etc.<br />

Eine Größe, die im Zusammenhang mit Risikofaktoren oft berechnet wird,<br />

ist der „Odds Ratio“:<br />

Ein „Odds“ entspricht der Erkrankungswahrscheinlichkeit innerhalb<br />

einer bestimmten Gruppe (p); geteilt durch die zugehörige<br />

Gegenwahrscheinlichkeit (1-p)<br />

Der „Odds Ratio“ ist der Quotient aus den Odds zweier Gruppen; ist<br />

das Risiko für die beiden untersuchten Gruppen (z.B. Männer und<br />

Frauen) gleich groß, liegt er bei 1!<br />

Zum Nutzen epidemiologischer Untersuchungen:<br />

Bilden die Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen (Planung<br />

ausreichender Therapiemöglichkeiten, Initiierung präventiver Maßnahmen etc.)<br />

Erlauben die Generierung neuer Hypothesen (von den Risikofaktoren zu<br />

genaueren Erklärungen; z.B.: „Nicht der sozioökonomische Status selbst,<br />

sondern die schlechte Ernährung könnte entscheidend sein!“…)<br />

6.2.2. Korrelationsstudien<br />

Die Korrelationsmethode untersucht, ob zwischen zwei oder mehr Variablen ein<br />

Zusammenhang besteht; anders als in einem Experiment wird dabei jedoch keine<br />

Manipulation vorgenommen; die Variablen werden also so untersucht, wie sie<br />

natürlich auftreten!<br />

Die Korrelationsmethode ist in der klinischen Psychologie weit verbreitet:<br />

Sie bildet beispielsweise die Grundlage für die Ermittlung von Risikofaktoren<br />

(s.o.): Korreliert die klassifikatorische Variable Krankheit (ja/nein) mit anderen<br />

20


Variablen (wie z.B. dem Cortisolspiegel, dem sozioökonomischen Status oder<br />

der Reaktionsbereitschaft auf Stressoren)?!<br />

Wichtig: Die Korrelationsmethode findet keineswegs nur in der<br />

Feldforschung, sondern auch in Laboruntersuchungen Anwendung! Ein<br />

gängiges korrelatives Design ist der Vergleich zwischen einer<br />

Patientenstichprobe und einer gesunden Kontrollgruppe.<br />

Ob ein Zusammenhang statistisch signifikant ist, hängt zum einen von der Höhe der<br />

Korrelation, zum anderen von der Größe der Stichprobe ab. Dabei gilt: Je größer die<br />

Stichprobe, desto geringer kann r sein, um noch signifikant zu werden!<br />

Das Problem der Korrelationsmethode besteht darin, dass Korrelationen keine<br />

Aussagen über Kausalität erlauben.<br />

1) Ist die Wirkrichtung nicht bekannt, sprich: selbst wenn ein kausaler<br />

Zusammenhang bestehen sollte, kann nicht geklärt werden, welche Variable<br />

welche verursacht!<br />

2) Kann nicht ausgeschlossen werden, dass der gefundene Zusammenhang auf den<br />

Einfluss einer dritten Variable (= Kovariable) zurückgeht und dementsprechend<br />

gar nicht kausal ist!<br />

Dass die Anzahl der Kirchen in einer Stadt mit der Anzahl der dort<br />

begangenen Straftaten korreliert, liegt z.B. an der Einwohnerzahl!<br />

Vorteile von Korrelationsstudien:<br />

Korrelationsstudien ermöglichen die Generierung neuer Hypothesen!<br />

Korrelationsstudien können dazu genutzt werden, vorhergesagte<br />

Verursachungen zu wider-legen!<br />

Longitudinal angelegte Korrelationsstudien erlauben durchaus Aussagen über<br />

die Wirkrichtung des Zusammenhangs, schließlich wird die Ursache in ihnen<br />

vor der Wirkung erhoben.<br />

Das gängigste Design sind in diesem Zusammenhang sog. Risikostudien,<br />

bei denen die Pbn nach bestimmten Risikofaktoren ausgewählt - (z.B.<br />

schizophrenes Elternteil) und dann über einen längeren Zeitraum<br />

beobachtet werden.<br />

6.2.3. Das Experiment<br />

Das Experiment erlaubt die Feststellung kausaler Beziehungen zwischen 2 oder mehr<br />

Variablen.<br />

Dazu müssen v.a. folgende Voraussetzungen erfüllt sein:<br />

1) Zufällige Zuteilung (Randomisierung) der Pbn zu den Versuchsgruppen<br />

(Experimentalgruppe und Kontrollgruppe) und Kontrolle von<br />

Störvariablen<br />

2) Manipulation der unabhängigen Variable (UV = angenommene Ursache)<br />

3) Objektive und reliable Messung der abhängigen Variable (AV =<br />

angenommene Wirkung)<br />

Die wichtigsten Schritte bei der Versuchsplanung:<br />

1) Aufstellen einer experimentellen Hypothese<br />

z.B.: „Seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen hat einen positiven Effekt<br />

auf die Gesundheit!“<br />

2) Identifizierung und Operationalisierung der Experimentalvariablen<br />

UV (die Pbn Aufsätze über traumatische Ereignisse oder über<br />

Alltäglichkeiten schreiben lassen)<br />

AV (Anzahl der Besuche des Gesundheitszentrums in den Wochen vor<br />

dem Treatment und den Wochen nach dem Treatment)<br />

3) Beurteilung der Messergebnisse (=> Signifikanztest)<br />

21


Interne- vs. externe Validität:<br />

Interne Validität bedeutet, dass die gefundenen Effekte eindeutig auf die<br />

Manipulation der UV zurückführbar sind. Gewährleistet wird die interne<br />

Validität durch…<br />

Eine Kontrollgruppe, die abgesehen vom Treatment (also der UV) genauso<br />

behandelt wird wie die Experimentalgruppe(n).<br />

In Studien zur Wirksamkeit bestimmter Interventionsmaßnahmen<br />

werden meist Placebo-Kontrollgruppen eingesetzt, da bereits die<br />

Tatsache, dass eine Intervention vorgenommen wird (unabhängig<br />

davon, ob sie eine spezifische Wirkung hat oder nicht!) einen Einfluss<br />

auf den Genesungsprozess hat (was hilft, ist oft schon der<br />

Therapeutenkontakt an sich oder die Hoffnung auf Besserung). Solche<br />

Placebostudien sind freilich ethisch bedenklich und bedürfen einer<br />

vorherigen Einverständniserklärung!<br />

Eine andere Möglichkeit sind Kontrollgruppen, an denen gar keine<br />

Behandlung durchgeführt wird (sog. Wartelisten-Gruppen)<br />

Zufällige Zuordnung zu den besagten Gruppen<br />

Doppel-Blind-Methode (um den Rosenthal-Effekt auszuschließen)<br />

Nur bei Medikamentenstudien einsetzbar, da der Psychotherapeut<br />

schließlich wissen muss, was er tut!<br />

Kontrolle von Störvariablen<br />

Externe Validität bedeutet, dass sich die Ergebnisse einer Untersuchung über<br />

das unmittelbare Experiment hinaus verallgemeinern lassen! Besonders bei<br />

Labor- und Tierexperimenten ist die externe Validität oft fraglich.<br />

Ähnliche Untersuchungen unter neuen Bedingungen mit neuen<br />

Teilnehmern (Replikation)<br />

Feldstudien<br />

In der klinischen Psychologie werden experimentelle Designs v.a. dazu eingesetzt, die<br />

Wirksamkeit von Therapien zu untersuchen! Dabei ist Folgendes zu beachten:<br />

Unterscheidung zwischen Efficacy und Effectiveness:<br />

Efficacy-Studien sind experimentelle Laborstudien (RCT-Studien =<br />

Randomized Controlled Trials); ihr Vorteil besteht darin, dass sie eine hohe<br />

interne Validität aufweisen; ihre externe Validität ist jedoch fraglich!<br />

Effectiveness-Studien sind Feldstudien ohne randomisierte<br />

Gruppenzuteilung und Treatment-Manipulation (=> Post-hoc-Vergleiche).<br />

Ihr Vorteil besteht in der hohen externen Validität, ihre Schwachstelle ist<br />

die interne Validität!<br />

Auftretende Effekte: Verschlechterung, keine Veränderung, spontane<br />

Verbesserung, therapeutische Veränderung!<br />

Unterscheidung zwischen statistischer und klinischer Signifikanz:<br />

Eine statistisch signifikante Veränderung liegt vor, wenn sie mit einer<br />

hohen (meist 95%igen) Wahrscheinlichkeit nicht zufällig aufgetreten ist!<br />

Klinisch signifikant ist eine Veränderung nur dann, wenn sie darüber<br />

hinaus einen klinisch bedeutsamen Unterschied macht. Wenn Depressive<br />

sich nach einer bestimmten Therapie statistisch gesehen besser fühlen, aber<br />

trotzdem noch depressiv sind, ist das z.B. nicht der Fall!<br />

22


6.2.4. Analogie-Experimente<br />

Viele wichtige Fragen, insbesondere was die Ursachen von Störungen betrifft, können<br />

aus ethischen Gründen nicht experimentell untersucht werden!<br />

Beispiele: Wie viel Stress muss induziert werden, damit jemand eine<br />

Schizophrenie entwickelt?! Entwickeln Kinder, mit denen nur wenig<br />

gesprochen wird, eher eine Depression? Etc. etc.<br />

Man versucht sich in diesen Fällen mit sog. Analogieexperimenten zu behelfen;<br />

kennzeichnend für diese Art von Experimenten ist, dass ein verwandtes Phänomen<br />

untersucht wird.<br />

Untersuchung von gesunden Pbn, die einer klinischen Stichprobe ähneln<br />

(weil sie z.B. hohe Werte auf einer Depressionsskala haben)<br />

Tierversuche<br />

Experimentelle Induktion von störungsspezifischen Symptomen: z.B. kann<br />

Angst induziert werden, indem man die Pbn einen Vortrag halten lässt)<br />

Das Problem von Analogieexperimenten ist die externe Validität, also die Frage, ob<br />

die durch sie gewonnenen Ergebnisse tatsächlich generalisierbar sind!<br />

6.2.5. Experimentelle Einzelfalluntersuchung<br />

Bei der experimentellen Einzelfalluntersuchung werden einzelne Pbn verschiedenen<br />

Bedingungen ausgesetzt.<br />

Ein gängiges Vorgehen ist dabei die Umkehrtechnik (ABAB-Versuchsplan):<br />

Dabei folgt 2 Mal hintereinander auf eine Baselineerhebung (A) ein Treatment<br />

(B); ändert sich die AV (z.B. der Depressionsgrad) in Abhängigkeit von der<br />

jeweiligen Untersuchungsphase, spricht das für die Wirksamkeit des<br />

Treatments!<br />

Die experimentelle Einzelfalluntersuchung ist lediglich ein quasi-experimentelles<br />

Design: da es keine Kontrollgruppe gibt und lediglich eine Person untersucht wird<br />

(anstelle einer repräsentativen Stichprobe) ist weder die interne, noch die externe<br />

Validität gesichert. Trotzdem können experimentelle Einzelfalluntersuchungen unter<br />

bestimmten Bedingungen sinnvoll sein:<br />

Vorabuntersuchungen (zur Frage, ob eine größer angelegte Untersuchung sich<br />

überhaupt lohnen könnte)<br />

Kausalzusammenhänge können erschlossen, aber kaum verallgemeinert<br />

werden!<br />

6.2.6. Gemischte Versuchspläne<br />

Gemischte Versuchspläne kombinieren korrelative und experimentelle Methoden; sie<br />

enthalten nämlich sowohl klassifikatorische, als auch experimentelle Variablen;<br />

manipuliert werden können lediglich letztere.<br />

Probanden aus 2 oder mehr diskreten Populationen (z.B. Schizophrene,<br />

Phobiker und Gesunde) werden zu gleichen Teilen den verschiedenen<br />

Versuchsbedingungen (z.B. verschiedenen Therapieformen) zugewiesen.<br />

Nutzen: Gemischte Versuchspläne können zeigen, dass experimentelle Variablen (z.B.<br />

Therapieform) je nach klassifikatorischer Variable (z.B. Krankheitsbild oder<br />

Störungsgrad) unterschiedlich wirken kann!<br />

23


5. Affektive Störungen<br />

5.1. Allgemeine Merkmale affektiver Störungen<br />

5.1.0. Die wichtigsten affektiven Störungen im Überblick<br />

Affektive Störungen sind Störungen der Stimmungslage, die die Betroffenen stark<br />

beeinträchtigen.<br />

Zwei Hauptgruppen affektiver Störungen lassen sich unterscheiden:<br />

1. Depressive Störungen (auch als unipolare Störungen bezeichnet): liegen<br />

vor, wenn nur depressive Symptome auftreten<br />

2. Bipolare affektive Störungen: liegen vor, wenn sowohl depressive als auch<br />

manische, nur manische (sehr selten!) oder gemischte Episoden auftreten<br />

Darüber hinaus lassen sich 2 chronische affektive Störungen unterscheiden:<br />

1. Dysthymie: chronische Depressivität<br />

2. Zyklothymie: Chronischer Wechsel zwischen Phasen mit depressiven und<br />

solchen mit hypomanen Symptomen<br />

Das DSM IV unterscheidet zwischen:<br />

Affektiven Episoden:<br />

1. Episode einer Major Depression (=> minore Depression = subklinisch)<br />

2. Manische Episode<br />

3. Gemischte Episode<br />

4. Hypomane Episode<br />

Depressiven Störungen (monopolare Depression):<br />

1. Major Depression: eine oder mehrere Episoden einer Major Depression<br />

2. Dysthyme Störung: depressive Verstimmung über 2 Jahre, aber keine volle<br />

Major Depression-Episode<br />

Bipolaren Störungen:<br />

1. Bipolare I-Störung: eine oder mehrere manische oder gemischte Episoden,<br />

meist durch depressive Episoden unterbrochen<br />

2. Bipolare II-Störung: eine oder mehrere depressive Episoden, mind. eine<br />

hypomane Episode<br />

3. Zyklothyme Störung: hypomane und depressive Symptome über 2 Jahre,<br />

die nicht die Kriterien eigener Episoden erfüllen<br />

Affektive Störungen nach dem ICD-10:<br />

F 30: Manische Episode<br />

F 31: Bipolare Störung<br />

F 32: Depressive Episode<br />

F 33: Rezidivierende depressive Störung<br />

F 34: Anhaltende affektive Störung<br />

F 38: Sonstige Affektive Störungen<br />

F 39: Andere affektive Störungen NNB<br />

F 43: Anpassungsstörung<br />

F53.0: Postpartum-Depression (in den ersten 4 Wochen nach einer Entbindung)<br />

F 06.3: Organische affektive Störung<br />

Früher unterschied man zw. endogenen- (= „von innen kommenden“); neurotischen-<br />

und reaktiven Depressionen: erstere führte man auf rein biologische Ursachen zurück;<br />

letztere wurden als Reaktion auf aktuell belastende Ereignisse verstanden und die<br />

neurotischen Depressionen (auch als „Erschöpfungsdepression“ bezeichnet) wurden<br />

auf lang anhaltende Belastungen zurückgeführt.<br />

24


5.1.1. Depressive Episoden<br />

Definition: Bei der Depression handelt es sich um einen emotionalen Zustand, der<br />

durch starke Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, Gefühle der Wertlosigkeit und<br />

Schuld, sozialen Rückzug, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, mangelnde Libido sowie<br />

Interessen- und Freudlosigkeit gekennzeichnet ist. Sie tritt in Phasen auf, die<br />

unbehandelt zw. 6 und 8 Monaten andauern, und wird häufig von anderen<br />

psychischen Problemen (Konzentrationsproblemen, sexueller Dysfunktion etc.)<br />

begleitet.<br />

Verhalten/Motorik/Erscheinungsbild:<br />

Körperhaltung: kraftlos, gebeugt<br />

Bewegung: motorische Immobilität (Katatonie) oder ziellose Aktivität<br />

(Agitiertheit), sprich: nervöses Händereiben usw.<br />

Gesichtsausdruck: traurig, besorgt; starre, maskenhafte Mimik usw.<br />

Unfähigkeit, Alltagsprobleme zu bewältigen<br />

Vernachlässigung der Körperhygiene<br />

Affektive Symptome:<br />

Gefühle von Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Schuld,<br />

Einsamkeit etc.<br />

Gefühl der Gefühllosigkeit und Distanz zur Umwelt<br />

Gefühl des Überfordert-Seins<br />

Interessen- und Freudlosigkeit<br />

Kognitive Symptome:<br />

Negatives Selbstbild, Pessimismus etc.<br />

Verlangsamtes Denken, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme,<br />

Entscheidungsprobleme<br />

Z.T. Wahnvorstellungen (Erwartung von Katastrophen usw.)<br />

Motivationale Symptome:<br />

Misserfolgsorientierung; Hilflosigkeit; Antriebslosigkeit<br />

Suizidideen<br />

Physiologisch-vegetative Symptome:<br />

Innere Unruhe und Erregtheit oder Energieverlust<br />

Schlafstörungen<br />

Libidoverlust<br />

Appetit- und Gewichtsverlust<br />

Allg. vegetative Beschwerden (Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen etc.)<br />

Veränderungen der sozialen Interaktion:<br />

Sozialer Rückzug<br />

Zunehmende Abhängigkeit von anderen<br />

Häufigkeit typischer Symptome bei Depression:<br />

Die fünf häufigsten Symptome sind Insomnie (bei 100%), traurige<br />

Verstimmung (bei 100%), Weinerlichkeit (bei 94%),<br />

Konzentrationsschwierigkeiten (bei 91%) und Suizidgedanken (bei 82%!)<br />

Recht selten sind: Selbstmordversuche (bei 15%) und akustische<br />

Halluzinationen (bei 6%)<br />

Morgens ist die depressive Verstimmung i.d.R. schlimmer!<br />

25


Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV: Major Depression, einzelne Episode<br />

Die formale Diagnose einer Major Depression setzt das Vorhandensein einer<br />

depressiven Episode voraus, die mindestens 5 der folgenden Symptome über<br />

mindestens 2 Wochen erfüllt, wobei entweder die depressive Stimmung oder<br />

der Verlust an Interesse und Freude zu den Symptomen gehören muss:<br />

1) Depressive Verstimmung an fast allen Tagen, die meiste Zeit des Tages<br />

!<br />

!<br />

Beachte: kann sich bei Kindern und Jugendlichen auch als reizbare<br />

Verstimmung äußern!<br />

2) Deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen<br />

Aktivitäten<br />

3) Verminderter Appetit und Gewichtsverlust oder gesteigerter Appetit und<br />

Gewichtszunahme<br />

Bei Erwachsenen: mehr als 5% des Körpergewichts in einem Monat!<br />

Bei Kindern: Ausbleiben der zu erwartenden Gewichtszunahme!<br />

4) Schlafstörungen: Schlaflosigkeit (Insomnie) oder (seltener) vermehrter<br />

Schlaf an fast allen Tagen<br />

5) Auffällige (= von anderen beobachtbare) Veränderung des<br />

Aktivitätsniveaus, genauer: psychomotorische Unruhe oder<br />

Verlangsamung<br />

6) Müdigkeit oder Energieverlust an fast allen Tagen<br />

7) Gefühl der Wertlosigkeit und/oder unangemessene (z.T. wahnhafte)<br />

Schuldgefühle an fast allen Tagen<br />

8) Verminderte Denk-, Konzentrations- und Entscheidungsfähigkeit<br />

(entweder nach subjektivem Ermessen oder von anderen beobachtet)<br />

9) Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder einen Suizid<br />

Alle genannten Symptome müssen folgende Voraussetzungen erfüllen:<br />

a) Sie dürfen nicht die Kriterien einer gemischten Episode erfüllen<br />

b) Sie müssen Leiden verursachen und das berufliche oder soziale Leben des<br />

Betroffenen beeinträchtigen<br />

c) Die Symptome dürfen weder auf einen medizinischen Krankheitsfaktor<br />

(z.B. Hypothyreose), noch auf die direkte Wirkung von Substanzen (z.B.<br />

Medikamente oder Drogen) zurückgeführt werden können.<br />

d) Die Symptome dürfen nicht durch einfache Trauer besser erklärt werden<br />

können (dazu müssen sie z.B. nach einem Todesfall über 2 Monate<br />

andauern)<br />

Diagnostische Kriterien nach der ICD-10: Depressive Episode (F 32.X)<br />

Die Dauer einer depressiven Episode muss (genau wie nach dem DSM-IV)<br />

mindestens 2 Wochen betragen.<br />

In dieser Zeit müssen mindestens 2 der folgenden 3 Symptome vorliegen:<br />

1. Depressive Stimmung<br />

2. Interessen- und Freudlosigkeit<br />

3. Verminderter Antrieb oder erhöhte Ermüdbarkeit<br />

Darüber hinaus müssen mehrere weitere Symptome vorliegen:<br />

Die im ICD-10 genannten Symptome entsprechen dabei weitgehend denen<br />

des DSM-IV, mit dem einzigen Unterschied, dass statt neun insgesamt zehn<br />

Symptome genannt werden: Verlust des Selbstwertgefühls und<br />

Schuldgefühle werden nämlich getrennt aufgeführt!<br />

Die ICD-10 unterscheidet im Unterschied zum DSM-IV zwischen…<br />

a) einer leichten depressiven Episode (F 32.0): bei insgesamt 4 Symptomen<br />

b) einer mittelgradigen depressiven Episode (F 32.1): bei 5 Symptomen<br />

c) einer schweren depressiven Episode (F 32.2): bei 7 Symptomen<br />

26


4.1.2. Manische Episoden<br />

Definition: Die Manie ist ein emotionaler Zustand, der durch eine intensive, aber<br />

unbegründete Euphorie, Hyperaktivität, Geschwätzigkeit, Ideenflucht, Ablenkbarkeit,<br />

unrealistische Pläne und ziellose Aktivitäten gekennzeichnet ist. Sie entwickelt sich<br />

meist plötzlich, innerhalb von ein bis zwei Tagen, und kann einige Tage bis mehrere<br />

Monate andauern.<br />

Häufigkeit typischer Symptome bei Manie:<br />

Am häufigsten sind u.a.: Irritierbarkeit (bei 100%), ein übersteigerter<br />

Rededrang (bei 99%), Euphorie (bei 98%), Labilität (bei 95%),<br />

Ideenflucht (bei 93%), Insomnie (bei 90%) und Größenideen (bei 86%)<br />

Etwas seltener, aber immer noch recht häufig, treten u.a. Depressionen (bei<br />

68%), Wahnideen (bei 48%) und eine gesteigerte Libido (bei 32%) auf.<br />

Promiskuität (11%) und Selbstmordgedanken (7%) sind eher selten.<br />

Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV: Manische Episode<br />

Eine mindestens einwöchige (bei Hospitalisierung auch kürzere) abgegrenzte<br />

Periode mit abnorm und anhaltend gehobener, expansiver oder reizbarer<br />

Stimmung.<br />

Während der Periode der Stimmungsveränderung bestehen mindestens 3 (bei<br />

nur reizbarer Stimmung min. 4) der folgenden Symptome in einem deutlichen<br />

Ausmaß:<br />

1. Übersteigertes Selbstwertgefühl oder Größenideen<br />

2. Vermindertes Schlafbedürfnis (nach 3 Stunden ausgeruht)<br />

3. Vermehrte Gesprächigkeit oder Rededrang<br />

4. Ideenflucht oder subjektives Empfinden des Gedankenrasens<br />

5. Erhöhte Ablenkbarkeit<br />

6. Psychomotorische Unruhe oder gesteigerte Betriebsamkeit (im sozialen,<br />

beruflichen oder sexuellen Bereich)<br />

7. Übermäßige Beschäftigung mit angenehmen Aktivitäten, die mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen (z.B.<br />

ungezügeltes Einkaufen, sexuelle Eskapaden, törichte Investitionen etc.)<br />

Alle genannten Symptome müssen folgende Voraussetzungen erfüllen:<br />

a) Sie dürfen nicht die Kriterien einer gemischten Episode erfüllen<br />

b) Sie müssen das berufliche oder soziale Leben des Betroffenen<br />

beeinträchtigen, eine Hospitalisierung erforderlich machen (Selbst- oder<br />

Fremdgefährdung) oder mit psychotischen Symptomen einhergehen.<br />

c) Die Symptome dürfen weder auf einen medizinischen Krankheitsfaktor<br />

(z.B. Hypothyreose), noch auf die direkte Wirkung von Substanzen (z.B.<br />

Drogen, Medikamente) zurückgeführt werden können.<br />

Vorsicht: Manieähnliche Symptome können auch durch somatische<br />

Behandlungen bei Depression (Antidepressiva, Lichttherapie etc.)<br />

hervorgerufen werden!<br />

Diagnostische Kriterien nach der ICD-10: Manische Episode (F 30)<br />

Definition ist dieselbe wie im DSM-IV; ebenso die Anzahl der erforderlichen<br />

Symptome (3 oder 4)<br />

Der einzige Unterschied: Statt 7 Symptomen werden im ICD-10 9 Symptome<br />

genannt:<br />

Verlust normaler sozialer Hemmungen<br />

Gesteigerte sexuelle Energie und sexuelle Taktlosigkeiten<br />

27


4.1.3. Hypomane Episoden<br />

Definition: Bei einer Hypomanie (griech. „hypo“ = „unter“) handelt es sich um eine<br />

Veränderung von Verhalten und Stimmung, die weniger ausgeprägt ist als bei einer<br />

richtigen Manie.<br />

Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV: Hypomane Episode<br />

Über 4 Tage anhaltend gehobene, expansive oder reizbare Stimmung, auffällig<br />

gegenüber normaler Stimmungslage<br />

Vgl. manische Episode: Eine mindestens einwöchige (bei Hospitalisierung<br />

auch kürzere) abgegrenzte Periode mit abnorm und anhaltend gehobener,<br />

expansiver oder reizbarer Stimmung.<br />

Mindestens 3 Symptome einer manischen Episode (s.o.: z.B. Größenideen,<br />

verringertes Schlafbedürfnis etc.) müssen erfüllt sein (genau wie bei der<br />

Manie) – im Unterschied zur Manie sind die Symptome jedoch nicht so stark,<br />

dass es zu Funktionsstörungen kommt, eine Hospitalisierung erforderlich wäre<br />

oder psychotische Symptome auftreten. Die Symptome müssen lediglich für<br />

andere erkennbar sein und dürfen nicht auf die Wirkung einer Substanz oder<br />

eines Krankheitsfaktors zurückgeführt werden können.<br />

Kurz: Der Hauptunterschied zw. Manie und Hypermanie besteht darin, dass<br />

letztere zu einer weniger deutlichen Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens<br />

führt!<br />

4.1.4. Gemische Episoden<br />

Definition: Unter gemischten Episoden versteht man Phasen, in denen sowohl<br />

Symptome der Manie, als auch solche der Depression auftreten – und zwar in kurzem<br />

zeitlichen Abstand.<br />

4.1.5. Depressive Störungen<br />

Major Depression, einzelne Episode:<br />

Vorhandensein einer einzelnen Episode eine Major Depression, wobei diese<br />

Episode keine andere Störung (z.B. eine Schizophrenie oder Psychose)<br />

überlagern darf.<br />

In der im Rahmen der Anamnese erhobenen Vorgeschichte des Patienten darf<br />

keine manische, hypomane oder gemischte Epsiode aufgetreten sein (es sei<br />

denn diese waren substanz-, behandlungs- oder krankheitsbedingt)<br />

Major Depression, rezidivierend (ICD-10: rezidivierende depressive Störung)<br />

Vorhandensein von mindestens zwei Episoden einer Major Depression, wobei<br />

diese Episoden keine andere Störung (z.B. eine Schizophrenie oder Psychose)<br />

überlagern dürfen.<br />

Als eigenständig betrachtet werden depressive Episoden, wenn sie durch<br />

ein mindestens 2-monatiges Intervall ohne gravierende Symptome<br />

voneinander getrennt sind.<br />

Ausschluss von manischen-, hypomanen- oder gemischte Episoden (s.o.).<br />

Dysthyme Störung:<br />

Depressive Verstimmung, die die meiste Zeit des Tages an mehr als der Hälfte<br />

aller Tage über einen mindestens 2-jährigen Zeitraum andauert.<br />

Beachte: Bei Kindern und Jugendlichen kann reizbare Verstimmung<br />

vorliegen und die Daher muss mindestens 1 Jahr betragen!<br />

Während der depressiven Verstimmung müssen mindestens 2 der folgenden<br />

Symptome vorliegen: Gewichtszunahme oder –abnahme, Schlafstörungen,<br />

Energiemangel, geringes Selbstwertgefühl, Konzentrations- und<br />

Entscheidungsschwierigkeiten, Hoffnungslosigkeit etc.<br />

28


Innerhalb der ersten 2 Jahre darf weder eine Unterbrechung von 2 oder mehr<br />

Monaten-, noch eine Major Depression-Episode aufgetreten sein.<br />

Beachte: Vor der Entwicklung einer Dysthymen Störung kann eine MD-<br />

Episode aufgetreten sein, vorausgesetzt es fand eine vollständige<br />

Remission statt; nach den ersten 2 Jahren kann eine Dysthyme Störung<br />

durch MD-Episoden überlagert werden; in diesem Fall können beide<br />

Diagnosen gestellt werden.<br />

Zu keinem Zeitpunkt ist eine manische, hypomane oder gemischte Episode<br />

aufgetreten<br />

Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer chronischen<br />

psychotischen Störung auf!<br />

Sonderformen: Winterdepression (saisonal bedingt); post-partum Depression (nach<br />

der Schwangerschaft); psychotische Depression (Wahnideen und Hallos);<br />

Depressionen mit „somatischen“(ICD-10) bzw. „melancholischen“(DSM-IV)<br />

Merkmalen (bes. hohe Komorbidtät; Appetitlosigkeit; Symptome morgens am<br />

schlimmsten,…)<br />

4.1.6. Bipolare Störungen<br />

Bipolar I-Störung: Eine oder mehrere manische oder gemischte Episoden, meist mit<br />

MD-Episoden<br />

Facts:<br />

In 90% der Fälle rezidiv<br />

Unbehandelt kommt es in 10 Jahren durchschnittlich zu 4 affektiven<br />

Episoden<br />

Nur manische Episoden – ohne MD-Episoden sind äußerst selten<br />

60-70% der manischen Episoden treten unmittelbar vor oder nach einer<br />

MD-Episode auf<br />

Diagnostische Kriterien:<br />

Mindestens eine manische oder gemischte Episode in der Vorgeschichte<br />

Ausschluss einer schizoaffektiven Störung oder Schizophrenie<br />

Bipolar II-Störung: Rezidivierende Episoden einer Major Depression mit hypomanen<br />

Episoden<br />

Diagnostische Kriterien: Eine oder mehrere Episoden einer MD; mindestens<br />

eine hypomane Episode; keine manische oder gemischte Episode; nicht besser<br />

erklärbar durch schizoaffektive Störung oder Schizophrenie<br />

Innerhalb von 5 Jahren geht die Störung in 5-15% aller Fälle in eine Bipolar I-<br />

Störung über!<br />

Zyklothyme Störung: Über 2 Jahre hypomane und depressive Symptome, die jeweils<br />

nicht die Kriterien einer handfesten Episode erfüllen.<br />

Diagnostische Kriterien: Über min. 2 Jahre zahlreiche Perioden mit<br />

hypomanen und depressiven Symptomen; aber keine Unterbrechung von 2<br />

oder mehr Monaten und keine manische, gemischte oder Major-Depression-<br />

Episode, keine schizoaffektive Störung oder Schizophrenie etc.<br />

In 15-50% der Fälle geht eine zyklothyme Störung in eine bipolare über!<br />

29


4.1.7. Differentialdiagnose<br />

Differentialdiagnostisch müssen v.a. ausgeschlossen bzw. berücksichtigt werden:<br />

Organische Ursachen (Schilddrüsenunterfunktion, Eisenmangel etc.)<br />

Substanzinduzierte Störungen<br />

Andere affektive Störungen (Dysthymia, bipolare Störung,<br />

Anpassungsstörung…)<br />

Wichtig, weil die versch. Arten von Depressionen unterschiedlich<br />

behandelt werden müssen!<br />

Bei Wahnvorstellungen eine schizophrene oder schizoaffektive Störung<br />

4.2. Epidemiologie und Verlauf<br />

4.2.1. Major Depression<br />

Die Major Depression ist die am weitesten verbreitete affektive Störung; Frauen<br />

sind dabei rund doppelt so häufig von ihr betroffen wie Männer (2:1).<br />

Die Lebenszeitprävalenz liegt zw. 13 und 21%; sie ist in den letzten 50 Jahren<br />

kontinuierlich angestiegen!<br />

Bei Frauen: 10-25% [20-26%]<br />

Bei Männern: 5-12%<br />

Die Punktprävalenz:<br />

Bei Frauen: 5-9%<br />

Bei Männern: 2-3%<br />

Die Inzidenz liegt bei 2% (pro Jahr 2 Neuerkrankungen auf 100 Personen)<br />

Nach der „Burden of Disease“ - Studie der WHO (2001) ist die unipolare<br />

Depression in den Industrieländern die häufigste Ursache für mit<br />

Beeinträchtigung gelebte Lebensjahre; weitaus häufiger als z.B. Demenzen,<br />

Diabetes oder altersbedingte Sehschwächen.<br />

Es kann davon ausgegangen werden, dass in Deutschland ca. 4 Mio.<br />

Menschen an Depressionen leiden, davon sind zwar rund 60-70% in<br />

hausärztlicher Behandlung, nur bei wenigen wird die Depression jedoch<br />

erkannt und adäquat behandelt.<br />

Durch eine bessere Kooperation mit den Hausärzten und entsprechende<br />

Fortbildungen könnte die Versorgung demnach erheblich verbessert<br />

werden (großer Optimierungsspielraum)!<br />

Populationsspezifische Unterschiede in der Prävalenz:<br />

Geschlechtsunterschiede: Das Verhältnis Frauen-Männer ist ca. 2:1 (s.o.); ein<br />

weiterer Unterschied besteht darin, dass das Erkrankungsrisiko bei Frauen nach<br />

45 (Wechseljahre etc.) noch einmal massiv zunimmt, während es bei Männern<br />

ab 40 kontinuierlich abnimmt!<br />

Kohortenunterschiede: Vor 40 Jahren lag das Durchschnittsalter bei<br />

Erkrankungsbeginn zwischen 29 und 30 Jahren; heute liegt es bei Mitte 20!<br />

Während die Suizidrate bei älteren Menschen (über 65) seit 1930 im<br />

Sinken begriffen ist, ist die Jugendlicher (15-24) seit den 60ern im Steigen<br />

begriffen (trotzdem ist erstere allerdings nach wie vor höher: s.u.)<br />

Die Prävalenz steigt nach der Pubertät von ca. 3% auf 6,4% an!<br />

Bei Künstlern und Schriftstellern ist die Prävalenz affektiver Störungen um<br />

ein Vielfaches höher als in der Normalpopulation!<br />

Nach den DSM-IV besteht keine Korrelation zwischen Major Depression und<br />

ethnischen Gruppen, Bildungsgrad, Einkommen oder Familienstand.<br />

Bei Verwandten ersten Grades ist die Prävalenz massiv erhöht (s.o.)<br />

30


Verlauf:<br />

Den ersten Episoden einer Major Depression gehen häufig psychosoziale<br />

Belastungsfaktoren voraus (z.B. der Tod eines Angehörigen).<br />

Depressionen haben eine sehr hohe Komorbiditätsrate: In 77% aller Fälle liegt<br />

mindestens eine weitere Diagnose vor; am häufigsten sind: Angststörungen,<br />

substanzinduzierte Abhängigkeiten und somatoforme Störungen<br />

2/3 der Patienten (50-65%) remittieren vollständig, 1/3 nur z.T. oder gar<br />

nicht<br />

Bei 10-20% chronischer Verlauf (> 2 Jahre)!<br />

Die erste Remissionsphase dauert ca. 2 Jahre, wird aber im Krankheitsverlauf<br />

kürzer.<br />

50%-60% der Patienten haben nach einer ersten eine zweite MD-Episode, nach<br />

2 Episoden sind es bereits 70%, nach 3 Episoden 90%!<br />

Je mehr Episoden erlebt werden, desto höher ist also die<br />

Wahrscheinlichkeit weiterer Episoden!<br />

Hohe Mortalitätsrate: 15% der Erkrankten begehen Suizid!<br />

4.2.2. Die übrigen affektiven Störungen<br />

Dysthymie:<br />

Lebenszeitprävalenz: 2-4%<br />

Verhältnis Frauen-Männer: zw. 3:2 und 2:1<br />

Übliches Alter bei Beginn: 10-25 Jahre<br />

Bipolare Störung:<br />

Lebenszeitprävalenz: 0,6- 3,3%<br />

Bei Störungstyp I im Allgemeinen etwas höher als bei Typ II<br />

Verhältnis Frauen-Männer: 1:1<br />

Übliches Alter bei Beginn: 15-44 Jahre<br />

Verlauf: In 90% der Fälle rezidiv<br />

Zyklothymie:<br />

Niedrigste Prävalenz; Geschlechterverhältnis: 1:1; übliches Alter bei Beginn:<br />

15-25 Jahre<br />

4.3. Biologische Ätiologiefaktoren<br />

4.3.1. Genetische Faktoren<br />

Diverse Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen, dass genetische Faktoren<br />

bei der Entstehung affektiver Störungen eine nicht unerhebliche Rolle spielen.<br />

Familienstudien:<br />

Lebenszeitprävalenz ohne genetische Vorbelastung:<br />

Bipolare Störung: 0,8%<br />

Unipolare Depression: 5,4%<br />

Lebenszeitprävalenz bei Personen, die einen Verwandten ersten Grades mit<br />

bipolarer Störung haben:<br />

Bipolare Störung: 6% (rund 6 Mal höher!)<br />

Unipolare Depression: 12%<br />

* Bemerkenswert: Auch Verwandte von Patienten mit bipolarer Störung<br />

haben häufiger unipolare Depressionen als bipolare Störungen!<br />

Lebenszeitprävalenz bei Personen, die einen Verwandten ersten Grades mit<br />

unipolarer Depression haben:<br />

Bipolare Störung: 2,6%<br />

Unipolare Depression: 15% (knapp 3 Mal so hoch!)<br />

31


Zwillingsstudien:<br />

Die Konkordanzrate der bipolaren Störung ist bei eineiigen Zwillingen<br />

deutlich höher (72-79%) als bei zweieiigen (14-19%), was ein klarer Hinweis<br />

auf eine genetische Komponente ist!<br />

Dasselbe gilt, wenn auch in weitaus schwächerem Maße, für die unipolare<br />

Depression: Auch hier sind die Konkordanzraten eineiiger Zwillinge (25-50%)<br />

höher als die zweieiiger Zwillinge (11-40%)<br />

Untersuchungen nach dem Diathese-Stress-Modell:<br />

Kendler et al. (1995): Die genetische Disposition für eine Major Depression<br />

kommt nur dann zum Tragen, wenn „Stressful Life Events“ hinzukommen.<br />

Nur dann ist das Risiko vorbelasteter Zwillinge nämlich deutlich erhöht!<br />

Caspi et al. (2003): Ein Transportergen für Serotonin, das in zwei<br />

Ausprägungen (=Allelen) auftritt, nämlich einer kurzen und einer langen Form,<br />

hat sich als genetischer Vulnerabilitätsfaktor für Depression erwiesen.<br />

Homozygote Träger des kurzen Allels (s/s) reagieren nämlich empfindsamer<br />

auf psychosoziale Stressbelastungen und haben damit nach schweren „Lifeevents“<br />

(z.B. einer Misshandlung zw. 3 und 11 Jahren) ein bis zu doppelt so<br />

großes Risiko, an einer Depression zu erkranken, wie die homozygoten Träger<br />

des langen Allels (l/l).<br />

Wahrscheinlichkeit, nach einer Misshandlung zw. 3 und 11 Jahren an einer<br />

Depression zu erkranken: s/s (65%); s/l (45%); l/l (30%)<br />

4.3.2. Biochemische Faktoren<br />

Die Noradrenalin- und die Serotonintheorie (auch „Monoaminmangel-Hypothese“<br />

genannt) wurden in den 50er Jahren aufgrund der Wirksamkeit von bestimmten<br />

Medikamenten (s.u.) entwickelt.<br />

Die Serotonintheorie besagt, dass ein niedriger Serotoninspiegel Depression<br />

verursacht.<br />

Die Noradrenalintheorie besagt, dass ein zu niedriger Noradrenalinspiegel<br />

zu Depression, ein zu hoher zu Manie führt.<br />

Befunde, die für die Monoaminmangel-Hypothese sprechen:<br />

Die depressionslindernde Wirkung folgender Medikamente und Drogen<br />

spricht für die Bedeutsamkeit von Serotonin und Noradrenalin:<br />

Trizyklika (z.B. Imipramin, Handelsname: Tofranil) hemmen die<br />

Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin (Re-Uptake-Hemmer),<br />

so dass mehr Neurotransmitter im synaptischen Spalt zurückbleiben und<br />

die Transmission des jeweils folgenden Nervenimpulses erleichtert wird.<br />

Monoaminoxidase-Hemmer (z.B. Iproniazid): hemmen das Enzym<br />

Monoamionoxidase (MAO) und verhindern so den Abbau des<br />

wiederaufgenommenen Serotonins und Noradrenalins.<br />

Spezifische Serotonin-Reuptake-Hemmer, kurz: SSRIs (z.B. Fluoxetin,<br />

Handelsname: Fluctin) wirken selektiver und verhindern speziell die<br />

Wiederaufnahme von Serotonin.<br />

Amphetamine und Kokain: Erstere erhöhen die Ausschüttung von<br />

Noradrenalin und Dopamin, letzteres hemmt deren Wiederaufnahme.<br />

Die depressionsfördernde Wirkung folgender Substanzen weist unter<br />

umgekehrten Vorzeichen in dieselbe Richtung:<br />

AMPT (α-Methyl-p-Tyrosin) hemmt die Umwandlung von Tyrosin zu<br />

Dopa und blockiert damit die Synthese von Noradrenalin. Bei rund 70%<br />

remittierter Patienten führt die Gabe von AMPT zu einem Rückfall in die<br />

32


Depression; verabreicht man ein Placebo, sind es dagegen nicht einmal<br />

10%, die einen Rückfall erleiden!<br />

Durch die Gabe von Reserpin, das die Speicherung von Serotonin und<br />

Noradrenalin in Vesikeln hemmt, kann eine Depression induziert werden.<br />

Messungen der Transmitter- bzw. Metabolitenkonzentration im Urin, im<br />

Blut oder der zerebrospinalen Flüssigkeit (Problem der Validität: Da<br />

Neurotransmitter im ganzen Organismus eingesetzt werden, Serotonin z.B. v.a.<br />

im Darm, geben solche Messungen nicht unmittelbar die<br />

Transmitterkonzentration im Gehirn wieder).<br />

Der Noradrenalinspiegel im Urin nimmt bei bipolaren Patienten während<br />

depressiver Phasen ab und während manischer Phasen zu. Dasselbe gilt für<br />

die Konzentration der Metaboliten, von denen der wichtigste 3-Methoxy-4-<br />

Hydroxyphenyl-Glykol (MHPG) ist!<br />

* Problem: Die erhöhte Konzentration von Noradrenalin (Metaboliten)<br />

während manischer Phasen könnte auch auf die erhöhte motorische<br />

Aktivität während solcher Phasen zurückzuführen sein! Der<br />

Zusammenhang zw. Noradrenalinspiegel und Depression bzw. Manie<br />

darf also nicht vorschnell kausal interpretiert werden!<br />

Um den Serotoninspiegel zu bestimmen, misst man einen seiner<br />

Hauptmetaboliten, die 5-Hdroxyindolessigsäure (5-HIAA); diese sind in<br />

der Zerebrospinalflüssigkeit von Depressiven deutlich reduziert.<br />

„Tryptophandepletionstest“: L-Tryptophan ist ein Serotoninvorläufer und<br />

wirkt depressionslindernd. L-Tryptophan-arme Ernährung führt bei<br />

Depressiven zu einer Verschlimmerung der Symptome und bei symptomfreien,<br />

aber genetisch vorbelasteten Personen (depressive Verwandte) zu einer<br />

Stimmungsverschlechterung. Bei unbelasteten Personen hat die Diät keinen<br />

Effekt.<br />

Neuere Einwände gegen die Serotonin- und Noradrenalintheorie:<br />

1. MAO-Hemmer und Trizyklika erhöhen den NA- und Serotonin-Spiegel nur<br />

während der ersten Tage; ihre depressionslindernde Wirkung setzt jedoch erst<br />

nach 7-14 Tagen ein, also zu einem Zeitpunkt, zu dem der Transmitter-Spiegel<br />

sich schon wieder auf sein ursprüngliches Niveau eingependelt hat!<br />

2. Neuere Antidepressiva (wie z.B. Lithium) wirken auch ohne direkte<br />

Einwirkung auf NA und Serotonin (s.u.).<br />

Ergo: Ein einfacher Anstieg des Noradrenalin- oder Serotoninspiegels ist keine<br />

hinreichende Erklärung dafür, warum die Medikamente Depression lindern!<br />

Aktuelle Forschung: Aufgrund der genannten Einwände konzentriert sich die neuere<br />

Forschung v.a. auf postsynaptische Prozesse. Vermutet wird, dass die Antidepressiva<br />

postsynaptisch wirken, indem sie a) die Sensibilität der Rezeptoren verändern, b) ihre<br />

Anzahl vergrößern oder c) die postsynaptische Transmission modulieren.<br />

Zu c: Die Wirkung von Lithium, das sowohl in manischen als auch in<br />

depressiven Episoden hilft, wird z.B. darauf zurückgeführt, dass es auf G-<br />

Proteine einwirkt. Letztere bestehen aus einer α-, β-, und γ-Untereinheit. Nach<br />

dem Andocken eines Transmitters an einen metabotropen Rezeptor (kein<br />

Ionenkanal => indirektes Gating), bindet dieser Rezeptor an der Innenseite der<br />

postsynaptischen Membran ein solches G-Protein; die α-Einheit des G-Proteins<br />

wird abgespalten und öffnet entweder direkt einen in der Nähe befindlichen<br />

Ionenkanal oder indirekt über ein Effektorprotein und die Aktivierung eines<br />

second messenger.<br />

Bei Patienten mit Manie wurden große Mengen an G-Proteinen-, bei<br />

Patienten mit Depression geringe Mengen davon festgestellt.<br />

33


4.3.3. Neuroendokrine (=hormonelle) Faktoren<br />

Einschub: Basics zum hormonellen System<br />

Die endokrine Übertragung ist der klassische Weg der hormonellen Übertragung:<br />

Endokrine Zellen (die sich meist in Hormondrüsen befinden), schütten Hormone aus,<br />

die ihrerseits über die Blutbahn zu den z.T. weit entfernten Empfängerzellen<br />

gelangen, wo sie verschiedene biologische Prozesse auslösen (Proteinproduktion...)<br />

Andere hormonelle Übertragungswege sind die autokrine und die parakrine<br />

Übertragung: Bei ersterer sind Sender- und Empfängerzelle identisch, bei<br />

letzterer liegen sie nebeneinander.<br />

Der Hypothalamus (im Zwischenhirn gelegen) und die Hypophyse (daran<br />

angeschlossen) bilden das Zentrum des endokrinen Systems.<br />

Der Hypothalamus bildet die Schnittstelle zwischen neuronalem und<br />

endokrinem System und ist das Steuerungsorgan der Hormonproduktion.<br />

Durch die Ausschüttung von Inhibiting- oder Releasing-Hormonen<br />

reguliert der Hypothalamus die Hormonproduktion der Adenohypophyse<br />

(Hypophysenvorderlappen); durch die Versorgung mit Oxytocin und<br />

Vasopressin die Hormonausschüttung der Neurohypophyse (Hypophysenhinterlappen).<br />

Reguliert wird die Aktivität des Hypothalamus dabei v.a. vom limbischen<br />

System, aber auch v. höheren Gehirnzentren, Zeitgebern, dem Feedback…<br />

Die Hypophyse ist das Ausführungsorgan des Hypothalamus:<br />

Die Adenohypophyse segregiert in Abhängigkeit von den „Befehlen“ des<br />

Hypothalamus glandotrope Hormone, die die Produktion in anderen Drüsen<br />

(s.u.) anregen, und effektorische Hormone, die direkt am Zielorgan wirken<br />

(z.B. das Wachstumshormon)<br />

Die Neurohypophyse schüttet das vom Hypothalamus erhaltene<br />

Vasopressin und Oxytocin aus.<br />

Die wichtigsten Hormondrüsen und<br />

34


Einschub: Basics zum hormonellen System<br />

Die wichtigsten Hormondrüsen (neben der Hypophyse) sind: die Schilddrüse<br />

(unterhalb des Kehlkopfs), die Bauchspeicheldrüse, das Nebennierenmark, die<br />

Nebennierenrinde und die Keimdrüsen (Eierstöcke bzw. Hoden); sie produzieren<br />

jeweils unterschiedliche Hormone und werden zum größten Teil durch die<br />

glandotropen Hormone der Adenohypophyse gesteuert.<br />

Die Bauchspeicheldrüse produziert Insulin und Glucagon und reguliert auf diese<br />

Weise den Blutzuckerspiegel.<br />

Das Nebennierenmark schüttet z.B. in Stresssituationen kurzfristig Adrenalin und<br />

Noradrenalin in die Blutbahn aus, was zu einer Funktionssteigerung verschiedener<br />

innerer Organe führt (=> Erhöhung der Herzfrequenz, Erweiterung der Bronchien<br />

etc.); reguliert wird die Hormonausschüttung des Nebennierenmarks durch den<br />

sympathischen Teil des autonomen Nervensystems.<br />

Die Nebennierenrinde (!) schüttet Glukokortikoide (v.a. Kortisol) aus, die<br />

einerseits für zirkadiane Regulationsmechanismen (wie z.B. die morgendliche<br />

Aktivierung nach dem Aufwachen), andererseits in psychischen und physischen<br />

Stresssituationen für die Energiebereitstellung (Glukose = Zucker)<br />

verantwortlich sind. Reguliert wird die Nebennierenrinde durch die<br />

Adenohypophyse (s.u.).<br />

Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (kurz: „HPA-Achse“):<br />

ist ein Regelkreis, der v.a. langfristigen Stressreaktionen zugrundeliegt.<br />

CRH (Cortikotropin-<br />

Releasing-Hormon) CRH<br />

Stressor<br />

limbisches System<br />

Hypothalamus<br />

Adenohypohyse Cortisol: hemmt die CRH-Ausschüttung<br />

Nebennierenrinde<br />

Glukokortikoide fördern den Abbau von Glykogen (Stärke) aus der Leber und die<br />

Bildung von Glukose (Zucker) aus Fett und Proteinen; sie dienen damit der<br />

Bereitstellung von Energie. Ist der Kortisolspiegel jedoch über längere Zeit erhöht, hat<br />

das diverse Nebenwirkungen:<br />

Immunsuppression (Schwächung des Immunsystems); Schädigung der<br />

Serotonin- und noradrenergen Rezeptoren (=> depressive Verstimmungen;<br />

Beeinträchtigung des Gedächtnisses); Schlafstörungen etc.<br />

Es muss zwischen einer kurzfristigen und einer langfristigen (auf chronischen Stress<br />

folgenden) Stressreaktion unterschieden werden:<br />

Kurzfristige Stressreaktion: Stressor Gehirn Sympathisches Nervensystem<br />

Nebennierenmark Noradrenalin und Adrenalin<br />

Längerfristige Stressreaktion: Stressor Gehirn Hypophysenvorderlappen<br />

Nebennierenrinde Glukokortikoide (insbes. Kortisol)<br />

<br />

ACTH<br />

(Adrenocortikotropin)<br />

(=negative Rückkopplung)<br />

35


Verschiedene Befunde legen nahe, dass die HPA-Achse bei Depression überaktiv ist:<br />

1) Die vegetativen Symptome einer Depression (Appetit- und Schlafstörungen)<br />

könnten durch eine solche Überaktivität bedingt sein.<br />

2) Tatsächlich zeigt sich, dass depressive Patienten einen erhöhten<br />

<br />

Kortisolspiegel aufweisen.<br />

Die Veränderung des Kortisolspiegels über den Tag hinweg ist zwar bei<br />

Depressiven und Gesunden im Großen und Ganzen recht ähnlich<br />

(Höhepunkt zw. 6:00 und 10:00; mehr oder minder stetiger Abfall bis<br />

02:00), unterliegt bei Depressiven aber größeren Schwankungen.<br />

3) Das sog. Cushing-Syndrom, das durch ein abnormes Wachstum der<br />

Nebennierenrinde und einen erhöhten Kortisolspiegel gekennzeichnet ist, geht<br />

häufig mit Depression einher.<br />

4) Der erhöhte Kortisolspiegel bei Depressiven kann mit deren Monoaminmangel<br />

(s.o.) in Zusammenhang stehen. Eine übermäßige Sekretion von Kortisol kann<br />

nämlich sowohl die Dichte der Serotonin-Rezeptoren reduzieren, als auch die<br />

Funktion der noradrenergen Rezeptoren beeinträchtigen.<br />

5) Depressive Patienten mit besonders erhöhtem Kortisolspiegel scheinen häufiger<br />

Suizid zu begehen.<br />

6) Der Dexamethason-Suppressionstest (DST): s.u.<br />

Der Dexamethason-Suppressionstest (DST) ist ein biologischer Test für<br />

Depression.<br />

Dexamethason (DXM) wirkt auf den Hypothalamus wie Kortisol und reduziert<br />

so (durch negative Rückkopplung) die Ausschüttung von CRH. Normalerweise<br />

wird durch Dexamethason die Kortisolsekretion also unterdrückt. Bei manchen<br />

Depressiven tritt eine solche Suppression jedoch nur kurzfristig oder gar nicht<br />

auf. Erklärt wird dieser Effekt mit der Überaktivität der HPA-Achse. Nach<br />

einer depressiven Episode verschwindet er wieder.<br />

Studie von Salmon: Salmon verabreichte Depressiven und einer nichtdepressiven<br />

Kontrollgruppe um 23:00 Uhr Dexamethason und erhob in den<br />

folgenden 24 h die Entwicklung des Kortisolspiegels.<br />

Ergebnis: Während der Kortisolspiegel in der Kontrollgruppe bis 15h<br />

stark, danach schwach abfiel, fiel er bei den Depressiven nur bis 7:00 Uhr<br />

morgens ab, und stieg danach (zumindest bis 15:00 Uhr) erneut an.<br />

Cortikotropin-Releasing Faktor (CFT)-Theorie (von Nemeroff et al.):<br />

Der erhöhte Cortisolspiegel bei Depressiven ist durch eine übermäßige<br />

Ausschüttung des Cortikotropin-Releasing-Hormons bedingt.<br />

Der CRH-Spiegel ist in der Zerebrospinalflüssigkeit von Depressiven<br />

erhöht; bei Therapie normalisiert sich dieser Spiegel.<br />

Postmortem wurde bei Depressiven eine erhöhte Anzahl CRHproduzierender<br />

Neuronen beobachtet.<br />

CRH-Infusion ins Gehirn bedingt bei Ratten „depressive“ Symptome<br />

(Gewichtsverlust, Insomnie, Angst, reduzierte Libido)<br />

Eine CRH-Übersekretion ist auf frühe Traumata zurückzuführen (z.B.<br />

sexuellen Missbrauch in der Kindheit), bei vulnerablen Personen kann später<br />

auch bei mildem Stress eine Depression entstehen.<br />

Ein Stress-Diathese-Modell (Früher Stress kann eine Diathese<br />

<br />

hervorrufen!)<br />

Zusammenfassung: Die bei Depressionen beschriebene Dysregulation der HPA-Achse<br />

zeigt sich: a) in einer erhöhten basalen Sekretion von CRH, ACTH und Cortisol, b) in<br />

einer verminderten Suppression von Cortisol im Dexamethason-Suppressionstest und<br />

c) in einer verminderten ACTH-Sekretion nach Gabe von CRH (=CRF).<br />

36


4.3.4. Schlaf<br />

Einschub: Basics zum Schlaf-Wach-Rhythmus<br />

3 Arten von biologischen Rhythmen lassen sich unterscheiden:<br />

A) Circadiane Rhythmen: Periodenlänge ca. 24 h<br />

Z.B. Schlaf-Wach-Rhythmus (ca. 25 h); wird v.a. durch den Nucleus<br />

Suprachiasmaticus (SCN) im vorderen Teil des Hypothalamus gesteuert,<br />

der v.a. auf Licht reagiert und so die nächtliche Melatoninausschüttung der<br />

Epiphyse (Zirbeldrüse) reguliert<br />

B) Ultradiane Rhythmen: Periodenlänge deutlich kürzer als 24 h<br />

Z.B. der Wechsel von Tiefschlaf- (Slow-Wave-Sleep) und REM-Phasen<br />

(ca. 90 Minuten)<br />

C) Infradiane Rhythmen: Periodenlänge deutlich länger als 24 h<br />

Z.B. der monatliche Menstruationszyklus (rund 28 Tage)<br />

Die verschiedenen Schlafstadien:<br />

Anhand von EEG-Messungen lassen sich insgesamt 4 Schlafstadien<br />

unterscheiden:<br />

Wachzustand: alternierende Alpha- und Beta-Wellen<br />

Stadium 2 ist durch schnelle und niedrigamplitudige Aktivität<br />

gekennzeichnet und nimmt über 50% des Gesamtschlafs ein (v.a. in den<br />

letzten REM-NonREM-Zyklen stark vertreten)<br />

Stadium 3 und 4 sind durch langsame (niedrigfrequente) und<br />

hochamplitudige Delta-Wellen gekennzeichnet und bilden die<br />

Tiefschlafstadien (v.a. in der ersten Hälfte der Nacht).<br />

Die REM-Phasen sind, was das EEG betrifft, der ersten Phase sehr ähnlich<br />

(schnelle und niedrigamplitudige Beta- und Gamma-Aktivität)<br />

Besonderheiten der REM-Phasen: Schnelle Augenbewegungen, Muskelatonie<br />

(steht im Kontrast zur regen Hirnaktivität, weshalb der REM-Schlaf auch als<br />

„paradoxer Schlaf“ bezeichnet wird), verstärkte Genitaldurchblutung, lebendige<br />

Träume<br />

Wichtig für die Konsolidierung von Gelerntem!<br />

Eine REM-Non-REM-Periode dauert im Schnitt 90 Minuten; die REM-Phasen<br />

werden dabei mit fortschreitender Nacht länger (von 5-10 Minuten in der ersten<br />

bis zu 22 Minuten in der letzten Periode); der durchschnittliche Anteil der REM-<br />

Phasen am Gesamtschlaf beträgt ca. 17 bis 24%<br />

Die Regulation der verschiedenen Schlafstadien erfolgt über sog. REM-on- und<br />

REM-off-Neurone.<br />

Die REM-on-Neurone liegen v.a. im Pons und sind cholinerg, sprich: der von<br />

ihnen freigesetzte Transmitter ist Acetylcholin (ACh); ihre Funktion besteht<br />

darin, den REM-Schlaf auszulösen und zu erhalten.<br />

Die REM-off-Neurone sind aminerg und liegen im Nucleus raphé (Serotonin)<br />

und Nucleus Coeruleus (Noradrenalin)<br />

Serotonin hemmt die Aktivität der REM-on-Neurone und löst damit<br />

Tiefschlafphasen (SWS) aus.<br />

Noradrenalin hemmt ebenfalls die Aktivität der REM-on-Zellen und wirkt<br />

darüber hinaus aktivierend auf das Vorderhin (=> fördert Wachheit)<br />

<br />

37


Depressive zeigen (bedingt durch den Mangel an Serotonin und Noradrenalin) eine<br />

Vorverlagerung und Verlängerung der REM-Phasen sowie eine erhöhte<br />

Augenbewegungsdichte (REM-Intensität)<br />

Die aminerge Hemmung ist reduziert; die cholinerge Stimulation erhöht!<br />

Schlafentzug wirkt bei 60-70% der Depressiven depressionsmildernd!<br />

Wirkmechanismus: Nucleus Raphé setzt Serotonin frei, um SWS einzuleiten!<br />

Wird im therapeutischen Rahmen nur sehr selten eingesetzt; Ziel ist ein<br />

kurzfristiges Durchbrechen schwerer Depressionen!<br />

4.3.5. Neuroanatomische Faktoren<br />

Mehrere Befunde sprechen dafür, dass die rechte Hemisphäre (genauer: der rechte<br />

Präfrontalkortex) bei der Verarbeitung und Generierung von Emotionen dominant ist:<br />

Das emotionale Ausdrucksverhalten (Mimik) beginnt linksseitig und ist dort<br />

auch deutlicher als rechts.<br />

Die Wahrnehmung und Nachahmung emotionaler Gesichtsausdrücke und<br />

Sprachäußerungen (Prosodie) ist nach rechtshemisphärischen Läsionen<br />

häufiger gestört als nach linkshemisphärischen.<br />

Trotzdem ist auch die linke Hemisphäre an der Emotionsverarbeitung beteiligt.<br />

Depressionen gehen häufig mit Läsionen im linken Frontallappen einher;<br />

Manien mit Läsionen im rechten Orbitofrontal- und Temporallappen.<br />

Davidsons Konzept der frontalen Asymmetrie des Kortex nimmt einer genauere<br />

Differenzierung der Hemisphären vor: Im linken Präfontalkortex werden nach<br />

Davidson eher positive Emotionen generiert (Annäherungssystem); im rechten<br />

dagegen eher negative (Vermeidungs- und Rückzugssystem).<br />

Vorgehen: Davidson induzierte positiven bzw. negativen Affekt, indem er Pbn<br />

entsprechende Videos präsentierte oder sie entsprechende Gesichtsausdrücke<br />

aufsetzen ließ. Parallel dazu leitete er ein Spontan-EEG ab und interpretierte<br />

die Alpha-Reduktion in den jeweiligen Regionen als Maß für deren<br />

Aktivierung.<br />

Alpha-Wellen überwiegen im entspannten Wachzustand (etwa bei<br />

geschlossenen Augen), Beta-Wellen überwiegen, wenn mentale oder<br />

körperliche Aktivität vorliegt.<br />

Ergebnis: Ob die Aktivierung im rechten oder linken Präfrontalkortex größer<br />

ist, hängt ab von: der Stimmung, der generellen Verhaltenstendenz („Affective<br />

Style“) und den präsentierten Stimuli.<br />

Ist die Aktivierung rechts stärker (geringere Alpha-Power),…<br />

liegt ein negativer Affekt vor<br />

ist die negative Reaktion auf einen unangenehmen Filmausschnitt<br />

intensiver (Vermeidungsverhalten, negativer Affekt)<br />

haben die betroffenen Pbn höhere Depressions-Werte nach dem „Beck<br />

Depression Inventory“ (BDI)<br />

Ist die Aktivierung links stärker (geringere Alpha-Power), ist es genau<br />

umgekehrt: positiver Affekt (z.B. bei echtem Lächeln); stärkere Tendenz zu<br />

Annäherungsverhalten usw.<br />

38


4.4. Psychologische Ätiologiefaktoren<br />

4.4.1. Kritische Lebensereignisse („Life-Events“) und Stress<br />

Depressive Episoden werden am besten vorhergesagt durch:<br />

Eine vorhergehende Episode<br />

Eine genetische (familiäre) Prädisposition<br />

Mehrere Studien haben jedoch gezeigt, dass auch kritische Lebensereignisse (sog.<br />

„Life-Events“) die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Episode erhöhen.<br />

Pionierarbeit haben in diesem Zusammenhang Brown & Harris geleistet:<br />

Im Zuge einer Längsschnittstudie (Anfang der 80er) befragten sie z.B.<br />

Arbeiterfrauen aus Islington (Londoner Stadtbezirk) sowohl zu ihrem<br />

psychischen Befinden, als auch zu kritischen Lebensereignissen (LEDS: „Life<br />

Events and Difficulty Shedule“) und untersuchten, inwiefern das Auftreten<br />

einer Depression durch letztere vorhergesagt werden kann.<br />

Die wichtigsten Ergebnisse der „Islington-Studie“:<br />

Den meisten Manifestationen einer Depression gehen „Auslöser“ („provoking<br />

agents“) voraus: entweder ein schwerwiegendes bedrohliches Ereignis, das<br />

noch 10-14 Tage später präsent ist (z.B. Krankheit) oder eine größere<br />

Schwierigkeit von mind. 2-jähriger Dauer (z.B. Beziehungsprobleme).<br />

Von den 130 befragten Frauen hatten insgesamt 22% im<br />

Untersuchungszeitraum (1 Jahr) eine depressive Episode. Nahm man nur<br />

die Frauen, die mindestens ein schwerwiegendes Ereignis in einem Bereich<br />

ausgeprägten Engagements erlebt hatten, in den Blick, erhöhte sich dieser<br />

Anteil auf 40%. Von den Frauen, die so ein „Life Event“ nicht hatten,<br />

erlitten dagegen nur 14% eine depressive Episode.<br />

Ein schwerwiegendes „Life-Event“ scheint jedoch nur dann zu einer<br />

Depression zu führen, wenn ein zusätzlicher psychosozialer<br />

Vulnerabilitätsfaktor vorliegt: Fehlendes Vertrauen in der Kernbeziehung;<br />

mehr als 3 Kinder unter 14; Verlust der Mutter vor dem 11. Lebensjahr etc.<br />

Darüber hinaus haben Anzahl und Art der „Life-Events“ einen Einfluss auf<br />

die Depressionsrate.<br />

Je mehr kritische Lebensereignisse auftreten, desto höher die<br />

Wahrscheinlichkeit einer Depression.<br />

Demütigende Erfahrungen (Misserfolg, Missbrauch etc.) bergen dabei das<br />

größte-, Verlusterfahrungen (Tod, Trennung, liebgewonnene Idee,<br />

materieller Verlust etc.) das zweitgrößte Risiko. Gefahrenereignisse führen<br />

nicht zu Depressionen.<br />

Das Vorhandensein eines Risikofaktors (Kindheitsbelastung oder<br />

interpersonelle Probleme während der Depression) erhöht die<br />

Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufs:<br />

44% (mit Risikofaktor) zu 7% (ohne Risikofaktor)<br />

Der Anteil von Patienten, bei denen ein positives Ereignis vor einer Remission<br />

zu beobachten war, liegt generell bei über 50%, hängt aber im Einzelnen davon<br />

ab, ob und wenn ja, welche Medikamente eingesetzt wurden.<br />

Schutz zu bieten scheinen u.a. ein außer-häusiger Beruf (Teilzeit oder<br />

Vollzeit), eine stabile Kernbeziehung und eine religiöse Überzeugung.<br />

Bedenke: Bei 25 % der depressiven Patienten liegt kein „kritisches Lebensereignis“<br />

vor; darüber hinaus nimmt der Einfluss von „Life-Events“ mit zunehmender Anzahl<br />

der Episoden ab.<br />

39


4.4.2. Kognitive Theorie der Depression nach Beck<br />

BECK führt Depressionen auf 3 sich wechselseitig bedingende Faktoren zurück:<br />

1) Die „kognitive Triade der Depression“ (negative Beurteilung der eigenen Person,<br />

der Umwelt und der Zukunft)<br />

2) Negative Schemata und dysfunktionale Annahmen<br />

3) Kognitiven Verzerrungen / kognitive Fehler<br />

Negative Schemata werden durch negative Lebenserfahrungen (z.B.<br />

Verlusterlebnisse, Zurückweisung, Kritik oder depressive Modelle) in der Kindheit<br />

und Adoleszenz oder durch aktuelle Belastungen erworben und wirken meist<br />

unbewusst.<br />

Kognitive Schemata bestimmen die Reizwahrnehmung und<br />

Informationsverarbeitung, indem sie automatische Gedanken aktivieren.<br />

Ein Beispiel für ein solches Schema ist z.B. der Anspruch, immer perfekt zu<br />

sein oder von allen geliebt zu werden.<br />

Dysfunktional sind solche Annahmen bzw. Schemata deshalb, weil sie zu<br />

Fehlschlüssen bzw. kognitiven Verzerrungen führen, die ihrerseits die negativen<br />

Schemata zu bestätigen scheinen (=Teufelskreislauf)!<br />

So führt z.B. die unbewusste Annahme, immer perfekt sein zu müssen, bei<br />

Misserfolg zu der zweifelhaften Schlussfolgerung, wertlos zu sein (bewusst),<br />

was wiederum die Annahme verstärkt.<br />

Kognitive Verzerrungen sind Denkfehler, die durch negative Schemata bedingt<br />

werden. Typische Denkfehler sind z.B.:<br />

Übertriebene Verallgemeinerungen (Übergeneralisierung): Eine schlechte Note<br />

als Beweis für die eigene Dummheit!<br />

Über- oder Untertreibung: Positives klein reden, Negatives überbewerten.<br />

Voreilige bzw. willkürliche Schlussfolgerungen: Hans hat sich nicht gemeldet –<br />

er mag mich nicht!<br />

Dinge persönlich nehmen (Personalisierung): Dass ich die Praktikum nicht<br />

bekommen habe, liegt nicht daran, dass kein Platz mehr war, sondern daran, dass<br />

man mich nicht wollte!<br />

Alles-oder-nichts-Denken (= Schwarz-Weiß-Denken): Alles, was nicht der erste<br />

Platz ist, ist eine Niederlage!<br />

Zugrundeliegendes Menschenbild: Der Mensch ist nicht passives Opfer seiner<br />

Passionen (z.B. Freud) – diese unterliegen vielmehr seiner intellektuellen Kontrolle!<br />

Empirische Befunde und Evaluation:<br />

Dass depressive Patienten tatsächlich durch negative Schemata und kognitive<br />

Verzerrungen gekennzeichnet sind, konnte in einer Vielzahl von Studien<br />

nachgewiesen werden.<br />

Untersuchungen: „Skala Dysfunktionaler Einstellungen“ (DAS); Vp<br />

schenken traurigen Gesichtern größere Aufmerksamkeit als fröhlichen,…<br />

Problematisch ist jedoch Becks Annahme, dass diese kognitiven Faktoren die<br />

Depression kausal bedingen. Schließlich kann es sich bei ihnen genauso gut<br />

um eine Folge von Depression handeln!<br />

Allgemeine Studien zum Zusammenhang von Kognition und Emotion<br />

zeigen, dass sich die beiden Größen wechselseitig beeinflussen: Eine<br />

Manipulation der Kognitionen hat Einfluss auf den Affekt – umgekehrt hat<br />

aber auch die Manipulation der Stimmung Einfluss auf die Kognition!<br />

Die Ergebnisse prospektiver Studien sind meist nicht minder uneindeutig:<br />

Es konnte bisher also nicht belegt werden, dass negative Kognitionen<br />

depressiven Verstimmungen zwangsläufig vorausgehen.<br />

40


Fazit: Am besten erscheint eine bidirektionale Sichtweise, der zufolge sich<br />

Kognition und Depression wechselseitig beeinflussen. Trotzdem kann aber<br />

davon ausgegangen werden, dass negative Denkmuster einen Risikofaktor<br />

darstellen!<br />

4.4.3. Theorie der gelernten Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit<br />

Es gibt mehrere kognitive Theorien, die Depression auf eine generalisierte<br />

Hilflosigkeit bzw. Hoffnungslosigkeit zurückführen. 3 Varianten lassen sich<br />

unterscheiden:<br />

1) Die ursprüngliche Theorie der gelernten Hilflosigkeit (von Seligman)<br />

2) Die attributionsbezogene Umformulierung dieser Theorie (Seligman, Abramson)<br />

3) Die Theorie der Hoffnungslosigkeit (Abramson, Metalsky & Alloy)<br />

Theorie der gelernten Hilflosigkeit (Seligman, 1974): Unangenehme Erfahrungen<br />

und Traumata, die ein Individuum erfolglos zu überwinden versucht hat, führen zu<br />

Passivität und Kontrollverlust auch in anderen Situationen Depression.<br />

Experimentelle Grundlage: Hunde, die in einer ersten Phase unkontrollierbare<br />

Elektroschocks erleiden mussten, lernen in einer zweiten Phase, in denen diese<br />

vermieden werden können, das dazu nötige Verhalten langsamer als Tiere, die<br />

zuvor keine unkontrollierbaren Schocks appliziert bekommen hatten.<br />

Erklärung: In den kognitiven, motivationalen und emotionalen Defiziten<br />

der „geschockten“ Hunde äußert sich eine „gelernte Hilflosigkeit“!<br />

Gelernte Hilflosigkeit + Attributionsstil: Da sich die Ergebnisse nicht 100%-ig auf<br />

Menschen übertragen ließen, legten Seligman und Abramson 1978 eine revidierte<br />

Fassung der Theorie vor: Darin wird davon ausgegangen, dass der Effekt durch den<br />

Attributionsstil einer Person moderiert wird.<br />

Probleme: Bei Versuchen mit Menschen zeigte sich, dass induzierte<br />

Hilflosigkeit auch dazu führen kann, dass nachfolgend die notwendigen<br />

Vermeidungshandlungen einfacher gelernt werden. Darüber hinaus schreiben<br />

sich viele Depressive selbst die Verantwortung für ihre Misserfolge zu - ein<br />

Umstand, der mit dem Begriff „Hilflosigkeit“ nur schwer zu vereinbaren ist!<br />

Lösung: Ob gelernte Hilflosigkeit auftritt oder nicht, hängt nicht nur von der<br />

Situation, sondern auch von deren Interpretation ab, genauer: davon, wie eine<br />

Person ihre eigenen Misserfolge attribuiert.<br />

Mit WEINER können Attributionen dabei anhand dreier Dimensionen<br />

unterschieden werden:<br />

1. Internale vs. externale Attribution<br />

2. Stabile vs. variable Attribution<br />

3. Globale vs. spezifische Attribution<br />

Ein negativer Attributionsstil äußert sich in internalen (=> schlechter<br />

Selbstwert), stabilen (=> Hilflosigkeit) und globalen<br />

Ursachenzuschreibungen. (=> Verstärkung dieser beiden Aspekte)<br />

Die Mathearbeit war weder dumm gestellt (external, variabel,<br />

spezifisch), noch hab ich mich zu wenig angestrengt (internal, variabel).<br />

Stattdessen war ich zu dumm (internal, stabil) – und zwar nicht nur,<br />

weil ich mathematisch unbegabt bin, sondern weil ich generell nichts<br />

drauf habe (global).<br />

These: Machen Menschen mit einem negativen Attributionsstil (Diathese)<br />

negative Erfahrungen (Stress) sind sie besonders gefährdet, depressiv zu<br />

werden. Erstens: halten ihre negativen Gefühle nach solchen Erlebnissen<br />

länger an als bei Personen mit einem positiven Attributionsstil; zweitens:<br />

entwickeln sie eine „gelernte Hilflosigkeit“.<br />

41


Hoffnungslosigkeit: Die neueste Fassung der Theorie erweitert das Konzept um den<br />

Begriff der Hoffnungslosigkeit; letztere äußert sich nicht nur im Gefühl der<br />

Hilflosigkeit (mangelnde Kontrollüberzeugung), sondern darüber hinaus in der<br />

pessimistischen Zukunftserwartung, dass positive Ereignisse ausbleiben, negative<br />

dagegen eintreten werden.<br />

Der Vorteil dieser Fassung besteht darin, dass neben dem Attributionsstil<br />

weitere Diathesen in Betracht gezogen werden: dazu zählen v.a. der erwähnte<br />

Pessimismus, zum anderen ein geringes Selbstwertgefühl.<br />

Darüber hinaus bietet die Theorie eine gute Erklärung für den engen<br />

Zusammenhang von Depression und Angststörungen: Pessimistische<br />

Erwartungen führen zu Angst; treten die erwarteten Ereignisse ein, kommt es<br />

zu Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit!<br />

Empirische Befunde und Evaluation:<br />

Positive Befunde:<br />

Tatsächlich zeigt sich, dass Pbn, die im „Attributionsstil-Fragebogen“<br />

(ASQ) einen negativen Attributionsstil erkennen lassen, höhere<br />

Depressionswerte aufweisen!<br />

Studenten, die einen positiven Attributionsstil aufweisen, reagieren auf eine<br />

schlechte Note zunächst nicht minder enttäuscht als Studenten mit einem<br />

negativen Attributionsstil - ihre Enttäuschung hält jedoch nicht so lange an!<br />

Erklärung: unmittelbare emotionale Reaktion erfolgt vor den<br />

Attributionen!<br />

Probleme:<br />

Die meisten Studien sind Analogstudien: sie wurden also nicht an<br />

klinischen Stichproben erhoben, sondern an Studenten mit hohen<br />

Depressionswerten. Validität?!<br />

Das Modell wurde ursprünglich zur Erklärung reaktiver Depressionen<br />

entwickelt, ob es auch auf andere Typen von Depression anwendbar ist,<br />

wäre näher zu prüfen.<br />

Es ist fraglich, ob die Theorien depressionsspezifisch sind. Auf Angst oder<br />

Sorgen im Allgemeinen scheinen sie genauso zuzutreffen!<br />

Ob kognitive Prozesse, in dem Fall: die Attribution von Ereignissen,<br />

tatsächlich so entscheidend sind, wie es die Theorie nahelegt, ist streitbar.<br />

Schließlich gibt es viele Studien, die zeigen, dass der Mensch sich der<br />

Ursachen seines Verhaltens oft gar nicht bewusst ist und auch die<br />

Alltagserfahrung zeigt, dass wir nur selten so rational und überlegt<br />

vorgehen, wie es kognitive Modelle nahelegen.<br />

Die besagten Theorien gehen davon aus, dass es sich bei dem<br />

Attributionsstil um eine Diathese und damit um ein stabiles<br />

Persönlichkeitsmerkmal handelt; es konnte jedoch gezeigt werden, dass der<br />

negative Attributionsstil nach einer depressiven Episode wieder<br />

verschwindet!<br />

Wie bei Becks Theorie stellt sich die Frage, ob Hilf- bzw.<br />

Hoffnungslosigkeit tatsächlich die Ursache oder lediglich eine Folge von<br />

Depressionen ist.<br />

42


4.4.4. Sonstige Theorien zur Depression<br />

Das Verstärker-Verlust-Modell von Lewinsohn (1974) ist ein<br />

verhaltenstheoretisches Modell: Depression wird dabei auf einen sich durch die<br />

Depression weiter verschärfenden Mangel an positiver Verstärkung zurückgeführt.<br />

Die Menge positiver Verstärkung hängt dabei von 3 Faktoren ab:<br />

1) Der Anzahl und Qualität möglicher verstärkender Ereignisse<br />

Was wirkt auf eine Person zumindest potenziell verstärkend (ist es<br />

beruflicher Erfolg, Glück in der Liebe oder ein großer Freundeskreis?)<br />

2) Der Erreichbarkeit solcher Verstärker in der Umgebung<br />

Ist die Person berufstätig und wenn ja, inwiefern besteht in diesem<br />

Beruf die Möglichkeit, für das eigene Handeln verstärkt zu werden<br />

(Arbeitsloser vs. Lehrer vs. Schauspieler)? Hat eine Person Familie?...<br />

3) Dem instrumentellen Verhalten einer Person<br />

Ist eine Person dazu in der Lage, die potenziellen Verstärker in der<br />

Umgebung auch zu erhalten (berufliche Fähigkeiten, soziale<br />

Kompetenz etc.)?<br />

Wer über längeren Zeitraum keine Verstärkung erhält, befindet sich nach<br />

behavioristischer Theorie unter Löschungsbedingungen und hört im<br />

Extremfall ganz auf, irgendetwas zu tun. Die Folge ist eine Depression.<br />

Letztere lässt sich damit als Teufelskreislauf beschreiben: Ein Mangel an<br />

Verstärkern führt zu Depression – und diese führt wiederum zu einer weiteren<br />

Reduktion an Verstärkern (berufliches Desinteresse, sozialer Rückzug etc.).<br />

Interpersonale Theorien der Depression: bauen auf Lewinsohns Modell auf und<br />

betonen die negativen Reaktionen, die Depressive in ihrer Umwelt hervorrufen.<br />

In mehreren Studien (Telefongespräche oder Face-to-Face-Interaktionen)<br />

konnte gezeigt werden, dass das Verhalten von Depressiven (sogar unabhängig<br />

vom Inhalt) Ablehnung hervorruft.<br />

Depressive verfügen über geringere Sozialkompetenzen und leben meist in<br />

einem weitmaschigeren sozialen Netz.<br />

Multifaktorieller Ansatz: Am sinnvollsten ist es, die verschiedenen Theorien zu<br />

integrieren.<br />

In diesem Fall lassen sich folgende Einflussfaktoren unterschieden:<br />

1. Genetische Prädisposition<br />

2. Traumatische Erfahrungen („Life-Events“)<br />

3. Persönlichkeitsfaktoren<br />

Gelernte Hilflosigkeit<br />

Attributionsstil<br />

Kognitive Schemata<br />

4. Physikalische Einwirkungen<br />

Z.B. Lichtentzug<br />

5. Aktuelle psychosoziale Belastungen (Stress)<br />

Alle diese Faktoren werden neurobiologisch vermittelt (Serotoninmangel etc.)<br />

und führen so zu einer Depression.<br />

43


4.4.5. Psychologische Ursachen der bipolaren Störung<br />

Zur bipolaren Störung gibt es insgesamt weniger Forschung als zur unipolaren<br />

Depression.<br />

Was die depressiven Episoden betrifft, sind die Theorien dieselben!<br />

Was die manischen Episoden betrifft, wird allgemein davon ausgegangen, dass<br />

es sich dabei um einen Abwehr- bzw. Schutzmechanismus handelt, kurz: um<br />

der Depression zu entfliehen, stürzen sich die Patienten in die Manie!<br />

4.4. Therapie:<br />

4.4.1. Allgemeines [ Intervention]<br />

Interventionsebenen:<br />

Niederschwellige Maßnahmen: bei subklinischen (minoren) Depressionen<br />

Als „wirksam“ haben sich erwiesen: Bibliotherapie (Selbsthilfe mit Hilfe<br />

von Fachbüchern) und Kurzzeittherapie (einige Sitzungen)<br />

„Möglicherweise wirksam“ sind internetbasierte KVT-Programme<br />

Akuttherapie: beginnt meist am Tiefpunkt und dauert so lange, bis eine<br />

spürbare Besserung eingetreten ist (bis zu einem Monat)<br />

Als „wirksam“ haben sich erwiesen: Medikamentöse Behandlung<br />

(Antidepressiva); kognitive Verhaltenstherapie (KVT); Interpersonelle<br />

Psychotherapie (IPT); Psychodynamische Kurzzeittherapie (STPP);<br />

Kombinationstherapien (Antidepressiva + Psychotherapie)<br />

„Bislang ohne ausreichende Wirknachweise“: Psychoanalyse,<br />

psychodynamische Langzeittherapie und alle anderen Therapien<br />

Erhaltungstherapie: beginnt nach der Remission und dauert 3-6 Monate; Ziel<br />

ist die Verhinderung bzw. Hinauszögerung von Rückfällen<br />

Prophylaktische Therapie: kann je nach Schwere der Depression Jahre<br />

dauern<br />

4.4.2. Pharmakologische Behandlung<br />

Drei Hauptkategorien von Antidepressiva lassen sich unterscheiden:<br />

1) Trizyklika:<br />

hemmen die Wiederaufnahme der ausgeschütteten Neurotransmitter in die<br />

präsynaptische Zelle (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin etc.)<br />

haben eine sehr breite (unspezifische) Wirkung<br />

ihr Name beruht auf der chemischen Struktur (drei Ringe)<br />

2) MAO-Hemmer:<br />

hemmen den Abbau von Serotonin und Noradrenalin durch das Enzym<br />

Mono-Amino-Oxydase (MAO)<br />

haben die schwersten Nebenwirkungen und werden daher heute nur noch<br />

selten eingesetzt!<br />

3) Selektive Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI; NaRI; SNRI)<br />

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) hemmen das<br />

Transportmolekül, das Serotonin wieder in seine Speicher zurückführt;<br />

wirken daher nur an den Synapsen, deren Übertragung mittels Serotonin<br />

erfolgt (spezifischer Wirkort).<br />

Weitere selektive Wiederaufnahme-Hemmer sind: Noradrenalin-<br />

Wiederaufnahme-Hemmer (NaRI) und Serotonin-Noradrenalin-<br />

Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI)<br />

44


Hinzu kommen atypische und pflanzliche Antidepressiva:<br />

4) Atypische Antidepressiva:<br />

Erhöhen die Ausschüttung von Serotonin und Noradrenalin!<br />

5) Johanneskrautpräparate:<br />

Die Wirksamkeit ist, zumindest bei leichten und mittelschweren<br />

Depressionen, empirisch belegt; der Wirkmechanismus jedoch nicht<br />

abschließend geklärt => Auch Johanneskraut scheint aber auf die neuronale<br />

Transmission einzuwirken!<br />

Darüber hinaus lassen sich Antidepressiva hinsichtlich ihrer Wirkung auf die<br />

Aktiviertheit des Patienten in 3 Typen unterteilen:<br />

Typ I: wirkt stärker sedierend<br />

Typ II: ist neutral<br />

Typ III: wirkt eher stimulierend und antriebssteigernd<br />

Eines der wichtigsten Kriterien bei der Medikamentenauswahl stellt das<br />

Nebenwirkungsprofil dar.<br />

Häufige Nebenwirkungen: Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen beim<br />

Sehen, Schwindel, Kopfschmerz, Erektionsstörungen, Gewichtszunahme,<br />

hypomane Nachschwankungen etc. etc.<br />

Problematisch sind v.a. solche Medikamente, die für suizidzwecke<br />

missbraucht werden können!<br />

Was ihre depressionslindernde Wirkung betrifft, sind Trizyklika, MAO-<br />

Hemmer und SSRIs mehr oder minder gleichwertig; der große Vorteil von<br />

letzteren besteht jedoch in der besseren Verträglichkeit (weniger<br />

Nebenwirkungen)<br />

Kleine Auswahl wichtiger Antidepressiva (inklusive Nebenwirkungen):<br />

Kategorie Substanz-Handelsname Nebenwirkungen<br />

Trizyklika Imipramin (Typ II) – Trofanil<br />

Amitriptylin (Typ I) - Saroten<br />

MAO-<br />

Hemmer<br />

SSRIs<br />

Erhöhtes Schlaganfall-/Herzinfarktrisiko;<br />

niedriger Blutdruck, Angst, Müdigkeit,<br />

unscharfes Sehen, trockener Mund,<br />

Verdauungsstörungen, Errektionsstörungen,<br />

Gewichtszunahme<br />

Tranylcypromin (III) – Parnat Möglicherweise letaler Bluthochdruck;<br />

trockener Mund; Übelkeit; Schwindel;<br />

Kopfschmerzen<br />

Fluoxetin (II) – Fluctin Nervosität, Schläfrigkeit, Schwindel,<br />

Kopfweh, Schlafstörungen, Magenbeschwerden<br />

4.4.3. Nicht-medikamentöse, somatische Therapieformen:<br />

Wachtherapie (=Schlafentzug):<br />

Unterschieden werden kann zwischen partiellem (2.Nachthälfte) und totalem<br />

Schlafentzug.<br />

Wird v.a. bei schweren Fällen (im Rahmen stationärer Behandlung)<br />

angewandt und dient dazu, die Depression vorübergehend zu durchbrechen.<br />

Tatsächlich zeigt sich bei 60% der Patienten am Folgetag eine<br />

Stimmungsverbesserung; diese hält jedoch ohne begleitende Maßnahmen nicht<br />

lange an.<br />

Angenommener Wirkmechanismus: Nucleus Raphé setzt Serotonin frei, um<br />

SWS einzuleiten!<br />

45


Lichttherapie:<br />

Regelmäßige Exposition mit Licht (bis zu mehreren Stunden täglich)<br />

V.a. bei saisonal abhängigen Depressionen (Winterdepressionen) indiziert<br />

Angenommener Wirkmechanismus: Erhöhung der Transmitterkonzentration<br />

(v.a. Serotonin)<br />

Elektrokrampftherapie (=Elektrokonvulsionstherapie; kurz: EKT):<br />

Elektrische Stimulation des Kortex löst epileptischen Krampfanfall aus;<br />

während die Stimulation früher ohne Betäubung und auf beiden Seiten<br />

(bilaterale EKT), wird heute meist nur noch eine Seite (die rechte) stimuliert<br />

und der Patienten vorher unter Vollnarkose gesetzt.<br />

Wird nur bei sehr schweren und behandlungsresistenten Depressionen<br />

angewandt<br />

Kann massive Nebenwirkungen haben: dauerhafte Verwirrung, Löschung von<br />

Gedächtnisinhalten etc.<br />

Wirkmechanismus: unbekannt!<br />

Transkranielle Magnetstimulation (TMS):<br />

Nicht-invasives Verfahren, bei dem bestimmte Gehirnregionen durch starke<br />

Magnetfelder stimuliert werden, was zu einer Steigerung der dortigen<br />

Gehirnaktivität führt.<br />

Mögliche Alternative zur EKT<br />

4.4.4. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)<br />

Die Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie zur Behandlung von Depression<br />

basieren v.a. auf Becks Modell der negativen Triade und Lewinsohns „Verstärker-<br />

Verlust-Modell“.<br />

Sofern die KVT sowohl kognitive, als auch behaviorale Elemente enthält, kann<br />

sie als Kombinationstherapie beschrieben werden.<br />

Nach Hautzinger lässt sich der Ablauf einer kognitiven Verhaltenstherapie in 6 Phasen<br />

untergliedern:<br />

1) Problemanalyse und Aufbau einer therapeutischen Beziehung<br />

Anamnese; Benennung der Schlüsselprobleme (Kriterien: Wichtigkeit,<br />

Dringlichkeit, Veränderbarkeit); Aufstellung einer Zielmatrix: was will der<br />

Patient kurz-, mittel- und langfristig in den verschiedenen Lebenskontexten<br />

(Beruf, Familie etc.) erreichen!<br />

Therapeutische Beziehung: Empathie, positive Wertschätzung, Kongruenz<br />

2) Vermittlung des therapeutischen Modells und Psychoedukation bezüglich<br />

der jeweiligen Störung<br />

Grundannahmen der KVT: Verhalten, Denken und Fühlen beeinflussen<br />

sich wechselseitig, was in der Therapie passieren wird etc. pp.<br />

Aufklärung über die biologischen und psychologischen Grundlagen der<br />

Depression<br />

3) Aktivitätsaufbau<br />

Einstieg: Erläuterung der „Depressionsspirale“ (soz. Rückzug und<br />

Passivität führen zu einer Reduktion positiver Verstärkung und damit zu<br />

einer Verschlimmerung der Depression => Ausweg: sich aufraffen und<br />

positive Aktivitäten aufsuchen!)<br />

Aufstellung eines Wochenplans, in dem sowohl die Aktivitäten als auch<br />

die damit einhergehenden Stimmungen protokolliert werden sollen => der<br />

Plan dient zunächst zur Erhebung des Ist-Zustandes (Baseline); in einem<br />

zweiten Schritt werden positiv erlebte Aktivitäten gesammelt und<br />

46


zunehmend in den Plan integriert (langfristiges Ziel: Etablierung einer<br />

neuen Tagesstruktur)!<br />

Wichtig: Keine allgemeinen, sondern konkrete Aktivitäten (wie z.B. 2 Mal<br />

die Woche eine halbe Stunde spazieren gehen)<br />

4) Bearbeitung und Modifikation kognitiver Muster<br />

Aufklärung über die Wirkweise von Kognitionen (automatisch,<br />

stimmungsinduzierend etc.)<br />

Beobachten und Erkennen automatischer Gedanken<br />

Vermittlung der ABC-Technik: Gefühle sind die Konsequenz (C)<br />

einer auslösenden Situation (A) und deren Bewertung (B), die meist<br />

automatisch abläuft. Entscheidend ist, das die auslösende Situation<br />

(Hans grüßt nicht) und deren Bewertung (er mag mich nicht)<br />

voneinander getrennt werden müssen, da es v.a. letztere ist, die das<br />

Gefühl auslöst!<br />

Wird dieser Zusammenhang erkannt, können alternative Bewertungen<br />

(B„) in Betracht gezogen und angenommen werden (Hans war wohl<br />

gerade gestresst), was wiederum zu einer veränderten Konsequenz<br />

(C„), einem anderen Gefühl, führt!<br />

Wichtig: Der Patient darf weder zu neuen Bewertungen überredet werden,<br />

noch dürfen seine gewohnten Bewertungen von vornherein als irrational<br />

abgetan werden. Stattdessen muss der Patient selbst zu seinen Einsichten<br />

kommen => Mögliche Methoden:<br />

„Sokratischer Dialog“ (gelenktes Fragen):<br />

Negative Schemata auf ihren Realitätsgehalt überprüfen: „Ich weiß<br />

von nichts bescheid!“ – „Von welchen Themen z. B.?“ – „Z. B. von<br />

Politik“ – „Wie viele Politiker werden sie wohl kennen, wenn ich<br />

ihnen etwas aus der Zeitung vorlese?!“ – „10 %“ – „Mal sehen: …“<br />

Kognitive Verzerrungen erkennen und benennen: „Keiner mag<br />

mich!“ = Übergeneralisierung!<br />

Reattribuierung; Rollenspiele; eine Situation nicht nur aus der<br />

eigenen Perspektive, sondern auch aus der eines unbeteiligten<br />

„Dritten“ beurteilen usw. usw.<br />

5) Verbesserung der sozialen Kompetenz<br />

Ziele: Erkennen und Durchsetzen eigener Wünsche, Äußern positiver<br />

Gefühle, Aufbau und Pflege sozialer Kontakte, Problemlösefähigkeit etc.<br />

Methoden: Verhaltensübungen, Rollenspiele (im stationären Setting meist<br />

in Gruppen)<br />

6) Rückfallprophylaxe<br />

Sensibilität für Warnsignale um depressive Episoden frühzeitig zu<br />

bemerken; Training der gelernten Techniken; „Notfallkoffer“ (Karteikarten<br />

mit positiven Aktivitäten etc.),…<br />

„Booster-Sitzungen“: Bearbeitung aktueller Rückschläge, Auffrischen der<br />

gelernten Strategien<br />

4.4.5. Weitere Therapieformen<br />

MBCT: Die „Mindfullness Based Cognitive Therapy“ (MBCT) wurde speziell für<br />

die Erhaltungstherapie bei unipolaren Depressionen entwickelt; sie enthält neben den<br />

kognitiv-behavioralen Elementen (Aktivitätsaufbau etc.) Achtsamkeitsübungen, die<br />

auf das bewusste Erleben von Situationen zielen (Yoga, Atemmeditation,<br />

Aufmerksamkeit auf alltägliche Handlungen) etc.<br />

MBCT ist „möglicherweise wirksam“ (Evidenzgrad II)<br />

47


IPT: Die Interpersonale Therapie (IPT) ist als ambulante Kurzzeittherapie angelegt<br />

(12-20 Einzelsitzungen) und gehört zur Gruppe der psychodynamischen<br />

Kurzzeittherapien (STPP); sie zielt v.a. darauf die konkreten Lebensbezüge des<br />

Klienten zu verbessern; der Hauptfokus liegt dementsprechend auf der Bearbeitung<br />

zwischenmenschlicher und psychosozialer Probleme im Hier und Jetzt:<br />

Trauerbewältigung, Rollenwechsel/Lebensveränderungen, Einsamkeit, zwischenmenschliche<br />

Konflikte etc.<br />

IPT gilt bei Depressionen als „wirksam“ (Evidenzgrad I)<br />

4.4.5. Therapie bei anderen affektiven Störungen<br />

Chronische Depressionen:<br />

Die einzige Therapieform, die speziell zur Behandlung von chronischen<br />

Depressionen und Dysthymie entwickelt wurde, ist das „Cognitive Behavioral<br />

Analysis System for Psychotherapy“ (CBASP); es vereint interpersonelle,<br />

psychodynamische, kognitive und behaviorale Strategien und zielt v.a. auf eine<br />

Erhöhung der sozialen Kompetenz und eine adäquatere Wahrnehmung der<br />

Umwelt ab.<br />

Als „wirksam“ erwiesen haben sich folgende Kombinationstherapien: KVT +<br />

Antidepressiva; CBASP + Antidepressiva<br />

Bipolare Störungen:<br />

Bei bipolaren Störungen ist eine Kombination aus Psychotherapie und<br />

Pharmakotherapie angeraten; erstere erhöht nicht nur die<br />

Medikamentencompliance, sondern fördert u.a. die Akzeptanz der Krankheit<br />

und eine Sensibilität für Warnsignale.<br />

Das Medikament, das bei bipolaren Störungen verschrieben wird, ist Lithium<br />

(Handelsname: Quilonium); es hilft sowohl in manischen als auch in<br />

depressiven Phasen (in letzteren sogar besser als herkömmliche<br />

Antidepressiva, was für den prinzipiellen Unterschied zw. bi- und unipolarer<br />

Störung spricht); die Einnahme des Medikaments sollte ständig erfolgen!<br />

Problematisch an Lithium sind dessen massive Nebenwirkungen: Tremor,<br />

Magenprobleme, Koordinationsstörungen, Schwindel, Herzrythmusstörungen,<br />

unscharfes Sehen, Schläfrigkeit => bei Überdosis: tödlich!<br />

4.4.6. Wirksamkeit<br />

Die wichtigsten Evidenzen im Überblick:<br />

Die wirksamste Psychotherapie bei Depression ist (über alle Bedingungen<br />

hinweg: Akuttherapie, Erhaltungstherapie, Gruppensetting, Einzelsetting etc.)<br />

die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), ebenfalls als wirksam erwiesen<br />

haben sich die Interpersonale Therapie (IPT) und (zumindest in der akuten<br />

Einzeltherapie) die psychodynamische Kurzzeittherapie (STPP)<br />

Keine Wirksamkeit konnte bisher für die klassische Psychoanalyse und alle<br />

anderen Therapieformen nachgewiesen werden.<br />

Was die kurzfristige Wirkung betrifft, sind psychotherapeutische (genauer:<br />

KVT und IPT), medikamentöse und kombinierte Interventionen gleichwertig!<br />

Sie alle sind einer Placebobehandlung überlegen!<br />

Verbesserung liegt im Schnitt zw. 60 und 65%!<br />

Langfristig sind jedoch psychotherapeutische (KVT / IPT) oder kombinierte<br />

Interventionen rein medikamentösen Behandlungen vorzuziehen, da bei ihnen<br />

die Abbrecher- und Rückfallquote geringer ausfällt und weniger<br />

Nebenwirkungen auftreten!<br />

48


Die KVT ist auch bei schweren Depressionen der medikamentösen<br />

Behandlung nicht (unbedingt) unterlegen; trotzdem ist bei schweren<br />

Depressionen eine kombinierte Therapie die Methode der Wahl.<br />

Bei chronischen Depressionen ist eine Kombination von Pharmakotherapie und<br />

spezifischer Psychotherapie (KVT oder CBASP) angezeigt (Erhöhung der<br />

Medikamentencompliance, Verringerung der Abbrecherquote etc.).<br />

Bei subklinischer Symptomatik reichen meist Psychoedukation, Bibliotherapie<br />

oder kurzzeitige, kogitiv-verhaltenstherapeutische Gruppenbehandlung aus<br />

(Evidenzgrad I)<br />

Eine Metanalyse (2008!) zur Frage der Wirksamkeit von SSRIs und ob diese vom<br />

Schweregrad der Depression abhängt, erbrachte folgende Ergebnisse:<br />

SSRIs sind in ihrer Wirkung Placebos klinisch nicht signifikant überlegen!<br />

Die durchschnittliche Verbesserung auf der „Hamilton Rating Scale for<br />

Depression“ (HRSD) beträgt nach einer Behandlung mit SSRIs 9,6 Punkte,<br />

nach einer Placebo-Behandlung 7,8 Punkte. Dieser Unterschied (1,8<br />

Punkte) ist zwar statistisch-, nicht aber klinisch signifikant.<br />

Placebos erreichen 80% der Medikamentenwirkung (zum Vgl.: bei<br />

Schmerzen lediglich 50%); Depressive scheinen also extrem gut auf sie<br />

anzusprechen!<br />

Ausnahme: Nur bei extrem schweren Depressionen wird der Unterschied<br />

klinisch signifikant; dieser Umstand ist allerdings nicht darauf zurückzuführen,<br />

dass besonders schwere Fälle besser auf die Medikation ansprechen würden,<br />

sondern darauf, dass schwere Fälle schlechter auf Placebos ansprechen.<br />

Die Wirkung der Medikation ist also vom Schwergrad der Depression mehr<br />

oder minder unabhängig; es besteht jedenfalls keine lineare Beziehung<br />

zwischen beidem!<br />

Fazit der Autoren: Antidepressiva sollten nur dann eingesetzt werden, wenn<br />

die Depression besonders schwer ist und/oder andere Interventionsformen<br />

keine Wirkung gezeigt haben!<br />

49


5.1. Darstellung des Störungsbilds<br />

5. Schizophrenie<br />

5.1.1. Die wichtigsten Konzepte und Symptome<br />

Definition: Der Begriff „Schizophrenie“ umfasst eine Gruppe psychotischer<br />

Störungen, die durch massive Beeinträchtigungen des Denkens, emotionalen Erlebens<br />

und Verhaltens gekennzeichnet sind, die ihrerseits zu einem Bruch mit der Realität<br />

führen (Rückzug in eine Phantasiewelt aus Wahnideen und Halluzinationen).<br />

Denken: mangelnde Logik, mangelnder Realitätsbezug, Wahrnehmungsfehler<br />

und Aufmerksamkeitsstörungen<br />

Emotionales Erleben: Flacher oder unangemessener Affekt<br />

Verhalten: Motorische Störungen und/oder bizarres Verhalten<br />

Etymologie: Der Begriff „Schizophrenie“ kommt aus dem Griechischen und heißt<br />

übersetzt „gespaltene Seele“.<br />

Anders als oft angenommen wird, haben Schizophrene jedoch keine gespaltene<br />

Persönlichkeit (ein extrem verbreitetes Missverständnis)!<br />

Stattdessen bezieht sich der 1908 von Eugen Bleuler (s.u.) geprägte Begriff auf<br />

den fehlenden Zusammenhalt schizophrener Assoziationen, den dadurch<br />

bedingten Bruch mit der Realität und die Tatsache, dass bei Schizophrenen,<br />

anders als bei der Demenz, nicht alle, sondern nur ein Teil der kognitiven<br />

Funktionen verloren geht.<br />

Historisches: Das Konzept der Schizophrenie wurde erstmals Anfang des 20. Jh. von<br />

den beiden Psychiatern Emil Kraeplin und Eugen Bleuler formuliert.<br />

Emil Kraeplin: unterschied zwei Hauptgruppen von Psychosen: das manisch<br />

depressive Irrsein und die „Dementia praecox“. Zu letzterer zählte er die<br />

Störungsbilder, die heute als schizophren bezeichnet werden: nämlich die<br />

Paranoia, die Katatonie und die Hebephrenie (s.u.). Das gemeinsame Merkmal<br />

dieser heterogenen Störungsbilder sah Kraeplin in einer allgemeinen und im<br />

Unterschied zur Demenz nicht erst im Alter auftretenden „geistigen<br />

Schwäche“. Der Begriff „Dementia praecox“ zielt demnach a) auf den frühen<br />

Beginn der Störung (praecox) und b) auf den fortschreitenden geistigen Verfall<br />

(Demenz)<br />

Ein deskriptives, relativ eng gefasstes Konzept<br />

Eugen Bleuler: fasste dagegen weder das Alter bei Beginn, noch den<br />

progressiven geistigen Verfall als das Charakteristische der Störungen auf,<br />

sondern die mit ihnen einhergehende Zerrissenheit der Assoziationen. Vor<br />

diesem Hintergrund prägte er den Begriff „Schizophrenie“!<br />

Symptomgruppen: Die Symptome der Schizophrenie werden Allgemein in 2<br />

Gruppen eingeteilt: „Positive Symptome“ sind durch eine Übersteigerung des<br />

normalen Erlebens gekennzeichnet; „negative Symptome“ durch dessen<br />

Einschränkung. In jüngerer Zeit wird darüber hinaus eine dritte Gruppe von<br />

Symptomen abgegrenzt, die ihrerseits v.a. durch Desorganisation gekennzeichnet ist.<br />

1) Positive Symptomatik: kennzeichnet i.d.R. einen akuten schizophrenen Schub<br />

Halluzinationen und andere Wahrnehmungsstörungen<br />

Akustische Halluzinationen (sind am häufigsten: bei 70%):<br />

Gedankenlautwerden, kommentierende Stimmen, streitende Stimmen<br />

Außerdem: Optische Hallos (31%), taktile und olfaktorische Hallos<br />

50


Inhaltliche Denkstörungen (=Wahnideen)<br />

Verfolgungswahn (ist am häufigsten: bei 60-70%)<br />

Religiöser Wahn (bei ca. 25%); Größenwahn (22%) etc.<br />

Gedankenlesen (34%): Patient hat das Gefühl, die Gedanken anderer<br />

lesen zu können!<br />

Gedankeneingebung (19%): Patienten haben das Gefühl, nicht die<br />

eigenen Gedanken, sondern die eines anderen zu denken!<br />

Gedankenentzug (17%): Patienten haben das Gefühl, ihre Gedanken<br />

würden aufgesogen.<br />

Gedankenausbreitung (14%): P. haben das Gefühl, ihre Gedanken<br />

würden auf andere übertragen, so dass diese sie lesen können.<br />

„Gemachte“ Körperempfindungen: Patienten haben somatische<br />

Empfindungen (Wärme, Prickeln etc.), die aus ihrer Sicht von einer<br />

äußeren Macht gesteuert werden.<br />

„Gemachte“ Gefühle: Patienten haben das Gefühl, die von ihnen<br />

erlebten Emotionen seien nicht die eigenen, sondern würden ihnen<br />

von anderen eingegeben bzw. aufoktroyiert!<br />

„Gemachte“ Handlungen: Patienten haben das Gefühl, dass ihre<br />

Handlungen ohne ihr willentliches Zutun vonstattengehen.<br />

„Gemachte“ Impulse: Patienten folgen Impulsen, die ihnen von einer<br />

äußeren Macht eingegeben werden („Pinkel aufs Buffet!“)<br />

Formale Denkstörungen<br />

Gelockerte Assoziationen und Entgleisungen (Überflutung mit<br />

vielfältigen Assoziationen; Schwierigkeit, beim Thema zu bleiben)<br />

Unlogisches oder tangentiales Denken<br />

Desorganisierte Sprache (den sprachlichen Äußerungen fehlt nahezu<br />

jeder inhaltliche Zusammenhang) wird heute oft zur dritten<br />

Symptomgruppe („Desorganisation“) gezählt: s.u.<br />

2) Negative Symptomatik: hält auch über eine akute Episode hinaus an;<br />

bestimmt die Residualphase und stellt während der Behandlung ein großes<br />

Problem dar!<br />

Apathie (Antriebs- und Willensschwäche): Patienten fehlt es an Interesse<br />

und Energie (mangelnde Körperpflege, Vernachlässigung der Pflichten,<br />

sozialer Rückzug, chronisches „Nichtstun“ etc.)<br />

Alogie (Sprachverarmung): Patienten reden weniger (quantitative<br />

Sprachverarmung) oder inhaltlich Bedeutungsloses (inhaltliche<br />

Sprachverarmung)<br />

Anhedonie (Unfähigkeit, Freude zu erleben): Mangelndes Interesse an<br />

Freizeitbeschäftigungen, Beziehungen und Sex, wobei sich die Patienten<br />

durchaus bewusst sind, dass das mal anders war!<br />

Affektverflachung (bei 2/3 = 66% der Patienten): Patienten zeigen keine<br />

emotionalen Reaktionen mehr; das betrifft jedoch lediglich den äußeren<br />

Eindruck (eingeschränkte Mimik, verminderte Spontanbewegungen,<br />

tonlose Stimme etc.) und nicht unbedingt das Innenleben!<br />

Mangelnde Aufmerksamkeit<br />

3) Weitere Symptome (oft als „desorganisierte“ Symptomatik bezeichnet):<br />

Katatonie: äußert sich in verschiedenen motorischen Auffälligkeiten; zum<br />

Beispiel dem katatonen Stupor (Körperstarre in ungewöhnlicher Haltung),<br />

Katalepsie (Beibehaltung der Körperstellung nach passiver Bewegung),<br />

einer wächsernen Biegsamkeit der Gliedmaßen, ungewöhnlichen<br />

Bewegungsmustern, Anfällen etc.<br />

51


Inadäquater Affekt (eher selten, aber recht spezifisch für Schizophrenie):<br />

unangemessene emotionale Reaktionen und rascher Wechsel emotionaler<br />

Zustände<br />

Bizarre Verhaltensweisen: P. führen laute Selbstgespräche, hamstern<br />

Lebensmittel, sammeln Müll etc.<br />

[Desorganisierte Sprache]<br />

5.1.3. Tests & Fremdbeurteilungsverfahren zur Diagnose und Verlaufsbeurteilung<br />

PANNS: Die „Positive and Negative Syndrome Scale“ (PANSS) erfasst nicht nur<br />

die Symptome als solche, sondern auch ihre jeweilige Ausprägung! Zur Anwendung<br />

des Tests liegt ein strukturiertes klinisches Interview (SCI-PANNS) vor, das genau<br />

vorgibt, was wann zu fragen ist.<br />

Fragen zur Skala „Wahnideen“ sind z.B.: „Geht es Ihnen gut?“; „Haben sie<br />

eine bestimmte Lebensphilosophie?“ „Manche glauben an den Teufel – Sie<br />

auch?“… Die Fähigkeit zu abstraktem Denken wird untersucht, indem man<br />

die Patienten Sprichwörter interpretieren lässt („Viele Köche verderben den<br />

Brei“ etc.).<br />

Auswertung: Den Angaben zu den verschiedenen Symptomen wird am Ende<br />

jeweils ein Punktwert zw. 1 („nicht vorhanden“) und 7 („extrem vorhanden“)<br />

zugeordnet!<br />

IMPS: Die „Impatient Multidimensional Psychiatric Scale“ (IMPS) ist ein<br />

Fremdbeurteilungsverfahren mit 90 operational definierten Symptomen.<br />

BPRS: Die „Brief Psychiatric Rating Scale” (BPRS) ist ebenfalls ein<br />

Fremdbeurteilungsverfahren und wird v.a. zur Verlaufsbeurteilung eingesetzt; es bietet<br />

einen Leitfaden zur Einschätzung von 18 Symptomen, wobei der Gesamtrohwert das<br />

Ausmaß der Störung wiedergibt!<br />

5.1.3. Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV und der ICD-10<br />

Wichtig: Anders als für andere Störungen gibt es für Schizophrenie kein zentrales<br />

Symptom, das für eine Diagnose vorhanden sein müsste; Ausprägung und Verlauf<br />

einer Schizophrenie können daher sehr heterogen sein. Hinzu kommt eine hohe<br />

Komorbidität mit Suchtmittelabhängigkeiten (50%!) und körperlichen Erkrankungen<br />

(stationär: 46-80%; ambulant: 20-43%!).<br />

Die Differentialdiagnose (s.u.) kann vor diesem Hintergrund äußerst schwierig<br />

sein!<br />

Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV:<br />

A) Mindestens 2 der folgenden 5 Symptome müssen (ohne Behandlung) für<br />

mindestens einen Monat vorhanden sein:<br />

1) Wahn<br />

2) Halluzinationen<br />

3) Desorganisiertes Sprechen (z.B. häufiges Engleisen oder Zerfahrenheit)<br />

4) Grob desorganisiertes oder katatones Verhalten<br />

5) Negative Symptome, d.h. flacher Affekt, Alogie oder Willensschwäche<br />

Beachte: Sind die Hallos Stimmen oder ist der Wahn bizarr, reicht 1 Symptom!<br />

B) Soziale und/oder berufliche Leistungseinbußen<br />

C) Dauer: „Zeichen des Störungsbildes“ für mindestens 6 Monate; zwei der<br />

oben genannten Symptome für mindestens einen Monat (oder weniger, falls<br />

erfolgreich behandelt)<br />

52


Diagnostische Kriterien nach der ICD-10: Schizophrenie (F 20)<br />

Für mindestens einen Monat muss mindestens eins der unter A genannten<br />

oder mindestens 2 der unter B genannten Symptome bestehen:<br />

A) 1. Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, -entzug oder –ausbreitung<br />

2. Kontroll- oder Beeinflussungswahn; Gefühl des Gemachten;<br />

Wahnwahrnehmungen<br />

3. Kommentierende oder dialogische Stimmen<br />

4. Anhaltender, kulturell unangemessener oder unrealistischer Wahn<br />

B) 1. Halluzinationen<br />

2. Gedankenabreißen oder -einschiebungen<br />

2. Katatone Symptome (s.o.)<br />

3. Negative Symptome (s.o.)<br />

4. Auffällige Verhaltensänderungen (wie sozialer Rückzug, Trägheit etc.)<br />

Folgende Typen der Schizophrenie werden von der ICD-10 und dem DSM-IV<br />

unterschieden:<br />

ICD-10 DSM-IV<br />

F 20.0: Paranoide Schizophrenie = Paranoider Typus<br />

F 20.1: Hebephrene Schizophrenie = Desorganisierter Typus<br />

F 20.2: Katatone Schizophrenie = Katatoner Typus<br />

F 20.3: Undifferenzierte Schizophrenie = Undifferenzierter Typus<br />

F 20.4: Postschizophrene Depression = Residualer Typus<br />

F 20.5: Schizophrenes Residuum<br />

F 20.6: Schizophrenia Simplex<br />

Die 3 Hauptgruppen der Schizophrenie sind die ersten 3; sie treten am häufigsten auf<br />

und wurden bereits von Kraeplin unterschieden.<br />

Die paranoide Schizophrenie: ist am allerhäufigsten; betroffen von ihr sind<br />

v.a. Wahrnehmung und Denken; die typischen Symptome sind Halluzinationen<br />

und Wahnvorstellungen (meist Verfolgungswahn)<br />

Die hebephrene (= „jugendliche“) bzw. desorganisierte Schizophrenie:<br />

beginnt meist in der Adoleszenz (daher der Name); betroffen von ihr sind v.a.<br />

Emotion und Motivation; die typischen Symptome sind inadäquater Affekt,<br />

Albernheit, formale Denkstörungen, Ziel- und Planlosigkeit<br />

Der katatone Schizophrenie: ist eher selten; betroffen von ihr sind<br />

Motivation und Motorik; die typischen Symptome sind Wechsel von Stupor<br />

(Starre) und Erregung; Haltungsanomalien, Gedankenarmut und<br />

Antriebslosigkeit.<br />

Die Schizophrenia simplex: beginnt schleichend (zunehmende<br />

<br />

Verhaltensauffälligkeiten) und äußert sich v.a. in sozialem Rückzug,<br />

Affektverflachung und Antriebslosigkeit.<br />

Die Unterteilung der Schizophrenie in die besagten Untergruppen ist problematisch:<br />

1) Sind die genannten Typen oft zeitlich instabil<br />

2) Sind sie phänomenologisch eher unspezifisch<br />

3) Sind sie nur begrenzt valide (d.h. sie haben kaum prognostischen oder<br />

therapeutischen Wert)<br />

In jüngerer Zeit wird daher zunehmend zw. folgenden Typen unterschieden:<br />

1) Typ I-Schizophrenie: ist gekennzeichnet durch positive Symptome<br />

Prämorbide Anpassung: relativ gut<br />

Reaktion auf herkömmliche Neuroleptika: gut<br />

Endzustand der Störung (Prognose): günstig<br />

Biologische Merkmale: auffällige Neurotransmitteraktivität<br />

53


2) Typ II-Schizophrenie: ist gekennzeichnet durch negative Symptome<br />

Prämorbide Anpassung: relativ schlecht<br />

Reaktion auf herkömmliche Neuroleptika: schlecht<br />

Endzustand der Störung (Prognose): schlecht<br />

Biologische Merkmale: strukturelle Gehirnauffälligkeiten<br />

5.1.4. Differentialdiagnose<br />

Die folgenden organischen bzw. somatischen Krankheitsfaktoren müssen<br />

ausgeschlossen werden:<br />

Delir oder Demenz<br />

Epilepsie (insbes. im Temporallappen)<br />

Tumor (insbes. im Frontal- und Tempoallappen)<br />

Schädel-Hirn-Trauma<br />

ZNS-Infektion (z.B. Neurosyphilis, AIDS etc.)<br />

Chorea Huntington (wird autosomal-dominant vererbt - Nachkommen<br />

homozygoter Träger haben„s also 100%ig - und geht ebenfalls mit motorischen<br />

Störungen, Sprachverarmung, geistigem Verfall etc. einher)<br />

Intoxikationen (z.B. Schwermetallvergiftung)<br />

Substanzinduzierte Psychosen (durch Kokain, Halluzinogene, Alkohol etc.)<br />

…<br />

Darüber hinaus müssen die folgenden psychischen Störungen ausgeschlossen werden:<br />

Schizotypische Störung (F 21) bzw. schizotypische Persönlichkeitsstörung<br />

(Achse II; DSM-IV)<br />

Leichte Form der Schizophrenie (anderer Schweregrad also)<br />

Wahnhafte Störung (F 22)<br />

Ist sehr selten; Patienten leiden unter ständigen Wahnideen<br />

(Verfolgungswahn. Liebeswahn etc.), ihr Wahn ist jedoch weniger bizarr<br />

als der von Schizophrenen und sie weisen im Unterschied zu diesen weder<br />

eine desorganisierte Sprache noch Halluzinationen auf!<br />

Akute, vorübergehende psychotische Störungen (F 23)<br />

Daher die lange Dauer: 6 Monate (s.o.)!<br />

Schizoaffektive Störung (F 25)<br />

besteht aus einer Mischung von Symptomen der Schizophrenie und der<br />

affektiven Störungen<br />

Depressive Episode (Major Depression)<br />

Zwangsstörung<br />

Autismus<br />

Simulation<br />

…<br />

54


5.2. Epidemologie und Verlauf<br />

5.2.1. Epidemologie:<br />

Lebenszeitprävalenz: 1 % (unabhängig von Kultur und Rasse)<br />

Beginn der Störung: 20-25 Jahre (Männer); 25-30 Jahre (Frauen)<br />

Die Krankheit setzt also meist in der späten Adoleszenz bzw. im frühen<br />

Erwachsenenalter an, wobei Männer im Schnitt 3 Jahre früher betroffen sind<br />

als Frauen. Sie kann jedoch auch früher (Kindheit) oder später (bis 40-50)<br />

einsetzen!<br />

Geschlechterverteilung: 1:1<br />

Inzidenzrate pro Jahr: 1/10.000<br />

5.2.2. Verlauf:<br />

Schizophrenie verläuft in den meisten Fällen zyklisch, wobei sich 3 Phasen<br />

voneinander abgrenzen lassen:<br />

1) Prodomalphase<br />

Zeitlich und inhaltlich variabel:<br />

In über 80% der Fälle erhöhte Nervosität und Angespanntheit<br />

Außerdem: Konzentrations- und Schlafstörungen; Depression etc.<br />

Deutliches Absinken des Leistungsniveaus<br />

Sozialer Rückzug<br />

2) Akutphase<br />

Zeitlich variabel (min. ein Monat)<br />

Auftreten der positiven Symptomatik<br />

Meist mangelnde Krankheitseinsicht<br />

3) Residualphase<br />

Variable, meist chronisch bleibende Restsymptomatik; meist negativ<br />

Im Einzelnen ist der Verlauf einer Schizophrenie sehr variabel; in der ICD-10 werden<br />

sechs Verlaufstypen unterschieden (F.20.X0-5):<br />

1. Kontinuierlicher Verlauf: konstantes Vorhandensein der Symptome<br />

2. Episodisch mit zunehmendem Residuum (schubförmig progredient): Die<br />

Symptomatik in den Residualphasen nimmt von Schub zu Schub zu<br />

3. Episodisch mit stabilem Residuum (schubförmig): Zwischen den Schüben<br />

(Akutphasen) liegen gleichbleibende Residualphasen (Restsymptomatik)<br />

4. Episodisch-remittierender (phasenhafter) Verlauf: zwischen den<br />

Krankheitsepisoden liegen Phasen vollständiger Remission<br />

5. Unvollständige Remission<br />

6. Vollständige Remission<br />

Zur Häufigkeit bestimmter Verläufe:<br />

5-Jahres-Studie:<br />

Einzelne Episode mit vollständiger Remission: 22%<br />

Mehrere Episoden; Remission vollständig oder teilweise: 35%<br />

Kontinuierlicher Verlauf: 8%<br />

Episodisch-progredienter Verlauf: 35%<br />

Langzeitkatamnese:<br />

25% „geheilt“; 45% leichte bis mittelschwere Residualzustände; 30 %<br />

dauernde schwere Invalidisierung<br />

Lebenserwartung 10 Jahre geringer als bei der Allgemeinbevölkerung; 10<br />

Mal so hohe Suizidrate (10%)<br />

55


Die Vermont-Längsschnittstudie (1987) untersuchte die Lebensbedingungen<br />

von 168 Patienten 32 Jahre nach der ersten Klinikbehandlung<br />

50% in eigener Wohnung; 40% im Wohnheim; 10% stationär; nur 19%<br />

verheiratet; der Rest: ledig, geschieden oder verwitwet; nur 40% mit Job<br />

(meist ungelernt); nur 55% keine oder nur leichte Beeinträchtigungen!<br />

Prognose:<br />

Prädiktoren für einen günstigen Verlauf sind:<br />

Unauffällige Primärpersönlichkeit<br />

Höheres Ausbildungsniveau<br />

Bessere soziale Anpassung<br />

Ungestörte Familienverhältnisse (bei Frauen)<br />

Akuter Krankheitsbeginn (ohne Promodalphase)<br />

Erkennbare psychosoziale Auslösefaktoren<br />

Vermehrt affektive oder paranoide Symptome<br />

Prädiktoren für einen ungünstigen Verlauf sind:<br />

Soziale Isolation<br />

Späte Behandlung<br />

Unverheiratet<br />

Vorangegangene psychiatrische Behandlung<br />

Frühere Verhaltensauffälligkeiten<br />

Fehlende Beschäftigung<br />

5.3. Biologische Ätiologiefaktoren<br />

5.3.1. Genetische und psychophysiologische Faktoren<br />

Mehrere Studien belegen, dass es eine Prädisposition für Schizophrenie gibt, die<br />

genetisch weitergegeben wird:<br />

Während die Lebenszeitprävalenz in der Normalpopulation bei einem Prozent<br />

liegt (s.o.), liegt sie bei eineiigen Zwillingen (von denen ein Geschwisterteil<br />

erkrankt ist) bei knapp 50%, bei zweieiigen Zwillingen bei 17%!<br />

Adoptionsstudien zeigen ferner, dass auch Kinder, die nicht bei ihrer<br />

pathogenen Mutter aufwachsen (Umwelteinfluss), ein erhöhtes<br />

Erkrankungsrisiko haben.<br />

Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass die Negativsyptomatik (Typ II) stärker<br />

von genetischen Faktoren abhängt als die Positivsymptomatik (Typ II)<br />

Ein genetischer Marker für Schizophrenie könnte die Fähigkeit zu<br />

Augenfolgebewegungen sein. Letztere ist bei Schizophrenen und 50% ihrer<br />

Angehörigen beeinträchtigt. Messen lässt sie sich, indem man Pbn ein Pendel<br />

beobachten lässt und dabei mittels Elektrookulographie (EOG) die Augenbewegungen<br />

(glatte Folgebewegungen und Antisakkaden) misst.<br />

Ein genetischer Marker sind DNA-Abschnitte deren Ort bekannt ist und mit<br />

deren Hilfe sich weitere Genorte entdecken lassen; die Fähigkeit, bewegten<br />

Objekten mit den Augen zu folgen, wird auf Chromosom 6 vermutet;<br />

neurologisch hängt sie v.a. mit dem Frontal- und Temporallappen zusammen;<br />

also Arealen, die bei der Schizophrenie oft geschädigt sind (s.u.)<br />

56


Einschub: Das dopaminerge System<br />

Dopamin (DA) gehört zusammen mit Adrenalin und Noradrenalin zur Gruppe der<br />

Katecholamine; der Hauptbildungsort von Dopamin ist die „Substantia nigra“ (ein<br />

Nervenkern im Mesencephalon)<br />

Die Synthese erfolgt in mehreren Schritten mittels verschiedener Enzyme:<br />

L-Phenyalanin L-Tyrosin L-Dopa Dopamin Noradrenalin Adrenalin<br />

Der Dopaminabbau erfolgt über die Enzyme MAO (Monoaminooxidase) und COMT<br />

(Catechyl-O-Methyltransferase) zu Homovanillinsäure (HNA)<br />

Es lassen sich 5 Rezeptortypen unterscheiden: D1-D5; bei allen 5 handelt es sich um<br />

metabotrope Rezeptoren (indirektes Gating)<br />

Der D2-Rezeptor dient häufig als Autorezeptor in der präsynaptischen Membran<br />

und hemmt dort die Wiederaufnahme des ausgeschütteten Dopamins (?!).<br />

4 dopaminerge Systeme lassen sich unterscheiden:<br />

1) Mesostriatales System: Motorik<br />

Von der Substantia nigra aus wird das inhibitorisch auf Bewegungsimpulse wirkende<br />

Striatum (Teil der Basalganglien) mittels Dopamin gehemmt.<br />

Erhöhte Verfügbarkeit von DA im mesostriatalen System: Hyperaktivität und<br />

Verhaltensstereotypien<br />

Verminderte Verfügbarkeit: Parkinson-Symptomatik (Parkinson =><br />

Untergang der dopaminergen Neurone in der Substantia nigra)<br />

2) Mesolimbisches System: Motivation und Verstärkung<br />

Vom ventralen Tegmentum (VTA) zum Nucleus accumbens, zur Amygdala, dem<br />

Hypothalamus und dem Hippocampus<br />

Erhöhte DA-Konzentration im mesolimbischen System: gesteigerte<br />

Nahrungsappetenz und Sexualität; positive Symptomatik der Schizophrenie<br />

(Halluzinationen etc.)<br />

3) Mesokortikales System:<br />

Vom ventralen Tegmentum zum Neocortex, v.a. zu präfrontalen Gebieten<br />

Unteraktivität der mesokortikalen Bahn: Negativsymptomatik der<br />

Schizophrenie (Denkstörungen; Verflachung der Affekte etc.)<br />

4) Tuberohypophysäres System: Hormonsteuerung<br />

Vom Hypothalamus zum Hypophysenhinterlappen<br />

5.3.2. Biochemische Faktoren<br />

Die Dopamin-Hypothese: führt Schizophrenie auf einen Überschuss an Dopamin<br />

zurück! Sie stützt sich dabei v.a. auf folgende Befunde:<br />

1) Die Wirkung von Neuroleptika: Neuroleptika (s.u.) hemmen die dopaminerge<br />

Aktivität und führen (dadurch?) zu einer Linderung der schizophrenen<br />

Symptome!<br />

2) Die Nebenwirklungen von Neuroleptika: erinnern an die Parkinson-Krankheit<br />

(Muskelstarre; Muskelzittern= Tremor etc.), die ihrerseits durch einen Mangel an<br />

Dopamin bedingt ist (Untergang der dopaminergen Zellen in der Substania<br />

nigra).<br />

Zur Behandlung von Parkinson wird L-Dopa verabreicht, das seinerseits<br />

psychose-induzierend wirken kann!<br />

3) Die psychose-induzierende Wirkung von Drogen: Amphetamine können einen<br />

Zustand erzeugen, der dem der paranoiden Schizophrenie sehr ähnlich ist<br />

(Paranoia, Hallos etc.); zurückzuführen ist diese Wirkung auf eine Erhöhung der<br />

Dopamin-Ausschüttung!<br />

57


Probleme der klassischen Dopamin Hypothese und neuere Modifikationen:<br />

Anders als die klassische Dopamin-Hypothese vermuten ließe, liegt der<br />

Hauptmetabolit von Dopamin, die Homovanillinsäure (HVA), bei<br />

Schizophreniepatienten nicht in erhöhter Konzentration vor! Ergo: Bei<br />

Schizophreniepatienten sind vermutlich nicht die Dopamin-freisetzenden<br />

Neurone überaktiv, sondern die Dopamin-Rezeptoren.<br />

Tatsächlich wurde bei Schizophrenen post mortem eine erhöhte Anzahl<br />

von Dopamin-Rezeptoren, v.a. vom D2-Subtyp, gefunden (dieser Befund<br />

lässt sich allerdings auch auf die medikamentöse Behandlung der<br />

betreffenden Patienten zurückführen)<br />

Die negative Symptomatik kann durch Neuroleptika kaum verbessert werden!<br />

Amphetamine führen keineswegs bei allen Patienten zu einer Symptom-<br />

Verschlechterung; bei manchen (nämlich denen mit überwiegend negativer<br />

Symptomatik) bewirken sie sogar eine Besserung! Neuere Ansätze ordnen die<br />

positive- und negative Symptomatik daher je unterschiedlichen Dopamin-<br />

Systemen zu. Die positive Symptomatik wird auf eine Überaktivität der<br />

mesolimbischen Nervenbahnen, die negative auf eine Unteraktivität der<br />

mesokortikalen Nervenbahnen zurückgeführt.<br />

Sowohl die mesolimbischen, als auch die mesokortikalen Nervenbahnen<br />

(s.o.) beginnen im ventralen Tegmentum (Teil des Mesencephalons).<br />

Während letztere von dort zum präfrontalen Kortex verlaufen, führen<br />

erstere jedoch zum Hypothalamus, der Amygdala, dem Hippocampus und<br />

dem Nucleus accumbens (=Belohnungs- und Verstärkungszentrum).<br />

Da präfrontaler Kortex und limbisches System ihrerseits wiederum durch<br />

dopaminerge Nervenbahnen verbunden sind, sind die beiden Systeme<br />

jedoch nicht unabhängig voneinander! Die Dopamin-Neuronen im<br />

präfrontalen Kortex wirken z.B. hemmend auf die Dopaminneuronen im<br />

limbischen Bereich!<br />

Zusammenfassung des Modells:<br />

Verletzung des PFC<br />

Geringe Aktivität der<br />

Dopaminneuronen im PFC<br />

Geringere Hemmung der mesolimbischen<br />

DA-Neuronen<br />

Negative Symptome der<br />

Schizophrenie<br />

Positive Symptome der<br />

Schizophrenie<br />

Bewertung der biochemischen Befunde: Auch die neuere Dopamin-Theorie vermag<br />

Schizophrenie letztlich nicht befriedigend zu erklären; darüber hinaus gilt sie<br />

vermutlich ohnehin nur für Typ II-Schizophrenien.<br />

Folgende Probleme sind nach wie vor ungeklärt:<br />

Allgemeine methodische Probleme: Die therapeutische Wirksamkeit von<br />

Medikamenten ist kein Beweis, da der Einfluss von Drittvariablen nicht<br />

ausgeschlossen werden kann! Darüber hinaus kann die dopaminerge<br />

Überaktivität bei Schizophrenen auch auf andere Faktoren, wie z.B. deren<br />

übermäßigen Substanzmissbrauch (Alkohol, Kaffee etc.), die Ernährung<br />

oder mangelnde körperliche Aktivität zurückgehen.<br />

58


Neuroleptika blockieren die Dopaminrezeptoren schon kurz nach der<br />

Einnahme; ihre therapeutische Wirkung tritt jedoch erst nach Tagen oder<br />

Wochen auf!<br />

Möglicher Weise wirkt die Blockade der D2-Rezeptoren nicht als<br />

solche therapeutisch, sondern lediglich indirekt, indem sie<br />

Auswirkungen auf andere Gehirnregionen und Transmittersysteme<br />

hat!<br />

Rätselhaft ist auch, warum Neuroleptika den Dopaminspiegel bzw. die<br />

Aktivität der Dopaminrezeptoren unter das normale Niveau senken<br />

müssen, um therapeutisch wirksam zu sein! – Der Theorie zufolge müsste<br />

ein normales Niveau ausreichend sein!<br />

Es ist wenig wahrscheinlich, dass nur ein einziger Transmitter für die<br />

vielen versch. Symptome einer Schizophrenie verantwortlich sein soll!<br />

Atypische Neuroleptika (s.u.) wirken, obwohl sie die D2-Rezeptoren nur<br />

schwach blockieren.<br />

Fazit: Vermutlich sind mehrere Transmittersysteme an der Genese einer<br />

Schizophrenie beteiligt, so dass die dopaminergen Systeme lediglich einen<br />

modulierenden Teil der Krankheit darstellen.<br />

Vermehrt untersucht werden in jüngerer Zeit u.a. die Bedeutung von<br />

Serotonin und Glutamat (das bei Schizophrenen in niedrigerer<br />

Konzentration vorhanden ist als bei „normalen“ Pbn)<br />

5.3.3. Neuroanatomische und neuropsychologische Faktoren<br />

Post-Mortem-, CT- und MRT-Untersuchungen haben folgende strukturellen<br />

Auffälligkeiten zu Tage gebracht:<br />

Erweiterte Ventrikel: Schizophrene Patienten haben oftmals erweiterte<br />

Ventrikel – und damit weniger subkortikale Gehirnzellen (betrifft v.a. den<br />

frontalen und temporalen Bereich).<br />

Studie: 12 von 15 eineiigen Zwillingen, die hinsichtlich der Schizophrenie<br />

diskordant waren, konnten anhand dieses Merkmals voneinander<br />

unterschieden werden. Aus dieser Studie folgt zweierlei: 1. Besteht<br />

zwischen der Erweiterung der Ventrikel und Schizophrenie ein<br />

Zusammenhang. 2. Kann die Erweiterung der Ventrikel nicht bzw. nicht<br />

nur genetisch bedingt sein.<br />

Auch wenn die Erweiterung der Ventrikel zu den am häufigsten<br />

nachgewiesenen Befunden zählt, ist sie weder notwendig, noch spezifisch<br />

für eine Schizophrenie. Nicht alle Schizophrenen haben also erweiterte<br />

Ventrikel und nicht alle, die erweiterte Ventrikel haben, sind schizophren<br />

(eine Erweiterung findet sich auch oft bei anderen Psychosen, wie z.B. der<br />

Manie)<br />

Hypofrontalität und präfrontale Athrophie (Gewebeschwund):<br />

Verschiedene Befunde sprechen dafür, dass Schizophrenie mit einer<br />

Unteraktivierung und/oder mangelnden Ausprägung des präfrontalen Kortex<br />

einhergeht.<br />

Der PFC ist u.a. bedeutsam für eine adäquate Handlungsplanung und<br />

-steuerung und die Regulation von Emotionen. Beide Funktionsbereiche<br />

sind bei Schizophrenen massiv beeinträchtigt!<br />

MRT-Untersuchungen an Schizophrenen weisen auf eine Abnahme der<br />

grauen Substanz im präfrontalen Kortex hin.<br />

Funktionale bildgebende Verfahren (fMRT etc.) zeigen, dass im PFC von<br />

Schizophrenen eine geringere Stoffwechselaktivität und Durchblutung<br />

59


stattfindet – und zwar auch dann, wenn die Pbn psychologische Aufgaben<br />

bearbeiten, deren Bearbeitung bei gesunden Pbn zu einer<br />

Aktivitätssteigerung im PFC führt.<br />

Beispiel: Der „Wisconsin Cart Sorting Test“ (WCST) erfasst<br />

kognitive Flexibilität; Aufgabe ist es, Karten mit unterschiedlichen<br />

Farben, Symbolen und Zahlen nach wechselnden Regeln zu ordnen<br />

(entweder nach Farbe, Symbol oder Zahl); Schizophrene schneiden<br />

bei dieser Aufgabe nicht nur wesentlich schlechter ab, sondern weisen<br />

bei der Bearbeitung weniger Stoffwechselaktivität im PFC auf!<br />

Hippocampus-Veränderungen: Der Hippocampus ist paarig angelegt und<br />

liegt im medialen Temporallappen; seine Hauptfunktion besteht in der<br />

Konsolidierung und Koordinierung von Gedächtnisinhalten.<br />

Bei schizophrenen Patienten ist der anteriore (vordere) Hippocampus oft<br />

verkleinert; darüber hinaus weist er vielfach eine andere Zytoarchitektur<br />

auf: die in ihm enthaltenen Neuronen (in 3 Schichten von CA1- CA3) sind<br />

bei Schizophrenen nämlich oftmals nicht in eine Richtung ausgerichtet,<br />

sondern desorganisiert!<br />

Den neuroanatomischen Defiziten entsprechen verschiedene neuropsychologische<br />

Mängel: Die meisten Schizophrenen (80%) zeigen deutliche<br />

Aufmerksamkeits-, Arbeitsgedächtnis-, Wortflüssigkeits-, Handlungskontroll- und<br />

Intelligenzdefizite! Die Aufmerksamkeitsdefizite von Schizophrenen äußern sich in<br />

einer erhöhten Ablenkbarkeit durch irrelevante Reize; letztere ist vermutlich auf eine<br />

gestörte Reizselektion (sprich: einen defekten Aufmerksamkeitsfilter)<br />

zurückzuführen.<br />

Bei Tests zur Gedächtnisspanne mit ablenkenden Reizen schneiden<br />

Schizophrene schlechter ab als Gesunde; ihre Defizite hängen dabei v.a. mit<br />

dem ausbleibenden Primacy-Effekt zusammen.<br />

Ausbleibender Primacy-Effekt => Gestörter Enkodierungsprozess<br />

Auch beim „Continous Performance Test“ (CPT), der zur Testung der<br />

selektiven Aufmerksamkeit und der Daueraufmerksamkeit dient, sind<br />

Schizophrene schlechter. Die Pbn bekommen beim CPT über längere Zeit<br />

verschiedene Buchstaben dargeboten und sollen, immer wenn auf ein „O“ ein<br />

„X“ folgt, mit einem Tastendruck reagieren (s.u.).<br />

Die sog. „Prepulse Inhibition“ (PPI) fällt bei Schizophrenen deutlich geringer<br />

oder sogar ganz aus; man versteht darunter das Phänomen, dass die Startle-<br />

Reaktion auf einen Reiz (lauter Ton, Berührung etc.) geringer ausfällt, wenn<br />

diesem Reiz ein anderer Reiz (prepulse) unmittelbar vorangeht. Erklärung: Der<br />

erste Reiz (prepulse) muss erst fertig verarbeitet werden, bevor man sich ganz<br />

einem zweiten Reiz widmen kann (Schutz für Reizüberflutung = „sensory<br />

gating“).<br />

Dass die PPI bei Schizophrenen geringer ist, deutet auf eine gestörte<br />

Informationsverarbeitung hin: Jeder Reiz scheint als neu und bedeutsam<br />

erachtet zu werden.<br />

Nebenbemerkung: Bei Rauchern ist die PPI am höchsten; vielleicht<br />

rauchen auch deshalb so viele Schizophrene (zu Selbstheilungszwecken!)<br />

50% der Schizophrenen (v.a. die mit negativer Symptomatik) zeigen auf<br />

harmlose Töne normaler Lautstärke keine elektrodermale<br />

Orientierungsreaktion (kurzfristige Erhöhung der Hautleitfähigkeit?).<br />

Die Orientierungsreaktion tritt normalerweise bei neuen Reizen geringer<br />

physikalischer Intensität auf; sie dient der Aufmerksamkeitsausrichtung<br />

und äußert sich u.a. in einem kurzfristigen Absinken der Herzrate.<br />

60


Schizophrene begehen beim dichotischen Hörtest mehr Fehler, aber eher, weil<br />

sie relevante Reize einfach nicht beachten oder vergessen – und nicht so sehr,<br />

weil sie sich von der 2. Tonspur ablenken lassen.<br />

Schlussfolgerungen:<br />

Die genannten Befunde legen nahe, dass eine anticholinerge Medikation<br />

(wie sie gegen motorische Nebenwirkungen häufig eingesetzt wird) evtl.<br />

problematisch ist (schließlich spielt ACh auch für<br />

Aufmerksamkeitsprozesse eine entscheidende Rolle)<br />

Wie die Aufmerksamkeitsdefizite mit der sonstigen Symptomatik<br />

zusammenhängen, ist noch nicht wirklich geklärt. Es liegt jedoch nahe, sie<br />

zu den formalen Denk- und Sprachstörungen in Bezug zu setzen.<br />

5.3.4. Sonstige biologische Faktoren<br />

Geburtskomplikationen: Bei Personen, die später schizophren werden, sind<br />

besonders häufig Geburtskomplikationen aufgetreten (Frühgeburt, vermindertes<br />

Geburtsgewicht, Sauerstoffunterversorgung etc.); darüber hinaus scheinen<br />

<br />

Infektionen während der Schwangerschaft (v.a. im 3-7 Monat => Entwicklung des<br />

Kortex) das Risiko für Schizophrenie zu erhöhen.<br />

Die meisten schizophrenen Patienten sind in den Wintermonaten (November,<br />

Dezember) geboren (Temperaturminderung; Infektionen; Medikamenteneinnahme<br />

etc. werden als mögliche Moderatoren diskutiert)<br />

Nach Influenza- und Grippeepidemien treten schizophrene Erkrankungen<br />

häufiger auf (dieser Effekt wird jedoch nicht in allen Studien gefunden)<br />

Problem und Lösung: Warum brechen Schizophrenien, wenn die sie<br />

bedingenden Gehirnläsionen schon während der Schwangerschaft oder bei der<br />

Geburt erfolgen, dann erst im frühen Erwachsenenalter aus? - Weil der<br />

präfrontale Kortex erst in der Adoleszenz voll ausreift und vorher noch nicht<br />

die entscheidende Rolle spielt, die er danach inne hat!<br />

Um mögliche Vulnerabilitätsfaktoren einer Krankheit zu ermitteln, lassen sich<br />

folgende Arten von Studien durchführen:<br />

1) Prospektive High-risk-Studien: untersuchen die Entwicklung von Kindern<br />

und Jugendlichen mit hohem Risiko (schizophrene Mutter); die bisher<br />

wichtigsten Ergebnisse solcher Studien:<br />

Pbn, die später tatsächlich erkranken, weisen oft eine verzögerte<br />

motorische Entwicklung und einen geringeren IQ auf; sie erbringen<br />

schlechtere Schulleistungen und werden eher als schwierig empfunden.<br />

Darüber hinaus sind bei ihrer Geburt häufiger Komplikationen aufgetreten<br />

(s.o.) als bei den Kontrollpersonen und denen, die nicht erkranken!<br />

Die Wahrscheinlichkeit einer negativen Symptomatik wird erhöht<br />

durch:<br />

Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen<br />

Elektrodermale Non-Responsivität (s.o.: Orientierungsreaktion)<br />

Die Wahrscheinlichkeit einer positiven Symptomatik wird erhöht durch:<br />

Unstabile Familienverhältnisse (Trennung der Eltern…)<br />

Vorübergehender Heimunterbringung<br />

2) Retrospektive Studien (Follow-back-Studien): rekonstruieren nachträglich<br />

die Entwicklungsgeschichte von Schizophrenen (methodisch problematisch)<br />

Mehr Schuleinträge; stärkerer sozialer Rückzug; schlechtere Noten<br />

Analysen von Familienvideos zeigen, dass Schizophrene schon als Kinder<br />

weniger positive Emotionen zeigten und in der motorischen Entwicklung<br />

hinter normalen Kindern (z.B. ihren Geschwistern) zurück waren.<br />

61


3) Kohorten-Studien: untersuchen gesamte Geburtskohorten über lange<br />

Zeiträume, so z.B. in England geschehen (5000 Vpn über 30 Jahre; 30 davon<br />

wurden schizophren)<br />

5.4. Soziale und psychologische Ätiologiefaktoren<br />

5.4.1. Labelling-Ansatz<br />

Der Labelling- bzw. Etikettierungsansatz (in den 60ern entstanden) geht davon aus,<br />

dass psychische Störungen die Folge gesellschaftlicher Stigmatisierungen sind.<br />

Menschen sind demnach nicht von sich aus „abnorm“, sondern werden erst durch die<br />

Gesellschaft in diese Rolle gezwängt; nur, wer von der Mehrheit als „gestört“<br />

angesehen- und entsprechend behandelt wird, entwickelt tatsächlich eine bleibende<br />

„Störung“!<br />

Rosenhan-Experiment (1972): Rosenhan schickte 8 normale Personen an<br />

verschiedene Kliniken, um sich dort als „Patienten“ auszugeben und über<br />

akustische Halluzinationen zu klagen: Die betreffenden Personen wurden in<br />

fast allen Fällen eingewiesen und erst nach 19 Tagen (in einem Fall sogar 59<br />

Tagen!) wieder entlassen. Obwohl sie sich nach dem Diagnosegespräch wieder<br />

völlig normal verhielten, wurde (außer von einigen Mitpatienten!) von<br />

niemandem bemerkt, dass sie gesund waren!<br />

Während des Klinikaufenthalts protokollierten die „Pseudopatienten“<br />

genauestens, wie mit ihnen umgegangen wurde: Ihre Fragen wurden nicht<br />

ernst genommen, es wurden keine ernsthaften Gespräche geführt etc. etc.<br />

Kritik: Es gibt außer dem Rosenhan-Experiment kaum empirische Befunde, die den<br />

Labelling-Ansatz stützen könnten, dafür aber eine Vielzahl von Befunden, die gegen<br />

ihn sprechen.<br />

1) Gibt es keine gesellschaftspezifischen Unterschiede, was die Häufigkeit von<br />

Schizophrenie betrifft<br />

2) Bestehen, was die Zeit vor und nach einem Klinikaufenthalt betrifft, i.d.R. keine<br />

Unterschiede in sozialen Variablen wie dem Beruf oder Beziehungen; sprich:<br />

die Patienten sind nachher nicht weniger angepasst als vorher!<br />

5.4.2. Sozioökonomischer Status<br />

Die Schizophrenierate ist in den untersten Sozial-Schichten (sprich: in Slums und<br />

Arbeitervierteln) am höchsten!<br />

Dazu gibt es 2 Erklärungen:<br />

1) Soziogenetische Hypothese („social stress“): Das Leben unter den<br />

schlechten Bedingungen ist eine Ursache der Krankheit (mehr Stress, mehr<br />

kritische Life-Events, schlechtere Ernährung, schlechtere medizinische<br />

Versorgung, weniger Bildung etc.)<br />

2) Social-Drift Hypothese („social selection“): Nicht die soziale Schicht<br />

bedingt die Krankheit, sondern die Krankheit die soziale Schicht. Schon<br />

im Vorfeld der akuten Krankheit driften Schizophrene aufgrund der<br />

Symptomatik der Promodalphase (Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug<br />

etc.) in die unterste Schicht ab.<br />

Die empirischen Daten sprechen eher für die Social-Drift Hypothese (man<br />

braucht sich dazu nur die Herkunftsfamilien der Schizophrenen anzuschauen,<br />

die in den meisten Fällen einen besseren sozioökonomischen Status innehaben)<br />

62


5.4.3. Familiäre Interaktion<br />

Familientherapeutische Ansätze führen Schizophrenien auf eine gestörte familiäre<br />

Interaktion zurück.<br />

Bateson, Watzlawick & Co (1956): stellten in diesem Zusammenhang die<br />

Theorie der „Doppelbindung“ („Double bind“) auf; sie verstehen darunter<br />

paradoxe Botschaften, auf die nicht adäquat reagiert werden kann; also z.B.<br />

wenn Mama mit Tränen in den Augen und zittriger Stimme (nonverbale<br />

Ebene) meint: „Nein, nein, du brauchst dir keine Sorgen machen; mir geht’s<br />

wunderbar!“<br />

Die These: Werden Kinder von ihren Bezugspersonen gehäuft mit<br />

derartigen Double-Bind-Botschaften konfrontiert, entwickeln sie im<br />

Extremfall eine Schizophrenie; sie verlieren jedwedes Gespür für<br />

zwischenmenschliche Kommunikation!<br />

Singer et al. (1975): sprechen von „kommunikativer Abweichung“<br />

(„communication deviance“); ihre These ist jedoch letztlich dieselbe:<br />

Schizophrenien sind auf gestörte Kommunikationsformen in der<br />

Herkunftsfamilie zurückzuführen.<br />

Kritik:<br />

Die Gültigkeit der beiden genannten Ansätze ist empirisch nicht belegt!<br />

Auch wenn gestörte Kommunikationsmuster einen Risikofaktor darstellen<br />

sollten, ist dieser wohl kaum schizophreniespezifisch!<br />

5.4.4. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (VSM) und Expressed Emotion (EE)<br />

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (von Liberman) geht von einer starken genetischen<br />

Komponente aus, betont aber, dass dispositionelle Vulnerabilitätsfaktoren nur im<br />

Zusammenspiel mit Umweltfaktoren zu einer Schizophrenie führen!<br />

Zu berücksichtigen sind dementsprechend nicht nur biologische, sondern auch<br />

psychosoziale und familiäre Faktoren!<br />

Ein zentraler Forschungszweig innerhalb des Vulnetabilitäts-Stress-Modells<br />

beschäftigt sich dementsprechend mit dem Einfluss, den die nächsten Angehörigen<br />

schizophrener Patienten auf deren Krankheitsverlauf haben.<br />

Als die entscheidende Variable wird dabei die „Expressed Emotion“ (EE) der<br />

Familie angesehen; die EE (~emotionales Klima) äußert sich in<br />

offener/verdeckter Feindseligkeit gegenüber dem kranken Familienmitglied<br />

(kritische Bemerkungen etc.) und/oder in emotionalem Überengagement<br />

(Überbehütung); ist sie hoch, besteht ein hohes Rückfallrisiko (ca. 50% nach 9-<br />

12 Monaten), ist sie niedrig, eher nicht (rund 20%!).<br />

Das „Camberwell Family Interview“ ist ein halbstandardisiertes Interview<br />

zur Erfassung des emotionalen Klimas in Familien psychisch kranker<br />

Menschen; es zielt dabei speziell auf die Messung der „Expressed Emotion“.<br />

Zu diesem Zweck werden die erhobenen Aussagen von ausgebildeten<br />

Ratern anhand von 4 Skalen beurteilt:<br />

a) Kritik (Ausdruck von Missbilligung, Ärger, Abneigung,… gegenüber<br />

dem Patienten)<br />

b) Feindseligkeit (Wird der Patient aufgrund überdauernder<br />

Persönlichkeitsmerkmale oder wegen umschriebener Verhaltensweisen<br />

missbilligt?)<br />

c) Emotionales Überengagement (extreme Sorgen um den Patienten,<br />

Aufopferung für den Patienten; übertriebene Fürsorglichkeit etc.)<br />

d) Wärme (Sympathie, Sorge,…)<br />

63


Das CFI wird im klinischen Alltag bedauerlicherweise kaum eingesetzt, da<br />

zu zeitaufwendig (1-2 h) und kaum relevant für die<br />

Indikationsentscheidung!<br />

Weitere Ergebnisse zur EE:<br />

Der kausale Zusammenhang zw. EE und Krankheitsverlauf ist vermutlich<br />

bidirektional: Neuere Studien zeigen z.B., dass kritische Bemerkungen in<br />

Familien mit hoher EE durch bizarre Äußerungen des Patienten verstärkt<br />

werden, so wie umgekehrt, Patienten, die von ihrer Familie viel kritisiert<br />

werden, mehr bizarre Gedanken äußern!<br />

Der Zusammenhang von EE und Krankheitsverlauf ist nicht spezifisch für<br />

Schizophrenie, sondern findet sich auch bei anderen Störungen wie der<br />

Depression oder bipolaren Störungen!<br />

Das Ausmaß der EE ist kulturabhängig: In Indien z.B. ist der Anteil an<br />

Familien mit „high EE“ wesentlich geringer (22%) als im<br />

angloamerikanischen Raum (knapp 70%)!<br />

EE bzw. Stress allgemein wirkt vermutlich über die Hypothalamus-<br />

Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (s.u.)<br />

Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA): Stress<br />

aktiviert die HPA, die ihrerseits in einem bidirektionalen Zusammenhang zur<br />

dopaminergen Aktivität steht!<br />

Stress (etwa durch eine hohe EE) aktiviert die HPA und führt dadurch zur<br />

Sekretion von Kortisol. Kortisol wiederum erhöht die Dopaminaktivität und<br />

kann dadurch die Schizophreniesymptome verstärken. Darüber hinaus steigert<br />

eine erhöhte Dopaminaktivität die Aktivierung der HPA, was die Betroffenen<br />

besonders stressempfindlich macht!<br />

Stress (EE etc.) HPA Kortisol Dopaminaktivität<br />

Positive Rückkopplung<br />

Darüber hinaus führt Stress zu verstärktem Substanzmissbrauch; Drogen<br />

wiederum stimulieren die Dopaminsysteme (=> positive Symptomatik)<br />

Zusammenfassung: Robuste (in mehreren Studien nachgewiesene) Prädiktoren für<br />

den Verlauf einer Schizophrenie sind:<br />

Soziodemographische und familienbezogene Daten<br />

Gute Prognose: verheiratet, niedrige EE<br />

Schlechte Prognose: ledig/geschieden/getrennt; hohe EE<br />

Prämorbide Persönlichkeit und Anpassung<br />

Gute Prognose: gute Anpassung im Arbeits- und Freizeitbereich;<br />

extrovertierte oder zyklothyme Persönlichkeit<br />

Schlechte Prognose: Soziale Isolation<br />

Vorausgegangene Krankheitsepisoden<br />

Gute Prognose: seltener und von kürzerer Dauer<br />

Schlechte Prognose: häufiger und von längerer Dauer<br />

Art des Krankheitsbeginns<br />

Gute Prognose: akut<br />

Schlechte Prognose: schleichend; Negativsymptomatik<br />

64


5.5. Behandlung<br />

5.5.1. Medikamentöse Behandlung<br />

Neuroleptika (auch „Antipsychotika“ genannt) haben eine antipsychotische und<br />

sedierende Wirkung; sie sind daher bei der Behandlung von Schizophrenien und<br />

anderen psychotischen Störungen unverzichtbar!<br />

Neuroleptika werden sowohl zur Akutbehandlung, als auch zur<br />

Rückfallprophylaxe eingesetzt.<br />

Der biochemische Wirkmechanismus von Neuroleptika ist hochkomplex und<br />

noch immer nicht bis ins Letzte geklärt:<br />

Gemeinsam ist allen Neuroleptika ihre hemmende Wirkung auf die<br />

dopaminerge Übertragung; erreicht wird diese durch die antagonistische<br />

Besetzung der Dopaminrezeptoren; für die antipsychotische Wirkung ist<br />

dabei insbes. die Blockade der D2-Rezeptoren bedeutsam.<br />

Neuroleptika interagieren aber auch mit anderen Transmittersystemen:<br />

Rezeptoren für Serotonin (insbes. 5-HT2A), Acetylcholin (meist α1),<br />

Histamin und Noradrenalin z.B. werden von ihnen, wenn auch in<br />

geringerem Maße, teilweise ebenfalls blockiert!<br />

Neuroleptika haben eine Vielzahl von Nebenwirkungen – besonders ins<br />

Gewicht fallen dabei die extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen (s.u.),<br />

die sich folgendermaßen erklären lassen:<br />

Blockiert werden nicht nur die Dopaminrezeptoren des mesolimbischen<br />

und mesokortikalen Systems (schizophrene Symptomatik), sondern auch<br />

die des mesostriatalen Systems (Motorik) Parkinson-Symptomatik<br />

Wechselwirkung mit anderen Transmittersystemen, insbes. Verminderung<br />

der ACh-Aktivität im Striatum (die für die Motorik überaus wichtig ist)<br />

Je nachdem, ob die antipsychotische oder die sedierende Wirkung im<br />

Vordergrund steht (wovon zumindest bei den typischen Neuroleptika das<br />

Ausmaß der motorischen Nebenwirkungen abhängt), wird zwischen hoch-,<br />

mittel- und niedrigpotenten Neuroleptika unterschieden.<br />

Bei ersteren (z.B. bei Haloperidol) sind die antipsychotische Wirkung und<br />

damit die motorischen Nebenwirkungen im Verhältnis zur sedierenden<br />

Wirkung hoch, bei den niedrig-potenten Neuroleptika ist es umgekehrt!<br />

Alle Neuroleptika wirken symptomatisch; d.h. sie führen zu keiner Heilung im<br />

eigentlichen Sinne, sondern bekämpfen lediglich die Symptomatik!<br />

Zumindest die klassischen bzw. typischen Neuroleptika haben dabei kaum<br />

lindernde Wirkung auf die Negativsymptomatik, sondern können diese im<br />

schlimmsten Fall sogar noch verschlimmern!<br />

Neuroleptika bewirken keine Bewusstseinsveränderung und führen nicht zu<br />

Toleranzentwicklung und Gewöhnung!<br />

Geschichtliches:<br />

Früher (1. Hälfte des 20.Jh.): Zwangsjacken, Elektrokrampftherapie und<br />

präfrontale Lobotomie (Durchtrennung der Nervenbahnen zw. Frontallappen<br />

und den unteren Gehirnzentren)!<br />

1. Revolution: Neuroleptika wurden erstmals in den 50ern (1952 in Europa,<br />

1954 in den USA) eingesetzt; das erste Neuroleptikum war dabei<br />

Chlorpromazin. Der Anteil dauerhaft hospitalisierter Patienten wurde dadurch<br />

enorm reduziert (ein gigantischer Erfolg)!<br />

2. Revolution: Seit rund 30 Jahren wird vermehrt auf atypische Neuroleptika<br />

gesetzt (s.u.); das erste atypische Neuroleptikum war Clozapin!<br />

65


Zum Unterschied zwischen typischen (z.B. Chlorpromazin, Haloperidol,…) und<br />

atypischen (z.B. Clozapin und Risperidon) Neuroleptika: Letztere haben a) weniger<br />

Nebenwirkungen (v.a. die extrapyramidal-motorischen Störungen treten hier in den<br />

Hintergrund) und b) ein weiteres Wirkungsfeld, sofern durch sie auch die negative<br />

Symptomatik gelindert werden kann. Bezüglich ihrer chemischen Beschaffenheit sind<br />

sie jedoch äußerst heterogen (sie zu einer Gruppe zusammenzufassen ist daher nicht<br />

unproblematisch).<br />

Typische Neuroleptika: blockieren vorwiegend die Dopaminrezeptoren, und<br />

zwar insbes. die D2-Rezeptoren!<br />

Resultat: sämtliche Dopamin-Systeme werden mehr oder minder<br />

lahmgelegt (=> EPMS); die serotoninerge Übertragung bleibt dagegen<br />

weitgehend unbeeinflusst (=> Negativsymptomatik);<br />

Atypische Neuroleptika: blockieren zwar ebenfalls die D2-Rezeptoren, aber<br />

in wesentlich geringerem Ausmaß; darüber hinaus besetzten sie u.a. (und zwar<br />

recht umfassend) die serotinergen 5-HT2A-Rezeptoren. Bei letzteren handelt es<br />

sich um Autorezeptoren, die nicht nur die Serotoninausschüttung regulieren,<br />

sondern, zumindest indirekt, auch Einfluss auf die Freisetzung von Dopamin<br />

haben.<br />

Resultat: Da nicht alle D2-Rezeptoren besetzt werden, kommt es zu<br />

weniger extrapyramidalen-motorischen Störungen; durch die Blockade der<br />

5-HT2A-Rezeptoren (=> vermehrte Serotoninfreisetzung) wird die<br />

Negativsymptomatik gelindert.<br />

Einige Neuroleptika (und Substanzgruppen) im Überblick:<br />

Trizykl.Neuroleptika Thioxanthene Butyrophenone „Atypische“ N.<br />

Chlorpromazin<br />

(Propaphenin)<br />

Perazin<br />

(Taxilan)<br />

Promethazin<br />

(Atosil)<br />

Haloperidol<br />

Benperidol<br />

(Haldol)<br />

Clozapin<br />

(Leponex)<br />

Risperidon<br />

(Risperidal)<br />

Zu den Nebenwirkungen:<br />

Extrapyramidale Nebenwirkungen:<br />

Parkinsonoide Symptomatik (bei 20-30% der Patienten): Rigor<br />

(Muskelstarre); Tremor (Muskelzittern); Hypokinese (Bewegungsarmut:<br />

kleinschrittiger Gang etc.), Akinese etc.<br />

Akute Dystonien = Verkrampfungen und Fehlhaltungen (ca. bei 20%;<br />

v.a. anfangs): Zungen-Schlund-Krampf; Blickkrämpfe; Retrocollis (Kopf<br />

durch Krampf nach hinten gebeugt); Torticollis („verdrehter Hals“),…<br />

Akathisie = „Sitzunruhe“ (bei ca. 20%)<br />

Früh- und Spätdyskinesien (bei ca. 20 %): unwillkürliche Bewegungen<br />

v.a. im Mundbereich; Spätdyskinesien sind dabei besonders problematisch;<br />

sie treten erst nach längerfristiger Medikation (manchmal erst nach Jahren)<br />

auf und sind oft irreversibel!<br />

„Malignes Postsynaptisches Syndrom“ (bei 1% der Patienten): Schwere<br />

Muskelstarre, begleitet von Fieber, Herzrasen und erhöhtem Blutdruck; in<br />

20% der Fälle tödlich!<br />

Anticholinerge Nebenwirkungen:<br />

Mundtrockenheit; Miktionsstörungen (Probleme beim Pinkeln);<br />

Obstipation (chronische Verstopfung)<br />

Gewichtszunahme (vermutlich eine antiserotonerge Nebenwirkung, die v.a.<br />

bei atypischen Neuroleptika auftritt)<br />

Brustwachstum, Milchfluss, sexuelle Dysfunktionen<br />

66


Zur Wirkung:<br />

Die Wirksamkeit von Neuroleptika ist eindeutig nachgewiesen: Sie führen<br />

nicht nur bei den meisten Patienten zu einer signifikanten Besserung der<br />

Symptome, sondern senken auch die Rückfallwahrscheinlichkeit<br />

(Erhaltungstherapie).<br />

Non-Responder: Lediglich 5-25% der Patienten sprechen auf Neuroleptika<br />

nicht an; dem Rest ist mit ihnen geholfen (wenn auch in unterschiedlichen<br />

Ausmaß).<br />

Zum Vergleich: Bei Placebo-Gabe kommt es lediglich (bzw. immerhin) bei<br />

15% der Patienten zu einer Remission!<br />

Neuroleptika sind der wirksamste Faktor der Rückfallprophylaxe! Werden sie<br />

abgesetzt, erleiden auf Dauer 70-80% der Patienten einen Rückfall; das gilt<br />

auch, wenn die Medikation erst nach 1 bis 5 Jahren Symptomfreiheit beendet<br />

wird.<br />

Durch Symptomfreiheit wird das Rückfallrisiko also nicht reduziert; durch<br />

dauerhafte Medikation dagegen ganz gewaltig (zum Vergleich: unter<br />

Placebo gibt es mehr als doppelt so viele Rückfälle als unter Medikation!)<br />

Zur Anwendung:<br />

Frühinterventions- vs. Niedrigdosierungsstrategie<br />

Ersterer geht es darum, einer Verfestigung der Störung von vornherein den<br />

Boden zu entziehen; letzterer darum, die Nebenwirkungen so gering wie<br />

möglich zu halten!<br />

Problem: Mehr als die Hälfte der Patienten beendet die Medikation nach der<br />

Entlassung (Gründe: Nebenwirkungen; verzögerte Wirkung;<br />

Negativsymptomatik, fehlende Krankheitseinsicht etc.)<br />

Daher oft Depotgabe (Neuroleptikum wird intramuskulär appliziert, sprich:<br />

gespritzt, und bleibt dort, je nach Präparat, ein bis vier Wochen aktiv)!<br />

Außerdem: Psychotherapie (s.u.), da diese die Compliance erhöht<br />

„Konsensus-Richtlinien“: medikamentöse Rezidivprophylaxe nach<br />

Erstmanifestation für 1 Jahr, nach einer weiteren Episode für mindestens 5<br />

Jahre!<br />

Risiken der Langzeitmedikation:<br />

Spätdyskinesien (s.o.)<br />

Verstärkung der „Minus-Symptomatik“ (kognitive Defizite,<br />

Affektverflachung etc.)<br />

67


5.5.2. Psychotherapie<br />

Auch wenn auf Neuroleptika bei der Behandlung von Schizophrenien nicht verzichtet<br />

werden kann, sollte die Medikation immer von psychotherapeutischen Maßnahmen<br />

begleitet werden.<br />

Dass Psychotherapie die Effektivität medikamentöser Behandlung erhöht,<br />

konnte für folgende therapeutischen Programme nachgewiesen werden:<br />

1) Interpersonale Therapie (Trainingsprogramme zur Verbesserung kognitiver<br />

und sozialer Fertigkeiten)<br />

2) Psychoedukative bzw. verhaltenstherapeutische Familienbetreuung (nach<br />

Falloon et al.)<br />

3) Kognitive Verhaltenstherapie<br />

Psychoanalyse, Tiefenpsychologie etc. haben sich dagegen als nicht wirksam<br />

erwiesen.<br />

Dass Psychotherapie wirksam ist, hat dabei v.a. folgende Gründe:<br />

1. Erhöhung der Medikamenten-Compliance (=> Medikamente werden seltener<br />

abgesetzt => geringere Rückfallraten)<br />

2. Senkung der „Expressed Emotion“ (=> weniger Stress für die Patienten =><br />

geringere Rückfallraten)<br />

3. Bessere Reintegration der Patienten (durch eine Minderung der kognitiven<br />

und sozialen Defizite)<br />

4. Besserer Umgang mit den Symptomen<br />

Die psychoedukative bzw. verhaltenstherapeutische Familienbetreuung (nach<br />

Falloon et al., 1984): basiert auf dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell (von Libermann)<br />

und den Erkenntnissen der EE-Forschung: Ziel ist es, die Lage des Patienten zu<br />

beruhigen, indem die Lage der Familie beruhigt wird (=> Rückfallprophylaxe).<br />

Das Konzept umfasst dabei folgende Komponenten:<br />

1) Neuroleptikamedikation<br />

2) Diagnostik (Analyse familiärer Konflikte und Belastungen)<br />

3) Psychoedukation (Information über Schizophrenie und Medikation)<br />

Um z.B. das nicht selten auftretende Missverständnis auszuräumen,<br />

der Patient könne seine Krankheit kontrollieren<br />

4) Kommunikationstraining<br />

5) Problemlösetraining<br />

6) Bei Bedarf: Einzeltherapie<br />

Evaluation (nach Falloon):<br />

Während die Rückfallrate bei gängiger Einzeltherapie nach 2 Jahren bei<br />

über 60% lag, lag sie bei Familienbetreuung bei rund 30% (ist also weniger<br />

als halb so hoch)!<br />

Patienten mit Familienbetreuung wiesen seltener schizophreniespezifische<br />

Symptome auf und waren besser angepasst.<br />

Die Belastung in der Familie wurde von allen Beteiligten geringer<br />

eingeschätzt.<br />

Verbesserung der familiären Kommunikationsmuster<br />

Kostenreduktion (20-30%)<br />

Kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen: können helfen, mit den Symptomen,<br />

die auch durch die Medikation nicht in den Griff zu bekommen sind, besser<br />

umzugehen. Bei 20-25% (!) der Patienten gehört zu diesen Symptomen auch das<br />

Stimmenhören; es tritt bei ihnen chronisch auf, weshalb es in der Therapie lediglich<br />

darum gehen kann, es „erträglicher“ zu machen.<br />

Focusing-Techniken<br />

Veränderung von Bewertungsprozessen (die Stimme als „Freund“)<br />

68


Verbesserung der Bewältigungsstrategien<br />

6.1. Darstellung der Störungsbilder<br />

6. Essstörungen<br />

6.1.1. Die verschiedenen Arten von Essstörungen<br />

Drei Hauptarten von Essstörungen lassen sich unterscheiden:<br />

1) „Anorexia nervosa“ (= Magersucht): Essstörung, bei der der Betroffene sich<br />

weigert, ein normales Gewicht zu halten, starke Angst vor Gewichtszunahme<br />

und eine so gestörte Körperwahrnehmung hat, dass er sich noch immer zu dick<br />

fühlt, selbst wenn er abgemagert ist.<br />

Der Begriff „Anorexia“ meint einen schweren Appetitverlust; „nervosa“<br />

bedeutet, dass die Gründe für diesen Gewichtsverlust emotionaler Art sind!<br />

2) „Blulimia nervosa“ (=Bulimie): Essstörung, bei der der Betroffene<br />

Heißhungeranfälle erleidet und danach Ausgleichsmaßnahmen wie Erbrechen,<br />

Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung ergreift, um eine<br />

Gewichtszunahme zu verhindern.<br />

Der Begriff „Bulimie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel<br />

wie „Ochsenhunger“; der Unterschied zur Magersucht besteht darin, dass<br />

Bulimiker/innen keinen Gewichtsverlust erleiden!<br />

3) „Binge-Eating-Disorder“: Essstörung, die durch unkontrollierbare<br />

Fressattacken gekennzeichnet ist, über die der Betroffene verzweifelt ist. Es<br />

kommt aber weder zu Gewichtsverlust (Magersucht), noch zu Gegenmaßnahmen<br />

(Bulimie)<br />

Fällt in der ICD-10 und im DSM-IV noch unter die „Nicht näher<br />

bezeichneten Essstörungen“, ist also noch keine formale Diagnose; wird<br />

aber zunehmend erforscht, wobei sich die Hinweise mehren, dass es sich<br />

um ein eigenständiges Störungsbild handelt.<br />

ICD-10 und DSM-IV unterscheiden zwischen folgenden Arten von Essstörungen:<br />

ICD-10 DSM-IV<br />

Anorexia nervosa (F 50.0)<br />

Ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme<br />

(F 50.00)<br />

Mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme<br />

(F 50.01)<br />

Bulimia nervosa (F 50.2)<br />

Anorexia nervosa<br />

Restriktiver Typus<br />

„Binge-Eating / Purging“-Typus<br />

Bulimia nervosa<br />

„Purging“-Typus<br />

Atypische Bulimia nervosa (F 50.3) „Non-Purging“-Typus<br />

Essattacken bei sonstigen psychischen<br />

-<br />

Störungen (F 50.4)<br />

Erbrechen bei sonstigen psychischen<br />

-<br />

Störungen (F 50.5)<br />

Sonstige Essstörungen (F 50.8) -<br />

Nicht näher bezeichnete Essstörungen Nicht näher bezeichnete Essstörungen<br />

(F 50.9)<br />

69


„Binge-Eating“ bzw. „Purging“-Subtypus: mit Fressattacken und Kotzen<br />

„Bulimia nervosa“ nach der ICD-10:<br />

Kriterien:<br />

1) Andauernde Beschäftigung mit Essen, regelmäßige Heißhungeranfälle und<br />

„Fressattacken“<br />

2) Versuche, dem dickmachenden Effekt der Nahrung entgegenzuwirken: z.B.<br />

durch selbstinduziertes Erbrechen oder den Missbrauch von Abführmitteln,<br />

wiederkehrende Hungerperioden oder den Gebrauch von Appetitzüglern<br />

und Diurektika; bei Diabetikern: Vernachlässigung der Insulinbehandlung<br />

möglich<br />

3) Krankhafte Furcht davor, dick zu werden<br />

„Bulimia nervosa nach dem DSM-IV:<br />

Kriterien:<br />

A. Wiederholte Episoden von „Fressanfällen“, wobei diese a) durch eine<br />

übertriebene Nahrundmenge in kurzer Zeit und b) durch Kontrollverlust<br />

über das eigene Essverhalten gekennzeichnet sind!<br />

B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen, gegensteuernden<br />

Maßnahmen<br />

C. Dauer: Mindestens 3 Monate mit durchschnittlich 2 Attacken pro Woche<br />

D. Figur und Gewicht haben großen Einfluss auf den Selbstwert<br />

Subtypen:<br />

Purging-Typus: Zu den gegensteuernden Maßnahmen gehören Erbrechen<br />

oder der Missbrauch von Laxantien (Abführmittel)<br />

Non-Purging-Typus: andere gegensteuernde Maßnahmen wie Fasten oder<br />

körperliche Betätigung<br />

„Nicht näher bezeichnete Essstörungen“: Rest-Kategorie, zu der alle Essstörungen<br />

gehören, die nicht die vollen Kriterien einer spezifischen Störung erfüllen, bei denen<br />

aber dennoch Handlungsbedarf besteht: es fallen darunter z.B. Mädels, die zwar<br />

offensichtlich anorektisch sind, deren BMI aber noch über 17,5 liegt, oder die „Binge-<br />

Eating-Störung“, die von vielen als abgeschwächte Form der Bulimie angesehen wird,<br />

die sich aber in Zukunft evtl. als spezifische Störung etablieren wird.<br />

Merkmale der Binge-Eating-Störung (nach DSM-IV):<br />

A. Wiederholte „Fressattacken“ (siehe: Bulimie), die…<br />

B. …mit mindestens 3 der folgenden Symptome einhergehen:<br />

Übertrieben schnelles Essen<br />

Unangenehmes Völlegefühl<br />

Unabhängig vom Hunger<br />

Alleine essen (um nicht unangenehm aufzufallen)<br />

Ekel- und Schuldgefühle<br />

C. Deutliches Leiden unter den Fressanfällen<br />

D. Häufigkeit der Fressanfälle: mindestens an 2 Tagen/Woche über 6 Monate<br />

E. Fressanfälle gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz gegensteuernder<br />

Maßnahme einher ( Bulimie)<br />

71


6.1.3. Diagnostische Verfahren und Dokumentationshilfen<br />

Strukturierte Interviews:<br />

Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV (SKID):<br />

Vorteil: ermöglicht auch eine Klassifikation der Binge-Eating-Störung<br />

Nachteil: ist nicht sehr genau bei der Erfassung spezifischer<br />

psychopathologischer Merkmale essgestörter Patienten (Perfektionismus<br />

etc.)<br />

Eating Disorder Examination (EDE):<br />

Umfasst 4 Subskalen: 1) Restraint-Scale; 2) Eating-Scale; 3) Weight-Scale;<br />

4) Shape-Concern-Scale<br />

Strukturiertes Interview für Anorexia und Bulimia Nervosa (SIAB):<br />

Enthält ein Experteninterview (SIAB-Ex) und einen<br />

Selbsteinschätzungsbogen (SIAB-S)<br />

Ermöglicht Diagnose von AN, BN und NNB und erfasst auch allgemeine<br />

psychopathologische Merkmale (Perfektionismus, Depression etc.)<br />

Selbstbeurteilungsbögen:<br />

Eating Disorder Inventory (EDI-2): für AN und BN<br />

Skalen: „Streben nach Dünnsein“; „Bulimie“; „Körperliche<br />

Unzufriedenheit“; „Ineffektivität“; „Perfektionismus“; „Zwischenmenschliches<br />

Misstrauen“; „Interzeption“ und „Angst vorm<br />

Erwachsenwerden“<br />

Eating Attitudes Test (EAT): Maß für gestörtes Essverhalten und übermäßige<br />

Beschäftigung mit Essen<br />

Anorexia Nervosa Inventar zur Selbstbeurteilung (ANIS): Erfassung<br />

anorektischer Verhaltensweisen und Einstellungen<br />

Fragebogen zum Essverhalten (FEV):<br />

Erhoben werden folgende 3 Dimensionen: 1) kognitive Kontrolle des<br />

Essverhaltens; 2) Störbarkeit und Labilität des Essverhaltens bei<br />

Enthemmung durch situative Situationen; 3) Hungergefühle und<br />

Verhaltenskorrelate<br />

Test zur Erfassung des Körperschemas: den Pbn wird eine Skala vorgelegt, auf der<br />

verschiedene Körperstaturen (von extrem dünn bis beleibt) abgetragen sind; Aufgabe<br />

der Pbn ist es, a) einzutragen, wo auf der Skala sie ihre momentane Figur verorten<br />

würden, b) welches ihre Idealfigur ist und c) welche Figur ihrer Meinung nach vom<br />

anderen Geschlecht am attraktivsten gefunden wird.<br />

Pbn mit gestörtem Körperschema halten sich für dicker, als sie tatsächlich sind;<br />

und geben eine extrem dünne Idealfigur an (die noch weit unterhalb dessen<br />

liegt, was ihrer Ansicht nach vom anderen Geschlecht als attraktiv empfunden<br />

wird!)<br />

Bei normalen Pbn ist das nicht so: Die Einschätzung der eigenen Figur ist<br />

realistischer und ihre Idealfigur weniger dünn und nur geringfügig unterhalb<br />

dessen, was ihrer Ansicht nach vom anderen Geschlecht als attraktiv<br />

empfunden wird.<br />

6.1.4. Körperliche Begleiterscheinungen und Komorbidität<br />

Körperliche Begleiterscheinungen:<br />

Bei Anorexia Nervosa:<br />

Schlechte Elekrolytwerte (z.B. Natrium, Kalium) => Beeinträchtigung des<br />

Hirnstoffwechsels => Müdigkeit, Schwäche, Herzrhythmusstörungen, im<br />

schlimmsten Fall: plötzlicher Tod<br />

72


Gestörter Hormonhaushalt (Amenorrhoe; mangelnde Libido etc.)<br />

Außerdem: Niedriger Blutdruck, niedrige Herzfrequenz; Magen-Darm-<br />

und Nieren-Probleme; trockene Haut, in manchen Fällen: Haarausfall und<br />

Laguna (weißer Flaum am ganzen Körper) etc.<br />

Bei Bulimia Nervosa:<br />

Häufiges Erbrechen (=> Kaliummangel); Abführmittel (=> Diarrhöe) =><br />

gestörter Elektrolythaushalt (s.o.)<br />

Häufiges Erbrechen => Verletzungen der Magen- und Rachenschleimhaut;<br />

Verlust von Zahnschmelz etc.<br />

Depression: Sowohl AN als auch BN gehen häufig (bei 50-75% der Patienten) mit<br />

einer Major Depression oder Dysthymie einher.<br />

Mögliche Erklärungen dafür:<br />

1) Die besagten Störungen verursachen Depression (etwa durch biochemische<br />

Veränderungen oder die zum Krankheitsbild gehörenden Scham- und<br />

Schuldgefühle)<br />

2) Depression führt zu Essstörungen (AN und BN als Sonderform der<br />

Depression; daher auch die ähnlichen Symptome: Gewichtsverlust;<br />

niedrige Serotoninwerte etc.)<br />

3) Essstörungen und Depression gehen auf eine gemeinsame Disposition<br />

und/oder ähnliche Umwelteinflüsse zurück (z.B. eine gestörte familiäre<br />

Umgebung)<br />

Alle 3 Hypothesen sind plausibel, welche stimmt, kann bisher nicht mit<br />

Sicherheit gesagt werden.<br />

Persönlichkeitsstörungen (bei 42-75% der Patienten):<br />

Cluster B- Störungen: häufiger bei BN und der bulimischen Form der AN<br />

Cluster C- Störungen: bei beiden Störungen!<br />

Angststörungen: AN geht v.a. mit Zwangsstörungen einher (bis zu 25%); BN v.a. mit<br />

sozialer Phobie (30%)<br />

Substanzmissbrauch und –abhängigkeit: häufiger bei BN (30-37%); oft Folge der<br />

Essstörung<br />

Sexuelle Störungen: V.a. anorektische Patientinnen zeigen oft kein sexuelles<br />

Verlangen und hatten vielfach noch keinen Geschlechtsverkehr!<br />

6.1.5. Differentialdiagnose<br />

Somatische Differentialdiagnosen: Ausgeschlossen werden müssen…<br />

Malabsorbationssyndrome (bestimmte Substrate können nicht aufgenommen<br />

werden => Gewichtsverlust)<br />

Gastritis (Magenschleimhautentzündung => die sich v.a. bei chronischen<br />

Verlauf nicht nur in Bauchschmerzen, sondern auch in Appetitlosigkeit äußern<br />

kann)<br />

Anämie (zu geringer Sauerstoffgehalt im Blut => Blässe, Spliss, brüchige<br />

Nägel etc.)<br />

Cushing-Syndrom (s.o.: zu hoher Cortisonspiegel im Blut)<br />

Diabetes (Insulinmangel => Überzuckerung des Bluts)<br />

Lebererkrankungen<br />

Außerdem: Darmparasiten, Tumorerkrankungen, Lebererkrankungen,<br />

Schilddrüsenfunktionsstörungen, chronische Infektionen, …<br />

Psychologische Differentialdiagnosen:<br />

Anorektische Reaktion oder psychogenes Erbrechen im Rahmen von<br />

Belastungs- und Anpassungsstörungen<br />

73


Somatoforme und dissoziative Störungen<br />

Borderline-Persönlichkeitsstörung<br />

Zwangsstörungen<br />

Depressive Syndrome im Rahmen anderer Erkrankungen (z.B. einer MD-<br />

Episode)<br />

Schizophrene Psychosen oder andere wahnhafte Störungen<br />

6.1.6. Epidemiologie und Verlauf<br />

Häufigkeit: Ansätze gestörten Essverhaltens (z.B. übertriebene Diäten) finden sich<br />

bei jungen Frauen (Adoleszenz; Studium) so häufig (bei über 2/3!), dass sie statistisch<br />

gesehen fast schon „normal“ sind. Die Kriterien für eine Diagnose erfüllen jedoch nur<br />

wenige:<br />

Prävalenz von Anorexia Nervosa: etwas unter einem Prozent (0,2-0,8%)<br />

Prävalenz von Bulimia Nervosa: 1-2%<br />

Verhältnis Frauen – Männer: 11 : 1<br />

Risikogruppen: Balletttänzerinnen, Turnerinnen, Modells, Jockeys, etc.<br />

Krankheitsbeginn: Eine kritische Phase für die Entwicklung von Essstörungen stellt<br />

die Pubertät dar, sofern diese mit diversen körperlichen Veränderungen einhergeht,<br />

mit denen die Betroffenen oft nicht umgehen können.<br />

Die Anorexia Nervosa: setzt typischerweise in den frühen bis mittleren<br />

Jugendjahren ein; das Durchschnittsalter bei Krankheitsbeginn liegt zw. 15 und<br />

16 Jahren (zweigipflige Verteilung mit Häufung bei 14,5 und 18 Jahren)<br />

Die Bulimia Nervosa: setzt meist etwas später ein; das Durchschnittsalter bei<br />

Krankheitsbeginn liegt zw. 18 und 19 Jahren; viele der Betroffenen waren vor<br />

Beginn der Störung leicht überwichtig – ihre ersten Fressanfälle setzten<br />

während einer Diät ein!<br />

Verlauf:<br />

Prinzipiell gilt: der Verlauf von Bulimie ist günstiger als der von Magersucht<br />

(geringere Mortalität, höhere Remissionsrate etc.)!<br />

Auch bei AN ist die Remissionsrate jedoch relativ hoch: Etwa 70% der in der<br />

Adoleszenz (!) erkrankten Patienten genesen wieder (wenn auch oft erst nach<br />

Jahren und mehreren Rückfällen)<br />

Aber bedenke: Anorexia Nervosa ist lebensgefährlich! Die Mortalität der<br />

Patienten (1,4 -16%) ist (aufgrund der Mangelernährung und Suizid) 10 Mal so<br />

hoch wie in der Allgemeinbevölkerung und doppelt so hoch wie bei anderen<br />

psychischen Störungen!<br />

Prognose:<br />

Prädiktoren für einen negativen Verlauf von AN:<br />

Niedriger BMI zu Behandlungsbeginn und bei Entlassung<br />

Später Beginn (> 20)<br />

Längere Krankheitsdauer<br />

Komorbide psychische Störungen (z.B. Depression)<br />

Höheres Ausmaß sozialer und psychischer Probleme (z.B. Perfektionismus,<br />

familiäre Konflikte)<br />

Heißhunger-Anfälle und Erbrechen („Purging“-Typus)<br />

Körperliche Folgeschäden<br />

Prädiktoren für einen negativen Verlauf von BN:<br />

Höhere Frequenz von Fressanfällen und Erbrechen bei Behandlungsbeginn<br />

Geringe bzw. langsame Reduktion dieser Frequenz während der Therapie<br />

(um weniger als 70% nach den ersten 6 Sitzungen)<br />

Impulsivität; Substanzmissbrauch<br />

74


6.2. Zur Ätiologie von Essstörungen<br />

6.2.1. Biologische Faktoren<br />

Genetik: Wie für fast alle psychischen Störungen liegen auch für AN und BN Belege<br />

für eine genetische Disposition vor.<br />

Befunde:<br />

Familienanamnesen zeigen, dass Essstörungen in Familien von<br />

Essgestörten gehäuft auftreten: Bei Verwandten ersten Grades tritt die<br />

Krankheit etwa viermal so häufig auf!<br />

Die Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen ist höher als die von<br />

zweieiigen Zwillingen.<br />

Interpretation: Genetische Faktoren haben einen Einfluss; wie stark dieser ist,<br />

ist jedoch noch nicht hinreichend geklärt.<br />

Die aktuellen Schätzungen bewegen sich zw. 30 und 85%!<br />

Geschlecht: Das Geschlecht stellt eindeutig einen Risikofaktor dar: Männer - Frauen<br />

(11:1)<br />

Erklärung: Frauen scheinen für kulturelle Schlankheitsideale (s.u.) anfälliger<br />

zu sein als Männer, was daran liegen könnte, dass sie häufiger nach ihrem<br />

Aussehen beurteilt werden.<br />

Neurochemie: Die Regulation von Hunger und Sättigung erfolgt u.a. durch endogene<br />

Opioide und Serotonin; erstere werden in Hungerphasen freigesetzt und heben die<br />

Stimmung; letzteres fördert das Sättigungsgefühl.<br />

Beide Substanzen scheinen bei Essgestörten in geringerer Konzentration<br />

vorzuliegen.<br />

Durch Hungern werden Opioide freigesetzt und damit das Hungern positiv<br />

verstärkt.<br />

Der Serotoninmangel könnte den Fressattacken von Bulemikern<br />

zugrundeliegen (essen, ohne satt zu werden)<br />

Fazit: Die biologischen Befunde zu Essstörungen sind bisher eher spärlich und z.T.<br />

noch recht spekulativ!<br />

6.2.2. Soziokulturelle Faktoren<br />

In westlichen Gesellschaften lassen sich gegenwärtig zwei gegenläufige Trends<br />

ausmachen: Einerseits steigt der Anteil an Übergewichtigen (überreiches<br />

Nahrungsangebot, Bewegungsarmut) – andererseits wird die Idealfigur immer<br />

schlanker! Die Idealvorstellung gerät dadurch immer mehr in Konflikt mit der<br />

Realität!<br />

Letzteres zeigt sich z.B., wenn man das Durchschnittsgewicht von Pin-ups<br />

oder Misswahl-Siegerinnen zu dem der Normbevölkerung in Bezug setzt.<br />

Schönheitsideale sind kulturell bedingt und unterliegen damit einem stetigen Wandel.<br />

Während im Barock eher „pummelige“ Frauen als schön galten (Rubens), liegt das<br />

heutige Schönheitsideal (zumindest im Westen) unter dem Normalgewicht!<br />

Schlankheit wird dabei nicht zuletzt mit Erfolg und Selbstbeherrschung assoziiert.<br />

Vermittelt wird dieses Ideal v.a. über die Medien.<br />

Die Analyse von Modezeitschriften, Frauen- und Männermagazinen<br />

(„Vogue“, „Playboy“ & Co) zeigt: das Gewicht der darin abgelichteten Frauen<br />

hat seit den 50ern kontinuierlich abgenommen.<br />

Die Diätindustrie („Weight Watchers“, Zeitschriftenartikel, Ratgeber etc.) ist<br />

in demselben Zeitraum enorm angewachsen.<br />

75


Barbie-Puppen stellen ein unrealistisches Rollenmodell dar: Um ihre Figur zu<br />

erreichen, müsste die Durchschnittsfrau ihre Oberweite um ca. 30 Zentimeter<br />

vergrößern und ihre Taille um 25 cm reduzieren. Die Größe müsste ca. 2, 15 m<br />

betragen!<br />

Dass soziokulturelle Faktoren bei der Entstehung von Essstörungen tatsächlich eine<br />

große Rolle spielen, zeigen folgende Befunde:<br />

Essstörungen werden meist durch eine Diät eingeleitet (73 – 91% erkranken<br />

während einer Diätphase); das gilt v.a. für die Fressattacken bei Bulimie, die<br />

nahezu immer auf vorangegangene Diäten zurückzuführen sind<br />

(„Disinhibition“-Effekt).<br />

Der Übergang zwischen gesellschaftlich akzeptierter Schönheitspflege und<br />

krankhaftem Schönheitswahn ist dementsprechend fließend!<br />

Essstörungen treten primär in westlichen Industrienationen auf; in<br />

Entwicklungsländern gibt es sie kaum!<br />

Noch gibt es diesbezüglich aber leider zu wenige Studien; die These, es<br />

gäbe kulturspezifische Unterschiede, ist daher nur bedingt empirisch<br />

abgesichert!<br />

Einfluss der Medien<br />

6.2.3. Kognitiv-verhaltenstheoretisches Modell<br />

Das kognitiv-verhaltenstheoretische Modell versucht v.a., die aufrechterhaltenden<br />

Bedingungen von Essstörungen herauszuarbeiten, womit nichts anderes gemeint ist<br />

als die das gestörte Verhalten verstärkenden Faktoren.<br />

Grundannahme: Im Zentrum von Essstörungen stehen Probleme mit dem eigenen<br />

Gewicht und ein gestörtes Verhältnis zum Essen – ausgelöst werden Essstörungen<br />

jedoch meist durch andere Probleme (zwischenmenschliche Konflikte, mangelnde<br />

soziale Kompetenz, Belastungen in der Kindheit, übertriebener Perfektionismus etc.).<br />

Diese Probleme führen dazu, dass die Patientin sich selbst als inkompetent und<br />

unfähig erlebt und sich beim Auftreten konkreter Probleme (spezifische Auslöser) in<br />

die Essstörung „flüchtet“!<br />

Bei der restriktiven AN lassen sich folgende Verstärker ausmachen:<br />

Der vielleicht zentralste Verstärker ist der Erfolg bei der<br />

Nahrungseinschränkung selbst.<br />

Beides gibt den Patientinnen das Gefühl der Selbstkontrolle, was<br />

wiederum zu einem gesteigerten Selbstwert und Selbstwirksamkeitsgefühl<br />

führt. Darüber hinaus kompensieren die Patientinnen mit ihrer Kontrolle<br />

über das Essen vielfach den Kontrollverlust in anderen Lebensbereichen.<br />

AN-Patientinnen haben häufig ein hohes Maß an Perfektionismus, sie<br />

streben Gewichtsreduktion an wie andere Schulerfolg! Auf Pro-Ana-Seiten<br />

werden regelrechte Wettbewerbe ausgerufen!<br />

Ein weiterer Verstärker ist der mit erfolgreicher Nahrungseinschränkung<br />

einhergehende Gewichtsverlust.<br />

Je dünner die Patientinnen, desto schöner fühlen sie sich!<br />

Die permanente Auseinandersetzung mit Essen und Gewicht verhindert eine<br />

Auseinandersetzung mit anderen Schwierigkeiten und Defiziten, wodurch die<br />

Störung negativ verstärkt wird!<br />

Negativ verstärkend wirken außerdem die permanente Angst vor<br />

Gewichtszunahme und Kontrollverlust sowie die körperlichen Symptome<br />

nach vermehrter Nahrungsaufnahme (Völlegefühl, Blähungen etc.).<br />

76


Bulimie und die bulimische Form der Anorexie lassen sich als Teufelskreislauf<br />

beschreiben:<br />

Geringes Selbstwertgefühl Diät, um sich besser zu fühlen (s.o.: positive<br />

Verstärkung) zu strake Nahrungsreduktion Diät wird nicht eingehalten;<br />

negative Affekte („Disinhibition“-Effekt) Fressattacke (emotionsregulierende<br />

Funktion) Schlechtes Gewissen und Angst vor<br />

Gewichtszunahme Kompensatorische Maßnahmen (Spannungsreduktion)<br />

körperliche, psychische und soziale Folgeschäden geringes<br />

Selbstwertgefühl …<br />

6.2.4. Andere psychologische Modelle<br />

Psychodynamische Theorien: deuten Essstörungen als missglückten Ablöseversuch<br />

von den Eltern; einerseits gehe es den Betroffenen darum, Autonomie zu gewinnen<br />

und sich als selbstwirksam zu erleben; andererseits wollen sie nicht erwachsen<br />

werden.<br />

Letzteres zeigt sich nicht nur daran, dass sich ihr Autonomiestreben auf ein so<br />

infantiles Feld wie das Essen beschränkt; sondern auch daran, dass durch die<br />

Nahrungsverweigerung die sexuelle Reifung verzögert bzw. verhindert wird<br />

(Angst davor, einen weiblichen Körper zu bekommen).<br />

Systemische Theorien: betrachten essgestörte Patienten als „Symptomträger“ in<br />

einem dysfunktionalen Familiensystem; durch ihre Störung verhindern sie familiäre<br />

Konflikte (etwa zwischen den Eltern); die Krankheit hat demnach eine „positive“<br />

Funktion.<br />

Merkmale essgestörter Familien (nach Minuchin):<br />

Übermaß an Bindung: Eltern sprechen und denken für ihre Kinder<br />

Überbesorgtheit: Die Familienmitglieder sind extrem um das gegenseitige<br />

Wohl besorgt<br />

Rigidität: Der Familie geht‟s um den Erhalt des Status quo; sie ist<br />

dementsprechend wenig flexibel und tut sich schwer mit Veränderungen<br />

Fehlende Konfliktlösung: Die Familie vermeidet entweder Konflikte oder<br />

befindet sich in chronischen Konflikten<br />

6.2.5. Zusammenfassung (die wichtigsten Risikofaktoren)<br />

Risikofaktoren für Anorexie (in der Reihenfolge ihres zeitlichen Auftretens):<br />

Genetische Prädisposition<br />

Weibliches Geschlecht<br />

Ethnische Zugehörigkeit („westlich“ sozialisiert)<br />

Schwangerschaftskomplikationen<br />

Kindliche Schlafstörungen<br />

Überbehütender Erziehungsstil<br />

Sexueller Missbrauch<br />

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung<br />

Perfektionismus<br />

Angststörung<br />

Negatives Selbstbild<br />

„Weight concerns“ (Gedanken über Gewicht)<br />

Adoleszentes Alter<br />

Spezifische Auslöser (Schulstress, Beziehungsstress, Identitäts- und<br />

Autonomiekonflikte etc.<br />

…<br />

77


Risikofaktoren für Bulimie (in der Reihenfolge ihres zeitlichen Auftretens)<br />

Genetische Prädisposition<br />

Weibliches Geschlecht<br />

Ethnische Zugehörigkeit („westlich“ sozialisiert)<br />

Geburtskomplikationen<br />

Kindliches Übergewicht (erhöhter BMI)<br />

Adoleszentes Alter<br />

Elterliches Übergewicht<br />

Störungen der Eltern (z.B. Depression oder Alkoholismus)<br />

„Weight Concerns“<br />

Soziale Phobie<br />

…<br />

6.3. Behandlung:<br />

6.3.1. Praktische Hinweise zu Diagnostik und Indikation<br />

Im Erst- bzw. Vorgespräch geht es um Folgendes:<br />

Der Therapeut: erstellt eine erste Diagnose (psychopathologischer Befund) und<br />

checkt die Therapie- und Veränderungsmotivation des Klienten ab.<br />

Die Erhebung des psychopathologischen Befundes sollte folgende Schritte<br />

umfassen:<br />

1) Strukturierte Interviews (s.o.: SCID, EDE etc.) zur Erstellung einer<br />

Diagnose und zur Feststellung von Komorbiditäten<br />

2) Liegen komorbide Störungen vor: Behandlungsart und -reihenfolge<br />

festlegen (parallel/eigenständig)<br />

Bei Substanzabhängigkeit erst mit Therapie beginnen, wenn<br />

Patient abstinent ist (Anti-Substanzvertrag)<br />

Bei schweren affektiven Störungen oder ausgeprägten<br />

Zwangsstörungen evtl. medikamentöse Zusatzbehandlung<br />

3) Folgestörungen/–probleme und deren Schweregrad abklären<br />

Eine medizinische Untersuchung vor Therapiebeginn ist dabei<br />

aufgrund der vielfältigen gesundheitlichen Risiken von<br />

Essstörungen unumgänglich!<br />

Der Klient: erhält einen ersten Eindruck vom Therapeuten und der Therapie<br />

Beide: einigen sich auf einen Behandlungsauftrag mit spezifischen Zielen und<br />

erstellen ausgehend davon einen Behandlungsvertrag.<br />

Besonderheiten bei Anorektikerinnen:<br />

Leidensdruck, Therapie- und Veränderungsmotivation fehlen häufig<br />

(mangelnde Krankheitseinsicht)<br />

Meist ist die Haltung der Patienten/innen ambivalent: einerseits wollen sie<br />

eine Behandlung – andererseits haben sie große Angst vor Kontrollverlust und<br />

Gewichtszunahme<br />

Einigung auf ein Mindestnormalgewicht (BMI = 20)<br />

Transparenz im therapeutischen Vorgehen schaffen und den Patienten<br />

selbst Verantwortung übertragen (damit sie nicht das Gefühl haben, die<br />

Kontrolle zu verlieren)<br />

Normalisierung des Essverhaltens (s.u.) hochgradig angstbesetzt; v.a. unter<br />

Beobachtung fällt den Patienten das Essen meist schwer!<br />

78


Besonderheiten bei BN-Patienten:<br />

Haben meist schon Mindestnormalgewicht und brauchen nicht zuzunehmen;<br />

wollen in der Therapie aber meist abnehmen!<br />

Muss überprüft und verhindert werden!<br />

Indikation:<br />

Grundsätzlich gilt: bei AN sollte die Behandlung stationär, bei BN ambulant<br />

erfolgen<br />

Unbedingt notwendig ist eine stationäre Behandlung bei AN, wenn folgende<br />

Kriterien erfüllt sind:<br />

Verlust von mehr als 30% des Ausgangsgewichts, v.a. bei rascher<br />

Gewichtsabnahme (innerhalb von 3 Monaten oder weniger)<br />

BMI < 14<br />

Ausgeprägte somatische Folgeerscheinungen (Elektrolytentgleisungen,<br />

Hypothermie, Niereninsuffizienz etc.)<br />

Schwerwiegende Begleiterscheinungen (z.B. bewusste Vernachlässigung<br />

der Stoffwechselkontrolle bei Diabetes)<br />

Problem: AN-Patienten sind meist nicht von einer stationären Behandlung<br />

überzeugt; eine ambulante Therapie muss in diesem Fall klar als Versuch<br />

herausgestellt werden, der an verschiedene Vereinbarungen gebunden ist:<br />

Behandlung nur, wenn Allgemeinärzte mit einbezogen werden<br />

Verpflichtende Therapieziele:<br />

Kontinuierliche Gewichtszunahme um min. 500g/Woche<br />

Aufgabe des restriktiven Essverhaltens und Einbezug bisher<br />

vermiedener Lebensmittel<br />

Zielgewicht: BMI = 20<br />

Bei weiterer Gewichtsabnahme: Therapieabbruch, evtl. Zwangseinweisung<br />

Ist man in diesem Punkt nicht konsequent, besteht die Gefahr einer<br />

Chronifizierung!<br />

6.3.2. Kognitive Verhaltenstherapie<br />

Die kognitive Verhaltenstherapie verfolgt 3 Ziele:<br />

1) Normalisierung des Essverhaltens und des Gewichts<br />

Psychoedukation und Aufklärung über die Therapieziele<br />

Problemanalyse:<br />

Bedingungen<br />

Analyse auslösender und aufrechterhaltender<br />

<br />

Normalisierung des Essverhaltens (regelmäßiges Essen, Abbau der<br />

„schwarzen Liste“ etc.): v.a. durch operante Methoden<br />

2) Bearbeitung relevanter Problembereiche<br />

Problemanalyse (Welche tieferen Probleme liegen der Krankheit<br />

zugrunde?)<br />

Zielorientierte Problembereichsbearbeitung<br />

Vermittlung kognitiver und anderer Techniken<br />

3) Verbesserung der Körperwahrnehmung und –akzeptanz<br />

Körperübungen, Körpererfahrung<br />

Kognitive Techniken<br />

Psychoedukation und Aufklärung über die Therapieziele:<br />

Chronisches Diäthalten soll niedriges Selbstwertgefühl und andere Probleme<br />

kompensieren, führt aber zu keiner Lösung, sondern in einen Teufelskreislauf<br />

(s.o.), der durch die Therapie durchbrochen werden soll, indem die Funktion<br />

des gestörten Essverhaltens aufgedeckt und alternative Problemlösestrategien<br />

vermittelt werden!<br />

79


Kurz: Die übermäßige Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Figur und<br />

Gewicht soll durch die KVT reduziert und dadurch das Essverhalten<br />

dauerhaft normalisiert werden.<br />

Die Notwendigkeit ein bestimmtes Gewicht zu erreichen und zu halten, muss<br />

den Patienten vermittelt werden. Dazu bietet es sich an, auf folgende Aspekte<br />

einzugehen:<br />

Set-Point-Theorie (Nisbett): Das Gewicht eines Menschen (Set-Point-<br />

Gewicht) ist genetisch vorprogrammiert; daraus folgt, dass es a) individuell<br />

verschieden ist und b) nur bedingt der willkürlichen Kontrolle unterliegt.<br />

Aufklärung über Folgeschäden: Menstruationsstörungen, gestörter<br />

Elektrolythaushalt, eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit, sozialer<br />

Rückzug etc. etc. (s.o.)<br />

„Minnesota-Starvation-“ bzw. „Keys-Study“ (1944): Pbn wurden 1 Jahr in<br />

dem sog. „Hunger-Camp“ untersucht; nach 3-monatiger Baseline-Erhebung<br />

wurde für 6 Monate die Kalorienzufuhr für jeden der Teilnehmer<br />

individuell halbiert; in den letzten 3 Monaten wurde die Kalorienzufuhr<br />

sukzessive wieder an ihr Ursprungsniveau angepasst. Ergebnis: die Pbn<br />

zeigten ähnliche Symptome wie Essgestörte (mangelnde<br />

Konzentrationsfähigkeit, Depressionen, übermäßige Beschäftigung mit<br />

Essen, sozialer Rückzug, Heißhungeranfälle etc.)!<br />

Aufklärung über die Problematik kompensatorischer Maßnahmen:<br />

Restriktives Essverhalten ist der Auslöser für die Fressattacken!<br />

Trotz Erbrechens bleibt ein Großteil der während einer Fressattacke<br />

aufgenommenen Kalorien im Körper!<br />

Restriktives Essverhalten führt häufig zu verringerter Stoffwechselaktivität<br />

und damit zu schweren kognitiven Defiziten.<br />

Erbrechen führt schnell wieder zu Hunger!<br />

Abführmittel führen selbst in großen Mengen nur zu einer geringen<br />

Reduktion der Kalorienaufnahme<br />

Aufklärung über soziokulturelle Einflüsse (übertriebenes Schlankheitsideal)<br />

Problemanalyse: dient der Identifikation auslösender und aufrechterhaltender<br />

Bedingungen; man erhofft sich davon a) ein besseres Verständnis der Störung, insbes.<br />

was deren Funktionalität betrifft, b) mögliche Interventionsansätze und c) ein besseres<br />

Gespür für Rückfallsituationen (im Sinne einer Rückfallprophylaxe)<br />

Erfolgt durch Selbstbeobachtungsprotokolle und Anamnese (wozu natürlich<br />

auch die Familienverhältnisse usw. zählen)<br />

Oft werden in diesem Zusammenhang anamnestische Gewichtskurven<br />

aufgestellt: Wann hat der Patient wie viel gewogen und welche Ereignisse<br />

gingen mit Gewichtsschwankungen einher (Abitur, Beendigung einer<br />

Beziehung, Hänseleien etc. etc.)?<br />

Stationäre Maßnahmen zur Gewichtszunahme: bilden zumindest in der<br />

Anfangszeit der Schwerpunkt der Behandlung; es geht dabei einerseits um den Abbau<br />

restriktiven Essverhaltens, andererseits um den Aufbau normalen Essverhaltens.<br />

Die Methoden, die dabei verwendet werden, sind überwiegend operante<br />

Verfahren; meist werden Verträge ausgehandelt, in denen genau festgelegt<br />

wird, welche Konsequenz auf welches Verhalten folgt („Contract-<br />

Management“).<br />

Beispiel: wöchentliche Gewichtszunahme von min. 500 Gramm und<br />

Aufnahme bisher gemiedener Lebensmittel in den Speiseplan wird mit<br />

Besuchen, Telefonaten etc. belohnt.<br />

Zum Teil auch Expositionsübungen: Essen im Restaurant etc.<br />

80


Etablierung eines regelmäßigen Essensplans (3 Hauptmahlzeiten + 2<br />

Zwischenmahlzeiten); tägliche Kalorienaufnahme von min. 2000 kcal!<br />

In jeder Woche werden neue, vormals verbotene Lebensmittel in den<br />

Speiseplan aufgenommen!<br />

Therapeut als Modell (muss also selbst ein normales Verhältnis zum Essen<br />

haben)<br />

Die Erfahrung weniger zuzunehmen als erwartet führt zu dem positiven<br />

Gefühl, die Kontrolle zu behalten.<br />

Identifikation und Bearbeitung zugrundeliegender Problembereiche:<br />

Gerade bei BN werden die zugrundeliegenden Probleme häufig erst nach<br />

Reduktion der Symptomatik erkennbar; schließlich liegt in der Verschleierung<br />

der Probleme ja gerade die Funktion der Störung!<br />

Die häufigsten Problembereiche: Geringer Selbstwert, Leistungs- und<br />

Perfektionismusstreben, Kontroll- und Autonomiestreben,<br />

Beziehungsprobleme, Ablösung vom Elternhaus, mangelnde Selbständigkeit,<br />

Angst vor Verantwortung<br />

Entlarvung und Aufhebung kognitiver Verzerrungen; Erschließung neuer<br />

Lebensbereiche, die eine selbstwertstabilisierende Funktion haben können etc.<br />

etc.<br />

Bearbeitung der Körperschemastörung: Ziel ist es, neue Erfahrungen mit dem<br />

eigenen Körper zu ermöglichen und die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers<br />

zu korrigieren, damit dieser besser akzeptiert werden kann.<br />

Besonders geeignet ist in diesem Zusammenhang gruppentherapeutische<br />

Settings, da hier direkte Vergleiche und Rückmeldungen möglich sind.<br />

Konkrete Beispiele:<br />

Übungen zur Kontaktaufnahme: sich und andere anfassen lernen<br />

Vertrauensübungen: sich von einem anderen auffangen oder führen lassen<br />

Übungen zur Körpererfahrung: bestimmte Körperregionen (z.B. Rücken)<br />

abtasten; Konfrontationsübungen vor dem Spiegel oder mittels<br />

Videoaufnahmen, Entspannungsübungen, Massagen etc.<br />

Übungen zum Körperausdruck: z.B. freies Tanzen oder Pantomime<br />

Stabilisierung, Rückfallanalyse und –prophylaxe: Schrittweises Ausblenden der<br />

Therapie an regelmäßige Kontrollen koppeln, Rückfallsituationen erkennen und<br />

entsprechende Strategien erlernen, mit ihnen umzugehen etc.<br />

6.3.3. Zur Wirksamkeit:<br />

Zur Wirksamkeit von Therapien bei AN: gibt es leider nur wenig kontrollierte<br />

Studien; die Studien, die es bis dato gibt, zeigen Folgendes:<br />

Die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer (insbes. der operanten Verfahren)<br />

und familientherapeutischer Maßnahmen ist zumindest kurzfristig belegt!<br />

Pharmakologische Therapien haben dagegen nur geringe Effekte.<br />

Lediglich nach bzw. zusätzlich zur stationären Behandlung scheint der<br />

Einsatz von Fluoxetin (Antidepressivum) hilfreich!<br />

Zur Wirksamkeit von Therapien bei BN: liegen v.a. Studien zur (K)VT und IPT<br />

vor.<br />

Sowohl die KVT als auch die IPT erzielen langfristig positive Effekte<br />

(Reduktion der Heißhungerattacken und des anschließenden Erbrechens um<br />

durchschnittlich 75%!); die KVT wirkt jedoch etwas schneller.<br />

Die KVT ist der reinen VT (ohne Einstellungsänderung) überlegen.<br />

81


Durch Exposition und Reaktionsverhinderung (nicht Kotzen dürfen) kann<br />

keine Verbesserung erzielt werden!<br />

Der Einsatz von Antidepressiva ist zwar wirksam, aber lange nicht so wie die<br />

KVT und IPT.<br />

Kombinationstherapien: sind einer reinen KVT leicht überlegen (was<br />

Symptomfreiheit, Rückfallrate und Sekundärsymptomatik betrifft), gehen aber<br />

mit erheblich größerem Drop-Out einher!<br />

Selbsthilfeansätze: nicht ganz so effektiv wie KVT, aber wirksam!<br />

Behandlungsformen bei BED: wurden überwiegend aus der BN-Behandlung<br />

abgeleitet.<br />

Prinzipiell gilt: Die Normalisierung des Essverhaltens (d.h. die Reduktion der<br />

Fressattacken) hat Priorität vor der Gewichtsreduktion.<br />

Als wirksam erwiesen hat sich – wie sollte es anders sein ;–) die KVT!<br />

Auch Psychopharmaka haben sich zumindest kurzfristig als wirksam erwiesen.<br />

82


7. Substanzinduzierte Störungen<br />

7.1. Allgemeines zu substanzinduzierten Störungen<br />

7.1.1. Psychoaktive Substanzen und ihre Wirkung<br />

Psychoaktive Substanzen (=Rauschmittel) wirken auf das zentrale Nervensystem und<br />

werden i.d.R. als wohltuend empfunden! Sie werden in der ein oder anderen Form in<br />

nahezu allen Kulturen verwendet.<br />

Werden mehrere Substanzen parallel konsumiert, spricht man von<br />

„Polytoxikomanie“!<br />

Einige wichtige psychoaktive Substanzen und ihre Wirkung:<br />

Sedativa (Beruhigungsmittel bzw. Tranquilizer): verlangsamen die<br />

Aktivität des Körpers und mindern die Reaktionsbereitschaft<br />

Opiate bzw. dessen Derivate (Heroin, Morphium): binden an die sog.<br />

Opioidrezeptoren (körpereigene Opioide sind z.B. Endorphine); sie haben<br />

eine beruhigende, schmerzlindernde Wirkung und führen zu einem<br />

euphorischen, träumerischen Zustand (bei Heroin kommt unmittelbar nach<br />

der Injektion der sog. „Rush“ hinzu)<br />

Synthetische Sedativa (Barbiturate und Benzodiazepine wie Valium):<br />

wirken agonistisch auf die GABAA-Rezeptoren, verstärken also die<br />

GABAerge (=hemmende) Übertragung und haben damit eine<br />

schmerzlindernde, beruhigende, einschläfernde und angstlösende Wirkung!<br />

Stimulanzien: wirken anregend auf Gehirn und sympathisches Nervensystem<br />

und damit aktivierend.<br />

Kokain (=natürliches Stimulans): blockiert die Wiederaufnahme von<br />

Dopamin und Noradrenalin, insbes. im mesolimbischen Bereich =><br />

Wachheit, Euphorie<br />

Amphetamine (=synthetische Stimulanzien): fördern die Freisetzung von<br />

Dopamin und Noradrenalin und blockieren deren Wiederaufnahme =><br />

Wachheit, Euphorie<br />

Halluzinogene (LSD, Meskalin, Ecstasy etc.): führen zu Halluzinationen und<br />

Bewusstseinsveränderungen<br />

Alkohol (Ethanol): bindet an die Glutamat- und GABA-Rezeptoren (s.o) und<br />

hat sowohl eine stimulierende, als auch sedierende Wirkung (Zwei-Phasen-<br />

Wirkung)<br />

Nikotin: wirkt agonistisch auf die nikotinergen ACh-Rezeptoren<br />

(exzitatorisch)<br />

7.1.2. Diagnostische Kriterien<br />

Einteilung substanzinduzierter Störungen:<br />

Der pathologische Konsum von psychoaktiven Substanzen gliedert sich in 2<br />

Kategorien:<br />

1. Substanzmissbrauch: liegt vor, wenn der Konsum das eigene Leben<br />

beeinträchtigt, sprich: zur Vernachlässigung der Pflichten oder<br />

Gefährdungen führt, ohne dass eine Abhängigkeit besteht.<br />

2. Substanzabhängigkeit: liegt vor, wenn eine körperliche und/oder<br />

psychische Abhängigkeit von der betreffenden Substanz besteht.<br />

83


Darüber hinaus gehören zu den substanzinduzierten Störungen:<br />

Substanzintoxikation: z.B. Alkoholvergiftung<br />

Substanzentzug: z.B. Delirium tremens (s.u.)<br />

Symptome diverser Achse-I-Störungen: Demenz, amnestische Störung,<br />

psychotische Störungen, affektive Störungen, Angststörungen und sexuelle<br />

Funktionsstörungen<br />

Kriterien für Substanzmissbrauch nach dem DSM-IV:<br />

Mindestens eines der folgenden 4 Kriterien muss innerhalb eines Jahres<br />

wiederholt aufgetreten sein:<br />

1. Versagen bei der Erfüllung wichtiger Pflichten (z.B. Fernbleiben von der<br />

Arbeit oder Vernachlässigung der Kinder)<br />

2. Körperliche Gefährdung (z.B. durch Alkohol am Steuer)<br />

3. Probleme mit dem Gesetz (z.B. wegen ungebührlichen Verhaltens oder<br />

Verkehrsdelikten etc.)<br />

4. Fortgesetzte soziale und zwischenmenschliche Probleme (z.B. Ehestreit<br />

wegen des Drogenkonsums)<br />

Es darf keine Abhängigkeit von der betreffenden Substanz bestehen!<br />

Kriterien für Substanzabhängigkeit nach dem DSM-IV:<br />

Mindestens 3 der folgenden 7 Kriterien müssen sich innerhalb eines Jahres<br />

manifestiert haben:<br />

1. Toleranzentwicklung: äußert sich entweder in dem Verlangen nach<br />

Dosissteigerung oder in einer verminderten Wirkung bei fortgesetzter<br />

Einnahme derselben Dosis.<br />

2. Entzugssymptome: äußern sich entweder in den charakteristischen<br />

psychischen und physischen Entzugssymptomen der jeweiligen Substanz<br />

oder darin, dass die betreffende Substanz eingenommen wird, um diese<br />

Symptome zu lindern oder zu vermeiden.<br />

3. Ausmaß des Konsums: Die Substanz wird in größeren Mengen oder länger<br />

als beabsichtigt eingenommen.<br />

4. Vergeblicher Umkehrversuch: Anhaltender Wunsch oder erfolglose<br />

Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren.<br />

* Findet sich nicht im ICD-10: dort gilt stattdessen der starke Wunsch, die<br />

Substanz zu konsumieren, als ein Kriterium für Abhängigkeit!<br />

5. Zeitaufwand: Es wird viel Zeit darauf verwendet, die Substanz zu<br />

Im ICD-10<br />

ein Kriterium!<br />

beschaffen, zu konsumieren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.<br />

6. Einschränkung: Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten<br />

werden aufgrund des Substanzkonsums aufgegeben oder eingeschränkt.<br />

7. Irrationalität: Der Substanzgebrauch wird trotz der psychischen und<br />

körperlichen Probleme, die dieser verursacht, fortgesetzt (z.B. wird Kokain<br />

genommen, obwohl es zu regelmäßigen Depressionen führt)<br />

Körperliche Abhängigkeit wird diagnostiziert, wenn entweder (1)<br />

Toleranzentwicklung oder (2) Entzugssymptome zu den erhobenen Merkmalen<br />

zählen!<br />

7.1.3. Epidemologie und Folgen<br />

Prävalenzraten (in Deutschland):<br />

Tabakabhängigkeit: ca. 10 Mio.<br />

27% der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland raucht!<br />

Die meisten durch Drogenkonsum verursachten Todesfälle gehen auf das<br />

Konto von Nikotin!<br />

Alkoholabhängigkeit: ca. 1,5 Mio. (2, 4%)<br />

84


Männer: 4%; Frauen: 1%<br />

Alkoholmissbrauch: ca. 2, 7 Mio. (4%)<br />

Männer: 5%; Frauen: 2%<br />

Medikamentenabhängigkeit: ca. 1,4 Mio. (2, 3%)<br />

Abhängigkeit von illegalen Drogen: ca. 100.000 – 150.000<br />

Lebenszeitprävalenz für den Konsum illegaler Drogen: über 16%<br />

Das Einstiegsalter liegt für alle Drogen (Tabak, Alkohol und illegale Drogen) meist in<br />

der Jugend bzw. im frühen Erwachsenenalter. Nach 24 fängt kaum noch jemand an<br />

zu rauchen, trinken, kiffen oder koksen.<br />

Rückfälle sind die Regel: Innerhalb der ersten 2 Jahre nach einer Remission werden<br />

je nach Substanz 50-70% rückfällig!<br />

7.1.4. Zur Ätiologie substanzinduzierter Störungen<br />

Die Entstehung einer Abhängigkeit erfolgt meist in mehreren Stufen, wobei auf den<br />

verschiedenen Stufen jeweils unterschiedliche Faktoren wirksam sind.<br />

1) Positive Einstellung<br />

Zunächst müssen die Betroffenen der Substanz gegenüber positiv<br />

eingestellt sein.<br />

Beeinflusst wird die Einstellung zu einer Substanz (z.B. Nikotin) u.a. durch<br />

die Familie (rauchende Eltern), die Medien (Werbung) und das generelle<br />

gesellschaftliche Klima (in einer Gesellschaft, in der viel geraucht wird,<br />

hält man Nikotin naturgemäß für weniger gefährlich).<br />

2) Experimentieren<br />

s.u.<br />

3) Regelmäßiger Konsum<br />

Wenn die Betroffenen eine positive Einstellung zu der Substanz entwickelt<br />

haben, beginnen sie, mit ihr zu experimentieren und sie schließlich<br />

regelmäßig einzunehmen.<br />

Von Bedeutung sind dabei v.a. die Verfügbarkeit der Substanz<br />

(Zigarettenautomaten etc.) und der von den Peers ausgehende<br />

<br />

Gruppendruck. Der Erstkonsum selbst führt nämlich i.d.R. noch nicht zu<br />

positiven Folgen („Hust! Würg!“) – verstärkend wirkt daher zunächst<br />

lediglich die Zuwendung der Bezugsgruppe („Ich gehör dazu!“) oder die<br />

Wirkung auf Dritte („Schau her, wie cool ich bin!“)<br />

4) Starker Konsum<br />

Die Substanz selbst wirkt meist erst nach mehrmaligem Konsum<br />

verstärkend; dabei spielen sowohl biologische als auch psychologische und<br />

soziale Mechanismen eine Rolle (s.u.); sie führen dazu, dass der Anreiz der<br />

Substanz steigt und ihr Konsum automatisiert wird; die Folge ist ein<br />

zunehmend stärkerer Konsum!<br />

5) Physische Abhängigkeit oder Missbrauch<br />

Ausbildung diskriminativer Stimuli für erneuten Drogenkonsum<br />

Stoffwechselmangel bei Fehlen der Droge => Entzugserscheinungen<br />

Verschiebung im Verhaltensrepertoire: Alles dreht sich um den Erwerb und<br />

Konsum der Droge<br />

Rückfallmodelle: Dass es so häufig zu Rückfällen kommt (nach 2 Jahren 50-70%!),<br />

kann folgendermaßen erklärt werden:<br />

1) Lerntheoretisches Modell: konditionierte Auslöser (= diskriminative Stimuli)<br />

als Ursache (klassische Konditionierung)<br />

2) Kognitives Modell: Fehlende Bewältigungsstrategien in kritischen Lebenssituationen<br />

und negative Einschätzung der eigenen Bewältigungsfähigkeit<br />

85


3) Integratives Modell: Es gibt klassisch konditionierte Auslöser; sie führen<br />

jedoch nicht automatisch zu einem Rückfall, sondern nur im Zusammenspiel<br />

mit kognitiven Mechanismen!<br />

7.1.5. Die Teufelskreise der Sucht (siehe genauer: 7.2.5)<br />

In Gang gesetzt wird Suchtverhalten durch die unmittelbar verstärkende Wirkung<br />

einer Substanz!<br />

Negative Verstärkung = Entspannung; Ablenkung etc.<br />

Positive Verstärkung = Stimmungsförderung, Stimulierung etc.<br />

In Gang gehalten wird eine Sucht dadurch, dass der Anreiz der Substanz<br />

kontinuierlich erhöht- und ihr Konsum zunehmend automatisiert wird! Dabei spielen<br />

sowohl psychologische, als auch biologische und soziale Mechanismen eine Rolle.<br />

Unterschieden werden kann dementsprechend zwischen…<br />

1. Einem intrapsychischen Teufelskreis<br />

Beeinträchtigte Selbstwahrnehmung, unrealistische Wirkungserwartung,<br />

Copingdefizite, suchtbezogene Grundannahmen, Abstinenzverletzungssyndrom<br />

2. Einem neurobiologischen Teufelskreis<br />

1) Toleranzentwicklung, 2) Endorphinmangel, 3) Suchtgedächtnis<br />

3. Einem psychosozialen Teufelskreis<br />

Gesellschaftliches Klima, veränderte Familieninteraktion, soziale<br />

Folgeschäden, Mangel an Alternativressourcen<br />

* Zur Auswirkung sozialen Stresses auf den Drogenkonsum: Ratten, die<br />

Isolationsstress ausgesetzt wurden, erhöhen ihren Kokainkonsum<br />

deutlich schneller als Kontrolltiere!<br />

7.1.6. Der neurobiologische Teufelskreis<br />

Suchttheorie der positiven Verstärkung:<br />

Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik: lassen sich mit der<br />

Gegensatz-Prozess-Theorie erworbener Motivation erklären.<br />

Diese geht davon aus, dass jeder affektive Reiz nicht nur den Affekt, sondern<br />

zugleich den jeweiligen Gegenaffekt auslöst. Die affektive Reaktion entspricht<br />

der Summe aus diesen hedonisch gegensätzlichen Reaktionen.<br />

1) Bei Darbietung eines affektiven Reizes (positiv oder negativ) wird<br />

zunächst der a-Prozess (Affekt) ausgelöst, der in der Dauer, Intensität und<br />

Qualität proportional zum dargebotenen Reiz ist.<br />

2) Etwas zeitverzögert löst der a-Prozess die Aktivierung des gegensätzlichen<br />

b-Prozesses (Gegenaffekt) aus. Der b-Prozess weist die umgekehrte<br />

hedonische Qualität von a auf; setzt zeitversetzt ein, steigt langsamer an<br />

und hat (zumindest anfangs) eine deutlich kleinere Amplitude als der a-<br />

Prozess.<br />

3) Sowohl die a- als auch die b-Komponente senden ihr Signal an einen<br />

Summator, wo die beiden Signale addiert (a-b) und so die Stärke des<br />

Affektes, der Motivation und des Verstärkerwertes bestimmt werden.<br />

Wird der Reiz zum ersten Mal oder nur selten dargeboten, hat die resultierende<br />

Kurve eine typische Form: Maximum der primären affektiven Reaktion (z.B.<br />

Freude) Adaptationsphase Gleichgewichtsniveau Affektive<br />

Nachreaktion (schaler Nachgeschmack)<br />

Entscheidend an dem Modell ist jedoch, dass der a-Prozess bei Wiederholung<br />

konstant bleibt, während der b-Prozess durch Wiederholung verstärkt wird.<br />

86


Dadurch wird die Summe der affektiven Reaktionen bei häufiger<br />

Wiederholung kleiner (Toleranzentwicklung); die affektive Nachreaktion<br />

größer (Entzugssymptomatik).<br />

Beispiel Drogenkonsum: Einnahme wird bei häufigem Konsum weniger<br />

positiv erlebt (Toleranzentwicklung aufgrund Zunahme des negativen b-<br />

Prozesses) und von zunehmend längeren und stärkeren negativen<br />

Nachschwankungen begleitet (Entzugsymptome).<br />

Das Suchtgedächtnis: manifestiert sich in einer subkortikalen (im<br />

Belohnungszentrum angesiedelten) Hypersensibilität gegenüber substanzbezogenen<br />

Stimuli („Cue Reactivity“).<br />

Diese Hypersensibilität äußert sich auf verschiedenen Ebenen:<br />

Subjektive Ebene: erhöhtes Verlangen („Craving“)<br />

Physiologische Ebene: Anstieg der Herzrate, verringerte Startle-Reaktion<br />

(s.u.); Salivation (=<br />

Neuronale Ebene: Anstieg der BOLD-Response in best. Hirnregionen<br />

Verhaltensebene: Kontrollverlust<br />

Pauli et al. (2000): Experiment zur emotionalen Valenz rauchbezogener Bilder<br />

Rauchern und Nichtrauchern wurden negative, neutrale, positive und<br />

rauchbezogene Bilder dargeboten.<br />

Um die emotionale Valenz der rauchbezogenen Bilder zu messen, wurden<br />

folgende Maße erhoben:<br />

a) Subjektive Angaben<br />

b) Gesichtsausdruck (Corrugator: „Stirnrunzeln“; Zygomaticus „Lächeln“)<br />

c) Modulation des Schreck-Reflexes: dazu wurde kurz nach dem<br />

Erscheinen der Bilder lautes „weißes Rauschen“ eingespielt, um den<br />

Schreckreflex auszulösen, der mittels EMG (Aktivität des M.<br />

orbicularis oculi) gemessen werden kann. Je positiver die emotionale<br />

Valenz der Hintergrundreize, desto geringer die Startle-Reaktion!<br />

Ergebnisse:<br />

Nicht-Raucher: ordneten die rauchbezogenen Bilder beim subjektiven<br />

Rating zw. neutralen und negativen Bildern ein die Startle-Reaktion<br />

war kongruent dazu, d.h. schwächer als bei negativen und stärker als bei<br />

neutralen Bildern; dasselbe gilt für den Gesichtsausdruck<br />

Raucher: ordneten die rauchbezogene Bilder beim subjektiven Rating<br />

zw. neutralen und positiven Bildern ein die Startle-Reaktion war<br />

inkongruent dazu, sprich: bei rauchbezogenen Bildern geringer als bei<br />

positiven Bildern. Bei Rauchern gehen physiologische Reaktion u.<br />

subjektives Empfinden auseinander!!!<br />

Fazit: Bei starken Rauchern gehen physiologische Reaktion<br />

(Startlereflex/Gesichtsausdruck) und subjektives Empfinden auseinander!<br />

Die Cue-Reactivity wirkt subkortikal und ist dementsprechend nur bedingt<br />

steuerbar!<br />

Hinweisreize können aversiv und appetitiv wirken:<br />

„Craving“ (Verlangen / Drang): ist ein zentraler Bestandteil von Sucht; es<br />

bewirkt nicht nur die Aufrechterhaltung des Suchtverhaltens, sondern ist auch für<br />

Rückfälle verantwortlich!<br />

Sowohl im ICD-10, als auch im DSM-IV wird „Craving“ als wichtiges<br />

Kriterium genannt:<br />

Die ICD-10: spricht von einem „starken Wunsch oder einer Art Zwang“,<br />

eine bestimmte Substanz zu konsumieren.<br />

87


Im DSM-IV: wird „Craving“ („unwiderstehlicher Drang“) zusammen mit<br />

Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen explizit als eines der<br />

zentralen Merkmale von Abhängigkeit genannt.<br />

Erfasst werden kann das „Craving“ entweder mit Hilfe von Fragebögen, z.B.<br />

dem „Questionaire on Smoking Urges“ (QSU), oder mittels<br />

biopsychologischer Methoden (s.o.: Modulation des Schreckreflexes in<br />

Abhängigkeit von der emotionalen Valenz der Hintergrundreize)<br />

Der QSU wurde von Mucha, Pauli u.a. ins deutsche übersetzt (QSU-G); er<br />

enthält 37 Items, die jeweils auf einer 7-stufigen Antwortskala (stimmt<br />

überhaupt nicht – stimmt völlig) beurteilt werden sollen.<br />

4 a priori Skalen:<br />

Verlangen zu rauchen (z.B. „Ich muss jetzt rauchen!“)<br />

Erwartung einer sofortigen positiven Wirkung (z.B. „Ich würde eine<br />

Zigarette jetzt nicht genießen“)<br />

Erwartung einer sofortigen Reduktion von Nikotinentzug oder<br />

negativen Gefühlen (z.B. „Rauchen würde meine schlechte Stimmung<br />

deutlich verbessern.“)<br />

Absicht zu rauchen (z.B. „Ich werde rauchen, sobald ich die<br />

Möglichkeit dazu habe.“)<br />

Hohe Reliabilität (zw. 0.93 und 0.95) und Validität (gemessen an den<br />

Auswirkungen von Deprivation und Rauchen)<br />

Eine Faktorenanalyse zeigt, dass sich diese Skalen zu 2 Faktoren<br />

zusammenfassen lassen:<br />

1. Absicht zu rauchen + Antizipation positiver Wirkung<br />

2. Verlangen zu rauchen + Entzugsreduktion<br />

Rauchen (vorher/nachher) und Deprivation wirken stärker auf Skala 1<br />

(Absicht zu rauchen/ positive Rauchwirkung) als auf Skala 2 (Verlangen zu<br />

rauchen / Entzugsreduktion), was diese Erkenntnis bringt, wissen Gott und<br />

Pauli allein!<br />

7.1.7. Allgemeine Hinweise zur Therapie<br />

Die wichtigsten Therapieziele bei Sucht sind:<br />

Aufbau einer Veränderungsbereitschaft<br />

Problem: die schlimmsten Konsequenzen des Substanzmissbrauchs<br />

(körperliche Beschwerden etc.) klingen zu Beginn der Behandlung recht<br />

schnell ab, während die positiven Konsequenzen abstinenten Verhaltens<br />

(z.B. beruflicher Erfolg) meist erst nach längerer Zeit erfahrbar werden.<br />

Methode: kognitive Verfahren, wobei ein Schwerpunkt auf der positiven<br />

Bewertung abstinenten Verhaltens liegt)<br />

Behandlung begleitender Störungen<br />

„Harm Reduction“: dient der Sicherung des Überlebens und hat absolute<br />

Priorität<br />

Behandlung von Störungen mit Auslöserfunktion und sonstigen<br />

komorbiden Störungen (z.B. soziale Unsicherheit, Depression,<br />

Persönlichkeitsstörung, ungünstige Interaktionsmuster in der Familie etc.)<br />

Rückfallprävention<br />

Kombination von kognitiven und verhaltensübenden Verfahren, die dazu<br />

dienen, Rückfallrisiken zu erkennen und zu meiden bzw. besser zu<br />

„handlen“!<br />

88


Wichtige Behandlungskomponenten sind:<br />

1) Entzugsbehandlung (unter ärztlicher Aufsicht und mit medikamentöser<br />

Unterstützung; meist stationär; bei harten Drogen: Substitutionstherapie)<br />

2) Entwöhnungsbehandlung (Aufbau einer stabilen Abstinenz)<br />

3) Nachsorge (v.a. im ersten Jahr der Abstinenz wichtig; erfolgt z.B. in Form von<br />

Selbsthilfegruppen oder ambulanter Weiterbehandlung)<br />

Der Genesungsprozess kann in 4 Veränderungsphasen unterteilt werden:<br />

1) Precontemplation<br />

Der Betroffene sieht keinen Anlass für Veränderung (mangelnde<br />

Krankheitseinsicht); stattdessen: Verleugnung und andere<br />

Abwehrmechanismen<br />

2) Contemplation<br />

Beginn einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen<br />

Konsumverhalten; ambivalente Haltung und Abwägungsprozesse, wobei<br />

die Betroffenen zunächst meist zu oberflächlichen Lösungsversuchen<br />

neigen<br />

3) Action<br />

Ernsthafter Abstinenzvorsatz und konkrete Umsetzungsversuche<br />

4) Maintenence<br />

Stabilisierung der Abstinenz<br />

7.2. Alkoholabhängigkeit im Speziellen<br />

7.2.0. Einordnung der Störung<br />

Die ICD-10 unterscheidet 10 verschiedene alkoholbedingte Syndrome (F 10):<br />

1) F 10.0: Akute Intoxikation (=akuter Rausch)<br />

2) F 10.1: Schädlicher Gebrauch<br />

3) F 10.2: Abhängigkeitssyndrom<br />

4) F 10.3: Entzugssyndrom (z.B. Tremor, Schweißausbrüche etc.)<br />

5) F 10.4: Entzugssyndrom mit Delir („Delirium Tremens“)<br />

6) F 10.5: Psychotische Störung (z.B. Alkoholhalluzinose)<br />

7) F 10.6: Alkoholbedingtes amnestisches Syndrom (z.B. Korsakow-Syndrom)<br />

8) F 10.7: Alkoholbedingter Restzustand<br />

9) F 10.8: Sonstige alkoholbedingte psychotische Verhaltensstörungen<br />

10) F 10.9: Nicht näher bezeichnete alkoholbedingte psychische-/Verhaltensstörung<br />

7.2.1. Beschreibung der Störung<br />

Lange Zeit wurde Alkoholismus als selbstverschuldetes Laster angesehen und obwohl<br />

Alkoholabhängigkeit seit 1968 gesetzlich als Krankheit anerkannt ist, herrscht in der<br />

Bevölkerung nach wie vor ein negatives Bild von Alkoholikern vor.<br />

Kurzdefinition von Alkoholabhängigkeit (als Faustregel, v.a. für die Kommunikation<br />

mit Patienten):<br />

Alkoholabhängig ist entweder,<br />

- wer den Konsum von Alkohol nicht beenden kann, ohne dass unangenehme<br />

Zustände psychischer oder körperlicher Art eintreten oder<br />

- wer nicht aufhören kann zu trinken, obwohl er sich oder anderen immer wieder<br />

schweren Schaden zufügt.<br />

89


Kriterien für das Alkoholabhängigkeitssyndrom nach der ICD-10 (F 10.2):<br />

Mindestens 3 der folgenden 6 folgenden Kriterien waren innerhalb des letzten<br />

Jahres vorhanden:<br />

1. Starker Wunsch bzw. Zwang, Alkohol zu konsumieren<br />

2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und<br />

der Menge des Konsums (s.o.)<br />

3. Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des<br />

Konsums (s.o.)<br />

4. Toleranzentwicklung (s.o.)<br />

5. Vernachlässigung anderer Interessen und erhöhter Zeitaufwand, um<br />

Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren bzw. sich von den Folgen des<br />

Konsums zu erholen (s.o.)<br />

6. Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweises schädlicher Folgen (s.o.)<br />

Typen von Alkoholabhängigkeit:<br />

Die wohl bekannteste Klassifikation stammt von Jellinek (1960):<br />

1. Konflikttrinker (Alpha-Typ): trinken, um Konflikte und Probleme zu<br />

bewältigen (sind nicht alkoholkrank, aber sehr gefährdet, v.a. nach<br />

kritischen Life-Events)<br />

2. Gelegenheitstrinker (Beta-Typ): trinken bei sozialen Anlässen große<br />

Mengen, bleiben aber sozial und psychisch unauffällig (aufgrund ihres<br />

alkoholnahen Lebensstils trotzdem gefährdet)<br />

3. Rauschtrinker (Gamma-Typ): haben zwar immer wieder abstinente<br />

Phasen, verlieren aber in den Phasen, in denen sie trinken, die Kontrolle<br />

über ihren Alkoholkonsum, hören also auch dann nicht mit dem Trinken<br />

auf, wenn sie genug haben (sind alkoholkrank)<br />

4. Spiegeltrinker (Delta-Typ): halten einen bestimmten Alkoholspiegel, um<br />

Entzugssymptome zu vermeiden und sind dementsprechend nicht<br />

abstinenzfähig (sind alkoholkrank)<br />

5. Quartalstrinker (Epsilon-Typ): haben trotz abstinenter Phasen immer<br />

wieder Phasen exzessiven Alkoholkonsums (sind alkoholkrank)<br />

Cloninger unterscheidet zwischen Typ-A- und Typ-B-Alkoholikern:<br />

Typ-A-Alkoholismus: Neurotischer Suchttypus (Hauptziel des Trinkens ist<br />

die Angstminderung: „harm avoidance“); später Beginn (nach 25), tritt bei<br />

Frauen und Männern gleichermaßen auf; weniger ausgeprägte<br />

Suchtsymptomatik; sozial eher unauffällig; bessere Prognose<br />

Typ-B-Alkoholismus: Psychopathologischer Suchttypus (Hauptziel des<br />

Trinkens ist die Verstärkung des Vergnügen: „sensation seeking“); früher<br />

Beginn (vor 25); tritt familiär gehäuft (genetische Komponente) und<br />

überwiegend bei Männern auf; ausgeprägtere Suchtsymptomatik; sozial<br />

auffällig (antisoziales Verhalten, Aggressionen etc.); schlechtere Prognose<br />

7.2.2. Zur kurz- und langfristigen Wirkung von Alkohol<br />

Alkohol (Ethanol) wirkt antagonistisch auf die NMDA- und auf GABAA-Rezeptoren.<br />

Erstere sind erregend (Glutamat), letztere hemmend (Gamma-Amino-Buttersäure);<br />

darüber hinaus erhöht Alkohol den Serotonin- und Dopaminspiegel. Was die<br />

kurzfristige Wirkung von Alkohol betrifft, kann vor diesem Hintergrund zwischen 2<br />

Phasen unterschieden werden (2-Phasen-Wirkung):<br />

1) Solange der Spiegel steigt, hat Alkohol eine stimulierende Wirkung; es<br />

überwiegen positive Emotionen.<br />

90


2) Singt der Spiegel dagegen, hat Alkohol eine sedierende Wirkung und es<br />

überwiegen negative Emotionen.<br />

Randbemerkung: Die kurzzeitige Wirkung von Alkohol scheint, zumindest wenn nur<br />

geringe Mengen konsumiert wurden, nicht zuletzt von den Erwartungen des Trinkers<br />

anzuhängen.<br />

Gibt man Pbn ein nach Alkohol schmeckendes, aber in Wahrheit alkoholfreies<br />

Getränk, verspüren diese die von ihnen erwartete Wirkung (z.B. erhöhte<br />

Aggressivität und sexuelle Erregung)<br />

Zu den langfristigen Wirkungen von Alkohol gehören:<br />

Toleranzsteigerung und Entzugserscheinungen: Um die hemmende Wirkung<br />

des Alkohols auszugleichen, steigern bestimmte Nervenbahnen ihre Aktivität;<br />

wird kein Alkohol mehr zugeführt, fehlt seine hemmende Wirkung und es<br />

kommt zu einem Zustand der Übererregtheit!<br />

Letzterer äußert sich in Schlafstörungen, Ruhelosigkeit, Tremors etc.<br />

(F 10.3: Entzugssyndrom); in besonders schlimmen Fällen kann es zu<br />

einem „Delirium tremens“ (F 10.4: Entzugssyndrom mit Delir) kommen.<br />

Leberzirrhose: Absterben und Entzündung von Leberzellen<br />

Amnestisches Syndrom (auch Korsakow-Syndrom genannt): Vitaminmangel<br />

führt zu Gedächtnislücken<br />

Unterernährung: Da Alkohol hochkalorisch ist, nehmen Alkoholiker oft nur<br />

noch wenig Nahrung zu sich; das Problem ist jedoch, dass Alkohol trotz der<br />

hohen Kalorienzahl kaum Nährstoffe enthält!<br />

Alkohol während der Schwangerschaft: Alkoholembryopathie (kleiner Kopf,<br />

weit auseinanderstehende Augen, flache Nase, verminderte Intelligenz,<br />

geschwächtes Immunsystem etc.)<br />

Außerdem: Bluthochdruck und Gefäßerkrankungen (=> daher die roten<br />

Nasen); Schädigung von Hirnzellen etc.<br />

Gesellschaftliche und familiäre Auswirkungen des Alkoholkonsums:<br />

Die von Personen mit Alkoholproblemen verursachten Kosten für das<br />

Gesundheitssystem sind rund doppelt so hoch wie die Kosten, die Abstinente<br />

verursachen.<br />

Alkoholismus führt auf Dauer zu Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung!<br />

Annähernd die Hälfte aller Autounfälle ist auf übermäßigen Alkoholkonsum<br />

zurückzuführen (die stärkste Risikogruppe sind junge Männer)!<br />

Kriminalität: Etwa ein Drittel aller Festnahmen erfolgt wegen oder unter<br />

Beteiligung von Trunkenheit; über die Hälfte aller Gewaltverbrechen (Mord,<br />

Vergewaltigung etc.) wird unter Alkoholeinfluss begangen!<br />

Alkoholismus ist nicht zuletzt eine „Familienkrankheit“ – schließlich leiden<br />

auch die Angehörigen von Alkoholikern unter den Folgen der Störung<br />

(Unzuverlässigkeit, Arbeitslosigkeit, sexuelle und gewalttätige Übergriffe etc.)<br />

und entwickeln in Folge dessen häufig selbst psychische Störungen!<br />

Konsequenz: Nahestehende Personen sollten in die Therapie mit<br />

einbezogen werden!<br />

7.2.3. Komorbiditäten und Differentialdiagnose<br />

Alkoholismus weist eine extrem hohe Komorbiditätsrate auf: Die<br />

Lebenszeitprävalenz für zusätzliche psychiatrische Störungen (Angststörungen,<br />

Depression etc.) liegt bei Alkoholabhängigen bei 80%!<br />

Geschlechtsspezifische Unterschiede: Bei Frauen ist die Komorbiditätsrate<br />

insgesamt höher als bei Männern; besonders häufig sind dabei Angststörungen<br />

91


und affektive Störungen. - Bei Männern geht Alkoholismus häufig mit einer<br />

antisozialen Persönlichkeitsstörung einher.<br />

Alkoholabhängigkeit geht meist mit der Abhängigkeit von weiteren Substanzen einher<br />

(„Polytoxikomanie“); z.B. sind über 90% der Alkoholiker auch nikotinabhängig<br />

(was möglicherweise auf eine Kreuztoleranz von Alkohol und Nikotin zurückzuführen<br />

ist)!<br />

Hinzu kommen zahlreiche Begleit- und Folgeerkrankungen (z.B. alkoholinduzierte<br />

Psychosen, Suizidalität, Unterernährung etc.), die bei der Behandlung zwecks „Harm<br />

Reduction“ Vorrang haben (s.u.).<br />

Entzugssymptome: Patient fühlt sich ängstlich, depressiv, ruhelos, kann nicht<br />

schlafen; Tremor der Finger, Augenlider, Lippen und Zunge; Erhöhter Puls,<br />

erhöhter Blutdruck, erhöhte Körpertemperatur etc.<br />

Entzugssyndrom mit Delir (auch „Delirium tremens“ genannt): tritt bei 15%<br />

aller Alkoholabhängigen auf – und zwar 3 bis 4 Tage nach Beginn der<br />

Abstinenz; dauert 3 – 7 Tage und führt unbehandelt bei 10-20% der Fälle zum<br />

Tod (Herz-Kreislauf-Versagen)!<br />

Prodromalerscheinungen: Schlaflosigkeit, Unruhe, Angst, Zittern<br />

Symptome: Bewusstseinstrübung und Desorientierung, motorische Unruhe,<br />

überwiegend visuelle, z.T. aber auch taktile Halluzinationen (Patienten<br />

sehen die berühmten „weiße Mäuse“ und anderes Getier)<br />

Ein Delir ist ein akuter und lebensbedrohlicher psychiatrischer Notfall!!<br />

Alkoholabhängigkeit muss von riskantem bzw. schädlichem Alkoholkonsum<br />

unterschieden werden; bei letzterem kommt es laut ICD-10 zwar zu Schäden, es liegt<br />

aber keine Abhängigkeit vor.<br />

Faustregel (Grenzwerte):<br />

Frauen: max. 5 Mal in der Woche 20 g Alkohol/Tag (~ ½ l Bier)<br />

Männer: max. 5 Mal in der Woche 40g Alkohol/Tag (~ 1 l Bier)<br />

7.2.4. Epidemologie, Verlauf und Prognose<br />

Häufigkeit (in Deutschland):<br />

Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch reinen Alkohols liegt in Deutschland bei<br />

ca. 10 Litern; das entspricht einem halben Liter Bier und einem Glas Wein<br />

(0,2 Liter) pro Tag!<br />

50 % dieses Verbrauchs gehen dabei auf 7% der Bevölkerung zurück!<br />

Epidemiologie:<br />

1, 5 Mio. sind abhängig (= 2,4%)<br />

2,7 Mio. betreiben Alkoholmissbrauch (= 4%)<br />

7,9 Mio. legen einen riskanten Alkoholkonsum an den Tag (= 11%)<br />

Geschlechterspezifität: Männer trinken im Schnitt etwa 3 Mal so viel wie<br />

Frauen und sind daher auch wesentlich häufiger von alkoholbedingten<br />

Syndromen betroffen (s.o.).<br />

Alkoholabhängigkeit: 4 % zu 1%<br />

Alkoholmissbrauch: 5% zu 2%<br />

Fazit: Alkoholbedingte Störungen stellen bei Männern die häufigste, bei<br />

Frauen (nach Angststörungen) die zweithäufigste psychische Erkrankung dar!<br />

Kulturelle Unterschiede und aktuelle Tendenzen:<br />

Am höchsten ist der Alkoholkonsum in Nordamerika und Europa; auch dort<br />

bestehen jedoch zwischen den einzelnen Staaten z.T. große Unterschiede; am<br />

höchsten ist der Konsum in Gegenden, in denen viel Wein produziert wird<br />

(Italien, Frankreich, Californien etc.).<br />

92


Längsschnittstudien zeigen, dass sich die Länderunterschiede im Westen in<br />

den letzten Jahrzehnten verringert haben; darüber hinaus war zumindest bis<br />

in die 80er in fast allen Ländern ein Anstieg des Alkoholkonsums zu<br />

beobachten.<br />

In den letzten 25 Jahren ist dagegen ein stetiger Rückgang des<br />

Alkoholkonsums zu verzeichnen. Dem entgegen steht jedoch ein dramatischer<br />

Anstieg akuter Alkoholvergiftungen unter Jugendlichen (Stichwort:<br />

„Komasaufen“!).<br />

Als Reaktion auf diese Entwicklung wurde in Deutschland 2004 eine<br />

Sondersteuer auf Alkopops eingeführt!<br />

Krankheitsverlauf:<br />

Während man die Entwicklung zum Alkoholismus früher als kontinuierliche<br />

Abwärtsspirale auffasste (vom Geselligkeitstrinker zum Spiegeltrinker), weiß<br />

man heute, dass es keinen einheitlichen Krankheitsverlauf gibt. Stattdessen<br />

muss zwischen 3 Verlaufsformen unterschieden werden:<br />

1. Progrediente Verschlechterung<br />

2. Wechsel zwischen Trinkexzessen und kontrolliertem Konsum bzw.<br />

Abstinenz<br />

3. Spontanremission (bei ca. 20%): meist nach einschneidendem Ereignis<br />

(Geburt eines Kindes; spirituelles Erlebnis, Autounfall etc.)<br />

Alkoholiker haben ein um das 2-4-fache erhöhtes Mortalitätsrisiko (16.000-<br />

40.000 pro Jahr)<br />

Geschlechtsspezifische Unterschiede: Frauen fangen in der Regel später an zu<br />

trinken als Männer und der Anlass ist sehr häufig ein belastendes<br />

Lebensereignis (Familienkrise, Tod des Ehemanns etc.)<br />

Im Schnitt vergehen 6 - 9 Jahre, bis Alkoholismus effektiv behandelt wird!<br />

Damit ist Alkoholismus eine der am schlechtesten behandelten<br />

Krankheiten!<br />

Prognose:<br />

Günstige Bedingungen für Suchtausstieg:<br />

„Ersatzabhängigkeiten“ (z.B. Religion, Hobbys, Anonyme Alkoholiker…)<br />

Rituelle Erinnerung an Bedeutung der Abstinenz (Selbsthilfegruppen)<br />

Soziale und medizinische Unterstützung (z.B. Reintegration)<br />

Wiederherstellung der Selbstachtung der Betroffenen<br />

Typische Rückfallauslöser: unangenehme Gefühle (Ärger, Trauer etc.),<br />

Konflikte, soziale Verführung<br />

Fazit: Eine sichere individuelle Prognose ist nicht möglich; am besten scheint<br />

eine abstinenzfördernde Lebensumstellung und ein gezieltes Training im<br />

Umgang mit Rückfallsituationen zu wirken!<br />

7.2.5. Störungsmodelle<br />

Wie alle Drogen hat auch Alkohol eine verstärkende Wirkung: Er wirkt einerseits<br />

enthemmend und stimulierend (positive Verstärkung), andererseits dämpfend und<br />

beruhigend (negative Verstärkung). Darüber hinaus führt er zu einer Erhöhung der<br />

Dopaminkonzentration im Belohnungszentrum und zu vermehrter<br />

Endorphinausschüttung (s.o.).<br />

Die unmittelbar verstärkende Wirkung von Alkohol ist im Vergleich zu<br />

anderen Drogen jedoch verhältnismäßig gering (Zum Vergleich: Kokain führt<br />

zu einer ca. 35-fachen Erhöhung der Dopaminkonzentration, Alkohol lediglich<br />

zu einer Verdopplung) – die Wirkung von Alkohol ist dementsprechend nicht<br />

93


nur biochemisch bedingt, sondern hängt nicht zuletzt von psychischen<br />

Faktoren (Lernprozessen, Erwartungshaltungen etc.) ab!<br />

Eine besondere Rolle spielen die Erwartungen, die man an die Wirkung<br />

von Alkohol knüpft (s.o.): Je positiver diese Erwartungen sind, desto<br />

positiver erscheint einem nämlich die tatsächliche Wirkung! Erwartung<br />

und Wirkung verstärken sich also (zumindest im unteren Dosis-Bereich)<br />

wechselseitig!<br />

Auch die spannungsmindernde Wirkung von Alkohol scheint nicht nur<br />

mit dessen Wirkung auf die GABA-Rezeptoren zusammenzuhängen,<br />

sondern nicht zuletzt von kognitiven Faktoren abzuhängen: Sofern durch<br />

Alkohol die Aufmerksamkeitskapazität reduziert wird, können Sorgen<br />

nämlich nicht mehr hinreichend verarbeitet werden – vorausgesetzt<br />

natürlich, es besteht eine Möglichkeit zur Ablenkung. Besteht eine solche<br />

Möglichkeit nicht, kann nämlich auch der gegenteilige Effekt eintreten,<br />

indem der Betroffene dann die gesamte, wenn auch eingeschränkte<br />

Verarbeitungskapazität auf unangenehme Gedanken richtet.<br />

Der intrapsychische Teufelskreislauf: Alkoholabhängigkeit wird<br />

aufrechterhalten, indem der Anreiz von Alkohol stetig erhöht und der Konsum<br />

desselben automatisiert wird. Das geschieht u.a. durch kognitive Mechanismen, die<br />

sich ihrerseits wechselseitig verstärken.<br />

Beeinträchtigte Selbstwahrnehmung (mangelndes Selbstwertgefühl,<br />

Unterschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit etc.): rechtfertigt den eigenen<br />

Alkoholkonsum und erhöht den Anreiz („Ich schaffe das nicht!“; „Ich kann<br />

mich an niemanden wenden!“ usw. Mir bleibt also gar nichts anderes<br />

übrig, als Alkohol zu trinken.“)<br />

Unrealistische Wirkungserwartung: verstärkt die Wirkung (s.o.) und<br />

führt zu vermehrtem Konsum („Alkohol beruhigt/hilft/macht mich<br />

originell/…“)<br />

Suchtbezogene Grundannahmen: werden reflexartig aktiviert und meist<br />

nicht bewusst reflektiert („Oh, das war stressig. Jetzt brauche ich erst mal ein<br />

Glas Schnaps!“ Dahinter steht die Grundannahme: „Alkohol hilft, Stress zu<br />

verarbeiten“)<br />

Coping-Defizite: Da keine anderen Lösungsstrategien außer Alkohol<br />

ausprobiert werden, Alkohol aber in Wahrheit keine Lösungs- sondern eine<br />

Vermeidungsstrategie darstellt, können die Betroffenen irgendwann tatsächlich<br />

nicht mehr mit Problemen umgehen. Zum einen fehlt es ihnen an einem<br />

entsprechenden Verhaltensrepertoire, zum anderen an der nötigen Resilienz<br />

(Widerstandsfähigkeit gegenüber aversiven Reizen)!<br />

Abstinenzverletzungssyndrom: Wenn ein Alkoholiker erst einmal gegen das<br />

eigene Abstinenzgebot verstoßen hat („lapse“ = Fehltritt, Ausrutscher), fällt er<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz in seine alten Trinkgewohnheiten zurück<br />

(„relapse“ = Rückfall)!<br />

Der dahinter liegende Mechanismus: Bleibt ein Alkoholiker auch in<br />

Risikosituationen (also bei negativen Gefühlen, Konflikten oder sozialen<br />

Verführungssituationen) standhaft, stärkt das seinen Selbstwert und die<br />

Abstinenzzuversicht; die Wahrscheinlichkeit, auch in der nächsten<br />

Situation standhaft zu bleiben, steigt. Bleibt er dagegen nicht standhaft, ist<br />

es genau umgekehrt: negativer Selbstwert, geringe Abstinenzzuversicht,<br />

soziale Zurückweisung etc. => erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit (nach<br />

dem Motto: „ist der Ruf erst ruiniert,…“)<br />

94


Der neurobiologische Teufelskreislauf: Auf neurobiologischer Ebene tragen v.a.<br />

die Toleranzsteigerung, der Endorphinmangel und das Suchtgedächtnis zur<br />

Aufrechterhaltung der Abhängigkeit bei! Genau wie die kognitiven (und<br />

psychosozialen: s.u.) Mechanismen führen sie zu einer Erhöhung des Anreizes von<br />

Alkohol und zur Automatisierung des Alkoholkonsums.<br />

Toleranzentwicklung: Bei regelmäßigem Alkoholkonsum wird eine bis zum<br />

Faktor 2 erhöhte Menge für die gleiche Wirkung benötigt; bei abruptem<br />

Absetzen kommt es zu Entzugserscheinungen.<br />

Verantwortlich für diese Prozesse sind:<br />

a) Beschleunigung der entsprechenden Leberfunktionen, so dass der<br />

Alkohol schneller abgebaut werden kann<br />

b) Erhöhung der durch Alkohol gehemmten Neurotransmitteraktivitäten;<br />

Vermehrung von Rezeptoren; Neubildung von Synapsen<br />

c) Nach der Gegensatz-Prozess-Theorie (s.o.) die Verstärkung des<br />

b-Prozesses!<br />

Endorphinmangel: Da dauerhafter Alkoholkonsum zu einem Überschuss an<br />

Dopamin und Endorphinen führt, wird die köpereigene Produktion dieser<br />

Stoffe zurückgefahren. Mangelnde Selbstaktivierung des<br />

Belohnungssystems!<br />

Suchtgedächtnis: Dauerhafter Alkoholkonsum führt zu einer subkortikalen<br />

Sensitivierung Hypersensibilität des Belohnungszentrums für<br />

Alkoholstimuli („Cue-Reactivity“); es werden „Schlüsselreize“ gelernt, die<br />

Sichtverhalten auslösen.<br />

Der psychosoziale Teufelskreislauf:<br />

Problematische Trinkkultur in der Gesellschaft: Alkohol ist fester<br />

Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens (Sektempfänge, Stammtische etc.)<br />

und wird von den Medien z.T. glorifiziert (Werbung usw.) Gruppendruck<br />

Veränderte Familieninteraktion: Die Abhängigkeit eines Familienmitglieds<br />

hat Einfluss auf das Verhalten der anderen Familienmitglieder; vielfach<br />

geraten letztere in eine sog. „Co-Abhängigkeit“: sie übernehmen Aufgaben<br />

des Abhängigen, opfern sich für ihn auf und versuchen, dessen Abhängigkeit<br />

nach außen hin zu vertuschen. Dadurch wird die Abhängigkeit des Betroffenen<br />

latent oder direkt unterstützt („Enabling“)!<br />

Sozialer Abstieg: Alkoholismus führt häufig zu Scheidung,<br />

Arbeitsplatzverlust, Ablehnung durch die Umwelt und anderen Problemen,<br />

wobei diese negativen Erfahrungen erneut Anlass zum Trinken geben<br />

(Verwechslung von Ursache und Wirkung!)<br />

Mangel an Alternativressourcen: Ressourcen, die eine Alternative zum<br />

Alkoholkonsum darstellen (wie z.B. soziale Anerkennung oder beruflicher<br />

Erfolg) sind meist erst nach längerer Abstinenz verfügbar; durch diese<br />

Zeitverzögerung wird die Rückfallwahrscheinlichkeit enorm erhöht!<br />

Verhaltensökonomisches Rückfallmodell: Nicht die Suchtvergangenheit<br />

ist entscheidend, sondern die Lebensumstände im Anschluss an die<br />

Suchtbehandlung!<br />

Schlussfolgerungen für die Therapie:<br />

Motivationspsychologische Niederschwelligkeit<br />

Keine konfrontative Grundhaltung, sondern Verständnis<br />

Ziel muss es sein, möglichst viele Betroffene möglichst früh in ihrer<br />

Suchtentwicklung zu erreichen<br />

95


Harm Reduction<br />

Die Sicherung des Überlebens und die Verhinderung bzw. Behandlung<br />

schwerer Folge- und Begleitschäden haben Vorrang!<br />

Beachtung subcortikaler Prozesse und eingeschränkter Willensfreiheit<br />

Ein gezieltes Training zur Überwindung des Suchtreflexes ist erforderlich<br />

Außerdem müssen Bewältigungsstrategien für Rückfallsituationen<br />

vermittelt werden<br />

Zukunftsorientierung der Behandlung<br />

Bedingungen im Anschluss an die Behandlung sind entscheidend<br />

(Abstinenzentwicklung); nicht zuletzt deshalb ist es sinnvoll, die<br />

Bezugspersonen in die Therapie mit einzubeziehen.<br />

7.2.6. Praktische Hinweise zu Diagnose und Indikation<br />

Patienten kommen i.d.R. nicht aus freien Stücken, sondern aufgrund körperlicher<br />

Probleme oder auf Druck anderer (Arbeitgeber, Familie etc.) in die Therapie! Daraus<br />

ergeben sich folgende Konsequenzen:<br />

Der Therapeut wird vielfach nicht als Helfer, sondern als Verbündeter<br />

derjenigen gesehen, von denen der Patient zur Behandlung gedrängt wurde; es<br />

gilt also bereits im Vorgespräch, Widerstände abzubauen und Vertrauen<br />

aufzubauen! Im Rahmen der Diagnostik geht es also nicht nur um<br />

Informationsgewinnung, sondern zugleich darum, den Patienten zu motivieren.<br />

„First things first“:<br />

Die Behandlung von Folge- und Begleiterkrankungen hat Vorrang vor der<br />

eigentlichen Entwöhnungstherapie (s.o.) => Ziel: „Harm Reduction“!<br />

Mit betrunkenen Patienten zu arbeiten macht keinen Sinn => Patienten also<br />

immer vorher ausnüchtern lassen!<br />

Ob eine stationäre oder eher eine ambulante bzw. teilstationäre Behandlung<br />

vorzuziehen ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Beides hat vor- und<br />

Nachteile.<br />

Stationäre Behandlung: ermöglicht eine intensivere Therapie und bietet eine<br />

stärkere Entlastung von Alltagsproblemen<br />

Sie ist indiziert: bei behandlungsbedürftigen psychischen Störungen (z.B.<br />

Delir oder Psychose), wenn der Patient schon mehrere Therapien<br />

abgebrochen hat bzw. wiederholt rückfällig wurde und kein soziales<br />

Stützsystem vorhanden ist.<br />

Ambulante/teilstationäre Behandlung: ist billiger und ermöglicht eine<br />

leichtere Einbeziehung von Bezugspersonen<br />

Sie ist indiziert: wenn der Patient nicht weit weg wohnt, ein soziales<br />

Stützsystem vorhanden ist, und davon auszugehen ist, dass es ungünstig<br />

wäre, ihn aus der Familie oder dem Beruf herauszureißen!<br />

7.2.7. Zur Behandlung von Alkoholismus<br />

Motivierung: Der erste und vielleicht wichtigste Schritt jeder Suchttherapie besteht<br />

darin, ein Problembewusstsein zu schaffen, sprich: Der Klient muss seine Sucht<br />

zugeben und beschließen, etwas dagegen zu unternehmen. Erreicht werden kann<br />

dieses Ziel durch die Methode des „Motivational Interviewing“ ( konfrontativer<br />

Interaktionsstil).<br />

„Motivational Interviewing“ (MI) ist eine motivierende Form der<br />

Gesprächsführung, im Zuge derer versucht wird, Ambivalenzen aufzuzeigen<br />

96


und zu überwinden, um auf diese Weise (und nicht etwa durch Überredung<br />

oder Druck) beim Klienten eine Veränderungsmotivation zu erzeugen.<br />

Die Methode basiert auf folgenden 4 Prinzipien:<br />

1. Empathie (nicht von der eigenen Wirklichkeit ausgehen, sondern von<br />

der des Patienten)<br />

2. Herausarbeitung von Diskrepanzen (dem Patienten die Diskrepanz<br />

zwischen seinem aktuellen Verhalten und seinen Wunschzielen vor<br />

Augen führen, die negativen Konsequenzen des aktuellen Verhaltens<br />

herausarbeiten etc.)<br />

3. Geschmeidiger Umgang mit Widerstand (Widerstand nicht auf den<br />

Patienten, sondern auf die Interaktion zurückführen und<br />

gegebenenfalls den eigenen Interaktionsstil ändern, etwa indem eine<br />

neue Perspektive eingenommen wird)<br />

4. Stärkung der Änderungszuversicht (dem Patienten das Gefühl geben,<br />

selbst verantwortlich zu sein und es selbst in der Hand zu haben, etwas<br />

zu ändern => Selbstwirksamkeit vermitteln)<br />

Techniken der motivierenden Gesprächsführung:<br />

Offene Fragen (die nicht mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten sind)<br />

Aktives Zuhören („mhmh“, „aha“; „sie meinen also, dass…“)<br />

Zusammenfassungen (um dem Patienten seine Äußerungen zu<br />

spiegeln)<br />

Würdigung und positive Wertschätzung (Verständnis und Lob<br />

äußern)<br />

Offener und sensibler Umgang mit Widerstand<br />

Förderung von „change talk“ (den Patienten darin bestärken,<br />

bejahend über die von ihm angestrebten Veränderungen zu sprechen)<br />

Förderung von „confidence talk“ (den Patienten darin bestärken,<br />

zuversichtlich über die Erfolgsaussichten seiner Vorhaben zu<br />

sprechen)<br />

Entgiftung: Vielfach ist eine Entgiftung notwendig; sie kann stationär oder ambulant<br />

durchgeführt werden und dauert ca. einen Monat; meist wird eine solche Entgiftung<br />

medikamentös begleitet (Tranquilizer, krampflösende Medikamente etc.), um die<br />

unangenehmen Entzugserscheinungen abzumildern.<br />

Medikamentöse Behandlung: kann psychotherapeutische Maßnahmen ergänzen,<br />

aber niemals ersetzen.<br />

Folgende Medikamente werden zur Behandlung von Alkoholismus eingesetzt:<br />

„Anti-Craving“-Medikamente (z. B. Acamprosat): haben eine<br />

erregungshemmende Wirkung und führen dadurch zu einer Reduktion des<br />

Alkoholverlangens; eingesetzt werden sie überwiegend im ambulanten<br />

Setting; da im stationären Setting eher auf die Vermeidung von<br />

Rückfallsituationen gesetzt wird; die Einnahmedauer liegt zwischen 6 und<br />

12 Monaten (Problem: hohes Drop out!); verschrieben werden sollten sie<br />

nur, wenn trotz Cravings eine eindeutige Abstinenzmotivation vorliegt und<br />

mit einer regelmäßigen Einnahme gerechnet werden kann!<br />

Antabus (Wirkstoff: Disulfiram): blockiert den Alkoholmetabolismus und<br />

führt dadurch, sobald Alkohol konsumiert wird, zu Übelkeit; Probleme:<br />

hohe Abbrecherquote (80%); wird das Medikament nach dem<br />

Alkoholkonsum eingenommen, besteht Lebensgefahr!<br />

Zusätzlich: medikamentöse Behandlung komorbider Störungen<br />

(Antidepressiva, Tranquilizer etc.)<br />

97


Der Einsatz von Medikamenten zur Behandlung von Alkoholismus ist aus 3<br />

Gründen problematisch:<br />

1. Ist die Leber von Alkoholikern meist beschädigt, so das die<br />

Metabolisierung des Medikaments gestört sein kann<br />

2. Führen Medikamente leicht in erneute Abhängigkeiten<br />

3. Ist die Behandlung eines Substanzmissbrauchs durch eine andere Substanz<br />

kaum dazu geeignet, ein Bewusstsein für neue Problemlösestrategien zu<br />

fördern!<br />

Wirksamkeit: Medikamentöse Behandlung ist durchaus wirksam, allerdings<br />

nur in Kombination mit Psychotherapie!<br />

Psychotherapeutische Maßnahmen: verfolgen im Wesentlichen 3 Ziele (s.o.), es<br />

geht ihnen a) um den Aufbau einer Veränderungsbereitschaft; b) um eine effektive<br />

Rückfallprävention und c) um die Behandlung begleitender Störungen!<br />

Verhaltenstherapeutische Maßnahmen:<br />

Aversionstherapie: Alkoholkonsum wird an aversive Reize<br />

<br />

(Elektroschocks, medikamentös erzeugte Übelkeit) geknüpft (Bestrafung).<br />

Andere operante Maßnahmen: Abstinenz, mäßiger Konsum (Nippen statt<br />

Schlucken, Verzicht auf harte Alkoholika etc.) und Vermeidung von<br />

Risikosituationen (Kneipenbesuche etc.) werden positiv verstärkt.<br />

Ablehnungstraining (Lernen, nein zu sagen)<br />

Expositionsübungen mit Reaktionsvermeidung<br />

Vermittlung alternativer Problemlösestrategien: Entspannungsübungen;<br />

Selbstsicherheits- und Sozialkompetenztrainings; Unterstützung bei der<br />

Arbeitssuche etc.<br />

Kognitive Maßnahmen:<br />

Informationsvermittlung & Auseinandersetzung mit Abhängigkeit (z.B.<br />

Aufklärung darüber, wie viel tatsächlich getrunken wird, da Alkoholiker<br />

dazu neigen, den Alkoholkonsum anderer zu überschätzen)<br />

Arbeit am Selbstbild (Konfrontation mit Videoaufzeichnungen von sich<br />

selbst im betrunkenen Zustand etc.)<br />

Familientherapeutische Maßnahmen:<br />

Verbesserung der familiären Interaktion<br />

Gruppentherapie: kann sehr motivierend wirken!<br />

„Anonyme Alkoholiker“ und anderen Selbsthilfegruppen: geht es darum, einen<br />

abstinenten Lebensstil und eine entsprechende Identität aufzubauen. Voraussetzung<br />

für die Aufnahme ist die Anerkennung der eigenen Sucht sowie die regelmäßige<br />

Teilnahme an den Treffen (bis zu 4 Mal die Woche!); meist dauert das Ganze ein Jahr<br />

(viele brechen jedoch vorher ab); die Mitglieder sind rund um die Uhr füreinander da<br />

und unterstützen sich in Risikosituationen (soziales Netz).<br />

Die AA fordern völlige Abstinenz und sind stark spirituell angehaucht; ihr<br />

12-stufiges Programm basiert auf dem Glauben, dass letztlich nur Gott den<br />

Einzelnen aus seiner Sucht befreien kann und zielt auf ein „spirituelles<br />

Erwachen“.<br />

Wirksamkeit: Selbsthilfegruppen wie die AA haben sich insbesondere bei der<br />

Vermeidung von Rückfällen als wirksam erwiesen.<br />

Streitfrage: Die Frage, ob Abstinenz oder kontrolliertes Trinken Ziel der<br />

Behandlung sein sollte, ist umstritten. Nachdem lange Zeit ausschließlich für ersteres<br />

plädiert wurde, wird in jüngerer Zeit zunehmend auch die 2. Position vertreten.<br />

Mäßigen Alkoholkonsum anstatt völlige Abstinenz anzustreben, hat folgende<br />

Vorteile: 1) ist ein derartiges Behandlungsziel näher an der gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit; 2) kann dadurch das Abstinenzverletzungssyndrom abgemildert<br />

98


werden, sofern ein „Ausrutscher“ nicht als komplette Niederlage angesehen<br />

werden muss; 3) fördert ein kontrollierter Umgang mit Alkohol die<br />

Selbstachtung.<br />

Das Problem ist jedoch, dass trotz vereinzelter Behandlungserfolge in den<br />

meisten Fällen eben doch die „Alles-oder-Nichts“-Devise zu gelten scheint!<br />

99


8. Persönlichkeitsstörungen<br />

8.1. Persönlichkeitsstörungen allgemein<br />

8.1.1. Zur Diagnose von Persönlichkeitsstörungen<br />

Im DSM-IV werden Persönlichkeitsstörungen als überdauernde, unflexible und<br />

tiefgreifende Erlebens- und Verhaltensmuster definiert, die von den Erwartungen der<br />

soziokulturellen Umwelt abweichen.<br />

A. Dabei müssen sich ein solches Muster in mindestens 2 der folgenden<br />

Bereichen manifestieren:<br />

Kognition<br />

Affektivität<br />

Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen<br />

Impulskontrolle<br />

B. Es muss unflexibel und tiefgreifend sein (s.o.) und in vielen persönlichen<br />

und sozialen Situationen zum Tragen kommen.<br />

C. Leiden oder Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen<br />

D. Stabiles und lang andauerndes Muster mit Beginn im Jugend- oder frühen<br />

Erwachsenenalter<br />

Dient zur Abgrenzung von Persönlichkeitsveränderungen, die erst im<br />

Erwachsenenalter einsetzen und meist auf Substanzmissbrauch oder<br />

hirnorganische Schädigungen zurückgehen!<br />

Die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen ist aus mehreren Gründen problematisch:<br />

1) Persönlichkeitsstörungen treten oft komorbid mit anderen Störungen auf,<br />

wobei sie großen Einfluss auf deren jeweilige Ausprägung haben. M.a.W.:<br />

Persönlichkeitsstörungen können den Kontext für andere psychische Störungen<br />

bilden und diese auf verschiedene Weise prägen.<br />

2) Das Phänomen der „Ich-Syntonie“: Persönlichkeitsstörungen werden von<br />

Patienten meist nicht als solche erkannt, sondern für normal gehalten.<br />

3) Dem entspricht, dass Leute mit einer Persönlichkeitsstörung meistens nicht<br />

wegen der Persönlichkeitsstörung, sondern wegen einer anderen Störung (z.B.<br />

Depression) in die Behandlung kommen.<br />

Im DSM-IV werden Persönlichkeitsstörungen vor diesem Hintergrund auf<br />

einer getrennten Achse, der Achse II, angeordnet (s.o.). Dadurch soll darauf<br />

aufmerksam gemacht werden, dass Persönlichkeitsstörungen oft zusätzlich<br />

zu anderen Störungen auftreten und daher einer gesonderten Diagnose<br />

bedürfen.<br />

4) Komorbidität mehrerer Persönlichkeitsstörungen: Häufig erfüllen<br />

Patienten die Kriterien mehrerer Persönlichkeitsstörungen.<br />

Beispiel: Auf über 50 % der Patienten mit einer Borderline-Störung treffen<br />

auch die Kriterien für eine schizotypische-, antisoziale- oder histrionische<br />

Persönlichkeitsstörung zu!<br />

5) Bei den Merkmalen einer Persönlichkeitsstörung handelt es sich um<br />

kontinuierliche Variablen, die bei „normalen“ Persönlichkeiten lediglich<br />

weniger stark ausgeprägt sind!<br />

Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, ob im Zusammenhang mit<br />

Persönlichkeitsstörungen nicht ein dimensionaler Klassifikationsansatz<br />

passender wäre!<br />

100


6) Die Restest-Reliabilitäten, die oft recht niedrig ausfallen, zeigen, dass<br />

keineswegs alle Persönlichkeitsstörungen so stabil sind, wie oft angenommen<br />

wird!<br />

Trotzdem ist die Postulierung verschiedener Persönlichkeitsstörungen sinnvoll.<br />

1) Haben sie einen jeweils spezifischen Einfluss auf die Ausprägung anderer<br />

Störungen (Validität)<br />

2) Sind die Interrater-Reliabilitäten durchweg hoch; versch. Diagnostiker<br />

kommen also meist zu demselben Ergebnis.<br />

8.1.2. Die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen im Überblick<br />

Insgesamt wird zwischen 10 verschiedenen Persönlichkeitsstörungen<br />

unterschieden. Im DSM-IV werden sie 3 Hauptgruppen bzw. Clustern zugeordnet:<br />

Cluster A: Persönlichkeitsstörungen mit absonderlichem oder exzentrischem<br />

Verhalten<br />

Paranoide Persönlichkeitsstörung (~ 1%)<br />

Schizoide Persönlichkeitsstörung (< 1%)<br />

Schizotypische Persönlichkeitsstörung (~ 3%)<br />

Cluster B: Persönlichkeitsstörungen mit dramatischem, emotionalem oder<br />

launenhaften Verhalten<br />

Borderline- oder emotional instabile Persönlichkeitsstörung (1-2%)<br />

Histrionische Persönlichkeitsstörung (2-3%)<br />

Narzisstische Persönlichkeitsstörung (< 1%)<br />

Dissoziale bzw. antisoziale Persönlichkeitsstörung (♂ ca. 3%; ♀ ca. 1%)<br />

Cluster C: Persönlichkeitsstörungen mit ängstlichem oder furchtsamen<br />

Verhalten<br />

Vermeidend-selbstunsichere, ängstliche Persönlichkeitsstörung (~1%)<br />

Dependente Persönlichkeitsstörung (> 1,5%)<br />

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung (~1%)<br />

A) Cluster A<br />

Die Persönlichkeitsstörungen aus Cluster A zeichnen sich durch absonderliches oder<br />

exzentrisches Verhalten aus und gelten für gewöhnlich als weniger schwerwiegende<br />

Varianten der Schizophrenie. Sie zeichnen sich nämlich nicht nur durch Symptome<br />

aus, die denen der prodromalen bzw. residualen Phase der Schizophrenie ähneln,<br />

sondern treten bei Verwandten von Schizophrenie-Patienten besonders gehäuft auf,<br />

was für eine gemeinsame genetische Basis spricht!<br />

Im ICD-10 wird die schizotypische Persönlichkeitsstörung daher als schizotype<br />

Störung (F 21) zu den schizophrenen und paranoiden Störungen gezählt!<br />

Die paranoide Persönlichkeitsstörung (~1%): ist durch übertriebenes Misstrauen<br />

und einen ausgeprägten Pessimismus gekennzeichnet. Betroffene erwarten immer nur<br />

Schlechtes, zweifeln permanent an den Absichten ihrer Mitmenschen, sind extrem<br />

eifersüchtig und oft feindselig.<br />

Differentialdiagnose:<br />

Anders als bei der Schizophrenie und der wahnhaften Störung treten jedoch<br />

weder Halluzinationen, noch vollausgeprägte Wahnvorstellungen auf.<br />

Starke Überlappung mit den übrigen Cluster-A-, der Borderline- und der<br />

vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung.<br />

Die schizoide Persönlichkeitsstörung (< 1%): zeichnet sich durch Emotionslosigkeit,<br />

Gleichgültigkeit und extreme soziale Zurückgezogenheit aus.<br />

Differentialdiagnose: Starke Überlappung mit den übrigen Cluster-A-<br />

Störungen und der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung!<br />

101


Die schizotypische Persönlichkeitsstörung (~3%): zeichnet sich durch soziale<br />

Ängste, extreme Zurückgezogenheit und verschiedene exzentrische Symptome aus,<br />

die an die Schizophrenie erinnern: besonders häufig sind paranoide Vorstellungen,<br />

massiver Aberglaube und Beziehungsideen (die Überzeugung, dass Ereignisse etwas<br />

mit einem selbst zu tun haben).<br />

Differentialdiagnose: starke Überlappung zu den übrigen Cluster-A-Störungen,<br />

der Borderline-, der narzisstischen- und der vermeidend-selbstunsicheren<br />

Persönlichkeitsstörung<br />

Laut ICD-10 keine Persönlichkeitsstörung, sondern eine schizophrene Störung<br />

(s.o.)<br />

B) Cluster B<br />

Die Borderline- oder emotional instabile Persönlichkeitsstörung (1-2%): zeichnet<br />

sich v.a. durch instabile, extrem wechselhafte Emotionen und Verhaltensweisen und<br />

ein hohes Maß an Impulsivität aus.<br />

Siehe: Kapitel 8.2.<br />

Die histrionische (früher: hysterische) Persönlichkeitsstörung (2-3%): zeichnet<br />

sich durch übertrieben dramatisches Verhalten, extreme Ich-Zentriertheit,<br />

Oberflächlichkeit und ein enormes Aufmerksamkeitsbedürfnis aus. Betroffene (meist<br />

Frauen) versuchen verzweifelt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: sie beschäftigen<br />

sich übermäßig mit ihrem Äußeren, sind gewollt verführerisch und übertreiben<br />

maßlos.<br />

Hohe Komorbidität mit der Borderline-Störung und Depression!<br />

Beispiel: Tessa!<br />

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (


C) Cluster C<br />

Die vermeidend-selbstunsichere, ängstliche Persönlichkeitsstörung (~1%): wird<br />

von manchen als schwere Form der generalisierten Sozialphobie betrachtet.<br />

Betroffene haben ein schlechtes Selbstbild, lassen sich nur sehr zögerlich auf<br />

Beziehungen ein und haben große soziale Ängste.<br />

Hohe Komorbidität mit der dependenten- und der Borderline-PS sowie mit<br />

Depression und der generalisierten sozialen Phobie.<br />

Die dependente (=abhängige) Persönlichkeitsstörung (etwas über 1,5%): zeichnet<br />

sich durch fehlendes Selbstvertrauen, Entscheidungsunfähigkeit und eine hohe<br />

Abhängigkeit von anderen aus. Betroffene haben große Angst davor, verlassen zu<br />

werden, und ein starkes Bedürfnis danach, versorgt zu werden.<br />

Komorbiditäten mit nahezu allen Persönlichkeitsstörungen, der bipolaren<br />

Störung, Depressionen, Angststörungen und Bulimie.<br />

Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (~1%): Perfektionismus, Detailversessenheit,<br />

Entscheidungsunfähigkeit, Inflexibilität, Arbeit geht über Freizeit etc.<br />

Differentialdiagnose: Anders als bei der Zwangsstörung treten keine<br />

Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auf!<br />

Komorbiditäten: Die zwanghafte PS betrifft nur bei einer Minderheit der<br />

Patienten mit Zwangsstörung! Am häufigsten tritt sie zusammen mit der<br />

vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung auf!<br />

8.2. Die Borderline-Störung im Speziellen<br />

8.2.1. Geschichte des Störungsbegriffes:<br />

Adolf Stern (1938): Der Begriff „Borderline“ basiert auf der psychoanalytischen<br />

Grundannahme, dass sich psychische Störungen auf einem Kontinuum zwischen<br />

„neurotisch“ und „psychotisch“ bewegen, wobei Borderline-Patienten auf der Grenze<br />

(„Borderline“) zwischen diesen beiden Zuständen angesiedelt wurden.<br />

Neurose = weniger schlimm, da nur einen Teil der Persönlichkeit betreffend<br />

und entwicklungsbedingt (nicht verarbeiteter Konflikt)<br />

Psychose = die gesamte Persönlichkeit betreffend, biologisch bedingt!<br />

Kernberg (1967): Patienten mit einer „Borderline-Persönlichkeitsorganisation“<br />

unterscheiden zwar zwischen „gut“ und „böse“, haben in ihrer Kindheit aber nicht<br />

gelernt, das Selbst von anderen Objekten zu trennen. Einerseits projizieren sie eigene<br />

Gedanken und Gefühle in andere (projektive Identifikation), andererseits<br />

übernehmen sie die Gedanken und Gefühle anderer als ihre eigenen (Introjektion).<br />

Historisch lassen sich 4 Hauptströmungen unterscheiden:<br />

1) Die Borderline-Störung als subschizophrene Störung (ca. 1920-1965)<br />

2) Die Borderline-Störung als subaffektive Störung<br />

3) Die Borderline-Störung als Störung der Impulskontrolle<br />

4) Die Borderline-Störung als schwere Form der Posttraumatischen Belastungsstörung<br />

(wird v.a. in jüngster Zeit häufig vertreten)<br />

Seit dem DSM III (1980): operationalisierte Kriterien!<br />

8.2.2. Diagnostik<br />

Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung<br />

beginnt i.d.R. im frühen Erwachsenenalter und ist durch ein hohes Maß an<br />

Impulsivität und extreme Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im<br />

Selbstbild und in den Affekten gekennzeichnet.<br />

103


Dabei müssen mindestens 5 der folgenden 9 Symptome vorliegen:<br />

1. Verzweifeltes Bemühen, Verlassenwerden zu vermeiden<br />

2. Intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen, die durch<br />

einen Wechsel von Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet sind<br />

3. Identitätsstörung, genauer: Instabilität des Selbstbildes und der<br />

Selbstwahrnehmung<br />

4. Impulsivität in mindestens 2 potenziell selbstschädigenden Bereichen<br />

5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen und<br />

-drohungen oder Selbstverletzungen<br />

6. Affektive Instabilität (z.B. erhöhte Reizbarkeit, Angstattacken usw.)<br />

7. Chronisches Gefühl von Leere<br />

8. Unangemessene oder unkontrollierbare Wut<br />

9. Vorübergehende paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative<br />

Symptome (z.B. Depersonalisationsercheinungen)<br />

In der ICD-10 ist die Borderline-Störung keine eigene Persönlichkeitsstörung, sondern<br />

eine Unterform der „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung“ (F 60.3), die<br />

sich in einen „impulsiven Typus“ (F 60.30) und einen „Borderline-Typus“ (F 60.31)<br />

unterteilt; die Kriterien für letzteren entsprechen weitegehend denen des DSM-IV.<br />

Die Symptomatik der Borderline-Störung lässt sich auf klinischer Ebene in 5<br />

Problembereiche gliedern:<br />

1) Affektregulation<br />

Niedrige Reizschwelle (=> Überempfindlichkeit)<br />

Hohes Erregungsniveau (=> sehr heftige Emotionen)<br />

Widersprüchlichkeit (=> aversive Spannungszustände)<br />

2) Selbstbild<br />

Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität und Integrität („weit entfernt<br />

von sich selbst“; „sich selbst ausgeliefert“); Patienten schwanken oft<br />

zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Omnipotenzfantasien; haben<br />

widersprüchliche Überzeugungen, Werte usw.<br />

3) Psychosoziale Integration<br />

Gefühl der Andersartigkeit und Einsamkeit<br />

Schwierigkeiten in der Nähe-Distanz-Regulation (Patienten haben<br />

einerseits Sehnsucht nach Nähe, andererseits Angst davor; sind anderen<br />

gegenüber oft verletzend, empfinden physische Abwesenheit als<br />

Verlassenheit etc.)<br />

„Passive Aktivität“ (Patienten demonstrieren Hilflosigkeit, um<br />

Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen)<br />

Überlastung der Sozialkontakte (Patienten erwarten zu viel von ihrem<br />

Umfeld und sind extrem anstrengend!)<br />

4) Kognitive Funktionsfähigkeit<br />

Ca. 65% leiden unter ausgeprägter dissoziativer Symptomatik<br />

(Depersonalisations- und Derealisationserleben)<br />

Intrusionen (Erinnerung und Wiedererleben traumatischer Ereignisse)<br />

Pseudopsychotische Symptomatik (akustische und optische<br />

Halluzinationen, die jedoch als ichsynton, d.h. von innen kommend, erlebt<br />

werden; magisches und paranoides Denken; übertriebener Argwohn etc.)<br />

Extremes „Schwarz-Weiß-Denken“, so dass z.B. gute und schlechte Seiten<br />

eines Menschen nicht in ein Ganzes integriert werden können<br />

Neuropsychologische Leistungsfähigkeit ist nicht eingeschränkt<br />

104


5) Verhaltensebene<br />

Selbstverletzungen bei 70-80% der Patienten (Schnittverletzungen,<br />

Brandverletzungen mit Zigaretten oder Bügeleisen; Head-banging etc.),<br />

wobei diese meist nicht als schmerzhaft, sondern als entspannend und<br />

beruhigend, in manchen Fällen sogar als euphorisierend (Kick) erlebt<br />

werden.<br />

Hochrisikoverhalten zur Regulation der Ohnmachtsgefühle (z.B.<br />

gefährliches Balancieren auf Brücken etc.)<br />

Impulsivität (z.B. im Geldausgeben oder sexuellen Kontakten)<br />

Zentrale Hypoxie (Sauerstoffreduktion im Gehirn)<br />

Störungen des Ess- und Trinkverhaltens<br />

8.2.3. Epidemiologie und Komorbiditäten<br />

Epidemiologie:<br />

Die Lebenszeitprävalenz liegt zwischen 1 und 2 % (s.o.)<br />

60-70% der Erkrankten sind Frauen; diese sind demnach deutlich häufiger<br />

betroffen als Männer!<br />

Ca. 80% der Erkrankten befinden sich in Behandlung<br />

Nur rund 1/3 der Betroffenen lebt in fester Beziehung oder ist verheiratet.<br />

Nur rund 1/3 steht im Berufsleben.<br />

Verlauf:<br />

Alter bei Erstmanifestation: bimodale Verteilung<br />

Bereits im Alter von 14 Jahren Verhaltensauffälligkeiten (Essstörungen,<br />

Suizidversuche, affektive Störungen, selbstverletzendes Verhalten)<br />

Im Alter von 24 Jahren Ausbruch der Störung<br />

Suizidrate: 7-10%<br />

Therapie-Abbruchquote: 75%!!<br />

Komorbiditäten:<br />

Komorbide Achse-I-Störungen:<br />

Depressive Störungen: Lebenszeitprävalenz ca. 98%<br />

Angststörungen: Lebenszeitprävalenz ca. 90%<br />

Schlafstörungen: 50%<br />

Substanzmissbrauch: Frauen: 40%; Männer: 60%<br />

Essstörungen: Frauen: 60%<br />

Psychotische Störungen: 1%<br />

Komorbide Persönlichkeitsstörungen:<br />

Dependente: 50%<br />

Ängstlich-vermeidende: 40%<br />

Paranoide: 40% (v.a. bei Männern)<br />

Antisoziale: 25%<br />

Histrionische: 15%<br />

8.2.4. Praktische Hinweise zu Diagnostik und Therapie<br />

Stufenplan der klinischen Diagnostik:<br />

Leitsymptom (!): Häufig einschießende, äußerst unangenehme Spannung<br />

ohne differenzierte emotionale Qualität!<br />

Überprüfung der DSM-IV-Kriterien<br />

Evtl. unter Zuhilfenahme des IPDE („International Personality Disorder<br />

Eximination“) => strukturiertes Experteninterview zur allgemeinen<br />

105


Diagnose von Persönlichkeitsstörungen, das die Kriterien des DSM-IV und<br />

der ICD-10 integriert!<br />

SKID-I zur Diagnostik von Komorbiditäten und evtl. Ausschluss<br />

schizophrener Erkrankungen<br />

Ausschluss organischer Faktoren<br />

Diagnostisches Interview für das Borderline-Syndrom, revidierte Fassung<br />

(DIB-R) => internationaler Standard!<br />

Borderline-Symptom-Liste (BSL) => dient zur Erfassung des Schwergrads<br />

und des Verlaufs!<br />

8.2.5. Das neurobehaviorale Störungsmodell<br />

Das neurobehaviorale Modell der Borderline-Störung ist ein Diathese-Stressmodell,<br />

Es führt die Störung auf ein Zusammenspiel neurobiologischer und psychosozialer<br />

Variablen sowie negative Rückkopplungsprozesse zurück.<br />

(Frühe) Traumata<br />

- Frühe sexuelle oder körperliche<br />

Gewalt<br />

- Vernachlässigung durch die primäre<br />

Bezugsperson<br />

- Fehlende zweite Bezugsperson<br />

- Gewalt im Erwachsenenalter<br />

Störung der Affektregulation<br />

Neurobiolologische Prädisposition<br />

- Konkordanzen: EE (55%) vs. ZZ (14%)<br />

- Weibliches Geschlecht (oder<br />

Sozialisation?!)<br />

- Niedriger Seritoninspiegel (=><br />

Impulsivität?)<br />

- Übersensibilität und Verkleinerung der<br />

Amygdala und des Hippocampus<br />

(~limbisches System)<br />

- Erhöhte Sensibilität gegenüber emotionalen Reizen, Verzögerung der Emotionsrückbildung<br />

und Schwierigkeiten, Emotionen zu differenzieren<br />

- Erhöhte Impulsivität<br />

Hohe Dissoziationsneigung (v.a. in Stresssituationen)<br />

Probleme beim kontextabhängigen, assoziativen Lernen<br />

- Wer sich selbst nicht als kohärente Einheit erlebt, kann aus den Konsequenzen des<br />

eigenen Handelns nichts lernen!<br />

Dysfunktionale Grundannahmen und inkompatible Schemata<br />

Mangelnde psychosoziale Realitätsorientierung<br />

Rückgriff auf dysfunktionale Bewältigungsstrategien (Selbstschädigung)<br />

106


8.2.6. Behandlung: Die Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT)<br />

Die dialektisch-behaviorale Therapie wurde von MARSHA LINEHAN speziell für die<br />

Behandlung von Borderline-Patienten entwickelt. Das Konzept basiert auf dem<br />

neurobehavioralen Störungsmodell und verbindet Elemente der kognitiven VT, der<br />

humanistischen Psychologie und des Zen-Buddhismus.<br />

Eine feste Behandlungsreihenfolge gibt es nicht; stattdessen ist das Programm<br />

bewusst so offen, dass es flexibel auf die Probleme des jeweiligen Patienten<br />

abgestimmt werden kann.<br />

Der Begriff „dialektisch“ bringt zweierlei zum Ausdruck:<br />

Erstens beschreibt er die paradoxe Haltung, die der Therapeut dem<br />

Borderline-Patienten gegenüber einnehmen muss: Der Therapeut muss<br />

letzteren nämlich nicht zu einer Veränderung seines Verhaltens bewegen,<br />

sondern ihn zugleich so annehmen, wie er ist (Rogers).<br />

Zweitens bringt der Begriff zum Ausdruck, worum es in der Therapie geht:<br />

nämlich die Gegensätze in der Welt des Patienten schrittweise<br />

aufzulösen und zu integrieren.<br />

Grundannahmen:<br />

Entscheidend für den Erfolg der Therapie ist die Grundhaltung des<br />

Therapeuten und dessen Beziehung zum Klienten; erstere muss im Sinne der<br />

humanistischen Psychologie empathisch, wertschätzend und kongruent sein.<br />

Der Therapeut muss sich darüber bewusst sein, dass Borderline-Patienten unter<br />

ihrer Störung leiden und sich bessern wollen, ihnen aber genau das besonders<br />

schwer fällt.<br />

Das Verhalten der Patienten macht im subjektiven Kontext des Patienten<br />

durchaus Sinn und darf daher nicht pauschal als „gestört“ abgetan werden.<br />

Stattdessen gilt es, die jeweiligen Auslöser und Konsequenzen sowie die<br />

zugrundeliegenden Schemata herauszuarbeiten!<br />

Die Patienten können in der DBT nicht versagen – die Therapeuten brauchen<br />

ihrerseits Unterstützung (Supervision)<br />

Die DBT umfasst 4 Module:<br />

1. Einzeltherapie<br />

2. Fertigkeitstraining in der Gruppe („Skills“-Gruppe)<br />

3. Telefonberatung (in Notfällen)<br />

4. Supervisionsgruppe für Therapeuten<br />

Die Beziehungsgestaltung: ist aus 2 Gründen eines der wichtigsten Elemente der<br />

Einzeltherapie. Erstens, sind Beziehungsprobleme ein Leitsymptom der Borderline-<br />

Störung! Zweitens, soll durch eine positive Beziehung ein vorzeitiger<br />

Therapieabbruch, der bei Borderline-Patienten beinahe die Regel ist (s.o.: 75%!),<br />

verhindert werden.<br />

Der Therapeut versteht sich als Coach (sprich: er übernimmt die<br />

Hauptverantwortung für Verlauf und Ergebnis der Therapie)<br />

Der Therapeut benennt seine eigenen Emotionen (auf diese Weise soll dem<br />

Patienten die Wirkung seines Verhaltens authentisch gespiegelt- und dabei<br />

geklärt werden, ob diese tatsächlich intendiert war)<br />

Der Therapeut achtet stärker auf die verbalen als auf die nonverbalen Signale<br />

(da letztere bei Borderline-Patienten oft beeinträchtigt sind und ihre<br />

tatsächlichen Emotionen nicht adäquat wiedergeben)<br />

Jede Sitzung wird auf Video oder Audiokassette aufgenommen (zur<br />

Nachbearbeitung durch den Patienten)<br />

Der Therapeut sorgt für „Objektkonstanz“ (z.B. durch das Aufnehmen von<br />

Tonbändern, um mit ihrer Hilfe Abwesenheitsphasen zu überbrücken)<br />

107


Der Therapeut beachtet seine eigenen Grenzen (man ist nur zu bestimmten<br />

Zeiten telefonisch erreichbar, kann nur eine begrenzte Anzahl von<br />

Zusatzterminen anbieten etc.)<br />

Der Therapeut balanciert zwischen Akzeptanz und Drängen auf Veränderung<br />

Der Therapeut balanciert zwischen Einhaltung der Regeln und Flexibilität (um<br />

weder den therapeutischen Erfolg, noch die Beziehung zu gefährden)<br />

Der Therapeut balanciert zwischen stützender und zutrauender, fordernder<br />

Haltung<br />

Der Therapeut gibt eigene Fehler zu und dient dem Patienten dadurch als<br />

Modell!<br />

Der Therapeut ist optimistisch und ressourcenorientiert!<br />

Die Einzeltherapie: gliedert sich in eine Vorbereitungs- und drei Hauptphasen, wobei<br />

es in all diesen Phasen nicht zuletzt darum geht, eine positive Beziehung zum Klienten<br />

aufzubauen (s.o.).<br />

0) Vorbereitungsphase:<br />

Aufklärung über das Störungsbild (Psychoedukation) und die Methodik der<br />

DBT<br />

Klärung gemeinsamer Behandlungsziele und –foki; Aufsetzen eines<br />

Behandlungsvertrages (Klient verpflichtet sich zur Einhaltung von Regeln,<br />

etwa dazu, keinen Suizid zu begehen, der Therapeut zu bestmöglicher<br />

Hilfestellung)<br />

Verhaltensanalyse des letzten Suizidversuchs / des letzten<br />

Therapieabbruchs<br />

1) Die erste Therapiephase dient der Behandlung problematischer<br />

Verhaltensweisen<br />

Suizidales und parasuzidales Verhalten: hat oberste Priorität Ziel ist<br />

es, einen adäquaten Umgang mit suizidalen Krisen und Problemen zu<br />

fördern<br />

Therapiegefährdendes Verhalten: dazu zählen z.B. unentschuldigtes<br />

Fernbleiben, eine Überbeanspruchung des Therapeuten (nächtliche Anrufe,<br />

Drohungen etc.) Ziel ist es, die Compliance zu erhöhen!<br />

Verhaltensweisen, die die Lebensqualität einschränken: dazu zählen z.B.<br />

Drogenmissbrauch, Essstörungen, Dissoziationen etc. Ziel ist es,<br />

Verhaltensweisen, die die emotionale Balance und damit die Lebensqualität<br />

beeinträchtigen, zu reduzieren. (Methode: Vermeidung von Auslösereizen<br />

(z.B. Umfeld, Filme etc.) und besserer Umgang mit traumaassoziierten<br />

Emotionen)<br />

Verbesserung von Verhaltensfertigkeiten: erfolgt zwar primär in der<br />

Skillsgruppe; in der Einzeltherapie muss der Klient jedoch dazu angehalten<br />

werden, das dort Gelernte auch anzuwenden!<br />

2) Die zweite Therapiephase dient v.a. dazu, traumatische Erfahrungen<br />

aufzuarbeiten, um dadurch deren negativen Konsequenzen für das Verhalten des<br />

Patienten zu reduzieren. Eine solche Aufarbeitung ist allerdings erst dann<br />

indiziert, wenn die Patienten bereits gelernt haben, ihre Emos einigermaßen zu<br />

regulieren und keine akute Suizidgefahr mehr besteht (Belastbarkeit).<br />

Identifikation traumassoziierter Schemata (Wochenprotokoll;<br />

Verhaltensanalysen etc.)<br />

Modifikation dieser Schemata (durch Methoden der kognitiven<br />

Umstrukturierung, Expositionsverfahren, Kontingenzmanagement etc.)<br />

Umgang mit Dissoziationen und „Stuck-States“ (Zuständen, in denen der<br />

Patient kognitiv und emotional nicht mehr zugänglich ist): Dissoziative<br />

108


Zustände sind oft konditioniert, sofern sie durch spezifische Reize<br />

ausgelöst werden und zu einer kurzfristigen Spannungsreduktion führen.<br />

Unterbrochen werden können sie durch starke sensorische Reize (z.B.<br />

lautes Geräusch, Eiswürfel); wichtig ist: sie treten nur auf, wenn der Patient<br />

es zulässt!<br />

3) Die dritte und letzte Therapiephase zielt auf die generelle Lebensführung des<br />

Klienten; Ziel dieser Phase ist es, das Gelernte zu integrieren und sich neu zu<br />

orientieren!<br />

Das Fertigkeitstraining in der Gruppe: erfolgt parallel zur Einzeltherapie und<br />

sollte möglichst von einem anderen Therapeuten durchgeführt werden (da das<br />

Skillstraining die therapeutische Beziehung gefährden kann). Das Programm gliedert<br />

sich in 4 Module (s.u.) à 8 Sitzungen und sollte 2 Mal komplett durchlaufen werden;<br />

8-10 Teilnehmer, wobei Neueinsteiger immer zu Beginn eines neuen Moduls<br />

aufgenommen werden können.<br />

1. Das Modul „innere Achtsamkeit“ zielt darauf, ein bewussteres Erleben des<br />

Alltags zu fördern sowie die Gefühle und Gedanken der Patienten miteinander in<br />

Einklang zu bringen (=> Einflüsse des Buddhismus)!<br />

Zu den „Was“-Fertigkeiten der inneren Achtsamkeit gehören die<br />

Komplexe „Wahrnehmen“, „Beschreiben“ und „Teilnehmen“, sprich: Die<br />

Klienten sollen lernen, sich etwas zuzuwenden (Gedanken, Objekte,<br />

Situationen), auch wenn es unangenehm ist (= wahrnehmen), das eigene<br />

Verhalten und die Umweltereignisse zu benennen (=beschreiben) und in<br />

einer Tätigkeit aufzugehen, ohne sich ablenken zu lassen (= teilnehmen)<br />

Zu den „Wie“-Fertigkeiten der inneren Achtsamkeit gehört a) die<br />

Fertigkeit, Ereignisse zu beobachten, ohne sie zu werten (erst die<br />

Bewertung macht die Emotion!), b) die Fertigkeit, sich von den eigenen<br />

Emotionen zu distanzieren („innerer Beobachter“) und c) die Fertigkeit zu<br />

wirkungsvollem Handeln.<br />

2. Das Modul „Stresstoleranz“ zielt darauf, einen besseren Umgang mit<br />

Stresssituationen zu fördern. Zu diesem Zweck werden den Patienten<br />

verschiedene Strategien vermittelt, die auf insgesamt 4 Ebenen ansetzen.<br />

Sensorische Ebene:<br />

Angesprochener Sinn Bei Hochstress Bei moderatem Stress<br />

Fühlen Eiswürfel in die Hand Schaumbad nehmen,<br />

oder d. Mund nehmen sich massieren lassen<br />

Hören Laute, knallende Ge- Aufmunternde,<br />

räusche direkt am Ohr rhythmische Musik<br />

Riechen Ammoniak zufächeln Parfüm zufächeln<br />

Schmecken Chilischoten kauen Versch.<br />

probieren<br />

Eissorten<br />

Sehen Zeiger eines Me- Kunstband<br />

tronoms beobachten durchblättern etc.<br />

Physiologische Ebene: Haltungsübungen, Atmungsübungen, Sport etc.<br />

Kognitive Ebene: „Den Augenblick verändern“<br />

Bei Hochstress: „Flick-Flacks“ (z.B. von 100 je 7 abziehen)<br />

Phantasie: z.B. Visualisierung eines Ortes, an dem der Patient sich<br />

geborgen fühlt („save place“)<br />

Gebet/Meditation: sich einem höheren Wesen anvertrauen<br />

Sinngebung (Absicht oder Sinn im Schmerz finden; Vgl. Frankl)<br />

Konzentration auf den Augenblick<br />

109


Vergleichen (mit Leuten, denen es noch schlechter geht, z.B. den<br />

Kindern in Afrika)<br />

Optimistische Gedanken fördern<br />

Handlungsebene: „Überbrückung“<br />

- Ablenkende Aktivitäten (Freunde treffen, Holz hacken etc.)<br />

- Mentaler „Kurzurlaub“ (für 20 Minuten)<br />

3. Das Modul „Emotionsregulation“ zielt darauf, Fertigkeiten zur<br />

Emotionsregulation zu vermitteln.<br />

Dabei stützt sich das Modul auf die neurobehaviorale Emotionstheorie, der<br />

zufolge Emotionen das Resultat zweier Bewertungsprozesse sind.<br />

- Emotionale Reize führen zu physiologischer und neuronaler Erregung<br />

(Arousal), die ihrerseits eine kognitive Interpretation der<br />

betreffenden Reize erforderlich macht.<br />

- Dabei werden die eingehenden Reize in einem ersten Schritt danach<br />

beurteilt, ob sie angenehm oder unangenehm sind und ob sie wichtig<br />

oder unwichtig sind.<br />

- In einem zweiten Schritt wird geprüft, ob die eingehenden Reize<br />

bekannt- und wenn ja, wie sie genau einzuordnen sind, sprich: wie<br />

angenehm/unangenehm und wie wichtig sie sind!<br />

- Die aus diesen Bewertungsprozessen resultierende Emotion führt zu<br />

einem entsprechenden Handlungsentwurf, dessen Adäquatheit<br />

seinerseits an den zuvor gemachten Überlegungen überprüft wird.<br />

Aus diesem Modell ergeben sich 4 Möglichkeiten zur Emotionsregulation:<br />

a) Veränderung der Reizexposition<br />

Anders als Phobiker tendieren Borderline-Patienten dazu,<br />

traumarelevante Reize nicht zu vermeiden, sondern gezielt<br />

aufzusuchen; es gilt daher, sie einerseits zu aktiver Reiz-Prävention,<br />

andererseits zum bewussten Aufsuchen positiver Reize zu ermutigen<br />

(Problem: Borderliner haben oft das Gefühl haben, „es nicht zu<br />

verdienen“)<br />

b) Veränderung der zentralen neuronalen Reizverarbeitung<br />

Borderliner haben eine erhöhte Sensitivität für emotionale Reize<br />

(s.o.); diese kann jedoch durch so „banale“ Dinge wie Sport, eine<br />

ausgewogene Ernährung und eine vernünftige Tagesstruktur<br />

reduziert werden (Problem: den Patienten fehlt es dazu oft an der<br />

nötigen Motivation).<br />

c) Veränderung der Bewertungsprozesse<br />

Wenn ihre Interpretation offensichtlich unrealistisch ist, sollten die<br />

Patienten das Gegenteil von dem tun, was ihre Emotion ihnen<br />

vorgibt (verlangt viel Mut)!<br />

Wenn ihnen ihre Interpretation dagegen auch bei nochmaliger<br />

Überprüfung stimmig erscheint und nicht abzumildern ist, sollte<br />

diese nach dem Prinzip der „radikalen Akzeptanz“ angenommen<br />

werden!<br />

d) Umsetzung der Emotion in adäquate Handlungs- und<br />

Kommunikationsformen<br />

4. Das Modul „zwischenmenschliche Fertigkeiten“ enthält Elemente gängiger<br />

Trainings zur Förderung der sozialen Kompetenz (Rollenspiele etc.)!<br />

Borderliner haben eigentlich gute soziale Fertigkeiten (Ressourcen), sie<br />

können diese aber in bestimmten Situationen nicht adäquat anwenden<br />

110


(schwanken zwischen Konfliktvermeidung und radikaler Konfrontation<br />

etc.).<br />

Zur Wirksamkeit: DBT ist sowohl im ambulanten als auch im stationären Setting<br />

überaus effektiv. Schon nach 4 Monaten werden signifikante Verbesserungen erzielt<br />

und die Abbrecherquote ist deutlich niedriger als bei unspezifischen Therapien!<br />

Medikation: Die Datenlage zur Wirkung pharmakologischer Therapien ist überaus<br />

unbefriedigend; die am häufigsten eingesetzten Medikamente sind SSRIs und<br />

Benzodiazepine; sie dienen jedoch lediglich der Symptombekämpfung und haben<br />

zudem eine hohe Suchtgefahr!<br />

111


9.1. Somatoforme Störungen<br />

9. Somatoforme und dissoziative Störungen<br />

9.1.1. Die verschiedenen Arten somatoformer Störungen<br />

Definition: Somatoforme Störungen (griech. „soma“ = „Körper“) äußern sich in<br />

körperlichen Symptomen, für die es bisher keine physiologische Ursache gibt und die<br />

sich nicht willkürlich kontrollieren lassen. Man nimmt an, dass sie psychische<br />

Ursachen haben und insbesondere mit Angst zusammenhängen.<br />

Im DSM-IV wird zwischen 6 Arten somatoformer Störungen unterschieden:<br />

1) Eine Somatisierungsstörung: liegt vor, wenn vielfältige (!) körperliche<br />

Beschwerden über einen Zeitraum von mehreren Jahren (!) immer<br />

wiederkehren, ohne dass eine organische Ursache dafür angegeben werden<br />

könnte.<br />

2) Eine undifferenzierte somatoforme Störung: liegt vor, wenn über einen<br />

Zeitraum von mindestens 6 Monaten eine oder mehrere körperliche<br />

Beschwerden auftreten, ohne dass eine organische Ursache dafür angegeben<br />

werden könnte.<br />

Unterscheidet sich von der Somatisierungsstörung durch die Anzahl der<br />

Symptome und deren Dauer!<br />

3) Eine Konversionsstörung: liegt vor, wenn sensorische oder motorische<br />

Symptome (z.B. eine Lähmung) auftreten, die zwar eine neurologische oder<br />

andere körperliche Ursache nahelegen, in Wirklichkeit aber mit psychologischen<br />

Faktoren in Zusammenhang stehen.<br />

Folgende Untertypen werden unterschieden:<br />

- Konversionsstörungen mit motorischen Symptomen oder Ausfällen:<br />

z.B. Lähmungen der Arme oder Beine, Koordinationsstörungen,<br />

Aphonie (Stimmverlust) etc.<br />

- Konversionsstörungen mit sensorischen Symptomen oder Ausfällen:<br />

z.B. plötzlicher Verlust des Sehvermögens, „Tunnelblick“<br />

(Einschränkung des Gesichtsfelds), Anästhesie (Schmerzunempfindlichkeit<br />

/ Verlust taktiler Empfindungen), Anosmie (Verlust<br />

des Geruchssinns); Gefühle des Stechens, Kribbelns oder Prickelns auf<br />

der Haut etc.<br />

- Konversionsstörungen mit Anfällen oder Krämpfen<br />

- Konversionsstörungen mit gemischtem Erscheinungsbild<br />

Konversationsstörungen (früher als „Hysterie“ bezeichnet) treten meist im<br />

Zusammenhang mit psychischen Belastungssituationen auf. Mögliche<br />

Ursachen: Aufmerksamkeitsbedürfnis, Vermeidungsreaktion (um<br />

bestimmten Anforderungen zu entgehen) => kurz: Angst und seelische<br />

Konflikte werden in körperliche Symptome umgewandelt bzw.<br />

„konvertiert“; wird heute im Ggs. zu Freuds Zeiten nur noch selten<br />

diagnostiziert!<br />

4) Eine somatoforme Schmerzstörung: äußert sich in anhaltenden Schmerzen<br />

ohne organische Ursache<br />

5) Hypochondrie: äußert sich in der Fehlinterpretation körperlicher Zeichen oder<br />

Empfindungen und in der daraus resultierenden, aber objektiv unbegründeten<br />

Angst oder Überzeugung, eine schwere Krankheit zu haben. Diese Angst hält<br />

trotz ärztlicher Rückversicherung an und dauert mindestens 6 Monate!<br />

112


6) Eine körperdysmorphe Störung (Dsymorphophobie): äußert sich in der<br />

intensiven Beschäftigung mit einem eingebildeten oder übertriebenen Mangel<br />

der eigenen Erscheinung.<br />

Die Unzufriedenheit kann sich auf alle möglichen Körperteile und<br />

–eigenschaften beziehen (Behaarung, Brustgröße, Nasenform etc.), sie<br />

beginnt meistens gegen Ende der Pubertät und tritt bei Frauen häufiger auf<br />

als bei Männern; Schönheits-OPs helfen in aller Regel wenig!<br />

Manche Forscher halten die Dismorphophobie nicht für eine eigene<br />

Störung, sondern für ein Symptom, das bei mehreren Störungen auftreten<br />

kann (Zwangsstörung, Wahnstörung, Depression etc.); tatsächlich ist die<br />

Differentialdiagnose nicht ganz einfach (s.u.)!<br />

Im ICD-10 sind die aufgelisteten Diagnosen etwas spezifischer; darüber hinaus<br />

werden Konversionsstörungen unter den dissoziativen Störungen geführt!<br />

F 44: „Dissoziative Störung der Bewegung und der Sinnesempfindung“:<br />

„Dissoziative Bewegungsstörungen“; „Dissoziative Krampfanfälle“ etc.<br />

Halitophobie (auch somatoforme Halitosis genannt): ist die unbegründete Angst und<br />

Überzeugung, Mundgeruch zu haben.<br />

9.1.2. Die Somatisierungsstörung<br />

Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV:<br />

A. Vorgeschichte mit vielen körperlichen Beschwerden, wobei diese vor dem<br />

30. LJ begonnen- und über mehrere Jahre angehalten haben müssen.<br />

B. Erfüllung folgender 8 Kriterien:<br />

Vier Schmerzsymptome (z.B. Kopf-, Gelenk-, Rücken-, Bauch- oder<br />

Menstruationsschmerzen; Schmerzen Wasserlassen oder beim<br />

Geschlechtsverkehr = Dyspareunie)<br />

Zwei gastrointestinale Symptome (z.B. Völlegefühl, Übelkeit, Erbrechen,<br />

Durchfall oder Unverträglichkeit bestimmter Speisen)<br />

Ein sexuelles Symptom (z.B. sexuelle Gleichgültigkeit, Erektions- oder<br />

Ejakulationsstörungen, unregelmäßige oder ungewöhnlich starke<br />

Menstruation, Erbrechen während der gesamten Schwangerschaft)<br />

Ein pseudoneurologisches Symptom (entweder ein Konversionssymptom<br />

wie z.B. Gleichgewichts- oder Koordinationsstörungen, Lähmungen,<br />

lokalisierte Muskelschwäche, Schluckschwierigkeiten, Aphonie, Hallos,<br />

Anästhesien, Blindheit oder Taubheit oder ein dissoziatives Symptom wie<br />

z.B. Amnesie)<br />

C. Keine organische Ursache; D. keine Simulation<br />

Die Kriterien des ICD sind etwas ungenauer: eine Somatisierungsstörung liegt hier<br />

vor, wenn mehrere verschiedene körperliche Symptome ohne ausreichende somatische<br />

Erklärung über mindestens 2 Jahre andauern.<br />

Der „Somatische Symptom-Index - 4/6“ (SSI – 4/6): dient zur Diagnose eines<br />

„Somatisierungssyndroms“, wobei deutlich weniger Symptome verlangt werden als<br />

im DSM-IV. Während letzterer den Cut-off-Wert für eine Somatisierungsstörung auf 8<br />

Symptome festlegt, verlangt der SSI bei Männern lediglich 4-, bei Frauen 6 Symptome<br />

– und zwar über einen Zeitraum von 6 Monaten!<br />

Es hat sich gezeigt, dass Patienten oberhalb des SSI (ohne Erfüllung der<br />

vollständigen Kriterien einer Somatisierungsstörung) ähnliche Probleme haben<br />

wie Patienten mit einer vollständigen Somatisierungsstörung (Krankheitstage,<br />

Komorbiditäten, Arztbesuche etc.)<br />

113


9.1.3. Hypochondrie<br />

Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV:<br />

A. Übermäßige Beschäftigung mit der Angst oder Überzeugung, eine ernsthafte<br />

Krankheit zu haben, was auf einer Fehlinterpretation körperlicher Symptome<br />

beruht.<br />

B. Die Beschäftigung mit den Krankheitsängsten bleibt trotz angemessener<br />

medizinischer Abklärung und Rückversicherung durch den Arzt bestehen.<br />

Unterschieden werden kann zwischen Patienten mit und solchen ohne<br />

Einsicht in die Unbegründetheit der eigenen Sorgen!<br />

C. Die Überzeugung ist weder von wahnhaftem Ausmaß ( Wahnhafte<br />

Störung), noch handelt es sich dabei um eine umschriebene Sorge über die<br />

äußere Erscheinung ( Körperdysmorphe Störung)<br />

D. Leiden und Beeinträchtigung<br />

E. Dauer: mindestens 6 Monate<br />

F. Nicht besser durch eine generalisierte Angststörung, Zwangsstörung,<br />

Panikstörung Major Depression oder andere somatoforme Störung zu erklären!<br />

Die „Illness Attitude Scale“ (IAS): ist ein Verfahren zur Erfassung von<br />

Hypochondriesymptomen.<br />

Die IAS umfasst 29 Items, die auf einer 5stufigen Skala (von „Nein“ bis „fast<br />

immer“) zu beantworten sind.<br />

Beispielitems: „Machen Sie sich über ihre Gesundheit Sorgen?“;<br />

„Beängstigt Sie der Gedanke an eine ernste Erkrankung?“; „Prüfen Sie<br />

ihren Körper, um herauszufinden, ob irgendetwas nicht stimmt?“ …<br />

Die Items lassen sich 8 Skalen zuordnen, die da sind: „Worry about illness“;<br />

„Concern about Pain“; „Health Habits“; „Hypochondrical Beliefs“;<br />

„Thanatophobia“ (=Angst vor dem Tod); „Disease Phobia“; „Bodily<br />

Preoccupation“; „Treatment Experience“<br />

Hypochonder haben auf allen Subskalen erhöhte Werte!<br />

9.1.4. Epidemiologie, Komorbiditäten und Differentialdiagnose<br />

Lebenszeitprävalenzen:<br />

Somatoforme Störungen generell: 12-13%<br />

Verhältnis Frauen – Männer: 2:1<br />

Häufig auftretende somatische Beschwerden wie Brustschmerz,<br />

Erschöpfung, Schwindel, Kopfschmerz oder Rückenschmerzen, haben in<br />

den seltensten Fällen organische Ursachen!<br />

Somatisierungsstörung: unter 0,1% (am seltensten!)<br />

Undifferenzierte somatoforme Störung: ca. 9%<br />

Konversionsstörung: weniger als 1%<br />

Hypochondrie: ca. 0,2%<br />

Die häufigsten psychosomatischen Symptome sind: Rückenschmerzen, Kopf- und<br />

Gesichtsschmerzen, Schweißausbrüche, leichte Erschöpfbarkeit, Bauchschmerzen,<br />

Völlegefühl/Blähungen, Palpitationen (ein vom Patienten als unregelmäßig und<br />

ungewöhnlich stark empfundener Herzschlag), Druckgefühl im Bauch.<br />

Alle diese Symptome treten bei über 50% der Patienten einer<br />

psychosomatischen Klinik auf!<br />

Komorbiditäten: Nur 23% der Personen, die an einer somatoformen Störung leiden,<br />

haben keine weitere Diagnose; in den meisten Fällen sind somatoforme Störungen also<br />

komorbid!<br />

114


Am häufigsten treten somatoforme Störungen zusammen mit Depressionen auf<br />

(Lebenszeitprävalenz für eine MD: 47%; für Dysthymia: 40%).<br />

Aber auch Zwangs- und Angststörungen (insbes. Panikattacken und<br />

Agoraphobie) sowie Alkoholmissbrauch treten bei Personen mit somatoformer<br />

Störung gehäuft auf!<br />

Diagnose- und Dokumentationshilfen:<br />

Das „Screening für somatoforme Störungen“ (SOMS): ist ein Fragebogen,<br />

bei dem der Patient selbst Angaben über körperliche Beschwerden macht.<br />

„In den vergangenen 2 Jahren habe ich unter folgenden Beschwerden<br />

gelitten [ja/nein]“: Erbrechen, Bauch- und Unterleibsschmerzen, Übelkeit,<br />

Blähungen, Durchfall, Schwindel, etc.<br />

Differentialdiagnose:<br />

Simulation (vorgetäuschte Störung)<br />

Organische Ursachen<br />

Der Ausschluss organischer Ursachen ist bei somatoformen Störungen<br />

natürlich ganz besonders wichtig; das gilt insbesondere für<br />

Konversionsstörungen, die früher oft zu Unrecht als psychische Störungen<br />

diagnostiziert wurden. Es bedarf dementsprechend immer einer<br />

eingehenden medizinischen Untersuchung (Röntgenaufnahmen,<br />

Spiegelungen, CT etc.)!<br />

Beispiel: Hysterische Anästhesien können von neurologischen<br />

Dysfunktionen dadurch unterschieden werden, dass sich die Bereiche, in<br />

denen sie auftreten, meist nicht mit den Bereichen neuronaler Innervation<br />

decken! Ist dem so, fehlt ihnen eine anatomische Grundlage!<br />

Hysterische Anästhesien treten häufig auf: an Händen und<br />

Unterarmen; im Gesicht; im Bereich der Knie; an den Waden und<br />

Füßen; am Hinterkopf und dem oberen Teil des Rückens!<br />

Psychische Faktoren, die medizinische Krankheitsfaktoren beeinflussen<br />

Affektive Störungen<br />

Angststörungen<br />

Wahnhafte Störung (mit körperbezogenem Wahn)<br />

9.1.5. Risikofaktoren<br />

Genetische Risikofaktoren:<br />

Alkoholismus, Soziopathie (= dissoziale Persönlichkeitsstörungen), affektive<br />

Störungen und somatoforme Störungen in der Familie<br />

Epidemiologische Risikofaktoren:<br />

Weibliches Geschlecht (2:1-Verhältnis)<br />

Niedriger Sozialstatus<br />

Kulturkreis (somatoforme Störungen treten besonders häufig bei Leuten mit<br />

lateinamerikanischem Background und in Kulturen auf, in denen Emotionen<br />

nicht offen gezeigt werden)<br />

Entwicklungspsychologische Risikofaktoren:<br />

Sexuelle Übergriffe<br />

Familiäre Krankheitsmodelle<br />

Organmedizinisch orientierter Gesundheitsbegriff<br />

Auslösende Faktoren:<br />

Kritische Lebensereignisse (Missbrauch, Trennung etc.)<br />

Organische Erkrankungen<br />

Psychische Dauerbelastungen (Ehekonflikte etc.)<br />

115


Tägliche Belastungen (= „Mikrostressoren“ bzw. „Daily hazzles“)<br />

Aufrechterhaltende Faktoren:<br />

Inadäquate Coping-Strategien<br />

Verstärkende Bedingungen in der familiären oder partnerschaftlichen Interaktion<br />

Z.B. wenn psychische Probleme ein Tabuthema sind oder physische<br />

Probleme mit vermehrter Fürsorge belohnt werden<br />

Z.B. wenn die Frau keinen Sex mehr will – und die körperlichen<br />

Beschwerden sie vor selbigem beschützen!<br />

Soziale Vorteile<br />

Fehlendes soziales Stützsystem<br />

9.1.6. Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Störungen<br />

Allgemeines Modell (nach Rief):<br />

Umweltfaktoren: Biologische Faktoren:<br />

Reduzierte externale Stimulation - Genetische Prädisposition<br />

(bedingt durch Depression oder Ängste) - Erhöhte psychophysiologische Reaktivität<br />

Modelle für Krankheitsverhalten<br />

Verstärkung von Krankheitsverhalten<br />

(z.B. durch Aufmerksamkeit anderer oder<br />

indem die Symptome als Entschuldigung<br />

für schlechte Leistungen genutzt werden,<br />

einen aus der Verantwortung entlassen,<br />

andere Konflikte überlagern etc.)<br />

Störungsspezifische Einstellungen und<br />

Bewertungsmuster (z.B.: „Ernste Krank-<br />

heiten werden von Ärzten oft übersehen!“)<br />

Gewalterfahrungen<br />

Störungen der Körperwahrnehmung<br />

Verstärkte Wahrnehmung der Beschwerden<br />

Aufmerksamkeitsfokussierung<br />

erhöhtes Erregungsniveau<br />

Schon- und Vermeidungsverhalten<br />

Reduzierte externe Stimulation<br />

Verstärkung dysfunktionaler Annahmen<br />

Somatoforme Beschwerden<br />

Werden durch „Checking-Verhalten“<br />

(z.B. ständiges Schlucken, Betasten etc.)<br />

verschlimmert<br />

Bewertung als krankhaft<br />

Erhöhtes Arousal und<br />

Aufmerksamkeitsfokussierung<br />

116


Entstehung und Aufrechterhaltung der Hypochondrie:<br />

Vorgeschichte: z.B. Krebserkrankung und Tod der Eltern<br />

Entwicklung dysfunktionaler (=irrationaler) Annahmen: z.B. „Wenn ich<br />

nicht ständig meinen Körper beobachte, wird etwas Furchtbares<br />

passieren.“; „Ernste Krankheiten werden von Ärzten oft übersehen“;<br />

„Ängste können keine Symptome auslösen.“<br />

Psychische Probleme: z.B. chronische Überforderung mit der Erziehung der<br />

Kinder, Ängste etc.<br />

Auslöser / Trigger: z.B. eine Reportage über Krebs, einzelne „Symptome“<br />

(verschieden große Brüste etc.), Krankheit etc.<br />

Aktivierung der dysfunktionalen Annahmen => erhöhte Aufmerksamkeit<br />

und erhöhtes Arousal<br />

Körperliche Veränderungen: z.B. Unwohlsein, Schmerzen in der Brust etc.<br />

Automatische negative Gedanken und Vorstellungen => Fehlinterpretation<br />

der Symptome („Das muss Krebs sein!“)<br />

Gesundheitsängste:<br />

Verhaltensebene: Vermeidung und Schonung; Selbstbeobachtung; Suche<br />

nach Rückversicherung; Arztkonsultationen; Medikamenteneinnahme<br />

Affektive Ebene: Angst; Dysphorie („banale Alltagsverstimmung“) etc.<br />

Kognitive Ebene: Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den eigenen<br />

Körper<br />

Physiologische Ebene: Symptomverschlechterung; erhöhtes „Arousal“<br />

9.1.7. Empirische Studien<br />

Windacher Studie<br />

Pauli et al.: Bildvalenz und Druckschmerz<br />

Durchführung: 24 Pbn (12 Frauen; 12 Männer) bekamen jeweils 7 positive,<br />

neutrale, negative und schmerzbezogene Bilder dargeboten, während der<br />

Darbietung (à 8 Sek.) wurden sie einem objektiv gleichbleibenden Druckschmerz<br />

(650 g) ausgesetzt, den sie per manuellem Schieber (0-50) raten sollten.<br />

Die Bilder wurden dem „International affective Picture System“ (IAPS)<br />

entnommen<br />

Ergebnis: Wie stark der Schmerz empfunden wurde, hing von der Valenz der<br />

Bilder ab: am stärksten war der wahrgenommene Schmerz bei schmerzbezogenen<br />

Bildern, am zweitstärksten bei negativen Bildern und am geringsten bei positiven<br />

Bildern.<br />

Pauli et al.; Hypochondrie und Gedächtnis (recall): Getestet wurde, inwiefern sich<br />

die Gedächtnisleistung von Hypochondern und/oder Patienten mit somatoformer<br />

Schmerzstörung von denen gesunder Pbn unterscheidet – und zwar in Abhängigkeit<br />

vom Inhalt der zu merkenden Wörter.<br />

Durchführung: Die Pbn bekamen positive, neutrale, negative und<br />

schmerzbezogene Wörter dargeboten und sollten diese unmittelbar danach und<br />

nach einer gewissen Verzögerung noch einmal wiederholen (immediate und<br />

delayed Recall).<br />

Ergebnisse: Die Hypochonder und die Patienten, die sowohl an Hypochondrie als<br />

auch an einer somatoformen Schmerzstörung litten, merkten sich von den<br />

positiven weniger - und von den schmerzbezogenen Wörtern mehr als die<br />

Kontrollgruppe!<br />

Interpretation: Das Gedächtnis von Hypochondern ist verzerrt (signifikanter<br />

„memory bias“)<br />

117


Hautzinger, Pauli et al.: Effekte von hypochondrischen Einstellungen auf das<br />

Krankheitsverhalten am Beispiel von Patienten mit funktionellen Herzbeschwerden<br />

Durchführung: Fragebogenstudie an einer Patientenstichprobe mit funktionellen<br />

Herzbeschwerden<br />

Ergebnisse:<br />

Der Ausprägungsgrad der Hypochondrie korreliert hoch mit Todesangst,<br />

Gesundheitssorgen, Beunruhigung über Schmerzen und Arztbesuchen!<br />

Hypochonder fühlen sich nach Mitteilung des negativen<br />

Untersuchungsergebnisses weniger erleichtert als die Kontrollgruppe und<br />

haben häufiger vor, sich noch weiteren Untersuchungen unterziehen zu<br />

lassen.<br />

Gesetz von Pennebaker:<br />

f (Intensität der internalen Signale / Intensität der externalen Signale)<br />

9.1.8. Zur Behandlung somatoformer Störungen:<br />

Haltung des Patienten:<br />

Patienten mit somatoformen Störungen begeben sich meistens nur widerwillig in<br />

psychologische Behandlung; schließlich sind sie davon überzeugt, dass ihre<br />

Beschwerden physiologische Ursachen haben!<br />

Somatoformen Störungen liegen meistens Ängste oder Depressionen zugrunde;<br />

sie lassen sich in dem Fall indirekt behandeln, indem die Ängste und<br />

Depressionen angegangen werden.<br />

Es muss darauf geachtet werden, dass der Patient durch eine plötzliche Besserung<br />

nicht das Gesicht verliert (etwa vor seinen Angehörigen oder Arbeitgebern)<br />

Haltung des Therapeuten:<br />

Es geht nicht darum, dem Patienten zu vermitteln, was sein Problem nicht ist,<br />

sondern darum, ihm aufzuzeigen, was sein Problem ist!<br />

Die körperlichen Beschwerden des Patienten dürfen nicht geleugnet, sondern<br />

müssen ernst genommen werden!<br />

Zwischen psychogenem und somatogenem Schmerz zu unterscheiden, ist<br />

ohnehin nicht sonderlich sinnvoll, da Schmerz immer beide Aspekte<br />

umfasst!<br />

Die Annahmen des Patienten dürfen nicht pauschal verworfen, sondern müssen<br />

mit ihm zusammen kritisch überprüft werden.<br />

Es geht nicht darum, den Patienten zu etwas zu überreden, sondern darum, ihn<br />

durch geschicktes Fragen zu eigenen Einsichten zu bewegen (sokratischer<br />

Dialogstil)<br />

Behandlungsrichtlinien bei somatoformen Störungen<br />

Ausschluss organischer Ursachen?!<br />

Anamnese und Diagnose<br />

Motivation für eine zeitlich befristete Therapie schaffen und Zielhierarchie<br />

aufstellen<br />

Kognitive Maßnahmen:<br />

Gesundheitsbegriff des Patienten hinterfragen und modifizieren (meist liegt<br />

ein zu enger Gesundheitsbegriff vor)<br />

Krankheitsbegriff hinterfragen und modifizieren (behutsame Einführung<br />

psychologischer Begriffe wie Angst, Belastung, Stress etc.)<br />

Modifikation dsyfunktionaler Annahmen<br />

Arbeit am Selbstbild<br />

...<br />

118


Behaviorale Maßnahmen: zur Modifikation des Krankheitsverhaltens<br />

Symptomverstärkende Wirkung des Krankheitsverhaltens verdeutlichen<br />

Operante Maßnahmen (evtl. unter Einbezug der Bezugspersonen)<br />

Biofeedback (anhand dessen die Patienten lernen sollen, Körperfunktionen<br />

wie Herzschlag oder Atmung willentlich zu kontrollieren)<br />

…<br />

9.4. Dissoziative Störungen<br />

9.4.1. Die verschiedenen Arten dissoziativer Störungen<br />

Definition: Dissoziative Störungen sind durch einen Bruch des<br />

Bewusstseinszusammenhangs von Identität, Gedächtnis und Wahrnehmung<br />

gekennzeichnet.<br />

1. Dissoziative Amnesie: Partieller oder vollständiger Verlust des Gedächtnisses<br />

nach einer belastenden Erfahrung<br />

Die Dauer einer amnestischen Episode kann stark variieren (Stunden bis<br />

Jahre); die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses (Weltwissen) bleiben<br />

erhalten, betroffen ist also lediglich das episodische Gedächtnis bzw. Teile<br />

davon.<br />

2. Dissoziative Fugue: Vollständiger Gedächtnisverlust, im Zuge dessen die<br />

Patienten ihre gewohnte Umgebung verlassen und eine neue Identität annehmen<br />

(Vgl. „Stiller“)<br />

Wird i.d.R. durch belastende bzw. traumatische Ereignisse ausgelöst, ist<br />

aber äußerst selten!<br />

3. Depersonalisationsstörung: Abrupte Veränderung der Selbstwahrnehmung und<br />

des Selbsterlebens (man kommt sich plötzlich fremd vor, erkennt seine eigene<br />

Stimme nicht wieder, betrachtet sich von außen etc. etc.)<br />

4. Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeit): Existenz von 2 oder<br />

mehr verschiedenen, unabhängig voneinander handelnden Persönlichkeiten<br />

innerhalb eines Individuums<br />

Die Existenz dieser Störung ist trotz berühmter Fallbeispiele sehr<br />

umstritten; Kritiker behaupten, die versch. Persönlichkeiten würden den<br />

Patienten erst in der Therapie eingeredet!<br />

9.4.2. Therapie<br />

Sowohl psychodynamische als auch verhaltenstherapeutische Ansätze betrachten<br />

dissoziative Störungen als Abwehr- bzw. Verdrängungsmechanismus; verursacht<br />

werden sie durch schwerwiegende Belastungen bzw. traumatische Erfahrungen<br />

(insbes. sexuellen Missbrauch in der Kindheit!).<br />

Diese Erfahrungen aufzuarbeiten, ist ein wesentliches Ziel der Therapie! Nicht<br />

selten werden dabei Hypnosetechniken eingesetzt!<br />

Bei der Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung geht es um die sukzessive<br />

Integration der verschiedenen Identitäten.<br />

119


10. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)<br />

10.1. Darstellung des Störungsbildes<br />

10.1.1. Diagnostische Kriterien<br />

Definition: ADHS äußert sich in häufiger Unaufmerksamkeit, übermäßiger<br />

motorischer Aktivität und erhöhter Impulsivität. Ob die besagten Merkmale<br />

tatsächlich störungsspezifisch sind oder sich noch im Rahmen des „Normalen“<br />

bewegen, hängt dabei vom Entwicklungsstand bzw. Alter des jeweiligen Kindes ab.<br />

Diagnostische nach dem DSM-IV:<br />

Das DSM-IV unterscheidet zwischen 3 Arten der „Aufmerksamkeits-<br />

/Hyperaktivitätsstörung“:<br />

1. Einem vorwiegend unaufmerksamen Typus<br />

2. Einem vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typus<br />

3. Einem Mischtypus<br />

Dem entspricht die Unterscheidung zwischen 2 Arten von Symptomen,<br />

nämlich a) Symptomen der Unaufmerksamkeit und b) Symptomen von<br />

Hyperaktivität und Impulsivität. Für eine Diagnose müssen über einen Zeitraum<br />

von 6 Monaten mindestens 6 Symptome aus einer der beiden Gruppen<br />

vorhanden gewesen sein.<br />

Zu den Symptomen der Unaufmerksamkeit gehören u.a.:<br />

Nichtbeachten von Einzelheiten oder Flüchtigkeitsfehler<br />

Probleme mit der Daueraufmerksamkeit (sprich: damit, sich länger auf<br />

eine Sache zu konzentrieren)<br />

Ablenkbarkeit<br />

Vergesslichkeit<br />

Häufiger Verlust von Dingen<br />

Organisationsschwierigkeiten<br />

Probleme beim Zuhören<br />

Zu den Symptomen der Hyperaktivität und Impulsivität gehören u.a.:<br />

Ruhelosigkeit / Getriebenheit<br />

…redet übermäßig<br />

Hyperaktivität …zappelt oder rutscht auf dem Stuhl herum<br />

…steht oft auf, wenn Sitzenbleiben erwartet wird<br />

…platzt mit Antworten zu früh heraus<br />

Impulsivität<br />

…kann kaum erwarten, an die Reihe zu kommen (Ungeduld)<br />

…unterbricht und stört andere<br />

Zumindest einige dieser Symptome müssen nach dem DSM-IV schon vor dem<br />

7. Lebensjahr aufgetreten sein; darüber hinaus müssen sie in mindestens zwei<br />

Bereichen (z.B. Schule, Familie, Peers) zu Beeinträchtigungen führen!<br />

Diagnostische Kriterien nach der ICD-10:<br />

Die ICD-10 spricht anders als das DSM-IV von „hyperkinetischen Störungen“<br />

(F 90), wobei v.a. zwischen einer „einfachen Aufmerksamkeits- und<br />

Hyperaktivitätsstörung“ (F 90.0) und einer „hyperkinetischen Störung des<br />

Sozialverhaltens“ (F 90.1) unterschieden wird.<br />

Bei beiden Störungen handelt es sich um ADHS; die „hyperkinetische<br />

Störung des Sozialverhaltens“ zeichnet sich lediglich dadurch aus, dass zu<br />

den Aufmerksamkeitsdefiziten und hyperaktiven Symptomen noch eine<br />

Störung des Sozialverhaltens hinzutritt!<br />

120


Für eine Diagnose müssen sowohl Symptome der Unaufmerksamkeit, als auch<br />

der Hyperaktivität vorliegen, wobei offen gelassen wird, wie viele. Entscheidend<br />

ist, dass sie situationsübergreifend (also z.B. nicht nur bei langweiligen<br />

Aufgaben) auftreten, über längere Zeit andauern und bereits vor dem 6.<br />

Lebensjahr einsetzen!<br />

Die wichtigsten Unterschiede zwischen dem DSM-IV und der ICD-10:<br />

Die Kriterien des ICD-10 sind strenger, da für eine Diagnose sowohl<br />

Unaufmerksamkeit als auch Hyperaktivität vorausgesetzt werden!<br />

Die anhand der DSM-IV-Kriterien ermittelten Prävalenzen liegen<br />

dementsprechend deutlich über denen des ICD-10!<br />

Während die Symptome laut DSM-IV vor dem 7. Lebensjahr begonnen haben<br />

müssen, müssen sie laut ICD-10 schon vor dem 6. Lebensjahr einsetzen!<br />

Während das DSM-IV zwischen 3 Subtypen unterscheidet kann zur ADHS<br />

lediglich eine Störung des Sozialverhaltens hinzutreten, wobei letztere ersterer<br />

klar untergeordnet wird!<br />

Im DSM-IV wird zumindest sprachlich zwischen Hyperaktivität und<br />

Impulsivität differenziert, in der ICD-10 nicht – hier ist lediglich von<br />

Hyperaktivität die Rede!<br />

Die Vorgaben des DSM-IV sind detaillierter als die der ICD-10: Es wird genau<br />

festgelegt, welche Symptome und wie viele davon im Einzelnen diagnostiziert<br />

werden müssen; darüber hinaus wird festgelegt, dass die Symptome in<br />

mindestens zwei Bereichen zu Beeinträchtigungen führen müssen!<br />

Diagnose bei Erwachsenen:<br />

In der ICD-10 wird darauf hingewiesen, dass das hyperkinetische Syndrom auch<br />

im Erwachsenenalter diagnostiziert werden kann. Die Kriterien sind dabei<br />

dieselben; es müssen lediglich die zur der Beurteilung der Symptome<br />

herangezogenen Normen an das Erwachsenenalter angepasst werden!<br />

Die Wender-Utah-Kriterien für ADHS wurden speziell für das<br />

Erwachsenenalter entwickelt; neben einer Aufmerksamkeitsstörung und<br />

motorischer Hyperaktivität (die sich im Erwachsenenalter auch als eine<br />

„innere Unruhe“ äußern kann), müssen laut diesen Kriterien mindestens 2 der<br />

folgenden 5 Symptome vorliegen:<br />

1. Affektlabilität (Stimmungsschwankungen, Niedergeschlagenheit etc.)<br />

2. Desorganisiertes Verhalten (z.B. im Studium, in der Arbeit oder im<br />

Haushalt)<br />

3. Verringerte Affektkontrolle (erhöhte Reizbarkeit, niedrige<br />

Frustrationsschwelle etc.)<br />

4. Impulsivität (Ungeduld, Dazwischenreden usw.)<br />

5. Emotionale Überreagibilität (Patienten sind schnell gestresst, oft<br />

ängstlich…)<br />

Die „Adult ADHD Self-Repost Scale” (ASRS): ist ein Screeningfragebogen<br />

für Erwachsene; der Fragebogen umfasst 18 Fragen, die auf einer 5-stufigen<br />

Skala zu beantworten sind (von „nie“= 0 bis „sehr oft“ = 4)<br />

Beispielfragen:<br />

„Wie oft verlegen Sie Dinge zu Hause oder bei der Arbeit?“<br />

„Wie oft fühlen Sie sich ruhelos oder zappelig?“<br />

Auswertung (max. Punktzahl: 4 × 18 = 72):<br />

Bei 0-16 Punkten: ist ADHS eher unwahrscheinlich<br />

Bei 17-23 Punkten: ist ADHS möglich<br />

Bei über 24 Punkten: ist ADHS recht wahrscheinlich<br />

121


10.1.2. Epidemiologie und Verlauf<br />

Epidemiologische Daten:<br />

ADHS ist einer der häufigsten Gründe, derentwegen sich Eltern an<br />

Erziehungsberatungsstellen oder schulpsychologische Dienste wenden. Die<br />

Störung ist jedoch bei weitem nicht so weit verbreitet, wie oft von Lehrern und<br />

Eltern angenommen wird!<br />

Die Prävalenz liegt in Deutschland bei Schulkindern zwischen 3 und 8 %, bei<br />

Erwachsenen bei ca. 3%!<br />

Jungen scheinen dabei häufiger betroffen zu sein als Mädchen (die<br />

Schätzungen bewegen sich zwischen 2:1 und 9:1!). Es könnte aber auch<br />

sein, dass Jungen, die unter ADHS leiden, lediglich häufiger in Behandlung<br />

kommen, weil sie aggressiver sind und mehr soziale Probleme haben als<br />

Mädchen mit ADHS!<br />

ADHS ist keine kulturbedingte Störung: Sie taucht nicht nur in westlichen,<br />

sondern auch in anderen Kulturkreisen auf!<br />

Zum Verlauf der Störung:<br />

Säuglings- und Kleinkindalter:<br />

Fütter-, Schrei- und Schlafstörungen<br />

Entwicklungsverzögerungen<br />

Vorschulalter:<br />

Motorische Unruhe<br />

Starkes Mittelpunktsstreben<br />

Mangelhafte Regeleinhaltung und oppositionelles Verhalten<br />

Gestörtes Beziehungsverhalten (werden von Gleichaltrigen nicht sonderlich<br />

gemocht, streiten sich oft etc.)<br />

Geringere Spieldauer und -intensität<br />

Schulalter: hier wird die Störung meistens erstmals diagnostiziert!<br />

Hausaufgabenkonflikte<br />

Schulische Lern- und Leistungsprobleme<br />

Aggressives Verhalten<br />

Erziehungsstil: negative Interaktion, kontrollierend<br />

Jugendalter:<br />

Dissoziales Verhalten<br />

Suchtmittelmissbrauch (früher, länger und doppelt so häufig!)<br />

Selbstwertprobleme<br />

Erwachsenenalter:<br />

Dissoziale Persönlichkeitsstörung<br />

Gestörte Selbstorganisation<br />

Berufliche Probleme<br />

Suizidalität<br />

Erhöhte Unfallgefahr (50% der Fahrradunfälle werden angeblich von<br />

Leuten mit ADHS verursacht => Wer„s glaubt, wird selig! Schließlich wird<br />

wohl nach den wenigsten Fahrradunfällen eine ADHS-Diagnostik<br />

durchgeführt!)<br />

Die hyperaktive Symptomatik geht im Erwachsenenalter stark zurück (sie<br />

äußert sich dann v.a. in „innerer Unruhe“)<br />

122


10.1.3. Komorbiditäten und Differentialdiagnose<br />

Die wichtigsten Komorbiditäten:<br />

Störungen des Sozialverhaltens (40-60%)<br />

Angststörungen / Depression (25%)<br />

Tics (bis zu 30%)<br />

Umschriebene Entwicklungsstörungen: z.B. Lese-Rechtschreibschwäche,<br />

Dyskalkulie etc. (10-40%)<br />

Differentialdiagnose:<br />

Zur Diagnose von ADHS bedarf es einer multiaxialen Diagnostik; unbedingt<br />

berücksichtigt werden müssen:<br />

Klinisch-psychiatrische Syndrome (Tics, Depression etc.)<br />

Umschriebene Entwicklungsstörungen (Legasthenie etc.)<br />

Intelligenzniveau<br />

Körperliche Symptomatik (sehen, hören etc.)<br />

Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände<br />

Vorrang haben Affektive Störungen, Angststörungen und reaktive Störungen<br />

(bei plötzlichem Einsetzen); liegen sie vor, wird keine ADHS diagnostiziert,<br />

sondern lediglich eine durch diese Störungen bedingte Unruhe „attestiert“.<br />

Nachrangig sind dagegen Störungen des Sozialverhaltens.<br />

10.1.4. Praktisches Vorgehen bei der Diagnose<br />

Grundsätzlich gilt: Viele ADHS-Symptome (Zappeln, übermäßiges Reden etc.) sind<br />

gerade bei jungen Kindern durchaus „normal“! Bei der Diagnose muss daher äußerst<br />

vorsichtig vorgegangen werden: zum einen muss immer der jeweilige<br />

Entwicklungsstand berücksichtigt werden, zum anderen sollte eine Diagnose nur bei<br />

wirklich extremen und hartnäckigen Fällen vergeben werden.<br />

Gerade Lehrer neigen dazu, Kinder vorschnell eine ADHS zu attestieren!<br />

Die Diagnostik bei ADHS umfasst mehrere Schritte:<br />

1. Exploration (Befragung) der Eltern und der Erzieher/Lehrer: Welche<br />

Probleme liegen vor, in welchen Kontexten treten sie auf, wann haben sie<br />

begonnen etc. etc.<br />

Z.B. Conners-Fragebogen für Eltern, Lehrer und Erzieher: Beurteilung<br />

mehrerer Items auf einer 4-stufigen Skala (von „überhaupt nicht“ bis „sehr<br />

stark“)<br />

„Ist unruhig oder übermäßig aktiv.“; „Ist erregbar oder impulsiv“;<br />

„Ist unaufmerksam oder ablenkbar“; „Beendet angefangene<br />

Aufgaben nicht“ etc. etc.<br />

2. Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen<br />

Auch dafür stehen natürlich Fragebögen und standardisierte Interviews zur<br />

Verfügung<br />

3. Testpsychologische Untersuchung und Verhaltensbeobachtung<br />

Intelligenztests, evtl. weitere Tests zum Abchecken von Komorbiditäten<br />

(Lese-Rechtschreibtests etc.)<br />

Spezifische Tests wie der „Continuous Performance Test“ (CPT), der<br />

sowohl die Daueraufmerksamkeit als auch die Impulsivität misst. Die Pbn<br />

bekommen dabei über längere Zeit verschiedene Buchstaben dargeboten<br />

und sollen, immer wenn auf ein „O“ ein „X“ folgt, mit einem Tastendruck<br />

reagieren (s.o.). Drücken sie den Knopf, ohne dass dem „X“ ein „O“<br />

vorangegangen ist, spricht das für ihre Impulsivität (=> Unfähigkeit zur<br />

123


Verhaltenshemmung); drücken sie die Taste nicht, obwohl sie müssten,<br />

spricht das für eine eingeschränkte Daueraufmerksamkeit!<br />

Einschub: Der CPT kann auch in ein „virtuelles Klassenzimmer“<br />

integriert werden (die Buchstaben erscheinen dann auf der Tafel und es<br />

gibt ablenkende Reize); dadurch werden a) realitätsnähere Bedingungen<br />

geschaffen und b) die Möglichkeit eröffnet, Auslösefaktoren<br />

auszumachen.<br />

Noch handelt es sich dabei jedoch um ein Forschungsprojekt, das sich<br />

in der Diagnostik und Therapie noch nicht etabliert hat!<br />

4. Körperliche / neurologische Untersuchung<br />

Seh- und Hörfähigkeit überprüfen, neurologische Ursachen ausschließen...<br />

Eine eingehende neurologische Untersuchung ist v.a. vor medikamentöser<br />

Behandlung erforderlich!<br />

5. Verlaufskontrolle<br />

Wie wirkt die Therapie (Schulleistung, Verhalten in der Familie etc.)?<br />

10.2. Theorien und Erklärungsmodelle<br />

10.2.1. Ätiologiefaktoren<br />

Grundsätzlich gilt: Bei der Ätiologie von ADHS wird neurologischen und<br />

genetischen Faktoren i.d.R. mehr Einfluss zugeschrieben als psychologischen<br />

Faktoren.<br />

Biologische Ätiologiefaktoren:<br />

Es besteht eine genetische Prädisposition für ADHS: Die Konkordanzraten<br />

liegen bei eineiigen Zwillingen zwischen 55 und 70% und Kinder, deren Eltern<br />

ADHS haben, erkranken 8 Mal häufiger!<br />

Risikoallelle liegen u.a. auf dem Dopamintransporter-Gen (DAT1); einem<br />

Serotonintransporter-Gen, dem Gen MAO-A…<br />

Pränatale Einflüsse: Rauchen und Trinken während der Schwangerschaft<br />

wirken auf das dopaminerge System des Kindes und erhöhen die<br />

Wahrscheinlichkeit für ADHS um den Faktor 2 – 3!<br />

Lebensmittelzusatzstoffe: Von Feingold (1973) stammt die These, dass<br />

bestimmte Lebensmittelzusatzstoffe zur Entstehung von Hyperaktivität beitragen<br />

(sofern sie das Nervensystem beeinträchtigen); diese These war lange Zeit sehr<br />

populär ( Verschreibung zusatzstofffreier Diäten), gilt aber vermutlich nur für<br />

einen sehr kleinen Teil der Betroffenen ( nur äußerst wenige Kinder sprechen<br />

nämlich positiv auf die besagten Diäten an)<br />

Psychologische Ätiologiefaktoren<br />

Chronische Konfliktsituationen und verminderter familiärer Zusammenhalt<br />

Psychopathologische Auffälligkeiten auf Seiten der Eltern (insbes. der Mutter)<br />

Modelllernen<br />

Operantes Lernen (Hyperaktivität wird mit erhöhter Aufmerksamkeit belohnt)<br />

124


10.2.2.: Integrative Modelle<br />

Das biopsychosoziale Modell nach Döpfner: geht von einer Wechselwirkung<br />

zwischen biologischen und psychosozialen Faktoren aus.<br />

Genetische<br />

Faktoren<br />

1. Genetische und erworbene biologische Faktoren führen zu<br />

Störungen der neuronalen Verarbeitung<br />

Betroffen sind dabei insbesondere das dopaminerge und das<br />

Erworbene biol.<br />

noradrenerge System.<br />

Faktoren 2. Störungen der Selbstregulation (=mangelnde Inhibition):<br />

Einschränkung der Daueraufmerksamkeit und des<br />

Arbeitsgedächtnisses, mangelnde Impulskontrolle und vermehrte<br />

Suche nach neuen Reizen, schlechte Aufmerksamkeitslenkung,<br />

beeinträchtigte Affektregulation, Mangel an metakognitivem Wissen,<br />

Störungen der Handlungsorganisation.<br />

Zur Handlungsorganisation: Betroffene führen nur<br />

unvollständige Problem- und Zielanalysen durch, prüfen selten<br />

alternative Lösungsmöglichkeiten und sind kaum dazu in der<br />

Lage, ihr Verhalten strategisch zu planen.<br />

3. ADHS-Symptomatik: Unaufmerksamkeit, Impulsivität,<br />

Ungünstige fam. Hyperaktivität<br />

und schulische 4. Negative Interaktionen mit Bezugspersonen und Umwelt:<br />

Bedingungen<br />

Misserfolge, Frustrationen, Sanktionen, soziale Isolation etc.<br />

5. Komorbide Symptome: Leistungsstörungen, Aggression,<br />

<br />

emotionale Störungen<br />

Die komorbiden Symptome sind z.T. als ungeschickte<br />

Kompensationsversuche zu verstehen<br />

Das Endophänotypen-Konzept der ADHS: beschreibt die Störung auf 4 Ebenen<br />

Genotyp-Ebene:<br />

Bestimmte Varianten (Allele) des Dopamintransporter-Gens (DAT1), eines<br />

Serotonintransporter-Gens, des Gens MAO-A...<br />

Neurobiologische Ebene:<br />

Hypoplasie (Verkleinerung) und Hypofunktion des Frontallappens und<br />

des ventralen Striatums (beide Regionen sind entscheidend für die<br />

Exekutivfunktionen des Gehirns: Planung, Regulation von Emotionen,<br />

Impulskontrolle etc.)<br />

Dysregulation der dopaminergen und noradrinergen Aktivität<br />

Beeinträchtigung des Verstärkungssystems (mesolimbisches System,<br />

ventrales Striatum)<br />

Endophänotypenebene (Endophänotypen = psychologische Konstrukte)<br />

Exekutivsystem: inhibitorische Defizite bei der Impulskontrolle<br />

Exekutivsystem: Defizite bei der Regulation des zentralnervösen<br />

„Arousals“ [aufgrund neurobiologischer Defizite (s.o.) können die<br />

Betroffenen ihre zentralnervöse Aktiviertheit („Arousal“ bzw. „geistige<br />

Wachheit“) nicht oder nur unzureichend auf die Anforderungen der<br />

jeweiligen Situation ausrichten, so dass es immer wieder zu Phasen der<br />

Über- und Unteraktivierung kommt]<br />

Verstärkungssystem:<br />

genaueres: s.u.)<br />

Manifestationsebene:<br />

„Delay-Aversion“ (ist ein Motivationsmuster,<br />

Unaufmerksamkeit (insbes. gestörte Daueraufmerksamkeit)<br />

Hyperaktivität/Impulsivität<br />

Mischtypus<br />

125


10.2.3.: Das 2-Pfad-Modell nach Sonuga-Barke<br />

Das 2-Pfad-Modell nach Sonuga-Barke (2003) führt ADHS einerseits auf ein<br />

gestörtes Verstärkungssystem (ventrales Striatum und mesolimbisches System),<br />

andererseits auf ein gestörtes Exekutivsystem (dorsales Striatum, Thalamus,<br />

Frontallappen) zurück.<br />

Verstärkungssystem: Verkürzter Verzögerungsgradient [ Elternverhalten<br />

] Delay Aversion ADHS<br />

Genauer: Kinder mit ADHS weisen einen verkürzten<br />

Verzögerungsgradienten auf; sie haben also nur eine geringe Toleranz<br />

gegenüber Zeitverzögerungen und daher Probleme damit, eigene<br />

Reaktionen hinauszuschieben bzw. die Reaktionen anderer abzuwarten.<br />

Aus diesem Grund neigen sie entweder zu Impulsivität oder dazu, die<br />

Wartezeit zu überbrücken, indem sie z.B. ihre Aufmerksamkeit auf andere<br />

Reize richten (=> Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität); diese<br />

Verhaltensweisen rufen negative Reaktionen hervor (Elternverhalten), die<br />

wiederum die „Delay Aversion“ verstärken. Letztere ist nichts anderes als<br />

eine extreme Abneigung gegenüber Belohnungsverzögerungen und<br />

–aufschüben; sie äußert sich etwa darin, dass Betroffene lieber sofort eine<br />

kleine Belohnung nehmen, als auf eine große zu warten.<br />

Exekutivsystem: Inhibitorische Defizite Exekutive Dysfunktionen<br />

(Planung, Impulskontrolle, Emotionsregulation etc.) ADHS<br />

Befunde zum Verstärkungssystem:<br />

Die Aktivierung im ventralen Striatum ist bei ADHS-Patienten während der<br />

Antizipation einer Belohnung (0$, 1$, 5$) insgesamt geringer und weniger von<br />

der Höhe der Belohnung abhängig als bei Kontrollprobanden.<br />

Die Amygdala-Aktivierung (deren Ausmaß als Hinweis für negative Emotionen<br />

interpretiert werden kann) ist bei ADHS-Patienten bei verzögerten Reizen<br />

deutlich höher als bei unmittelbar hintereinander dargebotenen. Bei<br />

Kontrollprobanden ist es umgekehrt!<br />

Befunde zum Exekutivsystem:<br />

ADHS-Patienten schneiden in Aufgaben zur Impulskontrolle (Go/No-Go-<br />

Tasks, Stop-Signal-Tasks) schlechter ab; darüber hinaus zeigen EEG- bzw. ERP-<br />

Untersuchungen (ERP = Event-related Potenzial), dass ihre frontalen N2-Peaks<br />

(=Inhibitionsmerkmal) geringer ausfallen.<br />

10.4. Zur Therapie von ADHS<br />

Grundsätzlich gilt, dass die Heterogenität des Störungsbilds ein stark<br />

individualisiertes Vorgehen notwendig macht.<br />

Insbes. vor medikamentöser Behandlung sind neurologische Untersuchungen<br />

vonnöten.<br />

An der Würzburger Uni-Klinik gibt‟s eine Spezialambulanz für ADHS!<br />

10.4.1. Medikamentöse Therapie<br />

Bei ADHS werden v.a. 2 Arten von Medikamenten verschrieben: Stimulanzien (die<br />

die dopaminerge Aktivität erhöhen) und Noradrenergica (die die noradrenerge<br />

Aktivität erhöhen).<br />

1) Stimulanzien: Das am häufigsten verschriebene Präparat ist Methylphenidat<br />

(Handelsnamen: Ritalin, Concerta etc.); darüber hinaus können Amphetamine<br />

verschrieben werden; die Wirkdauer von Methylphenidat liegt bei ca. 3h<br />

126


(Retard: 7-12 h); für Erwachsene sind Stimulanzien nicht zugelassen, möglich<br />

ist jedoch eine „off-label“-Verschreibung (die Krankenkasse bezahlt bis zu<br />

einem Alter von max. 25 Jahren)<br />

Nebenwirkungen: Kopf- und Bauchschmerzen, Appetitminderung,<br />

Schlaflosigkeit, Benommenheit<br />

2) Noradrenergica: das am häufigsten verschriebene Präparat ist Atomoxetin (ein<br />

selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer); weitere Präparate sind<br />

Desipramin und Clonidin; die Wirkdauer liegt bei ca. 12 h (nach 1-2 Wochen)<br />

Appetitminderung, Benommenheit, Dermatitis (Ekzeme), Dyspepsie<br />

(Verdauungsstörungen)<br />

Zur Wirksamkeit:<br />

Durch die genannten Medikamente kann die Konzentrationsfähigkeit und das<br />

störende Verhalten der betroffenen Kinder signifikant verbessert werden!<br />

Die Effektstärken liegen bei ca. 0.8!<br />

Nur ca. 10% reagieren nicht auf die Gabe von Stimulantien (sog. „Non-<br />

Responder“)<br />

Es handelt sich bei der pharmakologischen Behandlung um eine symptomatische<br />

Behandlung ohne Ätiologiebezug. Warum genau die Medikamente wirken, ist<br />

nach wie vor unklar!<br />

10.4.2. Verhaltenstherapie<br />

Probleme auf familiärer Ebene: Inkonsistente Erziehung, mangelnde Kontrolle,<br />

negative Beziehung<br />

Interventionen:<br />

Psychoedukation<br />

Eltern-Kind-Therapie: Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion durch<br />

wenige, aber dafür klare und konsequent durchgehaltene Regeln, die<br />

Einführung von Routinen und Ritualen, evtl. Einführung von<br />

Tokenprogrammen, geeignete Situationsgestaltung (geordneter Arbeitsplatz,<br />

Entfernung ablenkender Reize etc.)<br />

Eltern- bzw. Paartherapie<br />

Probleme auf der Ebene des Kindes: Hyperaktivität, Impulsivität,<br />

Aufmerksamkeitsstörung, Störungen des Sozialverhaltens, Schulleistungsstörungen<br />

Interventionen:<br />

Psychoedukation<br />

Spieltraining (genaues Hinschauen und Hinhören)<br />

Selbstinstruktionstraining („Halt! Stopp! Erst nachdenken!“; „Jetzt<br />

mache ich mir einen Plan!“; „Jetzt fange ich an!“ etc. etc.)<br />

Selbstmanagement (durch verbale Selbstinstruktion und Verstärkung)<br />

Probleme auf institutioneller Ebene (Schule/Kindergarten): negative Lehrer-<br />

Schüler-Beziehung, Disziplinprobleme, Misserfolge etc.<br />

Interventionen:<br />

Psychoedukation und Tipps an den Lehrer: Klar strukturierte<br />

Unterrichtsmaterialien, unmittelbares Feedback, Token-Programme etc.<br />

Wirksamkeit - nach der Kölner Multimodalen Interventionsstudie (COMIS):<br />

Durch VT können hyperkinetische, aggressive und emotionale Auffälligkeiten<br />

signifikant reduziert werden, wobei die gefundenen Effekte über 18 Monate<br />

hinweg stabil waren<br />

Rund 60% zeigen nach der Therapie nur noch minimale<br />

Verhaltensauffälligkeiten in der Schule und zuhause<br />

127


30% benötigen zusätzlich Stimulanstherapie<br />

11.1. Angststörungen allgemein<br />

11. Angststörungen<br />

11.1.1. Allgemeines zu Emotionen:<br />

Paul Ekman postuliert 7 Basisemotionen; ihnen entsprechen jeweils spezifische<br />

Gesichtsausdrücke, die in allen Kulturen gleich sind (lediglich was das öffentliche<br />

Zeigen der Emotionen betrifft, gibt es kulturelle durch sog. „Display rules“ bedingte<br />

Unterschiede)!<br />

Die 7 Basisemotionen sind:<br />

1. Freude 4) Angst 7) Verachtung<br />

2. Trauer 5) Überraschung<br />

3. Ärger 6) Ekel<br />

Manche halten auch Verlegenheit für eine Basisemotion!<br />

Circumplex-Modell der Emotionen (Russell): Die Verschiedenen Emotionen lassen<br />

sich anhand zweier Dimensionen (nämlich „Ruhe-Erregung“ und „Lust-Unlust“)<br />

kategorisieren:<br />

„Angst“ zeichnet sich z.B. durch ein Höchstmaß an Erregung und<br />

verhältnismäßig starke Unlust aus. „Besorgtheit“ ist im Vergleich dazu durch ein<br />

geringeres Maß an Erregung, dafür aber mehr Unlust gekennzeichnet.<br />

Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion (Schachter und Singer): Welche Emotion<br />

durch einen Reiz ausgelöst wird und wie stark diese ist, hängt von 2 Faktoren ab: Die<br />

physiologische Erregung (Arousal) ist unspezifisch und bestimmt die<br />

Emotionsintensität; die kognitive Interpretation bzw. Attribution der Erregung<br />

bestimmt die Art der Emotion bzw. die Emotionsqualität.<br />

11.1.2. Allgemeines zu Angst<br />

Unterschieden werden muss zwischen Angst und Furcht:<br />

Angst: ist eine ungerichtete (diffuse) motorische, peripher-physiologische,<br />

zentralnervöse und subjektive Überaktivierung bei der Antizipation von Gefahr!<br />

Furcht: ist eine spezifische motorische, peripher-physiologische, zentralnervöse<br />

und subjektive Reaktion bei der Identifikation einer Gefahr, die zur Auslösung<br />

einer Bewältigungsreaktion führt!<br />

Kurz: Furcht ist im Unterschied zur Angst objektbezogen und hat<br />

dementsprechend immer einen konkreten Anlass!<br />

Wie alle Emotionen äußert sich Angst bzw. Furcht auf 3 Ebenen:<br />

1. Verbal-kognitive (= subjektive) Ebene<br />

Dazu zählt sowohl das kognitive als auch das emotionale Erleben!<br />

2. Motorisch-behaviorale Ebene<br />

Mimik, Gestik, Vermeidungsverhalten etc.<br />

3. Physiologische Ebene<br />

Z.B. Kortisolausschüttung etc.<br />

Von pathologischer Angst spricht man, wenn folgende Kriterien gegeben sind:<br />

Die Angstreaktionen des Betroffenen sind der Situation nicht angemessen.<br />

Die Angstreaktionen sind überdauernd (d.h. chronisch).<br />

Der Betroffene hat keine Möglichkeit, die Angst zu erklären, zu reduzieren oder<br />

zu bewältigen (Mangel an Copingstrategien).<br />

Die Angstreaktionen führen zu einer massiven Beeinträchtigung des<br />

Lebensvollzugs!<br />

128


11.1.3. Neuronale Verarbeitung der Furcht<br />

Neuronale Verarbeitung von Furcht: Die Amygdala bildet das Zentrum der<br />

Furchtkonditionierung; hier werden CS (kortikal) und UCS (Amygdala) assoziativ<br />

miteinander verknüpft!<br />

Die Amgydala (auch Mandelkern genannt) ist ein paarig angelegtes Kerngebiet<br />

im medialen Teil des Temporallappens; sie ist Teil des limbischen Systems (zu<br />

dem darüber hinaus der Hippocampus, der Fornix, die Corpora mamillarae und<br />

der Gyrus Cinguli gehören)<br />

Traditionell ging man davon aus, dass sensorische Informationen im Neokortex<br />

semantisch interpretiert- und erst dann an die Amygdala weitergeleitet werden.<br />

LeDoux (1996) hat jedoch entdeckt, dass die Infos vom Thalamus auch direkt an die<br />

Amygdala weitergeleitet werden können („Low route“), weshalb zwischen 2 Arten der<br />

emotionalen Informationsverarbeitung zu unterscheiden ist:<br />

„Low Road“: Durch die direkte Weiterleitung emotional relevanter Infos vom<br />

Thalamus zur Amgydala wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt (wir<br />

schrecken vor einer Gummischlange oder einem Ast zurück, weil die Umrisse<br />

dieser Gegenstände Gefahr signalisieren)<br />

„High Road“: Erst in einem zweiten Schritt werden die sensorischen Infos im<br />

Neokortex genauer verarbeitet!<br />

Reiz<br />

„High road“<br />

SENSORISCHER THALAMUS NEOKORTEX<br />

„Low Road” - Primärer sensorischer Kortex<br />

(Umrisse)<br />

- unimodaler Assoziationskortex<br />

(Objekte)<br />

- polymodaler Assoziationskortex<br />

AMYGDALA (Konzepte)<br />

(Kontexte) Entorhinaler Kortex<br />

Hippocampus<br />

emotionale Wirkungen Subiculum<br />

Outputsysteme der Amygdala: Die Informationen (Afferenzen) kommen im<br />

lateralen Nucleus der Amygdala an (s.o.) und werden von dort über den basalen<br />

Nucleus zum Zentralen Nucleus („Output-Kern“) der Amygdala weitergeleitet.<br />

AMYGDALA<br />

(Zentraler Nucleus)<br />

4) Hypothalamus<br />

1) Nucleus Reticularis Pontis caudalis Autonomes Nervensystem<br />

Potenzierung des Startle-Reflexes Blutdruck, Herzrate,...<br />

2) Dorsales zentrales Grau 5) Locus coeruleus<br />

Verteidigung, Kampf, Flucht Noradrenalin (Vigilanz)<br />

3) Ventrales zentrales Grau 6) Ventrales Tegmentum (VTA)<br />

„Freezing“ (Verhaltensstarre) Dopamin (Verhaltenserreg.)<br />

129


Keine konditionierte Furcht ohne Amygdala:<br />

Anders als bei gesunden Tieren folgt bei Tieren ohne Amygdala keine SCR auf<br />

einen konditionierten Reiz (sondern nur auf den unkonditionierten).<br />

Bei Ratten ohne Amygdala kann der Startle-Reflex nicht potenziert werden!<br />

Bei einer Läsion der Amygdala führen weder explizite konditionierte Reize, noch<br />

konditionierte Kontextreize zu einer entsprechenden Reaktion; bei einer<br />

Kortexläsion erfolgt die konditionierte Reaktion sowohl auf Kontext- als auch auf<br />

explizite Reize (keine Beeinträchtigung); bei einer Läsion des Hippocampus ist<br />

nur die Reaktion auf Kontextreize beeinträchtigt!<br />

11.1.4. Die 3 Ebenen der Angst/Furcht<br />

Verbal-kognitive Ebene:<br />

Emotionales Empfinden: Furcht vor bestimmten Stimuli; Erwartungsangst (Angst<br />

vor angstbesetzten Situationen); evtl. Ekel (z.B. bei Spinnenphobie); Hilflosigkeit<br />

etc.<br />

Gedanken, Befürchtungen und Fantasien, die meist „automatisch“ auftreten,<br />

nicht kontrollierbar erscheinen und sich immer wieder aufdrängen und das<br />

emotionale Erleben begleiten!<br />

Unterschieden wird zwischen Befürchtungen, die von einem Objekt bzw.<br />

einer Situation ausgehen (z.B. Angst vor öffentlichen Plätzen), und<br />

Befürchtungen, die sich auf die Furchtreaktion beziehen (Angst umzufallen).<br />

Kognitive Verzerrungen zugunsten der Verarbeitung furchtassoziierter Reize in<br />

Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewertung (s.u.)<br />

Motorisch-behaviorale Ebene (=Verhaltensebene):<br />

Mimik, Gestik<br />

Vermeidungsstrategien (können offen oder verdeckt sein)<br />

Physiologische Ebene:<br />

Symptome des autonomen Nervensystems:<br />

Herzrate und –variabilität: beschleunigter Herzschlag; Palpitationen<br />

(bewusste Wahrnehmung des eigenen Herzschlags)<br />

Atmung: erhöhte Atemfrequenz (Kurzatmigkeit); Zunahme des CO2-<br />

Partialdrucks (Atemnot; Erstickungsgefühle)<br />

Magen/Darm: Elektrogastrogramm (EGG) misst die Aktionspotenziale der<br />

Magenmuskulatur; bei Angst (z.B. Lügendetektor): Reduktion der<br />

Magenaktivität => Magen-Darm-Beschwerden; Übelkeit<br />

Haut: Hautleitfähigkeit (Skin Conductance Response) nimmt bei Angst zu<br />

(erhöhte Schweißproduktion); Parästhesien (Hitzewallungen, Kälteschauer,<br />

Kribbeln etc.)<br />

Protektive Reflexe: Schreckreflex (=Startle-Response)<br />

Hormonelle Veränderungen (Erhöhte Cortisolausschüttung; messbar am<br />

Cortisolgehalt im Speichel)<br />

Zentralnervöse Korrelate (EEG, fMRT)<br />

Untersuchungsbeispiele:<br />

1. Tunnelphobiker und Kontrollprobanden werden in virtueller Realität mit<br />

furchtauslösenden Stimuli (geschlossener Tunnel, halboffener Tunnel = Galerie)<br />

konfrontiert; dabei werden zu verschiedenen Zeitpunkten sowohl physiologische<br />

Reaktionen (Herzrate, Schreckreflex), als auch die subjektive Reaktion<br />

(Angstrating von 1 bis 100) erfasst!<br />

Das subjektive Angstempfinden: nimmt bei Phobikern im Tunnel sukzessive<br />

zu (bis zu 70) und fällt danach schlagartig ab; in der Gallerie nimmt die Angst<br />

130


im Vgl. zur offenen Straße zwar ebenfalls zu, fällt dann aber noch in der<br />

Gallerie allmählich ab.<br />

Die Herzrate (bpm: „beats per minute“): ist im Tunnel im Vergleich zur<br />

offenen Straße deutlich erhöht (ca. 66 bpm vs. 75 bpm)<br />

Der Schreckreflex fällt im Tunnel stärker aus als auf offener Straße und in der<br />

Gallerie!<br />

Fazit: Anhand des Angstratings und der Herzrate ist eine gute Trennung<br />

zwischen Phobikern und Kontrollpersonen möglich: 96% Sensitivität; 100%<br />

Selektivität; sprich: 96% der Phobiker werden als solche erkannt und kein<br />

Nicht-Phobiker wird zu Unrecht für einen gehalten.<br />

Angstrating: 93% Sensitivität; 100% Selektivität (Spezifität)<br />

Herzrate: 79% Sensitivität; 100% Selektivität<br />

Hautleitfähigkeit: n.s.<br />

2. Spinnenphobikern, Flugphobikern und Kontrollprobanden werden neutrale und<br />

phobische Bilder (z.B. Pilze, Spinnen, Flugzeugabstürze) dargeboten; gemessen<br />

wird die Hautleitfähigkeit, der Schreckreflex und die Hirnaktivität (EEG)<br />

11.1.5. Die verschiedenen Angststörungen<br />

Angststörungen lassen sich in 6 Hauptkategorien unterteilen (Vgl. DSM-IV und<br />

ICD-10):<br />

1. Phobien: Angst vor Gegenständen, Situationen oder Plätzen, die keine objektive<br />

Gefahr darstellen.<br />

Spezifische Phobien<br />

Soziale Phobie<br />

Agoraphobie (tritt aber nur selten in Reinform auf, sondern meistens als eine<br />

Komponente der Panikstörung)<br />

2. Panikstörung: Wiederholte Panikattacken mit plötzlichem Auftreten<br />

physiologischer Symptome (wie z.B. Schwindel, Herzrasen etc.) und panischer<br />

Angst<br />

Tritt meist zusammen mit Agoraphobie auf (s.u.)<br />

3. Generalisierte Angststörung: Anhaltende unkontrollierbare Besorgnis, häufig<br />

über belanglose Dinge<br />

4. Zwangsstörung: Die Erfahrung unkontrollierbarer Gedanken, Impulse oder<br />

Vorstellungen (Zwangsgedanken) und stereotyp ausgeführte Verhaltensweisen<br />

(Zwangshandlungen)<br />

5. Posttraumatische Belastungsstörung: Angstzustände nach schwer belastenden<br />

Erlebnissen (erhöhte Erregbarkeit, Vermeidung bestimmter Reize etc.)<br />

6. Akute Belastungsstörung: Die gleiche Symptomatik wie bei der<br />

<br />

posttraumatischen Belastungsstörung, aber kürzere Dauer (nur bis zu vier<br />

Wochen)<br />

Häufigkeit: Insgesamt leiden in Deutschland knapp 20% aller Frauen und ca. 9%<br />

aller Männer an einer Angststörung.<br />

Die häufigste Angststörung sind dabei spezifische Phobien<br />

Frauen: knapp 14% (Davison: 16%)<br />

Männer: ca. 6% (Davison: 7%)<br />

Soziale Phobien<br />

Frauen: knapp 4%<br />

Männer: rund 2%<br />

Panikstörungen<br />

Frauen: ca. 3%<br />

Männer: knapp 2%<br />

131


Agoraphobie<br />

Frauen: ca. 3%<br />

Männer: ca. 1%<br />

Generalisierte Angststörung<br />

Frauen: ca. 2%<br />

Männer: ca. 1%<br />

Komorbidität:<br />

Angststörungen treten sehr häufig zusammen mit Depressionen und/oder<br />

Substanzmissbrauch auf. Das zeigen u.a. die „Münchener Follow-up-Studie“<br />

(1981) und das „National Comorbidity Survey“ (1991)!<br />

Lebenszeitprävalenzen bei Generalisierter Angststörung:<br />

Depression: 50-60%<br />

Substanzmissbrauch: ca. 30%<br />

Lebenszeitprävalenzen bei spezifischen Phobien:<br />

Depression: ca. 40%<br />

Substanzmissbrauch: 20-30%<br />

Lebenszeitprävalenzen bei Panikstörungen:<br />

Depression: über 60%<br />

Substanzmissbrauch: 30-40%<br />

Lebenszeitprävalenzen bei posttraumatischer Belastungsstörung:<br />

Depression: knapp 50%<br />

Substanzmissbrauch: 50%<br />

In den allermeisten Fällen (ca. 80%) geht die Angststörung der Depression voraus<br />

(sekundäre depressive Episoden)!<br />

Erblichkeit: Angststörungen sind weniger erblich als z.B. Schizophrenie oder<br />

Depression! Trotzdem sind genetische Faktoren nicht völlig unbedeutend!<br />

Angststörungen, insbesondere Panikstörungen, treten familiär gehäuft auf (Odds<br />

ratios von 4 - 6); dass diese Häufig genetische Ursachen hat, wird durch<br />

Zwillingsstudien nahegelegt; Adoptionsstudien gibt es jedoch nicht!<br />

Die durch Vererbung erklärbare Varianz liegt für Angststörungen zw. 30 u. 40%;<br />

dieser Anteil ist signifikant geringer als z.B. für Schizophrenie oder Depression.<br />

Der größte Varianzanteil wird durch Umweltfaktoren erklärt!<br />

132


11.2. Spezifische Phobien<br />

11.2.1. Diagnostik und Epidemiologie<br />

Definition: Unter einer Phobie versteht man ein beeinträchtigendes,<br />

angstvermitteltes Vermeidungsverhalten, das in keinem Verhältnis zu der Gefahr<br />

steht, die von dem gemiedenen Gegenstand oder der gemiedenen Situation ausgeht,<br />

und das die Betroffenen auch als grundlos erkennen.<br />

Der Begriff „Phobie“ leitet sich vom griechischen Gott „Phobos“ ab, der seinen<br />

Feinden Angst machte!<br />

Im DSM IV werden 3 Arten von Phobien unterschieden:<br />

Spezifische Phobien (s.u.)<br />

Soziale Phobie: anhaltende, irrationale Angst vor sozialen<br />

Anforderungssituationen (z.B. Angst davor, in Gegenwart anderer zu essen,<br />

vor anderen zu sprechen etc.); beginnt meist im Kindes- und Jugendalter<br />

Agoraphobie (tritt meist zusammen mit der Panikstörung auf): Angst vor<br />

und Vermeidung von Orten und Situationen, aus denen eine Flucht<br />

schwierig wäre (z.B. Menschenmengen, öffentliche Plätze, U-Bahn,<br />

Warteschlangen etc.)<br />

Spezifische Phobien sind unbegründete Ängste, die durch spezifische Gegenstände<br />

oder Situationen bzw. deren Antizipation ausgelöst werden.<br />

Die DSM-Kriterien zur Diagnose spezifischer Phobien:<br />

A) Durch die Anwesenheit oder Erwartung eines spezifischen Objekts bzw.<br />

einer spezifischen Situation ausgelöste Furcht bzw. Angst<br />

B) Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz löst fast immer eine<br />

unmittelbare Furchtreaktion aus, die die Form einer Panikattacke annehmen<br />

kann.<br />

C) Die Phobischen Reize werden vermieden oder nur mit starker Furcht<br />

ertragen.<br />

D) Die Person erkennt, dass die Angst/Furcht bzw. das Vermeiden übertrieben<br />

und unvernünftig ist!<br />

E) Ausgeprägtes Leiden und Beeinträchtigung der beruflichen und/oder<br />

privaten Funktionsfähigkeit!<br />

F) Bei Personen unter 18 Jahren hält die Furcht/Angst über mindestens 6<br />

Monate an!“<br />

Differentialdiagnose: Die Furcht/Angst darf nicht im Zusammenhang mit einer<br />

anderen psychischen Störung stehen, wie z.B.:<br />

mit Wahnvorstellungen oder Zwangsgedanken<br />

mit der Angst vor Verunreinigung (Zwangsstörung)<br />

mit der Angst vor Objekten/Situationen, mit denen der Patient traumatische<br />

Erfahrungen gemacht hat (Posttraumatische Belastungsstörung)<br />

mit der Vermeidung sozialer Situationen aufgrund der Angst vor<br />

Peinlichkeit (Sozialphobie)<br />

mit der Angst vor Panikattacken (Paniksyndrom)<br />

Je nach Auslöser können verschiedene Arten spezifischer Phobien unterschieden<br />

werden:<br />

Tier-Typus: z.B. Spinnenphobie, Schlangenphobie, Hundephobie etc.<br />

Umwelt-Typus: z.B. Angst vor Gewittern oder Dunkelheit<br />

Blut-Spritzen-Verletzungs-Typus<br />

Schulphobien<br />

133


Situativer Typus: z.B. Angst vorm Autofahren, Tunneln, Fliegen, Höhen, engen<br />

Räumen usw.<br />

Acrophobie = Höhenangst<br />

Aviophobie = Flugangst<br />

Klaustrophobie = Platzangst<br />

Sonstiger Typus: Angst vor Erbrechen; Angst vorm Ersticken, Angst, lebendig<br />

begraben zu werden etc. etc.<br />

Epidemiologie:<br />

Spezifische Phobien sind die mit Abstand am häufigsten vorkommende<br />

Angststörung; ihre Lebenszeitprävalenz liegt für Frauen bei 16%, für Männer bei<br />

7%<br />

Die am häufigsten auftretenden spezifischen Phobien sind Tierphobien!<br />

Verwandte ersten Grades von Indexfällen haben ein erhöhtes Erkrankungsrisiko,<br />

das gilt insbesondere für die Agoraphobie!<br />

11.2.2. Ätiologie<br />

Zur Ätiologie von Phobien gibt es verschiedene Theorien:<br />

Nach Rachman gibt es 3 Möglichkeiten, eine Phobie zu erwerben; sie alle<br />

beruhen auf assoziativen Lernprozessen.<br />

1. (Klassische und operante) Konditionierung<br />

2. Stellvertretendes Lernen (Modelllernen)<br />

3. Informationen<br />

In jüngerer Zeit wird betont, dass Phobien auch auf angeborenen Ängsten<br />

beruhen können und daher nicht unbedingt auf assoziativem Weg zustande<br />

kommen müssen (s.u.: Nicht-assoziative Modelle).<br />

Vier Modelle lassen sich unterscheiden:<br />

1. Konditionierungsmodelle<br />

2. Preparedness-Theorie<br />

3. Nichtassoziative Modelle<br />

4. Kognitive Modelle<br />

Konditionierungsmodelle: beruhen auf der 2-Faktoren-Theorie der Angst von<br />

Mowrer und Miller (s.o.); danach entstehen Phobien durch klassische<br />

Konditionierungsprozesse (1. Faktor => Akquisition) und werden durch operante<br />

Konditionierung aufrechterhalten (2. Faktor => Aufrechterhaltung); da das<br />

Vermeidungsverhalten negativ verstärkt wird, kann die konditionierte Angstreaktion<br />

nämlich nicht gelöscht werden!<br />

Beispiele: Hund (CS) + Hundebiss (UCS) Hundephobie; Party (CS) + Kotzen<br />

im Wohnzimmer (UCS) Soziale Phobie; Ratte (CS) + lautes Geräusch (UCS)<br />

Rattenphobie (Vgl. der kleine Albert!)<br />

Diathese-Stress-Modell: Nur bei Vulnerabilität bzw. Prädisposition (z.B.<br />

Neurotizismus) und zusätzlicher Stresserfahrung (z.B. Trauma) entsteht eine Phobie.<br />

Dabei gilt: Je geringer das Trauma (Biss, Kotzen etc.), desto größer muss die<br />

endogene Sensibilität sein, damit eine Phobie entstehen kann!<br />

Untersuchung von 7500 Zwillingen; erhoben wurde a) der Grad an<br />

Neurotizismus (als Marker für die endogene Sensibilität); b) Art und Ausmaß<br />

der Phobie (5 Subtypen) und c) mögliche Entstehungsursachen (schweres vs.<br />

leichtes Trauma; Beobachtung eines Traumas; Beobachtung von<br />

Furchtreaktionen; Anweisung/Information; keine Erinnerung bezüglich der<br />

Ursachen)<br />

134


Hypothesen: Genetische Ursachen spielen eine Rolle!<br />

- Die Geschwister von Indexfällen, die sich an keine Ursache erinnern<br />

können, sollten daher überzufällig häufig ebenfalls unter einer Phobie<br />

leiden!<br />

- Wenn der phobische Indexpatient eine traumatische Ursache erinnert,<br />

sollte dessen Bruder bzw. Schwester dagegen kein erhöhtes Risiko für eine<br />

Phobie haben.<br />

- Sollte Neurotizismus tatsächlich eine Diathese sein, sollten v.a. die<br />

phobischen Pbn ohne Trauma hohe Neurotizismuswerte aufweisen!<br />

Ergebnisse:<br />

49% (!) der phobischen Patienten hatten keine Ursachenerinnerung und<br />

lediglich 36% erinnerten sich an ein erlebtes Trauma. Dieser Befund<br />

widerspricht der Konditionierungshypothese!<br />

Auch der Zusammenhang zwischen endogener Sensibilität und Erblichkeit<br />

(Hypothesen a und b) konnte nicht bestätigt werden.<br />

Ergo: Das Diathese-Stress-Modell, das von einer Wechselwirkung zwischen<br />

angeborener Sensibilität und Konditionierungsprozessen ausgeht, ist zwar<br />

plausibel, vermag die Entstehung von Phobien aber nicht hinreichend zu<br />

erklären!<br />

Preparedness-Theorie oder Theorie des vorbereiteten Lernens (Seligman):<br />

Nicht alle Reize können gleich gut konditioniert werden. Stattdessen besteht für<br />

manche Reize (z.B. Spinnen, Schlangen, Dunkelheit oder Höhe) eine evolutionär<br />

bedingte und dementsprechend angeborene Lernbereitschaft („preparedness“).<br />

„Neutrale“ Reize, die sich leicht mit aversiven Reizen assoziieren lassen, sind<br />

durch folgende Charakteristika gekennzeichnet:<br />

1. Rasche Aneignung von (phobischem) Vermeidungsverhalten, oft schon nach<br />

einmaliger Konfrontation („ease of acquisition“)<br />

2. Erhöhte Löschungsresistenz („resistance to extinction“)<br />

3. Vorbereitete Assoziationen können durch kognitive Instruktionen nur wenig<br />

beeinflusst werden; vorbereitetes Lernen wird daher als eine primitive, nonkognitive<br />

Lernform interpretiert („irrationality“)<br />

Die Theorie des vorbereiteten Lernens wird durch verschiedene empirische<br />

Befunde gestützt:<br />

Wird Ratten nach dem Konsum eines süßen Getränks ein Elektroschock<br />

verpasst, meiden sie in der Testphase zwar den Trinkbehälter, an dem wie in<br />

der Konditionierungsphase ein Licht und ein Lautsprecher angebracht sind;<br />

sie assoziieren den Schock jedoch nicht mit dem Geschmack des Getränks,<br />

sondern trinken auch in der Testphase das gesüßte Wasser. Bei Ratten, bei<br />

denen mit Hilfe von Röntgenstrahlen Übelkeit induziert wurde, ist es<br />

dagegen umgekehrt: Sie präferieren in der Testphase das ungesüßte Wasser<br />

(Geschmack) und ignorieren Licht und Ton!<br />

Kurz: Ratten lernen zwar schnell, Geschmack mit Übelkeit zu<br />

assoziieren (Preparedness), nicht aber mit einem Stromschlag!<br />

Diskriminatives Konditionieren: In der einen Versuchsgruppe werden<br />

neutrale Reize (z.B. Pilzbilder) an einen aversiven Reiz gekoppelt,<br />

angstrelevante Reize (z.B. Spinnenbilder) dagegen nicht („normales“<br />

Lernen); in der anderen Versuchsgruppe ist es umgekehrt (vorbereitetes<br />

Lernen)<br />

135


Die Ergebnisse bestätigen die Preparedness-Theorie: Bei angstrelevanten<br />

Reizen wird die CR (Finger-Puls-Volumen) schneller gelernt und ist<br />

schwerer zu löschen!<br />

Emotionsauslösung ohne bewusste Ursache: Furchtreaktionen können<br />

unbewusst ausgelöst werden.<br />

Der erste empirische Hinweis auf ein implizites (unbewusstes) Furchtgedächtnis<br />

stammt von Edouard Claparède (1873-1940): Er stach einen Amnesiepatienten<br />

bei der Begrüßung mit einem Reißnagel in die Hand; bei darauffolgenden Treffen<br />

mit dem Patienten hatte dieser zwar keine explizite Erinnerung an das<br />

vorangegangene Treffen, verweigerte aber den Handschlag!<br />

Öhman et al. (1997): Schlangen-Phobikern, Spinnen-Phobikern und<br />

Kontrollprobanden wurden verschiedene Bilder (Schlangen-, Spinnen- und<br />

neutrale Bilder) dargeboten, allerdings nur für so kurze Zeit, dass sie diese nicht<br />

bewusst wahrnehmen konnten (subliminale Reizdarbietung): Bild SOA<br />

(Stimulus Onset Asynchrony): 13-30 Ms Maskierungsreiz<br />

Ergebnis: Obwohl die Pbn die Bilder nicht bewusst wahrnehmen konnten,<br />

zeigten die Spinnen-Phobiker bei Spinnenbildern und die Schlangen-Phobiker<br />

bei Schlangenbildern eine erhöhte Hautleitfähigkeit (z.T. war die Reaktion<br />

sogar noch deutlicher als bei bewusster Wahrnehmung!)<br />

Interpretation: Phobische Reize werden automatisch (unbewusst) verarbeitet!<br />

Vgl. LeDoux‟s „Low Road“!<br />

Kritik: Es gibt Hinweise, dass Phobiker phobische Reize schneller erkennen<br />

als Nicht-Phobiker; evtl. haben sie die Bilder also doch bewusst<br />

wahrgenommen!<br />

Modelllernen: Phobische Reaktionen können nicht nur durch eine unangenehme<br />

Erfahrung mit dem gefürchteten Gegenstand oder der gefürchteten Situation erlernt<br />

werden, sondern auch durch Nachahmung der Reaktion anderer.<br />

Kleinkinder zeigen ursprünglich keine Angst vor Schlangen oder Spinnen. Sie<br />

scheinen diese erst durch Beobachtung und Informationen „beigebracht“ zu<br />

bekommen.<br />

Gerull (2002): Kleinkinder bekommen eine Gummischlange und eine<br />

Gummispinne dargeboten; die anwesende Mutter reagiert darauf entweder<br />

mit positivem (fröhlich, ermutigend) oder negativem emotionalen Ausdruck<br />

(Ekel, Furcht)!<br />

Ergebnis: Nach negativer Reaktion der Mutter zeigen die Kinder (insbes.<br />

Mädchen) bei erneuter Darbietung der Gegenstände stärkere Furcht- und<br />

Vermeidungsreaktionen<br />

Interpretation: Furcht wird durch Modelllernen bzw. „Social referencing“<br />

gelernt!<br />

Ähnliche Befunde gibt es aus Tierversuchen:<br />

Mineka: Rhesusaffen, die im Labor aufgewachsen sind, zeigen keine Angst<br />

vor Schlangen; bietet man ihnen jedoch Videos dar, in denen andere Affen<br />

sich vor einer Schlange fürchten, zeigen sie danach ebenfalls Angst vor<br />

Schlangen. Interessant: Werden Videos dargeboten, in denen sich die anderen<br />

Affen vor einem neutralen Reiz (nämlich Blumen) fürchten, überträgt sich<br />

diese Furcht nicht.<br />

Ergo: Genetische Prädisposition und Modellernen wirken zusammen!<br />

136


Lernen durch Information: Phobien können auch durch Informationen über den<br />

betreffenden Gegenstand bzw. die betreffende Situation erzeugt werden.<br />

Kinder zwischen 6 und 9 Jahren bekommen Bilder von 3 unbekannten<br />

australischen Tieren gezeigt, dabei werden ihnen zu den Bildern entweder<br />

positive, negative oder keine Informationen gegeben (kurze Geschichte).<br />

AVn: a) Einstellungsfragebogen; b) Impliziter Assoziationstest (IAT);<br />

Vermeidungsverhalten (Touch box) direkt nach der Geschichte!<br />

Ergebnis: Signifikante Beeinflussung aller abhängigen Variablen durch<br />

positive und negative Informationen!<br />

Interpretation: an sich wenig überraschend; interessant ist jedoch der Aspekt,<br />

dass durch explizite Infos auch implizite, sprich: unbewusste, Einstellungen<br />

verändert werden können!<br />

Nicht-assoziative Modelle: gehen davon aus, dass die meisten Phobien evolutionär<br />

bedingt sind; die ihnen zugrunde liegenden Ängste sind dementsprechend angeboren<br />

(Angst vor Vergiftung etc.) und ihrem Ursprung nach adaptiv; ob sie sich zu einer<br />

Phobie entwickeln, hängt davon ab, wie oft man in einer kritischen Phase mit den<br />

betreffenden Reizen (z.B. Schlangen) konfrontiert wurde. Bei ungenügender<br />

Exposition kommt es zu keiner Habituation; die Folge ist eine Phobie!<br />

Bedenkt man, dass phobische Ängste ihrem Ursprung nach adaptiv sind, ist eher<br />

eine „Hypophobia“ (Mangel an Angst) problematisch!<br />

Empirische Belege für die nicht-assoziative Theorie bieten sowohl retrospektive<br />

als auch prospektive Studien:<br />

Retrospektive Fragebogenstudie: zeigt, dass sich die meisten Phobiker<br />

nicht an ein Konditionierungserlebnis erinnern können. Problem: mögliche<br />

retrospektive Verzerrungen (Erinnerungsverzerrungen, Neubewertungen<br />

etc.)<br />

Höhenphobie: 56% non-assoziative Entstehung; 11% Konditionierungserlebnis;<br />

außerdem: Nicht-ängstliche Personen hatten insgesamt mehr<br />

schmerzhafte Stürze und Verletzungen!<br />

Spinnenphobie: Unter 228 Befragten nur 3 mit direktem<br />

Konditionierungserlebnis<br />

Wasserphobie (Elternbefragung): 56% der Eltern geben an, ihr Kind<br />

hätte schon immer Angst vor Wasser gehabt ( Konditionierung)<br />

Prospektive Studie (von Dunedin): Mehrfache Untersuchung von über<br />

1000 Kindern (und zwar von Geburt an bis zum 18. LJ)!<br />

Höhenphobie: Stürze mit Brüchen, Verrenkungen und ernsthaften<br />

Verletzungen bis zum Alter von 9 Jahren reduzieren die<br />

Wahrscheinlichkeit einer späteren Phobie (mit 18 Jahren)!<br />

Wasserphobie: Schwimmerlebnisse bis zum 9. Lebensjahr sind nicht mit<br />

einer Wasserphobie mit 18 Jahren assoziiert!<br />

Aber: Karies bis zum Alter von 15 Jahren ist ein Prädiktor für eine<br />

Zahnarztphobie im Alter von 18 Jahren; hier scheinen<br />

Konditionierungsprozesse also sehr wohl eine Rolle zu spielen!<br />

Kognitive Theorien: führen Phobien auf kognitive Verzerrungen bei der<br />

Verarbeitung emotional relevanter Reize zurück; solche Verzerrungen fungieren dabei<br />

nicht nur als Diathese, sondern führen zugleich zur Aufrechterhaltung einer Phobie.<br />

Die wichtigsten Paradigmen zur Erfassung kognitiver Verzerrungen sind: a) der<br />

(emotionale) Stroop-Test; b) das Dot-Probe-Paradigma; c) Suchaufgaben (s.u.:<br />

„spider in the grass“); d) Blickbewegungsmessung und e) der implizite<br />

Assoziationstest (IAT)<br />

137


4 Arten von Verzerrungen können unterschieden werden: 1) Der<br />

Aufmerksamkeitsbias; 2) der Erwartungsbias; 3) der Kovariationsbias und<br />

4) der Gedächtnisbias!<br />

Fazit: Eine einheitliche Erklärung für die Entstehung von Phobien gibt es nicht!<br />

Konditionierungsprozesse scheinen nur für bestimmte Phobien (z.B.<br />

Zahnarztphobie) verantwortlich zu sein.<br />

1. Führt nicht jedes Trauma zu einer Phobie<br />

2. Haben nur wenige Phobiker tatsächlich ein traumatisches Ereignis erlebt!<br />

3. Können nicht alle Phobien gleich gut konditioniert werden (angeborene<br />

Lernbereitschaften)<br />

Dasselbe gilt für mangelnde Habituation aufgrund fehlender Exposition; auch<br />

dieser Mechanismus kann keineswegs alle Phobien erklären!<br />

11.2.3. Kognitive Verzerrungen<br />

Die Ausrichtung der selektiven Aufmerksamkeit kann aktiv (= zielgerichtet und<br />

willentlich kontrolliert) oder passiv (= reizgesteuert und unwillkürlich) erfolgen! In<br />

letzterem Fall spricht man vom Pop-out-Effekt! Er tritt u.a. bei bedrohlichen Reizen<br />

auf (und ist in diesem Fall adaptiv, sofern er die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />

erhöht)!<br />

Aufmerksamkeitsbias:<br />

Alle Menschen haben die Tendenz, phylogenetisch furchtbesetzte Reize (wie<br />

Spinnen oder Schlangen) schneller wahrzunehmen als neutrale Reize (Pop-out-<br />

Phänomen!)<br />

Öhman: „Snake in the grass“ (Suchaufgabe)<br />

Phobische und nicht-phobische Vpn bekommen eine 2 x 2 oder 3 x 3<br />

Matrix mit Bildern von Schlangen, Spinnen, Blumen und Pilzen dargeboten<br />

und sollen mit einem Tastendruck reagieren, wenn der Targetreiz enthalten<br />

ist; letzterer ist entweder ein neutraler Reiz oder ein angstbesetzter Reiz!<br />

Ergebnisse:<br />

- Sowohl hochängstliche als auch niedrigängstliche Vpn finden den<br />

angstrelevanten Reiz in der 3 x 3-Matrix genauso schnell wie in der<br />

2 x 2-Matrix; bei neutralen Reizen brauchen sie bei der 3 x 3-Matrix<br />

dagegen länger (serielle Suche)!<br />

- Hochängstliche Vpn sind dabei, wenn das Target ein angstbesetzter<br />

Reiz ist, noch schneller als niedrigängstliche!<br />

Interpretation: Es gibt einen allgemeinen Pop-Out-Effekt für<br />

phylogenetisch angstbesetzte Reize; sie werden nicht seriell, sondern<br />

parallel gesucht!<br />

Phobiker haben Probleme damit, den emotionalen Gehalt phobischer Reize zu<br />

ignorieren (die „Neutral target representation“ wird durch die „threat<br />

representation“ gehemmt).<br />

Emotionaler Stroop-Test: Spinnen-Phobiker brauchen im Vgl. zu<br />

Kontrollprobanden und neutralen Wörtern signifikant länger, wenn sie die<br />

Farbe von Wörtern benennen sollen, die mit dem Begriff „Spinne“ assoziiert<br />

sind (z.B. „Spinne“, „haarig“, „Tarantel“ etc.).<br />

Hohe State- und Trait-Angst führt zu einer Verzerrung der selektiven<br />

Aufmerksamkeit hin zu angstbesetzten Reizen!<br />

Dot-Probe I: Vpn bekommen für kurze Zeit (ca. 500ms) zwei Bilder<br />

dargeboten, eines davon ist neutral (z.B. Pilz), eines ist angstbesetzt (z.B.<br />

Spinne); Aufgabe der Vpn ist es, auf einen unmittelbar nach den Bildern in<br />

einer der beiden Bildschirmhälften erscheinenden Reiz (z.B. einen Punkt)<br />

138


mit einem entsprechenden Tastendruck zu reagieren. Erscheint dieser Reiz<br />

hinter dem Bild, auf das der Pb zuvor seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte,<br />

gelingt ihm das schneller!<br />

Ergebnis: Ängstliche Vpn reagieren signifikant schneller, wenn der der<br />

Punkt an der Stelle erscheint, an der zuvor der angstbesetzte Reiz<br />

eingeblendet wurde.<br />

Dot-Probe II: Um zu testen, ob dieser Effekt auf erhöhte Vigilanz für<br />

bedrohliche Reize oder reduziertes „Disengagement“ zurückzuführen ist,<br />

wird lediglich ein Bild verwendet.<br />

Ergebnis:<br />

Ursache oder Wirkung: Sind Aufmerksamkeitsverzerrungen nur ein<br />

Epiphänomen emotionaler Zustände oder verursachen sie diese?! Die<br />

empirischen Befunde sprechen eher für letzteres.<br />

Dreistufige Untersuchung (Mathews & MacLeod, 2002):<br />

1. Prä-Test: Dot-Probe Task und Stresstest (30 Anagramme unter<br />

Zeitdruck lösen + Befindlichkeitstest!)<br />

2. Lernphase: Dot-Probe-Task, wobei der Dot entweder immer hinter dem<br />

bedrohlichen oder hinter dem neutralen Reiz erscheint (experimentelle<br />

Manipulation der Aufmerksamkeitsausrichtung!)<br />

3. Post-Test: Dot-Probe-Task (mit neuen Reizen) und Stresstest (s.o.)<br />

Ergebnisse:<br />

a) Die Lerndurchgänge hatten deutlichen Einfluss auf die die<br />

Aufmerksamkeit, nicht aber auf die Stimmung und Angst!<br />

b) ABER: Wenn der Dot in der Lernphase immer hinter dem<br />

bedrohlichen Reiz erschien, zeigten die Pbn eine erhöhte<br />

Stressreaktion im Stresstest; umgekehrt konnte die Trait-Angst<br />

hochängstlicher Patienten reduziert werden, indem der Dot in der<br />

Lernphase immer hinter dem neutralen Reiz erschien.<br />

Interpretation: Aufmerksamkeitsprozesse haben einen Einfluss auf<br />

die Stressverarbeitung, woraus folgt, dass sie zumindest indirekt zur<br />

Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen beitragen!<br />

Hypervigilanz-Vermeidungs-Hypothese: Der Umgang mit phobischen Reizen<br />

erfolgt bei Phobikern in zwei zeitlich aufeinander folgenden Schritten: Auf<br />

anfängliche Hypervigilanz (Aufmerksamkeitsfokussierung auf bedrohliche<br />

Reize) folgt der Versuch, die bedrohlichen Reize zu vermeiden.<br />

Durch Eye-Tracking-Studien (bei denen die Pbn z.B. Spinnen suchen<br />

müssen) wird die Hypervigilanz-Vermeidungshypothese bestätigt.<br />

Kovariationsbias:<br />

Pbn bekommen neutrale und phobische Bilder gezeigt (z.B. Pilze, Spinne,<br />

Flugzeugabsturz), denen jeweils in 50% der Fälle ein lauter Ton folgt, um einen<br />

Startle-Reflex auszulösen. Zur Überprüfung des Kovariationsbias werden die<br />

Pbn anschließend gefragt, wie oft nach den einzelnen Bildern der Ton kam.<br />

Mühlberger et al.: Der Kovariationsbias tritt lediglich bei<br />

Spinnenphobikern (phylogenetische Phobie), nicht aber bei Flugphobikern<br />

(ontogenetische Phobie) auf!<br />

139


11.2.4. Therapie<br />

Generell gilt: Patienten mit spezifischen Phobien begeben sich eher selten in<br />

Behandlung (meist nur, wenn ein konkreter Anlass vorliegt); die<br />

Behandlungsmöglichkeiten bei spezifischen Phobien sind jedoch äußerst effektiv.<br />

Verblüffend: Öst behauptet, er brauche bei den meisten spezifischen Phobien<br />

nur 2 bis 7 Stunden, um sie zu heilen!<br />

Die am häufigsten angewandten Therapiemethoden sind:<br />

Systematische Desensibilisierung (nach Wolpe)<br />

Konfrontationstherapie (in vivo oder virtuell)<br />

Flooding<br />

Teilnehmendes Modelllernen<br />

140


11.3. Panikstörung und Agoraphobie<br />

11.3.1. Darstellung des Störungsbildes<br />

Panikstörung und Agoraphobie sind eng miteinander verknüpft!<br />

Ca. 2/3 aller Panikstörungen gehen mit einer Agoraphobie einher!<br />

Die Betroffenen meiden bestimmte Situationen, weil sie befürchten dort<br />

eine Panikattacke zu bekommen („Angst vor der Angst“).<br />

Umgekehrt geht auch die Agoraphobie meist mit Panikattacken, in jedem Fall<br />

aber mit Paniksymptomen einher!<br />

Sowohl mit als auch ohne Panikstörung geht die Agoraphobie mit der Angst<br />

vor einer Attacke einher.<br />

Im ICD 10 wird zwischen Agoraphobie mit und ohne Panikstörung<br />

unterschieden (F 40) und einer reinen Panikstörung (F 41) unterschieden; im<br />

DSM IV zwischen Panikstörung mit und ohne Agoraphobie und Agoraphobie<br />

ohne Panikstörung.<br />

IM ICD-10 wird dementsprechend die Panikstörung-, im DSM IV die<br />

Agoraphobie etwas höher gewichtet; dieser Unterschied ist jedoch marginal!<br />

Definition: Eine Panikstörung ist durch plötzliche und unerklärliche (=<br />

situationsunabhängige) Panikattacken gekennzeichnet; letztere umfassen einerseits<br />

somatische Symptome wie Herzrasen, Atemnot, Übelkeit, Schwindel oder<br />

Schweißausbrüche, andererseits kognitive Komponenten wie die Furcht vor<br />

Kontrollverlust oder sogar Todesangst; hinzu kommen können außerdem Gefühle der<br />

Depersonalisation und Derealisation!<br />

Klassifikationskriterien nach der ICD-10:<br />

Wiederholte Panikanfälle, die oft spontan auftreten und nicht ausschließlich<br />

auf eine spezifische Situation, ein spezifisches Objekt, eine reale Gefahr<br />

oder besondere Anstrengungen bezogen sind.<br />

Die besagten Attacken beginnen abrupt, erreichen innerhalb weniger<br />

Minuten ihren Höhepunkt und klingen meist nach einigen Minuten wieder<br />

ab. Sie können u.a. folgende Symptome umfassen (mindestens vier!):<br />

Palpitationen, erhöhte Herzfrequenz<br />

Schweißausbrüche<br />

Fein- oder grobschlägiger Tremor<br />

Mundtrockenheit<br />

Atembeschwerden<br />

Beklemmungsgefühl<br />

Thoraxschmerzen<br />

Derealisation oder Depersonalisation<br />

Angst vor Kontrollverlust oder verrückt zu werden<br />

Angst zu sterben<br />

…<br />

Mittelgradige Panikstörung (F 41.00): mindestens 4 Panikattacken in 4<br />

Wochen<br />

Schwere Panikstörung (F41.01): mindestens 4 Panikattacken pro Woche<br />

über einen Zeitraum von 4 Wochen<br />

Anmerkung: Über 80% der Patienten mit einer anderen Angststörung (z.B.<br />

einer spezifischen Phobie) erleben ebenfalls Panikattacken, aber nicht so häufig<br />

und spontan, dass die Diagnose einer Panikstörung gerechtfertigt wäre!<br />

141


Definition: Unter Agoraphobie versteht man die Angst vor weiten oder öffentlichen<br />

Plätzen (griech. „agora“ = „Marktplatz“) bzw. davor, keine Fluchtmöglichkeit zu<br />

haben (z.B. in der Mitte eines Kinos) oder im Notfall keine Hilfe zu bekommen (z.B.<br />

auf Flugreisen oder im Wald).<br />

Klassifikationskriterien nach der ICD-10:<br />

Eine deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens<br />

2 der folgenden Situationen:<br />

Menschenmengen (z.B. Warteschlangen, Einkaufsstraßen etc.)<br />

Öffentliche Plätze (z.B. Supermarkt, Kino, Straßenbahn etc.)<br />

Alleine Reisen<br />

Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause<br />

Mindestens ein Mal nach Beginn der Störung müssen mindestens zwei<br />

Angstsymptome der Panik-Symptome (s.o.) gleichzeitig vorhanden<br />

gewesen sein – und zwar im Zusammenhang mit den gefürchteten<br />

Situationen (s.o.)<br />

Anmerkungen: Agoraphobiker verlassen, wenn überhaupt, nur selten ihre<br />

Wohnung, brauchen meist Begleitung, achten darauf, möglichst immer<br />

Medikamente oder die Telefonnummer des Arztes bei sich zu haben<br />

(„Sicherheitssignale“) etc. etc.<br />

11.3.2. Diagnostik<br />

Differentialdiagnose:<br />

Abgrenzung von anderen Angststörungen: Da Panikattacken auch bei anderen<br />

Angststörungen auftreten (s.o.: in 80% der Fälle!), ist es wichtig, a) die<br />

Häufigkeit der Attacken zu beachten und b) ihren Kontext und zentrale<br />

Befürchtungen herauszuarbeiten!<br />

Panikstörung: Angst vor körperlichen und/oder geistigen „Katastrophen“<br />

(„Ich werde sterben!“; „Ich werde verrückt!“)<br />

Soziale Phobie: Angst vor Bewertung und Blamage<br />

Spezifische Phobien: Angst vor spezifischen Situationen<br />

<br />

(situationsgebundene Befürchtungen)<br />

PTSD: Angst vor Reizen und Situationen, die an das Trauma erinnern<br />

Zwangsstörung: Angst für Objekt der Zwangsvorstellung!<br />

Die Abgrenzung von organischen Erkrankungen: ist bei der Panikstörung<br />

besonders wichtig, da sie sich v.a. in physiologischen Symptomen äußert und<br />

die meisten Patienten von einer physiologischen Ursache überzeugt sind!<br />

Hier nur einige Beispiele, was alles ausgeschlossen werden muss:<br />

Lungenerkrankungen (Atemnot, Enge-Gefühl etc.) => Röntgen und<br />

internistische Untersuchung<br />

Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion: Herzklopfen, Schwitzen,<br />

Angst, Atemnot etc.) => Laboruntersuchung<br />

Herzinfarkt (Brustschmerzen, Unruhe, Atemnot, Vernichtungsgefühl<br />

etc.)<br />

…<br />

Diagnostische Messinstrumente (klinische Fragebögen):<br />

„Agoraphobic Cognitions Questionnaire“ (Ehlers & Margraf): Fragebogen<br />

zu angstbezogenen Kognitionen, z.B. bezüglich körperlicher Krisen,<br />

Kontrollverlust oder Vermeidung.<br />

Wie oft („nie“ bis „immer“) haben sie folgende Gedanken, wenn sie nervös<br />

bzw. ängstlich sind: „Ich muss mich gleich übergeben!“; „Ich muss einen<br />

Hirntumor haben!“ etc.<br />

142


„Body Sensations Questionnaire“ (Ehlers & Margraf): Fragebogen zur Angst<br />

vor körperlichen Symptomen<br />

Wie viel Angst („gar nicht“ bis „extrem“) haben sie vor folgenden<br />

Empfindungen: Herzklopfen, Taubheit in Armen und Beinen etc.<br />

„Angst-Sensitivitäts-Index“ (ASI): misst ebenfalls, wie ängstlich Menschen<br />

auf ihre körperlichen Empfindungen reagieren.<br />

„Ungewöhnliche Körperempfindungen machen mir Angst“; „Ich bekomme<br />

Angst, wenn ich mich schwach fühle“ etc.<br />

„Mobilitätsinventar“ (Ehlers & Margraf): misst das Ausmaß agoraphobischen<br />

Vermeidungsverhaltens.<br />

Pbn müssen anhand einer 5-stufigen Skala (von „niemals“ bis „immer“)<br />

angeben, wie oft sie bestimmte Orte (z.B. Kinos oder Theater, Supermärkte<br />

etc.) alleine und in Begleitung vermeiden!<br />

„Marburger Angst- und Aktivitäts-Tagebuch“ (Margraf & Schneider): misst<br />

a) Anzahl und Ausmaß der Panikattacken, b) globales Angstniveau und c) das<br />

Ausmaß an Aktivitäten!<br />

a) Panikanfälle: Wann und in welcher Situation traten sie auf? Wie viele und<br />

welche Symptome traten auf? Was waren die ersten Anzeichen? etc. etc.<br />

b) Tagesbewertung: durchschnittliche Augst auf einer Skala von 1 bis 10<br />

c) Aktivitätstagebuch: ist v.a. deshalb wichtig, weil die Angst oft durch<br />

agoraphobisches Vermeidungsverhalten, nicht aber durch Genesung<br />

ausbleibt; erfasst wird, wann mit wem was gemacht wurde und wie groß die<br />

Angst dabei war!<br />

Angst-Tagebuch ist v.a. deshalb wichtig, weil bei der nachträglichen Beschreibung<br />

von Panikattacken meist retrospektive Verzerrungen auftreten:<br />

v.a. bei Fragebögen, aber auch bei Interviews wird die Anzahl der Symptome<br />

im Nachhinein überschätzt! Darüber hinaus haben Tagebücher nicht nur eine<br />

diagnostische, sondern auch eine therapeutische Funktion!<br />

11.3.3. Epidemiologie und Verlauf<br />

Epidemiologie: Patienten mit Panikstörung und/oder Agoraphobie machen den<br />

größten Anteil an Panikpatienten aus.<br />

Die Lebenszeitprävalenz liegt für die Panikstörung zwischen 2 und 3%, für<br />

Agoraphobie (mit und ohne Panikstörung) bei 5,7%.<br />

Das Geschlechterverhältnis (Frauen : Männer) liegt in etwa bei 2 : 1<br />

Verlauf:<br />

Der Krankheitsbeginn ist variabel, liegt aber meist zwischen 20 und 30 Jahren;<br />

bei Männern gibt es was Panikattacken betrifft einen zweiten Peak nach dem 40.<br />

Lebensjahr!<br />

In 80% der Fälle gehen dem erstmaligen Auftreten einer Panikstörung<br />

schwerwiegende Lebensereignisse voraus!<br />

Prognose: Eher schlecht; nur in rund 14% der Fälle kommt es zu einer<br />

Spontanremission<br />

Komorbidität: Nur eine Minderheit der Panikpatienten (rund 14%) weisen keine<br />

Komorbidität auf!<br />

Am häufigsten sind:<br />

- Affektive Störungen 71, 4%<br />

- Alkoholmissbrauch: 50%<br />

- Medikamentenmissbrauch: rund 29%<br />

143


11.3.4. Ätiologie<br />

Das psychophysiologische Modell der Panikstörung (von Ehlers und Margraf):<br />

beschreibt die Entstehung von Panik als einen durch positive Rückkopplung<br />

vermittelten Teufelskreis:<br />

Ein Anfall beginnt in der Regel mit körperlichen (Schwindel, Herzrasen etc.)<br />

und/oder psychischen Veränderungen (Gedankenrasen, Attribution von<br />

Kontrollverlust etc.), die ihrerseits durch interne oder externe Stressoren<br />

hervorgerufen werden.<br />

Diese Veränderungen werden wahrgenommen und mit Gefahr assoziiert,<br />

woraufhin der Betroffene mit Angst bzw. Panik reagiert, was wiederum mit<br />

physischen und/oder psychischen Veränderungen einhergeht, die als solche<br />

wahrgenommen und erneut mit Gefahr assoziiert werden etc. etc.<br />

Konkretes Beispiel: Wahrnehmung des eigenen (normalen) Herzschlags<br />

=> Assoziation mit Gefahr => Angst => Erhöhung der Herzrate => …<br />

Die physiologischen Reaktionen von Panikpatienten auf Stresssituationen<br />

unterscheiden sich kaum von denen gesunder Personen; sie interpretieren<br />

diese lediglich anders!<br />

Beeinflusst wird dieser Prozess außerdem durch individuelle Prädispositionen<br />

(z.B. Interozeptionsfähigkeit; Angstsensitivität etc.) und situative Faktoren (z.B.<br />

Hitze, Koffein etc.).<br />

In diesem Sinn ist das psychophysiologische Modell ein Diathese-Stress-<br />

Modell!<br />

Beendet wird eine Attacke entweder durch Bewältigungsstrategien<br />

<br />

(Vermeidung, Hilfe suchen etc.) oder durch negative Rückkopplungsprozesse<br />

(Habituation, Ermüdung), die irgendwann automatisch einsetzen, allerdings sehr<br />

viel langsamer vonstatten gehen als die positive Rückkopplung zwischen Panik<br />

und psychischen bzw. physischen Veränderungen!<br />

Die Zwei-Faktoren-Theorie der Angst (von Mowrer und Miller) wird auch zur<br />

Erklärung der Agoraphobie herangezogen.<br />

Erweiterung der Zwei-Faktoren-Theorie durch Chambless & Goldstein:<br />

Agoraphobiker haben nur selten Angst vor einer Situation als solcher (einfache<br />

Form); stattdessen ist es meist die „Angst vor der Angst“ (komplexe Form), die<br />

sie umtreibt. Sie meiden z.B. öffentliche Orte meistens nur deshalb, weil sie<br />

Angst davor haben, dort eine Panikattacke zu erleiden!<br />

Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Panikattacken ist die<br />

„Angstsensitivität“ einer Person. Man versteht darunter, die Tendenz,<br />

körperliche Empfindungen als Hinweis auf Bedrohung oder Krankheit zu werten<br />

und dementsprechend ängstlich darauf zu reagieren!<br />

Schmidt et al. (1997): Angehenden US-Soldaten wurde vor der<br />

Grundausbildung der ASI vorgelegt und die erzielten Werte zum späteren<br />

Stressempfinden (Anzahl der Panikattacken, Angst- und<br />

<br />

Depressionsfragebogen etc.) in Bezug gesetzt.<br />

Die Pbn, die hohe ASI-Werte hatten, hatten auch in den späteren Stress-<br />

Messungen signifikant höhere Werte; insbesondere die Frequenz von<br />

Panikattacken ließ sich durch Werte auf dem ASI vorhersagen!<br />

Kognitive Verzerrungen bei Panikpatienten:<br />

Aufmerksamkeitsbias:<br />

Stroop-Test: Panikpatienten brauchen bei der Farbbenennung länger als<br />

Kontrollprobanden, wenn die Wörter sich auf Angst, körperliche<br />

Empfindungen oder Katastrophen beziehen. Am deutlichsten ist die<br />

Verzögerung bei Katastrophenwörtern!<br />

144


Erwartungs- und Kovariationsbias:<br />

Pbn bekommen Bilder aus 4 unterschiedlichen Kategorien (Erotik, neutral,<br />

Spinnen, Unfälle) gezeigt, die in 50% der Fälle von einem lauten Ton<br />

begleitet werden; dabei sollen sie einmal vorab (Erwartungsbias) und<br />

einmal danach (Kovariationsbias) einschätzen, bei welchen Bildern der Ton<br />

am häufigsten auftritt.<br />

Ergebnis: Sowohl a priori als auch a posteriori überschätzen<br />

Panikpatienten die Kovariatin bei Unfallbildern!<br />

Biologische Theorien und Thesen:<br />

Die Tatsache, dass Panikstörungen familiär gehäuft auftreten sowie die<br />

Tatsache, dass die Konkordanz bei monozygoten Zwillingen höher ist als bei<br />

dizygoten, sprechen für eine genetische Diathese!<br />

Panik wird durch eine übermäßige Aktivität der noradrenergen Systems<br />

verursacht.<br />

Die Stimulation des Locus coeruleus (im Pons gelegen) scheint bei Affen<br />

Panikattacken auszulösen.<br />

ABER: Substanzen, die die Aktivität des Locus coeruleus blockieren, haben<br />

sich bei der Behandlung von Panikstörungen bisher nicht als wirksam<br />

erwiesen!<br />

Ley: Panikattacken werden durch Hyperventilation (schnelles, flaches Atmen)<br />

hervorgerufen; Hyperventilation aktiviert nämlich das autonome Nervensystem<br />

und kann dadurch die einschlägigen körperlichen Symptome hervorrufen, die<br />

ihrerseits die Panik und die damit verbundene Rückkopplungsschleife auslösen.<br />

Klein: Panikattacken könnten auch durch überempfindliche CO2-Rezeptoren<br />

ausgelöst werden (=> Erstickungsgefühl => Positive Rückkopplung)<br />

Durch die Gabe kohlendioxid-angereicherter Luft können Panikattacken<br />

ausgelöst werden, allerdings nur bei Panikpatienten bzw. Pbn mit hohen ASI-<br />

Werten! Darüber hinaus kommt es nach einiger Zeit zu einer Habituation,<br />

sprich: die subjektive Angst nimmt bei längerer Gabe CO2-angereicherter<br />

Luft wieder ab!<br />

Einfluss der Einstellung: Insgesamt scheint Panik weniger durch die<br />

physiologischen Reaktionen an sich, als vielmehr durch deren Interpretation<br />

ausgelöst zu werden.<br />

Durch Laktat (ein Salz der Michsäure und Abbauprodukt der<br />

Muskeltätigkeit) können Panikattacken ausgelöst werden, allerdings nur,<br />

wenn vorher entsprechende Erwartungen geschürt werden, sprich: wenn den<br />

Pbn gesagt wird, sie müssten mit angstvoller Spannung (anstatt angenehmer<br />

Erregung) rechnen.<br />

Dasselbe gilt für die Gabe CO2-angereicherter Luft. Wird den Pbn gesagt,<br />

CO2 führe zu starker Erregung, reagieren sie öfter mit Panik als wenn ihnen<br />

gesagt wird, CO2 führe zu Entspannung!<br />

11.3.5. Therapie<br />

Pharmakologische Behandlung:<br />

Einsatz von Antidepressiva (SSRIs, Trizyklika) und Anxiolytika<br />

(Benzodiazepine wie z.B. Tavor)<br />

Nachteile:<br />

Erneutes Auftreten der Symptome nach Absetzen<br />

Abbruch der Behandlung wegen Nebenwirkungen (Gewichtszunahme,<br />

Herzrasen etc.)<br />

Bei Benzodiazepinen besteht eine hohe Suchtgefahr!<br />

145


Psychotherapeutische Behandlungen: umfassen nahezu immer die folgenden 3<br />

Komponenten:<br />

Konfrontation mit internen und externen Reizen<br />

Vermittlung von Bewältigungsstrategien (Entspannungstraining etc.)<br />

kognitive Umstrukturierung<br />

Das kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramm nach Margraf und<br />

Schneider zielt darauf, das Sicherheits- bzw. Vermeidungsverhalten zu reduzieren und<br />

umfasst folgende Komponenten:<br />

1. Informationsvermittlung (psychophysiologischer Teufelskreislauf: s.o.)<br />

2. Kognitive Maßnahmen:<br />

Aufdeckung typischer Fehlinterpretationen: eine erhöhte Herzfrequenz ist<br />

kein Hinweis auf einen Herzinfarkt; Schweißausbrüche führen nicht zum Tod<br />

etc.<br />

3. Konfrontation mit angstauslösenden Reizen: und zwar zuerst mit internen<br />

und dann mit externen Reizen (Verhaltensexperimente)<br />

Exploration der Symptome und Konzentration auf das Leitsymptom<br />

Bei Herzrasen => z.B. Treppensteigen, Kniebeugen oder Koffeinkonsum<br />

Bei Atembeschwerden => Hyperventilationstest (s.u.) oder die<br />

Aufforderung, die Atmung willentlich zu stoppen<br />

Bei Schwindel => Hyperventilationstest (s.u.) oder Drehstuhl<br />

Der Hyperventilationstest erfolgt in mehreren Schritten:<br />

Exploration der Symptome während eines typischen Panikanfalls<br />

Erläuterung des Hyperventilationstests<br />

Durchführung: Zwei Minuten Brustatmung mit einem Atemzug pro<br />

Sekunde!<br />

Danach: Introspektion<br />

Eine Metaanalyse von Clum (1993) zur Effektivität unterschiedlicher<br />

Behandlungsformen bei Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie ergab folgende<br />

mittleren Effektstärken:<br />

Kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme: 1.41 (am wirksamsten!)<br />

Flooding: 1.36<br />

Antidepressiva: 0.82<br />

Hochpotente Benzodiazepine: 0.29<br />

146


11.4. Zwangsstörung<br />

11.4.1. Darstellung des Störungsbildes und Diagnose<br />

Definition: Die Zwangsstörung (engl.: „Compulsive Obsessive Disorder“) ist eine<br />

Angststörung, bei der das Bewusstsein von beständigen und unkontrollierbaren<br />

Gedanken (Zwangsgedanken) überflutet wird und/oder das Individuum sich dazu<br />

genötigt sieht, bestimmte Handlungen (z.B. Putzen oder Händewaschen) immer und<br />

immer wieder auszuführen (Zwangshandlungen).<br />

Diagnosekriterien nach der ICD-10:<br />

Es treten über mindestens 2 Wochen an den meisten Tagen entweder<br />

Zwangsgedanken (Obsessionen) oder Zwangshandlungen (Compulsionen)<br />

auf, die ihrerseits durch folgende Merkmale gekennzeichnet sind:<br />

Sie werden als Produkte des eigenen Geistes betrachtet (keine Eingebungen<br />

durch andere)!<br />

Sie treten wiederholt auf, werden als unangenehm empfunden und<br />

vergeblich zu unterdrücken versucht.<br />

Mindestens eine Obsession oder Compulsion wird als übertrieben oder<br />

unangemessen erkannt.<br />

Beeinträchtigung der beruflichen und privaten Funktionsfähigkeit<br />

Nicht auf andere psychische Störungen wie Schizophrenie oder affektive<br />

Störungen zurückführbar!<br />

DSM IV:<br />

Insgesamt genauere Beschreibung der Zwangsstörung und strengere Kriterien<br />

Ausschlusskriterien sind z.B. besser umschrieben (Drogenmissbrauch und<br />

körperliche Krankheiten)<br />

Spezifikation: Zwangsstörungen gehen oft mit wenig Einsicht einher!<br />

Keine Unterscheidung zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen (?!)<br />

Erscheinungsform: 80% der Patienten leiden sowohl unter Zwangsgedanken als<br />

auch unter Zwangshandlungen. Dabei ist der Zusammenhang i.d.R. so, dass die<br />

Zwangsgedanken beängstigend sind - und die Zwangshandlungen dazu dienen, diese<br />

Angst zu reduzieren.<br />

Zwangsgedanken…<br />

sind ungewollt, belastend und rufen inneren Widerstand hervor<br />

sind ich-fremd (ichdyston) und unkontrollierbar (= Intrusionen)<br />

werden als sinnlos bzw. irrational erkannt (Einsicht)<br />

haben häufig aggressive oder sexuelle Inhalte<br />

Zwangshandlungen…<br />

sind stereotype und ritualisierte Verhaltensweisen, die als unangenehm und<br />

unkontrollierbar empfunden werden<br />

werden als sinnlos bzw. irrational erkannt (Einsicht)<br />

Formen der Vermeidung:<br />

- Passive Vermeidung: Vermeidung von Situationen und Stimuli, die<br />

Zwangsgedanken (z.B. Angst vor Kontamination) und –handlungen (z.B.<br />

Händewaschen) hervorrufen könnten (z.B. werden bestimmte Objekte nicht<br />

mehr angefasst, etwa alles, was braun ist)<br />

- Aktive Vermeidung: Zwangshandlungen (z.B. ständiges Kontrollieren oder<br />

Waschen)<br />

- Neutralisierende Gedanken: dienen dazu, die durch die Zwangsgedanken<br />

ausgelöste Angst zu reduzieren.<br />

147


Beispiele für Zwangsphänomene:<br />

Angst vor Kontamination (z.B. durch Schmutz, Keime, Blut, Gift oder<br />

Radioaktivität) Ständiges Waschen des eigenen Körpers, Sterilisieren der<br />

Wohnung, häufige Arztbesuche (man könnte sich ja beim Friseur Aids<br />

eingefangen haben…) etc.<br />

Angst vor eigener oder fremder physischer Gewalt (z.B. „Ich werde mein<br />

Kind verletzen!“) Es wird vermieden, mit dem Kind allein zu sein; Messer<br />

werden weggesperrt etc.<br />

Angst davor anderen unbemerkt Schaden zugefügt zu haben (z.B. „Ich habe<br />

jemanden überfahren ohne es zu merken!“) Anrufe bei Kliniken und Polizei,<br />

wiederholtes Abfahren der Strecke; Absuchen des Autos nach Beulen<br />

Sexuelle Ängste (z.B. „Ich werden jemanden vergewaltigen!“) Es wird<br />

vermieden, allein mit Frauen zu sein, Unterdrückung sexueller Gedanken etc.<br />

Religiöse Ängste (z.B. Angst vor blasphemischen Gedanken oder religiösem<br />

Zweifel) Ständiges Beten, Beichten etc.<br />

Zur Häufigkeit einzelner Zwangsphänomene:<br />

Zwangsgedanken<br />

Kontamination: 45%<br />

Pathologische Sorge (z.B. um körperliche Fehlfunktionen): 42%<br />

Aggressive Zwangsgedanken: 28%<br />

Multiple Obsessionen: 60%<br />

Zwangshandlungen<br />

Kontrollieren: 63%<br />

Waschen: 50%<br />

Zählen (z.B. die Badfließen): 36%<br />

Sammeln/Horten: 18%<br />

Multiple Zwangshandlungen: 48% (am häufigsten ist die Kombination aus<br />

Wasch- und Kontrollzwang)<br />

Diagnostische Verfahren:<br />

SKID-I: „Strukturiertes Klinisches Interview für die Achse I des DSM-IV“<br />

DIPS: „Diagnostische Interview bei psychischen Störungen“<br />

Y-BOCS: „Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale”<br />

Strukturiertes Interview, bestehend aus 10 Items<br />

misst die Schwere der Zwangssymptome und Therapieeffekte<br />

wird eher zur Therapieplanung als zur Diagnose eingesetzt<br />

MOCI: „Maudsley Obsessive-Compulsive Inventory“<br />

Umfasst 30 Items die mit „richtig” oder „falsch“ zu beurteilen sind:<br />

z.B.: „Ich vermeide es, öffentliche Telefone wegen möglicher<br />

Beschmutzung zu benutzen.“<br />

11.4.2. Epidemiologie und Verlauf<br />

Die wichtigsten epidemiologischen Daten:<br />

Lebenszeitprävalenz: ca. 2%<br />

Geschlechterverteilung: 1:1<br />

Männer leiden häufiger unter Kontrollzwang, Frauen häufiger unter<br />

Reinigungszwang<br />

Beginn der Störung: meist zwischen 20 und 25 Jahren , in seltenen Fällen vor<br />

dem 10. oder nach dem 40. Lebensjahr<br />

Oft gehen belastende Lebensereignisse voraus (z.B. Schwangerschaft,<br />

Ehekonflikt oder Probleme am Arbeitsplatz)<br />

Männer bekommen die Störung i.d.R. früher als Frauen<br />

148


Verlauf und Prognose:<br />

Drei Verlaufstypen können unterschieden werden:<br />

- Kontinuierlicher Verlauf (am häufigsten: 85%)<br />

- Verschlechterung<br />

- Episodischer Verlauf (am seltensten: 2%)<br />

Häufige Folgeprobleme: Depression, Alkoholmissbrauch, Beziehungsprobleme<br />

Prinzipiell gilt: Unbehandelt verlaufen Zwangsstörungen meist chronisch und<br />

selbst mit Behandlung kann vielen Patienten nicht wirklich geholfen werden! Die<br />

Zwangsstörung gilt daher als eine der am schwersten zu behandelnden<br />

psychischen Störungen.<br />

Es treten nur äußerst selten Spontanheilungen auf und je länger die<br />

Krankheit bereits dauert (> 1 Jahr), desto unwahrscheinlicher ist eine<br />

Spontanremission!<br />

Rund 30% aller Betroffenen lehnen eine Behandlung ab und nur bei 15-40%<br />

derjenigen, die sich einer Behandlung unterziehen, können klinisch relevante<br />

Verbesserungen erzielt werden (Vgl. dazu Katamnesestudien)!<br />

Für eine gute Prognose sprechen folgende Faktoren:<br />

Guter psychischer und physischer Gesundheitszustand vor dem Auftreten der<br />

Zwangsstörung („prämorbide Anpassung“)<br />

Episodischer Verlauf der Zwangssymptomatik (Phasen vorübergehender<br />

Besserung)<br />

„Atypische“ Zustände (wie z.B. extreme Angst oder Depression), die<br />

ihrerseits Ansatzpunkte für die Therapie bieten<br />

Kurze Dauer (nicht unbedingt geringe Intensität)<br />

Identifikation kritischer Lebensereignisse (ist umstritten)<br />

Für eine schlechte Prognose sprechen folgende Faktoren:<br />

Prämorbide Störung (z.B. Depression)<br />

Lange Dauer der Störung bei Beginn der Therapie<br />

Unverheiratet<br />

„Overvalued Ideas“: wenn der Patient meint, dass seine Ängste im Kern eine<br />

berechtigte Grundlage haben!<br />

11.4.3. Störungstheorien und -modelle<br />

Bedeutsam sind v.a. zwei Modelle: nämlich das lerntheoretische Modell und das<br />

kognitive Modell; darüber hinaus gibt es Theorien zu biologischen Ätiologiefaktoren.<br />

Das lerntheoretische Modell: basiert auf der 2-Faktoren-Theorie von Mowrer und<br />

geht dementsprechend davon aus, dass Zwangsstörungen durch klassische<br />

Konditionierung gelernt und durch operante Konditionierung aufrechterhalten werden.<br />

Die Theorie:<br />

1. Klassische Konditionierung: UCS (eine aversive Konfliktsituation) + NS<br />

bzw. CS (z.B. Schmutz) CR (gelernte Angstreaktion)<br />

Der gewalttätige Stiefvater (UCS) hat am Bau gearbeitet und kam daher<br />

immer dreckig (CS) nach Hause!<br />

2. Operante Konditionierung: Zwangshandlungen werden negativ verstärkt,<br />

sofern durch sie die gelernte Angst vermieden wird!<br />

Durch ständiges Waschen wird die Angst, die durch Schmutz<br />

hervorgerufen wird, reduziert!<br />

Kritik: Der erste Faktor (klassische Konditionierung) ist problematisch: erstens<br />

führen nicht alle Traumata zu einem Zwang; zweitens lassen sich nur bei wenigen<br />

Zwangsstörungen Traumata identifizieren!<br />

Der zweite Faktor (operante Konditionierung) ist dagegen hilfreich!<br />

149


Die wichtigste Implikation der Theorie: Die Angst wird auch (bzw. nur) dann<br />

abnehmen oder sogar verschwinden (Extinktion), wenn das Vermeidungsverhalten<br />

bzw. die Zwangshandlungen nicht(!) ausgeführt werden!<br />

Die Zwei-Faktoren-Theorie bildet damit die Grundlage für<br />

Expositionsverfahren mit Reaktionsverhinderung (z.B. einen Türgriff<br />

anfassen, ohne sich danach die Hände zu wachsen)<br />

Das kognitive Modell von Salkovskis: greift die Zwei-Faktoren-Theorie auf,<br />

erweitert sie aber um kognitive Faktoren<br />

Unterscheidung zwischen sich aufdrängenden Gedanken (= Zwangsgedanken<br />

bzw. Intrusionen) und automatischen Gedanken.<br />

Intrusionen: sind irrational, ichdyston und nicht kontrollbierbar (sie treten in<br />

unterschiedlichem Ausmaß bei allen Menschen auf!)<br />

Automatische Gedanken: werden durch die Intrusionen ausgelöst und<br />

werden durch dysfunktionale Überzeugungen (z.B. „Was ich denke, wird<br />

auch passieren!“) bestimmt. Im Gegensatz zu den Intrusionen sind<br />

automatische Gedanken ichsynton und direkt beeinflussbar!<br />

Annahme dysfunktionaler Überzeugungen:<br />

Überschätzung der Bedeutung von Zwangsgedanken (z.B.: „Was ich denke,<br />

wird auch passieren!“)<br />

Überschätzung der Wahrscheinlichkeit der Folgen eines Ereignisses (z.B.: An<br />

einem Kamm können HI-Vieren sein“)<br />

Überschätzung der eigenen Verantwortlichkeit<br />

Bedürfnis nach Perfektion<br />

Fehleinschätzung der Konsequenzen der Angst<br />

Annahme verschiedener Rückkopplungsschleifen:<br />

1) Aufdringlicher Gedanke (Intrusion):<br />

- z.B. „Ich könnte ein Kind verletzen!“<br />

2) Automatischer Gedanke (Bewertung)<br />

- z.B. „Dieser Gedanke ist fürchterlich!“<br />

3) Emotionale Reaktion<br />

- Unruhe, Angst, Erregung (Arousal)<br />

4) Neutralisierung/Abwehr (Zwangshandlung)<br />

- z.B. Wegsperren von Messern<br />

Die Zwangshandlung führt zwar zur kurzfristigen Reduktion der Angst,<br />

verstärkt aber zugleich die dysfunktionalen Annahmen und erhöht die<br />

Bedeutsamkeit bzw. Häufigkeit intrusiver Gedanken!<br />

Durch die emotionale Reaktion werden die automatischen Gedanken verstärkt<br />

und durch die automatischen Gedanken (z.B. „Ich darf so etwas nicht<br />

denken!“) die Intrusionen. Der Versuch, die Intrusionen zu unterdrücken,<br />

wirkt nämlich paradox!<br />

+<br />

+<br />

-<br />

150


Experimentelle Bestätigung:<br />

Salkovskis (2003): Patienten mit Zwangsstörung werden mit ihren<br />

individuellen auf Tonband aufgenommenen Intrusionen konfrontiert; in der<br />

ersten Phase sollen sie sich entweder durch Zählen ablenken oder das übliche<br />

neutralisierende Verhalten zeigen (UV), in der zweiten Phase dürfen sie sich<br />

weder ablenken, noch neutralisierendes Verhalten zeigen.<br />

Ergebnisse:<br />

- Zu Beginn der ersten Phase ist die Angst („Discomfort“) in beiden<br />

Gruppen gleich stark, im Gegensatz zur Ablenkungsgruppe nimmt sie<br />

in der Neutralisierungsgruppe jedoch bis zum Ende dieser Phase stark<br />

ab.<br />

- In der zweiten Phase nimmt die Angst in der Neutralisierungsgruppe<br />

bis zum Ende massiv zu, in der Ablenkungsgruppe dagegen nicht!<br />

Interpretation: Zwangshandlungen sind zwar kurzfristig effektiv,<br />

langfristig wirken sie jedoch verstärkend auf die Angst!<br />

Ansatzpunkte für die Therapie:<br />

Automatische Gedanken / dysfunktionale Überzeugungen: Neubewertung /<br />

Entkatastrophisierung der Intrusionen<br />

Emotionale Reaktion: Emotionale Distanzierung<br />

Zwangshandlungen: Konfrontation mit Reaktionsvermeidung<br />

Biologische Theorien:<br />

Serotoninhypothese: Die (wenn auch nur sehr begrenzte) Wirksamkeit von<br />

Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern spricht dafür, dass Zwangsstörungen mit<br />

einem Serotoninmangel zusammenhängen.<br />

Überaktivität des Frontallappens<br />

Defekt der Basalganglien<br />

13.4.5. Experimentelle Befunde:<br />

Patienten mit Zwangsstörung haben ein geringeres Vertrauen in sich selbst und das<br />

eigene Gedächtnis!<br />

Gibt man Zwangsgestörten (mit zwanghaftem Kontrollverhalten) einen<br />

Allgemeinwissenstest vor und lässt sie a) nach jedem Item einschätzen, wie sicher<br />

sie sich bei der Antwort sind und b) nach dem Test einschätzen, wie gut sie<br />

insgesamt abgeschnitten haben, unterschätzen sie ihre Leistung in beiden Maßen!<br />

Zwangsstörungen hängen kausal mit der empfundenen Verantwortlichkeit<br />

zusammen.<br />

Patienten mit Zwangsstörung und Kontrollprobanden bekommen die Aufgabe,<br />

Pillen der Farbe nach zu ordnen; einem Teil wird dabei vermittelt, dass diese<br />

Aufgabe sehr wichtig sei (hohe Verantwortlichkeit), einem anderen nicht<br />

(niedrige Verantwortlichkeit).<br />

Ergebnis: Das Kontrollverhalten und das subjektive Empfinden von Zwang<br />

waren in der Bedingung mit hoher Verantwortlichkeit bei Zwangspatienten<br />

signifikant höher als bei den Kontrollprobanden!<br />

151


13.5. Posttraumatische Belastungsstörung<br />

13.5.1. Beschreibung des Störungsbildes und Diagnose<br />

Hintergrundinfo: Die posttraumatische Belastungsstörung wurde erst verhältnismäßig<br />

spät als eigenständiges Störungsbild (an)erkannt.<br />

Die Symptome wurden erstmals Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

beschrieben.<br />

Anlass waren schwere Eisenbahnunfälle, die Weltkriege und später die<br />

Holocaustopfer!<br />

Entscheidende Ereignisse waren: der Vietnamkrieg (zahllose „unehrenhafte<br />

Entlassungen“ gestörter Soldaten) und die Frauenbewegung (offenerer Umgang<br />

mit sexuellem Missbrauch)<br />

Definition: Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine auf extreme<br />

Belastungserfahrungen zurückgehende Angststörung, die durch folgende<br />

Kernsymptome gekennzeichnet ist:<br />

1. (Ungewolltes) Wiedererleben des traumatischen Ereignisses im Gedächtnis,<br />

Tagträumen oder Träumen<br />

Das Wiedererleben ist dabei durch extreme Realitätsnähe gekennzeichnet!<br />

2. Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die mit dem Trauma assoziiert sind<br />

und Unterdrückung der Erinnerung an das Trauma (bis hin zur Amnesie).<br />

3. Symptome autonomer Überregung (Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktion,<br />

Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen etc.)<br />

4. Emotionale Stumpfheit, Teilnahmslosigkeit und Anhedonie<br />

Kriterien nach der ICD-10:<br />

Traumatisches Ereignis, das „bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen<br />

würde“<br />

Problematisch, da weniger die objektiven Merkmale eines Traumas, als<br />

vielmehr dessen subjektive Bedeutung entscheidend für die Entstehung einer<br />

posttraumatischen Belastungsstörung sind!<br />

Typische Traumata sind: Vergewaltigung, sexueller Missbrauch,<br />

Raubüberfälle, Kriegseinsätze, schwere Unfälle, Naturkatastrophen etc.<br />

Symptome:<br />

notwendig: Beharrliches Wiedererleben des Traumas (s.o.)<br />

typisch: Vermeidung; vegetative Überregung; Gefühlstaubheit<br />

Dauer: Die Symptome treten i.d.R. innerhalb von 6 Monaten nach dem Ereignis<br />

auf und dauern mindestens einen Monat an!<br />

Die Komorbidität bei der PTB ist sehr hoch: In 80-90% der Fälle liegen weitere<br />

Störungen vor; am häufigsten sind affektive Störungen, weitere Angststörungen,<br />

Substanzmissbrauch und Somatisierung (die zeitliche Abfolge ist ungewiss)<br />

Diagnostische Verfahren:<br />

Semistrukturierte Interviews zur Diagnose und Erfassung der Komorbiditäten:<br />

DIPS, SKID-I<br />

Strukturiertes Interview zur Erfassung des Schweregrades der Störung: CAPS<br />

(„Clinician Administered PTSD Scale“)<br />

Differentialdiagnose: Ausgeschlossen werden müssen…<br />

Anpassungsstörung (liegt vor, wenn das traumatische Ereignis weniger drastisch<br />

ist und die Kriterien für die posttraumatische Belastungsstörung nicht ganz erfüllt<br />

werden: z.B. nach dem Tod eines geliebten Menschen)<br />

Trauerreaktion<br />

152


Akute Belastungsstörung (liegt vor, wenn die Symptome der PTB weniger als<br />

einen Monat andauern)<br />

Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach einem Trauma (liegt bei einer<br />

Dauer von mindestens 2 Jahren vor)<br />

Andere Angststörungen und Depressionen: Falls schon vor dem traumatischen<br />

Erlebnis eine Depression oder Angststörung vorlag, muss geklärt werden, ob die<br />

Symptome (Vermeidung, Gefühlstaubheit etc.) lediglich eine Verschlimmerung<br />

der bestehenden Störung darstellen!<br />

Hirnverletzungen<br />

13.5.2. Epidemiologie und Verlauf<br />

Die Mehrheit der Bevölkerung erlebt im Lauf des Lebens mindestens eine<br />

traumatische Situation!<br />

Männer erleben dabei im Schnitt häufiger traumatische Ereignisse<br />

(berufsbedingt) als Frauen; trotzdem liegt das Geschlechterverhältnis bei 2:1,<br />

was wohl daran liegt, dass Frauen mehr Ereignisse mit traumatischer Wirkung<br />

erleben!<br />

Knapp 13% aller amerikanischen Frauen wurden nach Schätzungen<br />

mindestens ein Mal in ihrem Leben vergewaltigt. Die Wahrscheinlichkeit,<br />

nach einer Vergewaltigung eine PTSD zu entwickeln liegt bei ca. 50%<br />

Vorlesung: Die Lebenszeitprävalenz liegt zw. 5% (Männer) und 10%<br />

(Frauen)! Davison: Lebenszeitprävalenz liegt zwischen 1 und 3%!<br />

Die Schätzung der Lebenszeitprävalenz ist bei der PTSD natürlich stark<br />

kohortenabhängig; in Kriegszeiten beispielsweise ist sie höher als in<br />

Friedenszeiten!<br />

Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer PTSD nach einem traumatischen Ereignis<br />

erhöhen, sind:<br />

Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit des traumatischen Ereignisses<br />

Heftigkeit der initialen Reaktion auf das Ereignis<br />

„Sich-Aufgeben“ in der Trauma-Situation<br />

Dissoziative Symptome (z.B. Depersonalisation oder Derealisation) während des<br />

traumatischen Ereignisses<br />

Vulnerabilität (frühkindliche Traumata, Anzahl bereits erlebter Traumata etc.)<br />

13.5.3. Störungsmodelle<br />

A) Kognitives Modell nach Ehlers und Clark<br />

Die Angst von PTB-Patienten unterscheidet sich von anderen Ängsten dadurch, dass<br />

sie nicht auf eine zukünftige Bedrohung gerichtet ist, sondern aufgrund eines<br />

vergangenen Ereignisses entsteht.<br />

Eine chronische posttraumatische Belastungsstörung entsteht dabei dann, wenn das<br />

traumatische Ereignis so verarbeitet wird, dass der Betroffene das Gefühl hat,<br />

gegenwärtig bedroht zu sein!<br />

Die Wahrnehmung einer gegenwärtigen Bedrohung basiert nach Ehlers und Clark<br />

auf 2 Prozessen: Zum einen auf der Interpretation des Traumas und seiner<br />

Konsequenzen, zum anderen auf den Eigenheiten des Traumagedächtnisses.<br />

1. Personen, die eine PTB entwickeln, interpretieren das traumatische<br />

Ereignis und dessen Konsequenzen durchweg negativ.<br />

Trauma: „Ich wurde vergewaltigt, weil man mir ansieht, dass ich ein<br />

leichtes Opfer bin.“; „Es kann jederzeit wieder passieren!“ etc.<br />

153


Konsequenzen: Reizbarkeit: „Ich habe mich als Person zum Negativen<br />

hin entwickelt!“; Alpträume: „Ich werde nie darüber hinwegkommen!“;<br />

Konzentrationsprobleme: „Mein Hirn hat Schaden genommen!“;<br />

Unterstützung durch andere: „Ich werde mich anderen nie wieder nahe<br />

fühlen!“ etc.<br />

2. Das Traumagedächtnis ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:<br />

- Ungenügende Elaboration (Verarbeitung) der Inhalte und mangelnde<br />

Einbettung in das sonstige autobiographische Gedächtnis:<br />

Traumatische Erinnerungen sind dementsprechend meist ungeordnet,<br />

bruchstückhaft und kontextlos; einzelne Aspekte werden dafür umso<br />

lebhafter wiedererlebt!<br />

- Starke Reiz-Reiz- und Reiz-Reaktions-Assoziationen: Die Inhalte im<br />

Traumagedächtnis sind besonders eng und vielfältig miteinander<br />

verknüpft und können dementsprechend leicht getriggert werden (z.B.<br />

löst ein Donner die Erinnerung ans Schlachtfeld aus, die wiederum mit<br />

Flucht assoziiert ist etc. etc.)<br />

- Starkes Priming: Reize, die ein Wiedererleben des Traumas auslösen<br />

können, werden besonders leicht bemerkt und schlecht diskriminiert<br />

(sind also wenig spezifisch)!<br />

Verhaltensweisen und kognitive Verarbeitungsstrategien, die zur Kontrolle<br />

bzw. Vermeidung der gegenwärtigen Bedrohung dienen, halten die Störung<br />

aufrecht und sind daher dysfunktional!<br />

1. Erzeugen sie viele Symptome der PTSD (paradoxer Effekt der<br />

Gedankenunterdrückung, Gefühlstaubheit etc.)!<br />

2. Verhindern sie die Veränderung der negativen Interpretation des Traumas und<br />

seiner Konsequenzen!<br />

3. Verhindern sie die Elaboration des Trauma-Gedächtnisses!<br />

Beispiele für dsyfunktionale Einstellungen von Patienten mit PTSD:<br />

…fühlen sich verletzt und verletzbar<br />

…halten die Welt für bedeutungslos, unverständlich und unkontrollierbar<br />

…betrachten sich selbst als beschädigt und wertlos<br />

B) Zwei-Faktoren-Theorie der Angst (zum tausendsten Mal!)<br />

PTSD entsteht durch klassische Konditionierung und wird durch operante<br />

Konditionierung aufrechterhalten!<br />

Beispiel:<br />

Klassische Konditionierung: UCS (z.B. Vergewaltigung) + CS (z.B.<br />

Stadtpark/braunhaarige Männer/Dunkelheit etc.) => CR<br />

Operante Konditionierung: Betroffene vermeidet Spaziergänge im Park,<br />

Dunkelheit und braunhaarige Männer<br />

Neuere Befunde legen nahe, dass die PTSD darüber hinaus durch<br />

Konditionierungsprozesse zweiter Ordnung (CS + NS => CR) aufrechterhalten<br />

wird: Traumarelevante Hinweisreize (z.B. Stadtpark) scheinen von Patienten mit<br />

PTSD nämlich schnell mit neuen Reizen assoziiert zu werden (z.B. Herr P., der immer<br />

im Park spazieren geht); die auf diese Weise neu konditionierten Reize weisen darüber<br />

hinaus eine hohe Löschungsresistenz auf!<br />

Patienten mit PTSD, Personen mit traumatischer Erfahrung, aber ohne PTSD und<br />

gesunden Kontrollprobanden werden zwei Bilder mit jeweils unterschiedlichen<br />

geometrischen Formen dargeboten. Auf eines dieser Bilder folgt dabei immer ein<br />

(un)konditionierter Reiz (nämlich ein Trauma-Bild), auf das andere nie. Die eine<br />

Form ist somit ein „Sicherheitssignal“, die andere ein „Warnsignal“; erhoben<br />

154


wurde die subjektiv eingeschätzte Valenz der 3 Bilder, das Arousal (SCR,<br />

Herzrate, Startle) und EEG.<br />

Ergebnisse:<br />

- Sowohl die PTSD-Patienten als auch die Personen mit traumatischer<br />

Erfahrung lernten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, zwischen<br />

den beiden Hinweisreizen zu diskriminieren (das Warnsignal wurde<br />

nach einigen Durchgängen schlechter bewertet, führte zu höherem<br />

Arousal und einem anderen EKP); bei den Kontroll-Pbn war das nicht<br />

der Fall.<br />

- Die PTSD-Patienten unterschieden sich von den trauma-erfahrenen Pbn<br />

ohne Störung dadurch, dass die konditionierte Reaktion auf das<br />

Warnsignal bei ihnen wesentlich löschungsresistenter war!<br />

C) Biologische These<br />

Ein kleineres Volumen des Hippocampus scheint ein Vulnerabilitätsfaktor für die<br />

Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung zu sein.<br />

Je geringer das Hippocampus-Volumen von Kriegsveteranen mit PTSD, desto<br />

ernster die Symptomatik! Dass das geringe Hippocampusvolumen dem Trauma<br />

vorausging und nicht erst durch dieses ausgelöst wurde, konnte dadurch<br />

sichergestellt werden, dass man sich auch die Zwillingsbrüder der Soldaten<br />

anschaute, die nicht im Krieg waren, und feststellte, dass auch sie ein geringeres<br />

Hippocampusvolumen aufwiesen.<br />

13.5.4. Prävention gegen PTSD bei Einsatzkräften<br />

Eine epidemiologische Studie der LMU München zur Belastung von<br />

Feuerwehrmännern in Bayern brachte folgende Ergebnisse:<br />

2-3% der Befragten erfüllten die Diagnosekriterien einer PTSD!<br />

Damit ist das Risiko einer PTSD bei Feuerwehrmännern 3 Mal so hoch wie<br />

bei Männern (≤ 25 Jahren) der Allgemeinbevölkerung!<br />

Im Durchschnitt litten die Betroffenen bereits seit 6 Jahren an der Störung!<br />

(Risiko-)Faktoren, die die Entstehung einer PTSD begünstigen, waren:<br />

Hohe Einsatzzahlen (Allgemeine Belastung)<br />

Persönliche unmittelbare Betroffenheit<br />

Führungsaufgaben (besonderer Dienstgrad)<br />

Negative Bewertung eines Einsatzes und Selbstvorwürfe<br />

Diese Faktoren klärten jedoch lediglich 40% der Gesamtvarianz auf!<br />

Die größte Ressource ist Unterstützung durch Kameraden<br />

Es besteht der Wunsch nach angemessener Beratung<br />

Ein Problem ist, dass Einsatzkräfte die Symptome einer PTSD selten eingestehen:<br />

Zum einen aus Angst davor, gekündigt zu werden, zum anderen weil solche<br />

Symptome dem Stereotyp des tapferen Feuerwahrmanns widersprechen!<br />

Prävention:<br />

Es lassen sich 2 Arten von Prävention unterscheiden:<br />

1. Primäre Prävention: Vermittlung spezifischen Wissens und spezifischer<br />

Fertigkeiten an Risikogruppen, Stärkung vorhandener Ressourcen und<br />

Etablierung von Hilfsnetzwerken!<br />

Bisher gibt es dazu in Deutschland kaum übergreifende Konzepte<br />

2. Sekundäre Prävention: Psychosoziale Akutversorgung nach belastenden<br />

Einsätzen<br />

Bisher sind die Nachbesprechungen nach Feuerwehreinsätzen in<br />

Deutschland vorwiegend technischer Art!<br />

155


Experimentelle Befunde:<br />

Eine ebenfalls von der LMU durchgeführte Studie zur Wirksamkeit<br />

sekundärer Prävention bei der freiwilligen Feuerwehr zeigte, dass es zwischen<br />

verschiedenen Formen des „Debriefings“ (Nachbesprechung) keine(!)<br />

signifikanten Unterschiede gibt: Verglichen wurden a) eine Kontrollgruppe<br />

ohne Nachsorge („Screening“, b) „Standard Debriefing“, c) eine abgewandelte<br />

Form dieses Debriefings und e) eine unspezifische Nachsorge.<br />

Ergebnis: Die PTSD-Symptomatik war 6 Monate nach dem Einsatz in<br />

allen Gruppen mehr oder weniger gleich (wie gut, dass man so eine Studie<br />

in die Vorlesung mit aufnimmt!)!<br />

13.5.5. Therapie<br />

Die wichtigsten Behandlungsziele sind:<br />

1. Elaboration des Traumagedächtnisses und kontextuelle Einordung der<br />

traumatischen Gedächtnisinhalte, um auf diese Weise die Intrusionen zu<br />

reduzieren!<br />

2. Veränderung der problematischen Interpretationen, die das Gefühl aktueller<br />

Bedrohung hervorrufen!<br />

3. Aufgabe der dysfunktionalen Verhaltensweisen und kognitiven<br />

Verarbeitungsstrategien, mit Hilfe derer die Patienten das Gefühl der<br />

Bedrohung zu kontrollieren bzw. zu vermeiden versuchen!<br />

Die Methode der Wahl sind Expositionsverfahren (in vivo, in sensu oder in virtueller<br />

Realität)<br />

Vorgehensweise: Z.B. mit einem Vergewaltigungsopfer an den Tatort<br />

zurückkehren und den Tathergang rekonstruieren<br />

Wirkweise: Habituation an traumarelevante Reize, Löschung der konditionierten<br />

Furchtreaktion, Aufgabe des Vermeidungsverhaltens, Elaboration und kognitive<br />

Umstrukturierung (Gefahr wird nicht mehr übergeneralisiert, zwischen „damals“<br />

und „heute“ kann besser unterschieden werden,…) etc.<br />

Probleme: Starke Widerstände auf Seiten des Patienten; vorübergehende<br />

Belastungssteigerung; es besteht die Gefahr, den Kontakt zum Hier und Jetzt zu<br />

verlieren; viele traumatische Ereignisse lassen sich nur schwer simulieren (z.B.<br />

Umweltkatastrophen, Krieg etc.) => Lösung: Virtuelle Realität!<br />

Expositionsverfahren in virtuellen Realitäten haben sich bei unterschiedlichen<br />

Traumata als äußerst wirksam erwiesen:<br />

11. September: graduelle Exposition in 11 Stufen (1. Stufe: Tag in New York mit<br />

Blick aufs WTC 11. Stufe: vollständige Simulation des Anschlags)<br />

Ergebnis: Bei 5 von 9 Patienten (von denen 6 mit Hilfe traditioneller<br />

Verfahren nicht geheilt worden waren) konnten die Symptome in 14<br />

Sitzungen so weit reduziert werden, dass sie keine Diagnose mehr erfüllten!<br />

Ähnlich positive Ergebnisse konnten z.B. mit Vietnam-Veteranen (virtuelles<br />

Kriegsszenario) und Verkehrsunfallopfern erreicht werden!<br />

156


13.6. Generalisierte Angststörung<br />

13.6.1. Das Wichtigste in vier Sätzen:<br />

Definition: Die generalisierte Angststörung (auch frei fluktuierende Angst genannt)<br />

ist durch übermäßige Sorgen und Angst gekennzeichnet – und zwar bezogen auf<br />

mehrere, meist alltägliche Situationen (Krankheit, Arbeitsplatz, soziale Beziehungen<br />

etc.)<br />

Weitere Symptome: Ruhelosigkeit, vegetative Übererregtheit, erhöhte<br />

Muskelanspannung, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten etc.<br />

Das Hauptsymptom der generalisierten Angst ist die Sorge; sofern sie von<br />

negativen Emotionen ablenkt wird sie negativ verstärkt!<br />

Epidemiologie:<br />

Die Prävalenz der Störung liegt bei etwa 5%; nur wenige begeben sich aber in<br />

Behandlung!<br />

Das Geschlechterverhältnis liegt bei 2:1 (Frauen sind also doppelt so häufig<br />

betroffen wie Männer)<br />

Ätiologie:<br />

Kognitiv-Lerntheoretischer Ansatz: Generalisierung konditionierter<br />

Angstreaktionen, negative Verstärkung der Sorge; gelernte Hilflosigkeit!<br />

Biologischer Ansatz: Blockierung des GABA-Systems, aufgrund derer die Angst<br />

nicht mehr gehemmt werden kann!<br />

Therapie:<br />

Entspannungstraining<br />

Vermittlung von Kompetenz und Selbstwirksamkeit<br />

Entkatastrophisieren<br />

Anxiolytika (z.B. Benzodiazepine wie Valium)<br />

157


14. Sonstige Störungen<br />

14.1. Psychophysiologische Störungen:<br />

14.1.1. Allgemeines:<br />

Definition: Psychophysiologische Störungen haben im Gegensatz zu somatoformen<br />

Störungen tatsächlich eine physiologische Grundlage, ihre Entstehung und<br />

Verschlimmerung wird jedoch durch psychische Faktoren, insbesondere Stress, stark<br />

beeinflusst.<br />

Beispiele sind: Tinnitus, Asthma, Neurodermitis, Magen-Darm-Geschwüre,<br />

kardiovaskuläre Erkrankungen (Störungen des Herzkreislaufsystems)!<br />

Im DSM-IV und der ICD-10 bilden psychophysiologische Faktoren keine eigene<br />

Kategorie, sondern werden unter physiologischen Krankheiten geführt.<br />

Im DSM-IV gibt es die Möglichkeit, psychophysiologische Störungen auf Achse<br />

III („medizinische Krankheitsfaktoren“) zu kodieren.<br />

Psychophysiologische Störungen werden v.a. durch Stress hervorgerufen bzw.<br />

verschlimmert (s.o.):<br />

Über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse kann Stress auf<br />

lange Sicht zu einer Beeinträchtigung des Immunsystems führen.<br />

Um Stress adäquat zu verarbeiten und die subjektive Belastung möglichst gering<br />

zu halten, bedarf es geeigneter Copingstrategien (kontraproduktiv sind Flucht<br />

und Vermeidung)<br />

14.1.2. Konkrete Beispiele<br />

Kardiovaskuläre Erkrankungen (Störungen des Herz-Kreislauf-Systems):<br />

Bluthochdruck (essentielle Hypertonie): erhöht die Wahrscheinlichkeit für einen<br />

Herzinfarkt oder Schlaganfall; ein prädisponierender Faktor für die Entwicklung<br />

von Hypertonie scheint Ärger zu sein!<br />

Koronare Herzkrankheiten (Angina Pectoris und Herzinfarkt =><br />

Durchblutungsstörungen): Risikofaktoren sind ein hohes Alter, männliches<br />

Geschlecht, Nikotin- und Alkoholkonsum, hoher Blutdruck (s.o.), erhöhter<br />

Cholesterinspiegel, Fettleibigkeit und Bewegungsarmut sowie ein stark<br />

leistungs- und wettbewerbsorientierter Lebensstil (Typ-A-Verhaltensmuster)<br />

Asthma:<br />

Wird meist durch Allergene oder Infektionen ausgelöst, wird aber auch durch<br />

psychische Faktoren beeinflusst!<br />

Chronische Schmerzen:<br />

Eine rein medizinische Behandlung chronischer Schmerzen reicht nicht aus;<br />

darüber hinaus muss den Patienten beigebracht werden, mit den Schmerzen<br />

besser zu leben (Training kognitiver Bewältigungsstrategien, Vermittlung von<br />

Copingstrategien, Entspannungsübungen, Biofeedback etc.)<br />

Aids: Hier kann die Psychologie präventiv wirksam werden!<br />

158


14.2. Sonstiges<br />

14.2.1.Sexuelle Störungen:<br />

Im DSM-IV und ICD-10 werden 3 Hauptgruppen von sexuellen Störungen<br />

unterschieden:<br />

1. Geschlechtsidentitätsstörung („Transsexualität“):<br />

Personen, die sich i.d.R. von früher Kindheit an dem entgegengesetzten<br />

Geschlecht zugehörig fühlen.<br />

Als Ursachen werden diskutiert: hormonelle Einflüsse und<br />

Sozialisationseinflüsse<br />

Behandlung: Operative Geschlechtsumwandlung und/oder<br />

psychotherapeutische Begleitung<br />

2. Paraphilien:<br />

Liegen vor, wenn sich die Betroffenen für ungewöhnliche („para“=„neben“)<br />

Objekte und/oder Praktiken begeistern („philia“=„Liebe“)<br />

Beispiele: Fetischismus (sexuelle Attraktion unbelebter Objekte),<br />

Transvestismus (Frauenkleider), Exhibitionismus, Pädophilie, Voyeurismus,<br />

sexueller Masochismus, sexueller Sadismus, Nekrophilie etc.<br />

Behandlung: kognitiv-behavioral, medikamentös<br />

3. (Nichtorganische) sexuelle Funktionsstörungen:<br />

Sexuelle Störungen sind Störungen des normalen sexuellen Reaktionszyklus<br />

(Masters & Johnson: Appetenzphase => Erregungsphase => Orgasmusphase<br />

=> Entspannungsphase); sie werden in vier Gruppen unterteilt:<br />

Störungen der sexuellen Appetenz (z.B. Lustlosigkeit)<br />

Störungen der sexuellen Erregung (z.B. Erektionsprobleme)<br />

Orgasmusstörungen (z.B. Ejaculatio Praecox)<br />

Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen (z.B. Vaginismus)<br />

14.2.2. Störungen in Kindheit und Jugend<br />

Geistige Behinderung (DSM-IV) / Intelligenzminderung (ICD-10):<br />

Diagnosekriterien:<br />

deutlich unterdurchschnittlicher IQ<br />

IQ zwischen 55 und 70: leichte geistige Behinderung<br />

IQ unter 25: schwerste geistige Behinderung<br />

eingeschränkte Anpassungsfähigkeit<br />

Beginn vor dem 18. Lebensjahr<br />

Ursache meist organischer Art: z.B. Drogenkonsum während der<br />

Schwangerschaft; Hirnhautentzündung; Trisomie 21 (=Down-Syndrom) etc.<br />

Umschriebene Entwicklungsstörungen:<br />

Lernstörungen: Legasthenie und Diskalkulie<br />

Kommunikationsstörungen: was der Name sagt<br />

Störungen der motorischen Fertigkeiten: was der Name sagt<br />

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen: ausgeprägte und tiefgreifende<br />

Beeinträchtigung in mehreren Bereichen<br />

Frühkindlicher Autismus:<br />

Manifestiert sich vor dem 3. Lebensjahr<br />

Die Kernsymptome sind:<br />

- Starke Beeinträchtigung der sozialen Interaktion<br />

- Starke Beeinträchtigung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit<br />

159


- Stark eingeschränkte (stereotype und repetitive) Interessen und<br />

Verhaltensweisen (zwanghaftes Festhalten an Ritualen etc.)<br />

Geht meist mit drastischer Intelligenzminderung einher!<br />

Asperger Syndrom:<br />

Manifestiert sich nach dem 3. Lebensjahr<br />

Soziale Interaktion, Kommunikationsfähigkeit und Interessen sind zwar<br />

ebenfalls eingeschränkt, aber: keine gravierende Beeinträchtigung der<br />

Sprachentwicklung und meist normale bis überdurchschnittliche Intelligenz<br />

(Hochbegabung!)<br />

Unterkontrollierte Verhaltensstörungen: Störungen mit unterkontrolliertem<br />

Verhalten<br />

ADHS: siehe oben<br />

Störung des Sozialverhaltens<br />

Störung mit oppositionellem Trotzverhalten<br />

Überkontrollierte Verhaltensstörungen:<br />

Trennungsangst<br />

Phobische, überempfindliche, depressive Störungen<br />

Störungen der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung:<br />

Fütter- und Essstörungen im Säuglings- oder Kleinkindalter<br />

Enuresis (Bettnässen)<br />

Wird u.a. mit Hilfe von Warnsystemen behandelt (klassisch: das<br />

„Klingelkissen“); außerdem: Training der Beckenbodenmuskulatur,<br />

operante Verfahren etc.<br />

Ticstörungen:<br />

Vorübergehende Ticstörungen<br />

Chronische motorische oder vokale Ticstörungen<br />

Kombinierte vokale und multiple motorische Ticstörung (Tourette-Syndrom)<br />

Störungen sozialer Funktionen:<br />

Z.B. selektiver Mutismus<br />

Darüber hinaus können die meisten Störungen, die üblicherweise erst im<br />

Erwachsenenalter auftreten (substanzinduzierte Störungen, Schizophrenie,<br />

Angststörungen etc.), auch schon im Kindesalter einsetzen!<br />

14.2.3. Psychische Störungen im Alter<br />

Unter Demenz versteht man eine progressive Verschlechterung der intellektuellen<br />

Fähigkeiten.<br />

Demenzen können verschiedene Ursachen haben:<br />

Alzheimer (der häufigste Grund): fortschreitende Atrophie der<br />

Großhirnrinde durch Proteinablagerungen (sog. Plaques) in den Zellkörpern<br />

der Neuronen; starke genetische Komponente (Mutation des Chromosoms<br />

21)<br />

Fronto-temporale Demenzen: Atrophie von Neuronen im Frontal- und<br />

Temporallappen<br />

Vaskuläre Demenzen: durch Durchblutungsstörungen im Gehirn<br />

hervorgerufen (Risikofaktoren sind dieselben wie bei kardiovaskulären<br />

Erkrankungen: s.o.)<br />

160


Abgegrenzt werden müssen Demenzen von Depressionen und Delirien: bei<br />

letzteren handelt es sich um plötzliche Bewusstseinstrübungen, die mit massiven<br />

Denk-, Gefühls- und Verhaltensstörungen einhergehen.<br />

Im Ggs. zu Demenzen sind Delirien, wenn ihre Ursache (z.B. Fieber, Mangelernährung,<br />

Substanzmissbrauch) frühzeitig erkannt wird, meist reversibel.<br />

Die Häufigkeit psychischer Störungen ist in der Altersgruppe der über 65-Jährigen<br />

zwar am geringsten; trotzdem leiden ca. 20% unter Depression, Angst oder anderen<br />

Störungen.<br />

Die Suizidrate ist bei den über 65-Jährigen (Männern) um das 3-fache erhöht!<br />

Die häufigsten Gründe sind: körperliche Krankheiten, finanzielle Bedrängnis,<br />

Verlust geliebter Menschen, soziale Isolation und Depression!<br />

The End<br />

161

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