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adar essay/esej/есе/эсэ<br />

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Andererseits kann<br />

man nun wahrlich<br />

nicht behaupten, wir<br />

wären der Arbeit allzu<br />

sehr zugetan. Der<br />

Belarusse ist durchaus<br />

kein Workaholic,<br />

also jemand, dem eine<br />

sinnlose Arbeit auch<br />

noch Genuss bereitet.<br />

Eher im Gegenteil:<br />

Normalerweise arbeiten<br />

unsere Menschen<br />

aus Zwang. Daher<br />

auch die vielen Sprichwörter<br />

und Wendungen:<br />

„Der Herr hat viele<br />

Tage“, „Wie viel du<br />

auch schaffst, alles<br />

schaffst du nicht“, „Arbeit<br />

zieht Arbeit nach<br />

sich“.<br />

Und als Antwort hört man:<br />

„Tu, was du tust, und es wird, wie es wird.“<br />

Klar, ein Außenstehender wird danach nicht einmal<br />

ansatzweise etwas verstanden haben.<br />

Deshalb halten viele uns für verschroben und versuchen<br />

bisweilen, uns nach ihrem Maß zurechtzubiegen.<br />

Unter den Polen versuchte man, uns den Schnaps abzugewöhnen.<br />

Weil Arbeit und Langeweile blieben, wurde<br />

aber nichts daraus.<br />

Unter den Russen versuchte man, uns die Arbeit abzugewöhnen.<br />

Weil Schnaps und Langeweile blieben, wurde<br />

aber auch hieraus nichts.<br />

Vielleicht wird jemand versuchen, uns zugleich von der<br />

Arbeit und vom Schnaps zu erlösen, doch daraus wird<br />

ebenfalls nichts, denn es gibt keine Kraft der Welt, die<br />

imstande wäre, den Belarussen von seiner Langeweile<br />

zu befreien, wenn er plötzlich die Hände in den Schoß<br />

legen und mit sich allein bleiben muss...<br />

Andererseits kann man nun wahrlich nicht behaupten,<br />

wir wären der Arbeit allzu sehr zugetan. Der Belarusse ist<br />

durchaus kein Workaholic, also jemand, dem eine sinnlose<br />

Arbeit auch noch Genuss bereitet. Eher im Gegenteil:<br />

Normalerweise arbeiten unsere Menschen aus Zwang.<br />

Daher auch die vielen Sprichwörter und Wendungen:<br />

„Der Herr hat viele Tage“, „Wie viel du auch schaffst,<br />

alles schaffst du nicht“, „Arbeit zieht Arbeit nach sich“.<br />

Kurz gesagt, wir knien uns nicht allzu gern in unsere<br />

Arbeit hinein, wir haben lediglich keine andere Wahl.<br />

Für den Belarussen ist die Arbeit eben nicht etwa das,<br />

was dem Menschen seinen Lebensunterhalt sichert,<br />

sie ist vielmehr der Ort, an dem man lebt.<br />

Wie das gekommen ist, lässt sich leicht erklären.<br />

Weder Haus noch Hof gehören einem jemals ganz, solange<br />

man kein eigenes Land hat, das einen vor den gierigen<br />

Blicken der Fremden schützt. Als wir keinen Verteidiger<br />

dieser Art hatten, konnten uns alle möglichen Eindringlinge<br />

jederzeit unsere Häuser nehmen, uns von unseren<br />

Höfen vertreiben und auf den schon bestellten Äckern<br />

ihr eigenes Unkraut säen.<br />

Und doch gibt es etwas, das kein Plünderer rauben kann,<br />

solange der Mensch lebt, nämlich dessen eigener Hände<br />

Arbeit...<br />

Als die Juden aus ihrer historischen Heimat vertrieben<br />

wurden, suchten sie sich ein himmlisches Vaterland.<br />

Als man die Belarussen nicht mehr Herr auf ihrer eigenen<br />

Erde sein ließ, machten sie sich die Arbeit zur Heimat.<br />

„Arbeite fleißig und ohne Verdruss, und du findest selbst<br />

hier ein Vilnius“, sagen die Belarussen und meinen damit,<br />

dass die Arbeit an sich schon Vilnius, Jerusalem und auch<br />

alles andere ist.<br />

Die Arbeit ist des Belarussen Haus des Seins. Und genau<br />

deshalb fühlen wir uns gleich wie Heimatvertriebene,<br />

wenn unsere Hände nichts zu tun haben (und fangen<br />

sofort an, uns zu langweilen oder Schnaps zu trinken).<br />

Apropos Hände. Bei meiner längst verstorbenen Großmama<br />

habe ich sie nur auf Fotos reglos gesehen. Und später<br />

im Sarg. Einmal saßen wir zusammen auf der Treppe<br />

vor ihrem Haus. Sie schälte Kartoffeln und erzählte etwas,<br />

und ich erfreute mich daran, wie wunderschön sie<br />

sprach. Heute weiß ich nicht mehr, worum es damals<br />

ging, ich erinnere mich nur, wie sie unter anderem ganz<br />

beiläufig sagte: „Der Tag, an dem man stirbt, ist ein verlorener<br />

Tag.“<br />

Ich war erschüttert. Wie konnte es sein, dass es ihr zu<br />

einer Zeit, da ihre langen Jahre bereits zur Neige gingen,<br />

da diese dunkel gewordenen, völlig rissigen Hände schon<br />

so einen gewaltigen Berg Arbeit abgetragen hatten, nicht<br />

um ihr Leben leid tat, sondern um die Arbeit, die sie am<br />

Tag ihres Todes nicht würde bewältigen können...<br />

Es war unglaublich!<br />

Natürlich dachte ich damals nicht im Traum daran, dass<br />

ich Jahre später versuchen würde darzulegen, wie die<br />

Belarussen arbeiten können. Als ich dann über das gewählte<br />

Thema nachsann, wurde mir sehr schnell klar:<br />

Es ist kein besonderes Können, das uns hier von anderen<br />

unterscheidet. Was soll man schon von sieben großen<br />

Weltwundern reden, wenn wir noch nicht einmal imstande<br />

sind, einen winzigen Floh mit Hufeisen zu beschlagen<br />

Gleichzeitig begriff ich, dass wir etwas viel Wesentlicheres<br />

beherrschen als irgendein Weltwunder zustande zu<br />

bringen – es ist die Arbeit selbst, die wir beherrschen.<br />

Und wir können das wie kaum jemand sonst, was unsere<br />

lange Vergangenheit belegt, in deren Verlauf uns vor der<br />

Unbill der Geschichte weder Burgen noch Truppen noch<br />

Geld zu schützen vermochten, sondern einzig unser eigener<br />

Hände Arbeit. Übrigens, wie viele Völker und Reiche,<br />

die einst so stolz die Welt beherrschten, sind in dieser<br />

Zeit wie auf Zuruf einfach verschwunden, und wir, die<br />

wir vor lauter Arbeit von der Welt nichts gesehen haben,<br />

wandeln nun schon im dritten Jahrtausend nach Christi<br />

Geburt unter der Sonne.<br />

Betrachten Sie daher auch meine folgenden Worte nicht<br />

als leere Floskel: Nicht für diese Welt, sondern für die<br />

Arbeit wurden die Belarussen geschaffen. Eben Letzteres<br />

war mir nicht bewusst, als ich mich die Worte meiner<br />

geliebten Großmama so sehr erschütterten: „Der Tag,<br />

an dem man stirbt, ist ein verlorener Tag.“<br />

Inzwischen tue ich es ihr gleich und sage: Ich weiß zwar<br />

nicht, wann mich mein letzter Tag ereilt, aber ich vermute<br />

heute schon: Es wird der müßigste Tag meines Lebens sein.<br />

[Übersetzung: Steffen Beilich]<br />

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