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adar prosa/proza/проза/проза<br />
84<br />
Dawid Kornaga Dawid Kornaga<br />
ERLINAWA<br />
ERLINAWA<br />
Berghain, am Wriezener Bahnhof, Sonnabend, nach drei<br />
Uhr morgens<br />
Menschen mögen Sex. Ola mag Züge. Nach ausreichend<br />
Zugfahren mag sie auch Sex. Besonders nach der Strecke<br />
Warschau-Berlin wächst ihr Lebensheißhunger mit der<br />
Geschwindigkeit einer Raupe, die auf feuchtes Laub<br />
gestoßen ist. Im gutgeheizten Unterteil von Olas Libido<br />
springt dann ein kleiner Motor an und denkt nicht daran,<br />
zu bremsen. Das ist ihr Fahrplan, die Endstation kommt<br />
erst später. Die Ruhestation, die Station, an der Ola Ola<br />
ist in ihrer ganzen Olaschen Großartigkeit.<br />
Wieviel davon ist Schein Wieviel Sein – Das weiß nur<br />
Ola, und wir können es nicht herausfinden, können<br />
sie nicht aufbrechen wie eine Auster und alle ihre<br />
Bewusstseinssäfte heraussaugen.<br />
Berghain. Es gibt so viele interessante Orte in der Nähe,<br />
etwa das Maxim, das noch aufhat, wenn andere Klubs<br />
geschlossen haben, wo die Berliner Celebrities aus der<br />
Rap-Welt abhängen und in ihrem Anhang jede Menge<br />
ebenso talentierter Nachahmer und von leichten Drogen<br />
entspannter Groupies.<br />
Aber Ola landet letztendlich, unwiderruflich und am<br />
häufigsten die ganze Nacht im Berghain. Manchmal nur<br />
die halbe Nacht, wenn sie jemanden kennenlernt und<br />
sich mit diesem Jemand unterhält, mit ihm tanzt, sich<br />
ihm annähert oder den Moment zwischen Annäherung<br />
und ostentativen Zärtlichkeiten überschreitet.<br />
Ola kennt die Erwartungen beider Geschlechter an ihren<br />
Körper ganz genau. Ganz bestimmt keine Sensibilität,<br />
keine sogenannte Seele und andere Nebensächlichkeiten.<br />
Sonst wäre sie ja nicht hier. Sonst säße sie im Rahmen<br />
des dreimonatigen Übersetzerkurses für Fortgeschrittene<br />
am Goethe-Institut, den sie vor zwei Tagen angefangen<br />
hat, vor der Datei mit einem mehrseitigen Fragment von<br />
Charlotte Roches Schossgebeten.<br />
„Wie heißt du” fragt irgendein Er.<br />
„Ola”, erwidert Ola.<br />
„Wie heißt du“ fragt irgendeine Sie.<br />
„Ola”, erwidert Ola.<br />
„Woher kommst du” fragt das jeweilige Geschlecht.<br />
„Und woher kommst du” fragt Ola zurück.<br />
„Na, von hier.”<br />
”Ich aber nicht”, sagt Ola nur.<br />
„Woher dann”<br />
„Ist das wichtig, wo ich doch hier bin”<br />
„Wahrscheinlich nicht”, gibt das jeweilige Geschlecht zu.<br />
„Dann reden wir nicht weiter drüber”, schlägt Ola vor.<br />
Und ohne auf eine sogenannte Erlaubnis zu warten, lenkt<br />
sie ihre Lippen auf die Lippen des jeweiligen Geschlechts.<br />
Sie fühlt keinerlei Ekel. Sie fühlt keinerlei Zweifel außer dem<br />
einen kleinen, dass sie das hätte früher machen können, nicht<br />
jetzt, oder überhaupt nicht. Sie holt Verpasstes nach und<br />
bedauert zugleich, Verpasstes nachzuholen.<br />
Im Berghain werden die Ohren nicht geschont. Die Musik<br />
durchdringt die Gedanken, schluckt sie, verdaut sie,<br />
scheidet sie nicht mehr aus. Die Bässe geißeln jeden Laut,<br />
die Leute verstehen sich kaum, und genau darum geht es.<br />
Je schlechter sie sich hören, umso besser für sie.<br />
Ola trinkt einen Drink aus, fängt einen Drink an. In Klubs<br />
trinkt sie kein Bier, Bier ist schlecht für ihre Libido. Nur<br />
Schnaps gibt ihr Energie. Und ein paar andere Details,<br />
etwa das Bewusstsein der Stadt als solcher.<br />
Vor langer, langer Zeit, als Mobiltelefone noch wie kleine<br />
Langstreckenraketen aussahen, setzte sich Berlin via<br />
Love Parade in Szene. Millionen zuckender Körper, das<br />
Fest des Sommers, das Fest des energetischen, dank<br />
einiger kreativer chemischer Mischungen sogar sehr<br />
energetischen Menschen. Das Fest der Europäischen<br />
Union, die sich nach dem Trauma der Berliner Mauer und<br />
des Kalten Krieges im Europäischen Fiskal- und Sexual-<br />
Pakt zusammengeschlossen hat, liebe Kinder, Enkel und<br />
Urenkel der Zukunft. Als die Zeit der Techno-Ernten<br />
endete, die DJs sich Überdosen gaben, die Schnittchen<br />
alt und schlaff und unansehnlich wurden, nahm eine<br />
neue Generation die Gated Communities in Besitz. Aus<br />
offener Straße wurde Untergrund. Scheinbar mehr<br />
Ordnung, aber im Grunde totales Chaos. Berlin verkam,<br />
und mit ihm die Alteingesessenen und die Zugezogenen.<br />
Berlin ging den Bach runter, als der wütende Rap<br />
aus den Randbezirken explodierte, zu erkennen an<br />
einem oder sogar zwei Mittelfingern. Sido & Bushido,<br />
Fler und andere böse Jungs, fähig und reizbar wie<br />
ein Schäferhund, der hungrig von der Leine gelassen<br />
wird. Die Alternativen-Maschine setzte sich in Gang,<br />
die Grünen, der Regenbogen, die gesamte Palette des<br />
Off. Currywurst für unter zwei Euro, schrien sie. Sie<br />
beherrschten den Überbau, in der festen Überzeugung,<br />
dass sowieso keiner aufmuckt, Berlin bleibt eine<br />
marginale Kleinstadt, beharrten sie. Die Basis scherte sich<br />
einen Dreck darum, sie baute neue Potsdamer Plätze,<br />
neue U-Bahn- und S-Bahn-Linien, neue Einkaufscenter,<br />
neue Bürogebäude, und, vollkommen unvorstellbar<br />
und geradezu ein Ding der Unmöglichkeit, neue Döner-<br />
Buden, die den Sanitär-Vorschriften entsprachen. Die<br />
Alternative wurde zum Mainstream, und der Mainstream<br />
wurde zu VIVA.<br />
Die Basis ging in Führung. Der Überbau ging<br />
underground. Zurzeit funktionieren sie nach dem<br />
Prinzip der Gegensätze. Das einzige Kapital dieser Stadt<br />
ohne touristische, aber mit jeder Menge existentieller<br />
Attraktionen.<br />
Eine davon ist Ola, wenn sie im Berghain ihre Glieder<br />
räkelt. Und ihre Zweifel.<br />
Ola versucht die verlorenen Tage, Monate, Jahre hinter<br />
sich zu lassen, die ihr Trost und Aussöhnung mit dem<br />
Leben bringen sollten, aber nicht brachten. Dumm war<br />
sie, dachte an Stabilität und dachte, irgendwie wird<br />
das schon. Stabilität, das ist im Aquarium, wenn man<br />
vergisst, das Wasser zu wechseln; das Wasser stinkt, und<br />
die Fische gehen ein. Ola will aber ein Fisch mit Flügeln<br />
sein, und wenn schon kein Fisch, dann wenigstens ein<br />
Frosch, auch mit Flügeln, und zwischen den Becken hinund<br />
herhopsen.<br />
In die Tonbündel auf der Tanzfläche gehüllt, sagt sich<br />
Ola, ich war ein kleines polnisches Mädchen, das Idylle<br />
wollte und keine Ahnung hatte, dass dieses Wort nur<br />
in Wörterbüchern existiert. Eine dumme Ziege war ich,<br />
träumte nur von einer Wiese, auf der ich Gras rupfen und<br />
glücklich meckern würde. Ich war Polin, Warschauerin,<br />
Berlinerin, und was ich jetzt bin, weiß ich nicht, vielleicht<br />
finde ich es heraus, vielleicht auch nicht, aber auch dann<br />
werde ich es niemandem sagen, nicht einmal mir selbst.<br />
Ich bin Ola.<br />
Warschau, warum hast du schon wieder Sehnsucht nach<br />
mir, flüstert Ola, wo ich doch gar keine Sehnsucht nach<br />
dir habe Wenn ich zurückkomme, werde ich dein sein,<br />
werde ich mich bemühen, dein zu sein. Jetzt bin ich<br />
Berlinerin, Berghainerin. An diesem Ort, den alle Kinder<br />
vom Bahnhof ZOO lieben würden, aber die würde keiner<br />
reinlassen, und wenn sie anfingen, zu protestieren,<br />
bekämen sie nur einen Tritt in ihre vom stundenlangen<br />
Herumsitzen auf harten Fußböden so müden Hinterteile.<br />
Ola reißt sich von jemandes Lippen los, dreht sich auf<br />
dem Absatz um, springt wie eine erfahrene Raverin<br />
nach der dritten Ecstasy-Pille in die Luft. Sie hat zu<br />
viel Wodka getrunken, bevor sie herkam, sie hat zu<br />
viel Wodka getrunken, seit sie herkam, sie denkt mit<br />
Gedankenresten.<br />
Mit geschlossenen Augen drängt sie sich durch die<br />
Menge und zu einer der Toiletten. Vor ihr mindestens ein<br />
Dutzend Möchtegern-Gören in der Disziplinarschlange.<br />
Ola mit ihren einunddreißig Jahren und einem Monat,<br />
die anderen Schönheiten nur ein paar Jahre jünger, auch<br />
wenn sie auf sechzehn machen, nicht immer mit Erfolg.<br />
Ola vermischen sich die Worte, sie hört Deutsch, klar,<br />
eine Menge Englisch und Französisch, Arabisch. Ein<br />
pinkelnder Turm zu Babel.<br />
Die Kundschaft im Berghain unterscheidet sich zum<br />
Beispiel von der Kundschaft des Q-Dorf in der Nähe<br />
des berühmten Kudamms, wohin es Ola während ihres<br />
vorherigen Aufenthalts beim Anfängerkurs für Übersetzer<br />
einmal verschlagen hat. Jetzt ist sie fortgeschritten, jetzt<br />
verträgt sie mehr Alkohol, kein Wunder. Das Q-Dorf, ein<br />
gigantischer Spielplatz für Minderjährige und frische<br />
Studienanfänger überflüssiger Studiengänge; nach<br />
dem Abschluss landen sie in Discountern, Fast-Food-<br />
Restaurants und dunklen Partyhöhlen. Das Q-Dorf<br />
macht die Anwesenden mit dem tapfer unverschämten<br />
Hüftkreisen erotisierter Vortänzerinnen und Vortänzer<br />
auf der Insel-Bühne heiß. Hier kann man problemlos<br />
ohne Vorwarnung von jemandem eine aufs Maul kriegen,<br />
dem unser Dasein nicht passt. Personen im Alter von<br />
25 Jahren gelten hier als Senioren, die wie durch ein<br />
Wunder noch am Leben sind.<br />
Ins Berghain lassen sie selten jemanden, den sie ins<br />
Q-Dorf lassen.<br />
Sie ist an der Reihe, geht in die Kabine, setzt sich, lässt<br />
den zu lange angehaltenen Urin fließen. Als der letzte<br />
Tropfen gefallen ist, benetzt sie einen Finger mit Spucke,<br />
fährt dort entlang, wischt sich mit Toilettenpapier ab. Sie<br />
fühlt sich auf einmal unter Strom wie die Verurteilten auf<br />
den <strong>elektr</strong>ischen Stühlen, mit der Ausnahme, dass es in<br />
ihrem Fall keine Hinrichtung geben wird.<br />
Manchmal brauchen wir so furchtbar wenig zum<br />
Glücklichsein, denkt Ola, gut, dass die Typen davon keine<br />
Ahnung haben, die sich unseretwegen mit Schmuck,<br />
Abendessen und Auslandsreisen ruinieren.<br />
Sie geht zum Spiegel über dem Waschbecken, frischt ihr<br />
Make-up auf, erwidert das Lächeln der dunkelhaarigen<br />
Frau neben ihr, die sich die Wimpern nachtuscht.<br />
Ihre großen, nahöstlichen Augen lassen Olas ebenso<br />
große, blaue Augen nicht mehr los. Sie trägt eine rote,<br />
lange Tunika, darunter schwarze Hosen, die sofort<br />
in den unergründlichen Schäften ihrer Keilabsatzstiefel<br />
verschwinden. Ihre am oberen Ansatz leicht schiefe Nase<br />
zieht ganz unverhohlen mit adlerhafter Geschwindigkeit<br />
den Duft von Olas Parfüm ein, sie bläht ihre Nasenlöcher<br />
wie ein gefährliches Tier in der Tiefe des Ozeans. Ein<br />
<strong>radar</strong> prosa/proza/проза/проза<br />
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