Unterstützte Kommunikation - Haus Hall
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UNTER DER LUPE: Zur Selbstbestimmung assistieren?<br />
Impulse für das Projekt »Zukunft Wohnen«<br />
Angesichts bevorstehender Veränderungen der Wohnangebote sprechen Bewohner über ihre Vorstellungen,<br />
ihre Wünsche und Sorgen. Das war die Idee der beiden Open Space Veranstaltungen, die im Herbst stattfanden.<br />
Der Ablauf hat viele überrascht. Die Ergebnisse sind erstaunlich präzise.<br />
Im Vorfeld gab es die Befürchtung,<br />
wir würden unsere Bewohner mit einer<br />
solchen Veranstaltung völlig<br />
überfordern. Viele Mitarbeiter äußerten<br />
die Sorge, dass Bewohner<br />
nicht in der Lage sind, sich mit ihren<br />
Gefühlen und Meinungen in einem<br />
solchen Rahmen konstruktiv auseinander<br />
zu setzen. Diese kritische<br />
Sichtweise veranlasste uns, alles besonders<br />
sorgfältig und akribisch vorzubereiten.<br />
Dichte Atmosphäre<br />
Die Tagesveranstaltungen waren davon<br />
geprägt, dass die Bewohner sehr<br />
konzentriert an den Themen, die ihnen<br />
wichtig waren, gearbeitet haben<br />
– mit einer Intensität, die alle<br />
Mitarbeiter überrascht hat. Kaum einer<br />
hatte es vorher für möglich gehalten,<br />
dass die Bewohner sich so<br />
konstruktiv und differenziert mit den<br />
eher abstrakten Fragestellungen beschäftigen<br />
könnten. Für mich hat<br />
sich die Annahme völlig bestätigt,<br />
dass behinderte Menschen Experten<br />
in ihrer Sache sind, auch wenn dies<br />
in der Behindertenhilfe oft kritisch<br />
diskutiert wird. Viele Bewohner<br />
kannten sehr deutlich ihre Bedürfnisse<br />
und Wünsche und sie wissen<br />
außerdem um die Grenzen und<br />
Abhängigkeiten bei der Verwirklichung.<br />
Zum Tagesschluss haben<br />
die Teilnehmer selbst jeweils dem<br />
gesamten Plenum von rund 45 Personen<br />
– Mitbewohnern und Assistenten<br />
- vorgestellt, was sie in Kleingruppen<br />
erarbeitet hatten.<br />
Konstruktive Ergebnisse<br />
Einige Hauptpunkte lassen sich klar<br />
erkennen. Wenn es um die Neuplanung<br />
von Wohnangeboten geht,<br />
wünschen sich die Bewohner sehr<br />
deutlich und mehrheitlich Transparenz<br />
und Einbeziehung in Veränderungsprozesse<br />
- nicht nur mehr<br />
Informationen, sondern auch eine<br />
klare Mitbeteiligung. Auch das<br />
Ausprobieren neuer Wohnformen<br />
wurde häufig als Wunsch genannt.<br />
Im Zusammenleben wünschten sich<br />
12<br />
Lupe 63 - 2008<br />
die Bewohner vor allen Dingen größere<br />
Zeitfenster für Freizeitgestaltung<br />
und Gespräche. Oft wurde auch<br />
ein höherer Personalschlüssel genannt<br />
und eine geringere Fluktuation<br />
der Betreuer. Die Bewohner<br />
wünschten sich respektvolle, offene<br />
und auch gleichberechtigte Beziehungsgestaltung<br />
zu den Mitarbeitern.<br />
Was die äußeren Rahmenbedingungen<br />
für die Entwicklung neuer Wohnangebote<br />
angeht, wünschen sich die<br />
Bewohner kleinere Gruppengrößen,<br />
regelmäßige Gruppenaktivitäten und<br />
die Möglichkeit des Rückzugs, d.h.<br />
ein Einzelzimmer für jeden innerhalb<br />
differenzierter Wohnangebote. Einzelne<br />
wünschen sich die Beibehaltung<br />
bestehender Wohnformen.<br />
Die Bewohner haben vorgeschlagen,<br />
Freizeitangebote, die auf dem<br />
Stammgelände stattfinden, auch vermehrt<br />
für Menschen aus Gescher<br />
bzw. Coesfeld zugänglich zu machen<br />
und umgekehrt auch mit Freizeitgruppen<br />
das Gelände zu verlassen,<br />
um in der Stadt Teilhabe erfahren zu<br />
können.<br />
Es gab den großen Wunsch nach<br />
Erhalt des Arbeitsplatzes auch für<br />
den Fall, dass die Bewohner in eine<br />
neue Wohnstätte in einer anderen<br />
Stadt ziehen sollten.<br />
Fast alle wünschten sich mehr<br />
Autonomie in der Ausübung lebenspraktischer<br />
Tätigkeiten, z.B. in der<br />
Verwaltung ihres Geldes, und auch<br />
die Hilfestellung, um eine solche<br />
Autonomie zu erlernen und dann<br />
verantwortungsvoll leben zu können.<br />
Ein sehr wichtiges Thema gerade<br />
für die jüngeren Teilnehmer an den<br />
Veranstaltungen war die Gestaltung<br />
von Freundschaften und Partnerschaften.<br />
Dies ist nur ein sehr kleiner Auszug<br />
aus den vielfältigen Ergebnissen, die<br />
an den Tagen erarbeitet wurden.<br />
Wir müssen uns umstellen<br />
Ich war überrascht, wie diszipliniert<br />
und ernsthaft die Bewohner an den<br />
Themen gearbeitet haben und wie<br />
lange sie in der Lage waren, ihre<br />
Aufmerksamkeit und ihr Interesse so<br />
konstruktiv in die Arbeit einzubringen.<br />
Ich bin überzeugt: So müssen<br />
wir unseren Bewohnern auch im<br />
Alltag viel häufiger, ja immer begegnen,<br />
um sie nicht im Rahmen einer<br />
stationären Betreuung überzubehüten.<br />
Das Konzept von Fürsorge und<br />
Beschützen hat unsere Arbeit in<br />
<strong>Haus</strong> <strong>Hall</strong> lange geprägt. Aber die<br />
Menschen, die wir betreuen, zeigen<br />
uns deutlich, dass sie viel mehr können.<br />
Sie weisen uns zum Glück auf<br />
ihre Rechte hin: ihr Recht auf<br />
Mitbestimmung und Teilhabe, ihr<br />
Recht, die Angelegenheiten, die sie<br />
betreffen, mitgestalten zu wollen.<br />
Wir Mitarbeiter fühlen uns manchmal<br />
zurückgedrängt oder zurückgestuft<br />
in die Rolle eines Begleiters. Auch<br />
wir müssen uns verändern: Wir haben<br />
zu lernen, Menschen mit Behinderung<br />
die Verantwortung für ihr<br />
Leben zuzugestehen und sie selbstverantwortlich<br />
handeln zu lassen,<br />
ohne sie zu verlieren. Als Mitarbeiter<br />
ist es unsere Aufgabe, sie angemessen<br />
zu begleiten und zu unterstützen<br />
in dem, was sie sich wünschen und<br />
in ihrem Leben erreichen wollen.<br />
Carsten Eberson,<br />
Wohnbereichsleiter<br />
Dezentrales<br />
Wohnen, Coesfeld<br />
Das Projekt „Zukunft Wohnen“<br />
soll in den nächsten fünf Jahren<br />
die Dezentralisierung von 72 Wohnplätzen<br />
in neue Wohnstätten vorbereiten<br />
und durchführen. Gleichzeitig<br />
sollen Konzepte zur Weiterentwicklung<br />
der gegenwärtig vorhandenen<br />
Angebote erarbeitet und realisiert<br />
werden. Red.