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Unterstützte Kommunikation - Haus Hall

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UNTER DER LUPE: Zur Selbstbestimmung assistieren?<br />

Auch bei Schwerstbehinderung!<br />

In der Diskussion um Selbstbestimmung vergessen wir häufig Menschen<br />

mit schwerster Behinderung. Wir sprechen ihnen zwar nicht das Recht auf<br />

Selbstbestimmung ab, aber die praktische Umsetzung erscheint uns<br />

schwierig bis unmöglich.<br />

Selbstbestimmung bedeutet, dass<br />

eine Person ihre eigenen Vorstellungen,<br />

ihre Wünsche, ihr eigenes<br />

Wollen in wesentlichen Bereichen<br />

ihres Lebens umsetzen kann. Selbständigkeit<br />

ist zwar nicht Voraussetzung<br />

für Selbstbestimmung und<br />

darf auch nicht damit verwechselt<br />

werden, aber Selbständigkeit erleichtert<br />

natürlich selbstbestimmtes<br />

Leben.<br />

Selbstbestimmung steht aus unserem<br />

christlichen Menschenbild jedem<br />

Menschen unabhängig von<br />

seinen Fähigkeiten zu - aus der<br />

Achtung vor seiner Autonomie und<br />

Würde. Jeder Mensch hat das Recht,<br />

als unverwechselbare, einmalige<br />

Person ernst genommen zu werden.<br />

„Ich habe dich bei deinem Namen<br />

gerufen“, sagt uns Jesus.<br />

Selbsttätigsein und Selbstwirkung<br />

Für Menschen mit schwerster Behinderung<br />

hat nach Maslow zunächst<br />

die Befriedigung ihrer primären<br />

Bedürfnisse Vorrang. (Maslow nennt<br />

als basale Bedürfnisse die physiologischen:<br />

Ernährung, Wärme, Ruhe,<br />

Bewegung – und die Sicherheitsbedürfnisse:<br />

Geborgenheit, Schutz<br />

und Zuverlässigkeit). Deshalb werden<br />

sich auch die Möglichkeiten der<br />

Selbstbestimmung für sie in diesem<br />

Rahmen bewegen.<br />

Außerdem muss für schwerstmehrfachbehinderte<br />

Menschen das Konzept<br />

der Selbstbestimmung erweitert<br />

werden um die beiden<br />

Dimensionen: Selbsttätigsein und<br />

Selbstwirkung.<br />

Selbsttätigsein ist jede Form der<br />

selbst gesteuerten motorischen<br />

Aktivität. Selbsttätigsein ermöglicht<br />

eigenständige <strong>Kommunikation</strong> und<br />

ist Voraussetzung zur Erfahrung<br />

der Selbstwirkung. Selbsttätigsein<br />

macht unabhängiger, weil ein<br />

„Möglichkeitsraum“ eröffnet wird.<br />

Ein Beispiel: Jemand der seinen Arm<br />

hebt und etwas berührt, erfährt,<br />

dass er etwas in Bewegung setzt<br />

(seine persönliche Wirksamkeit),<br />

kann sich dadurch mitteilen, hat<br />

sich „entschieden“ (z.B. für die<br />

Bewegung), auch wenn dies kein<br />

bewusster kognitiver Entscheidungsprozess<br />

ist.<br />

Selbstwirkung bedeutet die Erfahrung,<br />

dass eigenes Tun etwas bewirkt;<br />

eine Eigenbewegung, eine eigene<br />

Handlung wird rezeptorisch<br />

über die Sinne (noch nicht als bewusste<br />

Aktivität) erlebt und gleichzeitig<br />

können die damit verbundenen,<br />

selbst ausgelösten Wirkungen<br />

wahrgenommen werden. Durch<br />

die wiederholte Erfahrung verknüpfen<br />

sich Handlung und Wirkung<br />

zur Selbst-Wirkung. Ein Beispiel:<br />

Jemand, der seinen Arm zufällig/spontan<br />

bewegt und damit einen<br />

herabhängenden Glockenstrang<br />

berührt und dann hört, dass eine<br />

Glocke erklingt, hat seine Bewegung<br />

über die Propriorezeptoren und einen<br />

Berührungsreiz über den Hautsinn<br />

wahrgenommen, hat zeitgleich<br />

einen Klang gehört (wahrgenommen)<br />

und lernt seine persönliche<br />

„Wirksamkeit“ (bei mehrfacher<br />

Wiederholung).<br />

In der Konsequenz bedeutet dies,<br />

dass sich Selbstbestimmung für<br />

schwerstbehinderte Menschen zunächst<br />

in den Lebensbereichen<br />

ereignet, in denen das Leben von<br />

ihnen im Selbst-Tätigsein, d.h. auf<br />

einer motorischen Handlungsebene<br />

gestaltet werden kann – und dass es<br />

unsere Aufgabe ist, im Alltag nach<br />

möglichst vielen Möglichkeiten der<br />

Entscheidung im Selbst-Tätigsein<br />

zu suchen.<br />

Welche Hand wäscht die andere?<br />

Ein einfaches Beispiel: Händewaschen.<br />

Mit welcher Hand beginnen?<br />

Selbstbestimmung ermöglichen<br />

würde bedeuten, den Bewohner<br />

eine Hand „reichen“ lassen<br />

(kleinste Bewegungen aufgreifen)<br />

statt eine Hand zu ergreifen – selbst<br />

wenn die Bewegung zunächst zufällig<br />

wäre. Indem die Bewegung aufgegriffen<br />

wird und damit Wir-<br />

Ein unmöglicher Job?<br />

Zur Selbstbestimmung assistieren –<br />

das ist doch eine unmögliche Formulierung,<br />

oder? Passt einfach nicht<br />

so richtig, wie so vieles, wenn es um<br />

Selbstbestimmung für Menschen mit<br />

geistiger Behinderung geht. Als<br />

Indien sich gegen seine Kolonialmacht<br />

England auflehnte, war es ein<br />

klarer Fall: der Kampf des Volkes<br />

für seine Selbstbestimmung, gegen<br />

seine Unterdrücker. Aber wenn es<br />

heute um Selbstbestimmung für<br />

Menschen mit Behinderung geht,<br />

sind es meist Pädagogen, die von<br />

Berufs wegen stellvertretend das<br />

Wort ergreifen.<br />

In der deutschen Behindertenhilfe<br />

ist das Thema angesagt und auch in<br />

der Stiftung <strong>Haus</strong> <strong>Hall</strong> steht es auf<br />

der Tagesordnung vieler Sitzungen.<br />

Zufall oder nicht: Die Diskussionen<br />

fallen in eine Zeit, in der die Preise<br />

für Betreuungsleistungen eine große<br />

Rolle spielen. Da kommt es dann<br />

schon einmal vor, dass individuelles<br />

Wohnen mit selbstbestimmtem Wohnen<br />

gleichgesetzt wird; dann ist der<br />

Auszug ins ambulant betreute<br />

Wohnen schnell vollzogen und billiger<br />

wird es auch noch, jedenfalls für<br />

den Kostenträger Landschaftsverband,<br />

der sich freut.<br />

Wenn in diesen Zeiten jemand für<br />

die Leitidee von Schutz und Fürsorge<br />

eintritt und sagt, dass es gerade<br />

ein Merkmal der geistigen Behinderung<br />

ist, dass die betroffenen<br />

Menschen niemals im vollen Sinne<br />

selbstbestimmt leben können – gehört<br />

der schon zu den ewig Gestrigen?<br />

Das Thema „Selbstbestimmung für<br />

Menschen mit geistiger Behinderung“<br />

steckt voller Ungereimtheiten.<br />

Es liegt ein großes Spannungsfeld<br />

zwischen der fürsorglichen Betreuung<br />

hilfsbedürftiger Menschen im<br />

Schonraum und ihrer Emanzipation<br />

innerhalb oder außerhalb einer<br />

Einrichtung. Da hilft es wenig, die<br />

Forderung nach Selbstbestimmung<br />

einfach nur als Parole, der keiner<br />

widersprechen will, zu wiederholen;<br />

notwendig ist vielmehr, die Chancen<br />

und Widersprüche im Alltag unter<br />

die Lupe zu nehmen.<br />

Michel Hülskemper, LUPE<br />

Lupe 63 - 2008 7

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