Cruiser Juni 2014
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CRUISER Edition <strong>Juni</strong> <strong>2014</strong><br />
Kolumne<br />
Beim Barte des<br />
Propheten<br />
Von Michi Rüegg<br />
Die Freude über Conchita Wursts Sieg am Song<br />
Contest war nur von kurzer Dauer. Schon wenige<br />
Tage nach ihrem Auftritt machte das Oberhaupt<br />
der serbisch-orthodoxen Kirche in Montenegro,<br />
Metropolit Amfilohije, eine unbequeme Wahrheit<br />
publik: Wurst ist Schuld an den verheerenden<br />
Überschwemmungen auf dem Balkan.<br />
Wir alle fragen uns an dieser Stelle natürlich:<br />
Wie konnte sie nur! Hat es ihr nicht gereicht,<br />
so viele Heterosexuelle und Berufsreligiöse in<br />
ihren Grundfesten zu verunsichern? Warum<br />
muss sie jetzt auch noch diesen armen Menschen<br />
entlang der ausufernden Donau ihr Hab,<br />
Gut und sogar Leben nehmen? Eine Drag-Künstlerin,<br />
die böse Unwetter heraufbeschwört, ist<br />
nun wirklich keine geeignete Botschafterin für<br />
die Sache der Schwulen, Lesben, Bi-, Trans- und<br />
Omnisexuellen.<br />
Andererseits: Vielleicht hat die orthodoxe Kirche<br />
einfach das Potenzial dieser Figur nicht erkannt.<br />
Gerade in einer Kirche, in der Barttragen<br />
zur Pflicht eines jeden Priesters gehört, könnte<br />
Wursts Erscheinung längst nötige Veränderungen<br />
anstossen. So ist auch in der Ostkirche die<br />
Frage nach der Frauenordination da und dort<br />
aufgetaucht. Der Druck progressiver Kreise,<br />
Frauen zum Priesteramt zuzulassen, mag zwar<br />
nicht ganz so gross sein wie in der römisch-katholischen<br />
Schwesterkirche. Dennoch, auch die<br />
Orthodoxen sehen sich mit gesellschaftlichen<br />
Veränderungsprozessen konfrontiert.<br />
Hier könnte das Modell Wurst zur Anwendung<br />
gelangen: Die Patriarchen wären gut beraten,<br />
die Gunst der Stunde zu nutzen. Sie könnten<br />
beschliessen, dass bärtige Frauen künftig zum<br />
Priesteramt zugelassen wären. Damit würden<br />
die Frauen der traditionellen Erscheinung gerecht<br />
werden und trotzdem frischen Wind in<br />
ihre angestaubte Religion bringen. Das entspräche<br />
ganz dem Sinn und Geist der alten christlichen<br />
Gemeinschaften: Gegen Aussen bliebe<br />
dank der Bärte der Schein gewahrt – wie es innen<br />
drin aussieht, ist ja seit je her eine andere<br />
Geschichte.<br />
Und weil ja – aus Gründen, die ich noch immer<br />
nicht restlos verstanden habe – bei der Ostkirche<br />
ordinierte Geistliche durchaus auch innerhalb<br />
der römisch-katholischen Kirche als Priester<br />
amten können, wäre dann auch in Rom ein<br />
seit Jahrzehnten diskutiertes Problem gelöst:<br />
Den bärtigen Priesterinnen wäre es erlaubt,<br />
auch katholische Pfarrämter zu übernehmen.<br />
Und auf diesem Weg wäre die Frauenordination<br />
über die Hintertür auch bei den Katholiken<br />
plötzlich möglich. Das Tragen von Frauenkleidern<br />
ist ja bereits bei männlichen Geistlichen<br />
weit verbreitet.<br />
Allerdings früge man in einem solchen Fall<br />
beim Anblick einer Truppe von Priestern und<br />
Bischöfen zu Recht: Wer ist denn hier Mann,<br />
wer Frau? Die Antwort ist ganz einfach. Die mit<br />
Bart sind die Frauen, die ohne Bart die Männer.<br />
Es wäre eine elegante Lösung, die ganz den Geist<br />
der Kirchen atmet. Und sie böte Conchita Wurst<br />
eine weitere Chance auf einen grossen internationalen<br />
Sieg. Dereinst, in vielen Jahrzehnten,<br />
könnte ein Konklave zum ersten Mal in der<br />
Neuzeit eine Frau auf den Thron Petri hieven:<br />
Päpstin Conchita. Die Erste. Aber hoffentlich<br />
nicht die Letzte.<br />
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