MUSIZIEREN INSCHLANGENBEWEGUNGENComputertöne, Jazz und Neue Musik: All dies ist gleichzeitigzu hören in <strong>der</strong> komplexen Musik von Martin Schlumpf. Am<strong>Festival</strong> <strong>der</strong> Künste tauft <strong>der</strong> 61-jährige Komponist und Bassklarinettistseine neue CD für das Hochschul-Label ZHdK Records.Mit Martin Schlumpf sprach Christoph Merki*Zerplatzen <strong>der</strong> <strong>Festival</strong>blase. Die Opposition hielt mit Megatrends fürdie Zukunft (Georges T. Roos) und transkulturellen Chancen (WolfgangWelsch) dagegen o<strong>der</strong> äusserte sich, wie Walter Leimgruber, analysierend:„Als raum-zeitliche begrenzte, interaktive Performance-Ereignissebesitzen <strong>Festival</strong>s eine hohe Anziehungskraft und versprecheneinen hohen Erlebniswert.“In Ihrer Musik überkreuzen sich die Stile ja erstaunlich.Ja. Ich würde mich genuin als Jazzmusiker bezeichnen, auchwenn ich in dieser Beziehung keine formale Ausbildung durchlaufenhabe. Paralell dazu beschäftige ich mich als Dozent für Musiktheoriean <strong>der</strong> ZHdK vorallem mit <strong>der</strong> Klassik; seinerzeit habe ich in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nenKlassik bei Rudolf Kelterborn meine Ausbildung gemacht. Esgibt eine Schlangenbewegung von einem Pol zum an<strong>der</strong>n. Je älter ichwerde, desto mehr kann ich die beiden Pole zusammenbringen.… lang lebe das <strong>Festival</strong>!Das <strong>Festival</strong> <strong>der</strong> Künste profitiert genau von dieser raum-zeitlichenBegrenzung, denn sie führt hier zu mehr Intensität und damit zukonstruktiven Ereignissen wie hybriden Präsentationen („Son, scèneset feux“), transdisziplinären Projekten („Black Angels“) und interkulturellenBegegnungen („Common Stage Bar“ – siehe Seite 30) – eineoptimale Situation, sich <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Anziehungskraftdes <strong>Festival</strong>s wirkt dabei nicht nur gegen aussen, son<strong>der</strong>nauch innerhalb <strong>der</strong> ZHdK. Es ermöglicht Begegnungen und för<strong>der</strong>tsoziale und kreative Vernetzungen. Aus ethnologischer Sicht besteht<strong>der</strong> Zweck des <strong>Festival</strong>s im Ausbruch aus dem Alltag, in <strong>der</strong> Grenzüberschreitungund <strong>der</strong> neuen Erfahrung. Das <strong>Festival</strong> beziehungsweiseFest stellt in traditionellen Gesellschaften den Kontrast, die Aufhebung<strong>der</strong> gewohnten Ordnung und <strong>der</strong> alltäglichen Existenz dar. In<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft fehlt diese Komplementärfunktion, denndie Event-Kultur ist so umfassend und konstant, dass sie nicht mehrAusnahmezustand, son<strong>der</strong>n Bestandteil des Alltags geworden ist undin keinem wirklichen Kontrast zu an<strong>der</strong>en Lebenssphären steht.Big Impact? Die ZHdK darf nicht darauf hoffen, mit dem <strong>Festival</strong><strong>der</strong> Künste einen wirklich nachhaltigen Impact in Bezug auf denErlebniswert zu erzielen. Die üppige Zürcher Kulturagenda lässt dafürkeinen Raum. Vielmehr kann die ZHdK den Versuch wagen, die Intensitätund beson<strong>der</strong>s die interaktiven und interdisziplinären Aspekte des<strong>Festival</strong>s vermehrt aufzugreifen und in den ZHdK-Alltag zu integrieren.Die kreative Begegnung <strong>der</strong> Disziplinen bleibt damit nicht nur den zukünftigenStudierenden im Toni-Areal vorbehalten, son<strong>der</strong>n wird schonmorgen gelebt.* Stefan Charles ist Leiter Produktionszentrum ZHdK und unterstützt mit seinem Teamdas <strong>Festival</strong> <strong>der</strong> Künste in den Bereichen Organisation, Veranstaltungstechnik undEvent-Kommunikation (stefan.charles@zhdk.ch).** Das Forum Kultur und Ökonomie ist eine Initiative folgen<strong>der</strong> Institutionen: Bundesamtfür Kultur, Credit Suisse, Fondation Nestlé pour l’Art, Konferenz <strong>der</strong> kantonalenKulturbeauftragten (KBK), Konferenz <strong>der</strong> Schweizer Städte für Kulturfragen (KSK),Kulturstiftung Pro Helvetia, Loterie Romande, Migros-Kulturprozent, Swisslos, SwissRe und UBS.Referenten: Jürgen Flimm, künstlerischer Leiter <strong>der</strong> Salzburger Festspiele; Jean Perret,Direktor des Filmfestivals Nyon; Georges T. Roos (Luzern), Zukunftsforscher; WolfgangWelsch, Professor für Theoretische Philosophie an <strong>der</strong> Universität Jena (D) und WalterLeimgruber, Seminarleiter Kulturwissenschaften & Europäische Ethnologie an <strong>der</strong>Universität Basel.Weitere Informationen: Die „Schweizer Monatshefte“ Nr. 970, Juli <strong>2009</strong>, sind demThema „Die <strong>Festival</strong>isierung <strong>der</strong> Kultur“ gewidmet (insbeson<strong>der</strong>e S. 19–41).Waren mit dieser Schlangenbewegung auch Schwierigkeitenverbunden? Man sitzt zwischen allen Stühlen undBänken …Ja. Man ist in einer Szene drin. Und verlässt sie dann wie<strong>der</strong>,verliert alle Kontakte. Aber ich musste wohl von meiner Persönlichkeither einfach so funktionieren. Ich wünschte mir manchmal aber schon,ich hätte zum Beispiel mein ganzes Leben lang nur Bassklarinette gespielto<strong>der</strong> nur komponiert.
Martin Schlumpf am <strong>Festival</strong> <strong>der</strong> Künste:Freitag, 11. September, 19.30 Uhr: „pulsar_2“für Stimme, Flöte, Klavier und Computer(Uraufführung); 20 Uhr: CD-Taufe des neuen Albumsvon Martin Schlumpf auf ZHdK-Records mit <strong>der</strong> Aufführung von „Rattaplasma2“, mit Dawid Jarzynski, Klarinette.Vollständiges <strong>Festival</strong>programm:festival.zhdk.chSie haben sich lange mit dem mexikanischen KomponistenConlon Nancarrow befasst.Nancarrow war für mich ein wichtiger Bezug – vor allem wegenseiner Schichtung verschiedener Zeit- und Tempoebenen. Ich versuchteimmer schon, Überlagerungen zu machen, aber auf einfacherer Ebene,weil ich immer mit Live-Musikern arbeitete. Nancarrow hat Überlagerungenauf höherem Niveau geschaffen dank dem Player-Piano,einem gewissermassen programmierten Klavier. Damit liessen sichDinge machen, die ein Mensch nicht bewältigen kann. Für mich wurdein diesem Zusammenhang <strong>der</strong> Computer interessant. Der Anstossdazu kam von Nancarrow. Es gibt ja den Ausspruch des KomponistenGyörgy Ligeti, Nancarrow gehöre neben Anton Webern und CharlesIves zu den drei wichtigsten Neuerern im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t.Ives kannte schon sehr früh einen multistilistischenAnsatz. Ist das Multistilistische, dieses babylonische Stimmengewirr,heute eine Chance fürs Komponieren? O<strong>der</strong>vielmehr eine Gefahr?Zuallererst wohl eine Gefahr. Entsprechende Stücke können völligunzusammenhängend, nur ein Potpourri sein. Aber für mich ist dasMultistilistische doch ein nötiger Reflex auf unsere Zeit. Ich lebe indieser Welt. Mich fasziniert die heutige Vielfalt. Es ist dann die Aufgabedes Komponisten, einen roten Faden zu finden. Ich arbeite <strong>der</strong>zeitan einer ausgedehnten Komposition mit dem Titel „pulsar_2“; leichtkönnte ich mich dabei verlieren in den unendlich vielen verfügbarenComputerklängen. Ich konzentriere mich jetzt aber auf sehr wenigeKlänge. Es braucht diese Klärung.Nun geht es bei Ihnen auch um die Frage, wie man dieKlänge im Raum verteilen kann.Es ist ein Glück, dass jetzt bei uns an <strong>der</strong> Hochschule im Institutefor Computer Music and Sound Technology (ICST) verschiedeneLeute mit Ambisonics arbeiten, einer verfeinerten Art <strong>der</strong> Surround-Klänge, wie man sie vom Kino her kennt. Ambisonics lässt zu, dassman Klänge überall im Raum genau platzieren kann. Das steigert dieDurchhörbarkeit meiner relativ komplexen Musik.Ist eine Kategorie wie Ergriffenwerden durch Musik, dasAppellieren an Gefühle überhaupt von Belang für Sie?Das ist ganz zentral. Wenn ich Musik höre und sie ergreift michnicht, dann sagt sie mir nichts. Ich versuche meine Musik so zu machen,dass sie die Leute anspricht und bei ihnen Bil<strong>der</strong> und Gefühlewachruft.Womit beschäftigen Sie sich musikalisch gerade?Ich befasse mich sehr intensiv mit „pulsar_2“ für das <strong>Festival</strong><strong>der</strong> Künste. Ich igle mich total ein bei mir. Arbeite eigentlich Tag undNacht an diesem Stück. Ein fast mönchisches Dasein.* Christoph Merki ist Saxofonist, Journalist und Dozent für Ensemblespiel und Musikgeschichteim Departement Musik. Zusammen mit Andreas Werner, Oliver Corneliusund Hans Peter Künzle betreibt er das Label ZHdK Records (christoph.merki@zhdk.ch).Übrigens: Das ZHdK-Records-Label tauft neben <strong>der</strong> CD von Martin Schlumpf am<strong>Festival</strong> <strong>der</strong> Künste noch ein weiteres exklusives Album: „Percussion Colors“, eineZusammenarbeit von ZHdK-Perkussionisten mit dem berühmten Schweizer Schlagzeug-Poeten Pierre Favre. Live-Aufführung ist am Sonntag um 13 Uhr. – Informationen zuweiteren CD- und DVD-Produktionen des Hochschul-Labels unter:http://zhdkrecords.zhdk.ch