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Ein Weg aus der Disharmonie ?!

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<strong>Ein</strong> <strong>Weg</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Disharmonie</strong> ?!<br />

Musiktherapeutische Möglichkeiten bei Familien<br />

mit „Schreibabys“<br />

Diplomarbeit im Rahmen des Musiktherapie-Studiums<br />

am Konservatorium, Saxion Hogeschool Enschede<br />

vorgelegt von<br />

Stephanie Büning<br />

Mai 2002


1<br />

„Noch immer sind viele Leute<br />

<strong>der</strong> Auffassung, dass man<br />

Babys sehen, aber nicht<br />

hören sollte.<br />

Warum weinen Babys<br />

aber auch so viel?<br />

Und warum stört es die<br />

Erwachsenen so sehr?<br />

Warum wissen die Menschen<br />

nicht so recht, was sie mit einem<br />

weinenden Baby machen sollen?<br />

(...)Es gibt Momente,<br />

wo wir einfach weinen müssen.<br />

Das befreit, ganz beson<strong>der</strong>s,<br />

wenn wir in <strong>der</strong> liebevollen<br />

Umarmung eines an<strong>der</strong>en Menschen<br />

weinen.<br />

Ich glaube, dass die Gefühle<br />

eines Babys gen<strong>aus</strong>o tief sind<br />

wie unsere, dass auch seine<br />

Ängste, Sorgen und Frustrationen<br />

nicht geringer sind.“<br />

Vimala Schnei<strong>der</strong> McClure


2<br />

Zusammenfassung<br />

Hinter dem Begriff „Schreibaby“ verbirgt sich nicht nur das exzessive,<br />

unstillbare Schrei- und Unruheverhalten eines Säuglings son<strong>der</strong>n häufig<br />

auch Probleme, die das ganze familiäre System betreffen. <strong>Ein</strong> exzessiv<br />

schreien<strong>der</strong> Säugling kann das Gleichgewicht einer Familie stark<br />

beeinträchtigen und Ressourcen auf Seiten <strong>der</strong> Eltern überfor<strong>der</strong>n,<br />

beson<strong>der</strong>s wenn bereits psychosoziale Belastungen vorliegen. In unserer<br />

Gesellschaft ist das Phänomen „Schreibaby“, obwohl die Mehrheit <strong>der</strong><br />

Bevölkerung den Begriff nicht einzuordnen weiß, weit verbreitet. Je<strong>der</strong><br />

fünfte Säugling ist betroffen und nicht selten werden starke<br />

Beruhigungsmedikamente verschrieben, o<strong>der</strong> die Ursache für das Schreien<br />

allein übermäßigen Blähungen zugeschrieben, die mit <strong>der</strong> Zeit<br />

vorübergehen. Dass die Ursachen jedoch vielschichtiger sind, und fast<br />

immer mehrere Faktoren bei <strong>der</strong> Entstehung zusammenwirken, wird oft nicht<br />

berücksichtigt. Spezialisierte Säuglingsberatungsstellen und<br />

Therapieangebote sind in Deutschland zwar vereinzelnd präsent, werden<br />

von vielen Eltern jedoch nicht aufgesucht o<strong>der</strong> zu spät erkannt.<br />

Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit <strong>der</strong> Frage, welchen<br />

Beitrag Musiktherapie in <strong>der</strong> Behandlung von Familien mit exzessiv<br />

schreienden Säuglingen leisten kann. Die frühe Eltern-Kind-Beziehung 1 spielt<br />

hierbei eine zentrale Rolle. Das erste Kapitel beinhaltet die Beschreibung<br />

des exzessiv schreienden Säuglings mit <strong>der</strong> Betrachtung von<br />

Entstehungsfaktoren und möglichen Auswirkungen auf die Familie. Im<br />

zweiten Kapitel wird auf die frühe Eltern-Kind-Beziehung im Hinblick auf die<br />

kindlichen Fähigkeiten, und die intuitiven elterlichen Kompetenzen<br />

eingegangen. Verschiedene Behand-lungsmodelle für Familien mit exzessiv<br />

schreienden Säuglingen werden im dritten Kapitel vorgestellt. Die<br />

musiktherapeutischen Möglichkeiten bei Familien von „Schreibabys“<br />

werden schließlich im vierten Kapitel anhand von verschiedenen<br />

Arbeitsweisen aufgezeigt.<br />

1 Ich habe in meiner Diplomarbeit <strong>aus</strong>schließlich den Begriff „Eltern- Kind-<br />

Beziehung“ verwendet, da die Rolle des Vaters in <strong>der</strong> Erziehung immer mehr an<br />

Bedeutung gewinnt und nicht außer Acht gelassen werden sollte. Den Begriff<br />

„Mutter-Kind-Beziehung“ halte ich im Hinblick auf die heutige Familiensituation für<br />

zu beschränkt.


Vorwort<br />

Dank einer schicksalhaften Verwechslung im Juni 1998 wurde mir die<br />

Gelegenheit gegeben, am Konservatorium <strong>der</strong> Saxion Hogeschool<br />

Enschede Musiktherapie zu studieren. Ich habe diese Gelegenheit genutzt<br />

und beende mein Studium mit <strong>der</strong> vor Ihnen liegenden Diplomarbeit.<br />

Viele Menschen haben mir bei meiner Diplomarbeit geholfen und mich<br />

unterstützt. <strong>Ein</strong>ige von ihnen sollen namentlich genannt werden.<br />

Ich danke allen Mitstudenten, vor allem Jenny, Anke, Margreet, Willemien,<br />

Uli, Ingo und Daniel für die schöne Studienzeit. Der große Zusammenhalt in<br />

unserer Gruppe sollte an dieser Stelle erwähnt werden; er hat das Studium<br />

für mich zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht.<br />

Bei <strong>der</strong> Betreuung meiner Diplomarbeit stand mir Carola Werger sehr<br />

hilfreich zur Seite, bei <strong>der</strong> ich mich beson<strong>der</strong>s für die strukturierenden und<br />

motivierenden Gespräche bedanke.<br />

Für die mentale Unterstützung danke ich Matthias Zalepa.<br />

Abschließend gilt ein großer Dank meiner Familie, die mich mit Geduld<br />

während des Schreibens ertragen hat.


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Ein</strong>leitung 6<br />

1 Exzessives Schreien in <strong>der</strong> frühen Kindheit 9<br />

1.1 Bedeutungen des Schreiens im Säuglingsalter . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

1.1.2 kulturelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11<br />

1.1.3 Umgang mit Weinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12<br />

1.2 Das „Schreibaby“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..13<br />

1.2.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .14<br />

1.2.2 Persönlichkeitsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .14<br />

1.3 Faktoren zur Entstehung von exzessivem Schreien . . . . . . . . . . .15<br />

1.3.1 <strong>Ein</strong>fluss des mo<strong>der</strong>nen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .16<br />

1.3.1 Schwangerschaft und Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17<br />

1.3.2 Dreimonatskolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

1.3.3 Defizite in <strong>der</strong> Selbstregulationsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . .21<br />

1.3.4 soziale Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22<br />

1.4 Auswirkungen auf Eltern und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22<br />

1.4.1 die belastete Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23<br />

1.4.2 diagnostische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25<br />

2 Die frühe Eltern-Kind-Beziehung 26<br />

2.1 Fähigkeiten des Neugeborenen und sein Beitrag zur<br />

Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26<br />

2.1.1 Erscheinungsbild und Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27<br />

2.1.2 Verhaltenszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31<br />

2.1.3 Antriebsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

2.2 Intuitive elterliche Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33<br />

2.3 Individuelle Unterschiede im Interaktionsverhalten . . . . . . . . . . .35


3 Behandlungsmethoden 36<br />

3.1 Münchner Modell einer interaktionszentrierten<br />

Säuglings-Eltern-Beratung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . .36<br />

3.2 alternative Behandlungsmöglichkeiten und<br />

Beruhigungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40<br />

3.2.1 Babymassage, Aromatherapie, Kinesiologie,<br />

Homöopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40<br />

3.2.2 Bewegung und Geräusche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43<br />

3.2.3 Gestaltung des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44<br />

4 Musiktherapie bei Familien mit „Schreibabys“ 46<br />

4.1 Die Bedeutung von Musik in <strong>der</strong> frühen Eltern-<br />

Kind-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .46<br />

4.2 Ausgangspunkte in <strong>der</strong> Musiktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

4.2.1 Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........ 52<br />

4.2.2 Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />

4.2.3 Indikationskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .53<br />

4.2.4 die therapeutische Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

4.3 Arbeitsweisen in <strong>der</strong> triadischen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

4.3.1 die freie Improvisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59<br />

4.3.2 Stimm-/Lie<strong>der</strong>gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61<br />

4.3.3 musikalische Begleitung durch den Therapeuten . . . . . . .62<br />

4.4 Arbeitsweisen in <strong>der</strong> Elterngruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .63<br />

4.5.1 Trommeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .63<br />

4.5.2 das „musikalische Geschenk“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65<br />

4.5.3 Vokalimprovisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65<br />

4.5.4 das Hören von mitgebrachter Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . .66<br />

4.5.3 Entspannung mit Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />

Schlussbetrachtung 72<br />

Literatur 76<br />

Anhang


<strong>Ein</strong>leitung<br />

„Unsere 7 Wochen alte Tochter Julia schreit seit 5 Wochen fast ununter-<br />

brochen. Wir haben wahrscheinlich schon jedes erdenkliche<br />

H<strong>aus</strong>mittelchen <strong>aus</strong>probiert, alles scheint nur etwa 5 Minuten zu helfen.<br />

Auch haben wir schon versucht, sie schreien zu lassen, allerdings hält sie<br />

eine Viertelstunde locker durch. Abgesehen davon, dass wir uns immer<br />

wie<strong>der</strong> Sorgen machen, ob ihr nicht doch etwas ernsthaftes fehlt, gehen wir<br />

mittlerweile schon auf dem Zahnfleisch“<br />

(<strong>aus</strong>: Schreibabys und ihre Eltern; Myriam Thöne, S.180)<br />

Babys, die über Monate täglich stundenlang schreien, stellen für die ganze<br />

Familie einen erheblichen Stressfaktor dar. Schreien ist ein Signal des Kindes,<br />

das sie ebenfalls in Unruhe versetzt. Sie suchen nach Ursachen für das<br />

(scheinbar grundlose) Schreien und bemühen sich, sie abzustellen. Gelingt<br />

es den Eltern nicht, das Baby erfolgreich zu beruhigen, dann stellen sich<br />

Gefühle des Versagens und <strong>der</strong> Ohnmacht, aber auch <strong>der</strong> Wut und<br />

Enttäuschung ein. Diese Gefühle und Gedanken drücken Eltern unbewußt<br />

auch in ihrer Mimik, Gestik und Stimmung <strong>aus</strong>. Babys sind sehr sensibel,<br />

nehmen diese non-verbalen Botschaften <strong>der</strong> Eltern genau wahr und<br />

gleichen ihr Verhalten dem an. Im Falle <strong>der</strong> Belastung durch das exzessive<br />

Schreien wirkt das angespannte, unsichere und ungeduldige elterliche<br />

Verhalten und ihre negativen Deutungen des kindlichen Verhaltens im<br />

Sinne einer Aufrechterhaltung o<strong>der</strong> Verstärkung. <strong>Ein</strong> Teufelskreis negativer<br />

gegenseitiger Beeinflussung kann entstehen, <strong>der</strong> die Interaktion beeinträchtigt<br />

und die Eltern-Kind-Beziehung belastet. Das Miteinan<strong>der</strong> wird nur<br />

noch als anstrengend erlebt, das Baby macht die Erfahrung, dass ihm nicht<br />

geholfen werden kann, und dass es nicht verstanden wird. Im schlimmsten<br />

Fall werden durch das Schreien Vernachlässigung o<strong>der</strong> auch Misshandlung<br />

<strong>aus</strong>gelöst.<br />

Babys mit beson<strong>der</strong>en Bedürfnissen stellen eine Risikogruppe für die spätere<br />

Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter dar.<br />

Frühe und präventive Maßnahmen können das Auftreten und die Chronifizierung<br />

von Verhaltensproblemen verhin<strong>der</strong>n. Die Qualität <strong>der</strong> Mutter-<br />

Kind-Beziehung hat einen großen <strong>Ein</strong>fluss auf die kognitive und sozial-<br />

emotionale Entwicklung eines Kindes. Die Existenz einer sicheren Bindung<br />

stellt einen Schutzfaktor für die Entwicklung des Kindes bis in das<br />

Erwachsenenalter dar (Spangler und Zimmermann 1994, Grossmann 1996).<br />

6


Vor einem Jahr las ich in <strong>der</strong> „Musiktherapeutischen Umschau“ einen Artikel<br />

von Gisela M. Lenz, in dem die musiktherapeutische Arbeit mit<br />

„Schreibabys“ innerhalb einer Pilotstudie zu frühen Interaktionsstörungen<br />

zwischen Mutter und Kind beschrieben wird. Diesem neuen, noch recht<br />

unerforschten Bereich <strong>der</strong> musiktherapeutischen Arbeit ist in meinem letzten<br />

Studienjahr beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit zuteil geworden.<br />

In meiner Diplomarbeit beschäftige ich mich mit <strong>der</strong> Frage, welchen Beitrag<br />

Musiktherapie in <strong>der</strong> Behandlung von exzessiv schreienden Säuglingen und<br />

<strong>der</strong>en Eltern leisten kann.<br />

Die Fragestellungen, auf denen diese Arbeit basiert, lauten:<br />

1) Wie kann Musiktherapie in <strong>der</strong> Behandlung von exzessiv schreienden<br />

Säuglingen und <strong>der</strong>en Eltern eingesetzt werden?<br />

2) Kann Musiktherapie als unterstützende Therapieform innerhalb einer<br />

interdisziplinären Kommunikationstherapie für Eltern mit exzessiv schreienden<br />

Säuglingen fungieren?<br />

Um diesen Fragestellungen nachzugehen, ist die Arbeit in vier Kapitel<br />

aufgeteilt:<br />

Im ersten Kapitel werden zunächst verschiedene Bedeutungen des<br />

Schreiens im Säuglingsalter, kulturelle Unterschiede sowie <strong>der</strong> Umgang mit<br />

dem Weinen angeführt. Darauffolgend wird das exzessive Schreien in <strong>der</strong><br />

frühen Kindheit beschrieben, wobei <strong>der</strong> Begriff „Schreibaby“ definiert wird<br />

und Persönlich-keitsmerkmale, sowie <strong>aus</strong>lösende und aufrechterhaltende<br />

Faktoren vorge-stellt.<br />

Im zweiten Kapitel wird die frühe Eltern-Kind-Beziehung im Hinblick auf die<br />

sich entwickelnde, frühe Interaktion betrachtet. Es werden sowohl<br />

kommuni-kative Fähigkeiten des Neugeborenen, als auch die intuitiven<br />

Verhaltens-weisen <strong>der</strong> Eltern vorgestellt.<br />

Das dritte Kapitel beinhaltet die Beschreibung verschiedener Behandlungsmethoden,<br />

u.a. auch das Münchner Modell einer interaktionszentrierten<br />

Säuglings-Eltern-Beratung und- Psychotherapie.<br />

7


Im letzten Kapitel sollen die Erkenntnisse <strong>aus</strong> den vorhergehenden Kapiteln<br />

genutzt werden, um die Möglichkeiten einer musiktherapeutischen Behand-<br />

lung aufzuzeigen, sowohl bei „Schreibabys“ als auch bei <strong>der</strong>en Eltern. Im<br />

ersten Teil wird die Bedeutung von Musik in <strong>der</strong> frühen Eltern-Kind Beziehung<br />

beschrieben. Anschließend werden im zweiten Teil sowohl mögliche<br />

Therapieformen, Indikationskriterien und Ziele vorgestellt, als auch<br />

Arbeitsweisen <strong>der</strong> rezeptiven und aktiven musiktherapeutischen Arbeit<br />

beschrieben. Die hier zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lesbarkeit gebrauchte, männliche<br />

Form des Wortes „Musiktherapeut“ schließt die Weibliche selbstverständlich<br />

mit ein. Überall, wo <strong>der</strong> Begriff „Musiktherapeut“ eingesetzt wurde, kann<br />

gleichzeitig auch „Musiktherapeutin“ verstanden werden.<br />

Ich gebrauche in meiner Arbeit sowohl den Begriff „Säugling“, als auch den<br />

Begriff „Baby“. Baby ist <strong>der</strong> englische Begriff für Säugling und wird umgangs-<br />

sprachlich häufiger benutzt. Beiden kommt die gleiche Bedeutung zu: ein<br />

Kind, das noch an <strong>der</strong> Mutterbrust (bzw. mit <strong>der</strong> Flasche) genährt wird, bis<br />

etwa zum Ende des ersten Lebensjahres.<br />

8


9<br />

Kapitel 1<br />

Exzessives Schreien in <strong>der</strong> frühen Kindheit<br />

Das Schreien ist die erste lauthafte Kommunikation des Menschen. Es ist die<br />

einzig mögliche, stimmliche Ausdrucksform des Neugeborenen und<br />

aufgrund seiner spezifischen Klangqualitäten das wirkungsvollste Mittel<br />

eines Babys sein Unbehagen <strong>aus</strong>drücken und dies seiner Umwelt<br />

signalisieren zu können. Welches Schreiverhalten ist normal und wann<br />

spricht man von exzessivem Schreien? Was sind Gründe und Auswirkungen?<br />

Auf diese Fragen wird im folgenden Abschnitt eingegangen.<br />

1.1 Bedeutungen des Schreiens im Säuglingsalter<br />

Der Schrei „ ist das nuancenreiche stimmliche Signal eines Verhaltens- und<br />

Befindlichkeitszustandes, <strong>der</strong> durch allgemeine Erregung mit gesteigerter,<br />

unkoordinierter Motorik, vegetativer Aktivierung und emotionalen Zeichen<br />

von Unbehagen gekennzeichnet ist, eines Zustandes, in dem<br />

Wahrnehmung und Integration von Erfahrungen erheblich beeinträchtigt<br />

sind.“ (Papousek, 1969)<br />

Die Gründe dafür, warum Babys schreien sind sehr unterschiedlich. Hunger,<br />

Durst, Schmerzen, Langeweile, eine überstimulierende Umgebung o<strong>der</strong><br />

auch die Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung werden durch die<br />

Intensität des Schreiens signalisiert. <strong>Ein</strong> Erwachsener kann, wenn ihm etwas<br />

Kummer berei-tet o<strong>der</strong> belastet, das Weinen unterdrücken. Babys verfügen<br />

über diese Kontrollmechanismen nicht und haben noch keine alternativen<br />

Ausdrucks-formen.<br />

„Als Baby hatten wir bis auf das Weinen zunächst wenige<br />

Möglichkeiten, negative Gefühle <strong>aus</strong>zudrücken und angespannte<br />

Spannungen abzubauen. Mit <strong>der</strong> Zeit wurden wir größer und lernten,<br />

auf viele verschiedene Arten mit Ärger, Angst, Schmerz und<br />

überschüssiger Energie fertig zu werden: durch Mimik, Körpersprache<br />

und verbale Ausdrucksmuster können wir nun unsere Gefühle<br />

mitteilen. Wenn sich <strong>der</strong> Stress des Alltags über einem auftürmt kann<br />

man


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 10<br />

spazieren gehen, Urlaub machen o<strong>der</strong> mit einem Freund o<strong>der</strong> einer<br />

Freundin reden. Und auch wenn wir ansonsten völlig gesund sind,<br />

weinen wir hin und wie<strong>der</strong>; jedoch weinen wir nur selten in<br />

Gegenwart an<strong>der</strong>er. Wir haben gelernt, dass Weinen nicht<br />

gesellschaftsfähig und ein Zeichen von Schwäche ist. Wahrscheinlich<br />

war dies eines <strong>der</strong> ersten Dinge die wir zu lernen hatten.“<br />

(Vimala Schnei<strong>der</strong> McClure, 1987)<br />

Sobald das Baby negative Empfindungen verspürt, atmet es reflexartig Luft<br />

ein und kräftig wie<strong>der</strong> <strong>aus</strong>. Dieser Luftstrom bringt die Stimmbän<strong>der</strong> zum<br />

Vibrieren, wor<strong>aus</strong> ein Ton entsteht, den wir als Schreien bezeichnen. Der<br />

Schrei ist ein Hilferuf des Babys, dessen Dringlichkeit man sich nicht ohne<br />

weiteres entziehen kann. Er löst vegetative Reaktionen <strong>aus</strong>, wie z.B. einen<br />

beschleunigten Herzschlag, durch den man sich unmittelbar aufgefor<strong>der</strong>t<br />

fühlt, etwas zu unternehmen. Wenn Mutter und Kind getrennt sind dient <strong>der</strong><br />

Schrei als Kommunikationsmittel, das schützende und fürsorgliche elterliche<br />

Reaktionen <strong>aus</strong>löst und die Bindung mit den wichtigsten Bezugspersonen<br />

aufrechterhält.<br />

Die Annahme, dass promptes Reagieren auf das Schreien des Babys zur<br />

Verwöhnung und vermehrten Schreien führen kann, wird nicht unterstützt.<br />

Im Gegenteil wird darauf hingewiesen, dass schnelles Reagieren auf den<br />

Schrei im frühen Säuglingsalter mit einer positiven Entwicklung späterer<br />

kommunikativer Fähigkeiten einhergeht (Bell u. Ainsworth, 1972).Je länger<br />

das <strong>Ein</strong>greifen auf Seiten <strong>der</strong> Umwelt hin<strong>aus</strong>gezögert wird, desto schwieriger<br />

wird es die Schreiursache zu verstehen.<br />

Das Schreien jedes einzelnen Kindes trägt unverwechselbare Kennzeichen<br />

(„cry print“, Truby und Lind, 1965), durch die die Mehrzahl <strong>der</strong> Eltern in <strong>der</strong><br />

Lage ist, ihr Baby allein aufgrund des Schreiens zu erkennen (Green und<br />

Gustafson, 1983; Murry et al., 1975).Die akustischen Unterschiede sind in<br />

individuellen spezifischen Konstellationen von Dauer, Rhythmizität,<br />

Grundfrequenz, Grundfrequenz und spektraler Energieverteilung 2 zu suchen<br />

(Gustafson et al., 1984). Bei <strong>der</strong> verantwortlichen Bezugsperson zeigt sich<br />

schnell eine erhöhte Sensibilität für das Schreien des eigenen Kindes und<br />

die Aufmerksamkeit wird auch im Schlaf durch eine erniedrigte<br />

Weckschwelle fortgeführt.<br />

2 spektrale Energieverteilung: Darstellung <strong>der</strong> Intensität (Energiedichte) einer<br />

Strahlung in Abhängigkeit von Wellenlänge o<strong>der</strong> Frequenz.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 11<br />

Säuglinge schreien am meisten in den ersten drei Lebensmonaten. In dieser<br />

Zeit schreien sie durchschnittlich 2 Stunden am Tag, zwischen dem vierten<br />

und zwölfen Lebensmonat durchschnittlich 1 Stunde. Die individuellen<br />

Unter-schiede zwischen den Säuglingen sind dabei sehr groß.<br />

Das Baby ist auf Resonanz und Antwort angewiesen. <strong>Ein</strong>e adäquate<br />

Antwort zu finden gehört zu den intuitiven elterlichen Verhaltensweisen, die<br />

von Papousek & Papousek (1987) als „intuitive parenting“ beschrieben<br />

wurde (siehe Kapitel 3). Gerade in den ersten Lebensmonaten spielen<br />

Gegen-seitigkeit, Gleichzeitigkeit und das Teilen von Affekten und Gefühlen<br />

eine entscheidende Rolle in <strong>der</strong> Beziehung zwischen Eltern und Kind, die<br />

sich wie in einem Duett begegnen.<br />

1.1.2 kulturelle Unterschiede<br />

Das Schreien ist ein biologisches, angeborenes Signal, dessen Merkmale<br />

auch für an<strong>der</strong>e Kulturen gelten und das in allen Völkern dieser Welt<br />

existiert. Dennoch gibt es große kulturelle Unterschiede in dem<br />

Schreiverhalten von Säuglingen, vergleicht man westliche<br />

Industriegesellschaften mit Natur-völkern bzw. Län<strong>der</strong>n mit einer<br />

Stammeskultur. Diese Unterschiede betreffen vor allem die Dauer <strong>der</strong><br />

Schreizeiten, nicht jedoch die Häufigkeit. Gründe für diese Unterschiede<br />

hängen zusammen mit <strong>der</strong> Reaktionsbereitschaft <strong>der</strong> Umwelt auf das<br />

Schreien, die Anpassung <strong>der</strong> Kultur an bestimmte Lebens-bedingungen,<br />

sowie mit unterschiedlichen Betreuungs- und Erziehungs-maßnahmen <strong>der</strong><br />

Säuglinge.<br />

Kulturen mit engem Mutter-Kind-Kontakt, in denen Säuglinge in den ersten<br />

zwei bis drei Lebensjahren in kontinuierlichem Kontakt mit <strong>der</strong> Mutter stehen,<br />

mehrmals gestillt werden und auch nachts in Körperkontakt mit <strong>der</strong> Mutter<br />

schlafen, verstehen das Schreien eines Säuglings als Notsignal. Im Alltag ist<br />

das Schreien eine Ausnahme und spielt als Kommunikationsmittel für Bedürf-<br />

nisse wie Hunger fast keine Rolle. Die leisesten Signale des Kindes werden<br />

von <strong>der</strong> Mutter durch den engen Kontakt mit dem Baby schon durch<br />

Verän-<strong>der</strong>ungen im Muskeltonus, in <strong>der</strong> Atmung, in <strong>der</strong> Mimik und in <strong>der</strong><br />

Hautfarbe erkannt. Der Körperkontakt schafft eine hohe Sensibilität für die<br />

Signale des Babys und ermöglicht schnelle Reaktionen auf Seiten <strong>der</strong><br />

Bezugspersonen.<br />

„Schreien als das Telegramm des Babys, das abgeschickt wird,<br />

nachdem uns an<strong>der</strong>e Signale nicht erreicht haben.“


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 12<br />

Dieses Zitat von R. Barth (1997) macht deutlich, warum sich das<br />

Schreiverhal-ten von Säuglingen in den westlichen Industriegesellschaften<br />

von dem Schreiverhalten <strong>der</strong> Säuglinge in an<strong>der</strong>en Kulturen unterscheidet.<br />

Obwohl in unserer Bevölkerung <strong>der</strong> Wunsch nach einem engeren Mutter-<br />

Kind-Kontakt, Rooming-In und vermehrtem Stillen wächst, gibt es viele<br />

<strong>Ein</strong>richtungen wie Kin<strong>der</strong>wagen, getrennte Schlafzimmer, usw. die Babys<br />

auf von den Eltern fern halten. Die westliche Kultur hat sich in den letzten<br />

hun<strong>der</strong>t Jahren dahingehend entwickelt, dass sich die Sensibilität für die<br />

Signale von Säuglingen verringert hat und eine unnatürliche Distanz<br />

zwischen Eltern und Babys geschaffen wurde (Schnei<strong>der</strong> McClure, 1987).<br />

Das Schreien wird als Distanzsignal eingesetzt, um die Bezugsperson<br />

heranzurufen, die die frühen Anzeichen für herannahendes Unbehagen<br />

nicht erkennen können. M. Papousek (1984) weist darauf hin, dass zudem<br />

die Empfindlichkeit gegen-über dem Schreien in unserer Gesellschaft<br />

angewachsen zu sein scheint und <strong>der</strong> Umgang mit dem schreienden Baby<br />

als Problem erlebt wird. Dabei lässt sich nur spekulieren, ob das Schreien <strong>der</strong><br />

Säuglinge zugenommen hat, ob die Belastbarkeit <strong>der</strong> Eltern gesunken ist<br />

o<strong>der</strong> ob sich die <strong>Ein</strong>stellungen <strong>der</strong> Eltern geän<strong>der</strong>t haben. Mo<strong>der</strong>ne Medien<br />

wie Fernsehen und Radio begleiten und ersetzen häufig intensive<br />

Beschäftigungen mit dem Baby. Die Schnelllebigkeit und Hektik unserer<br />

Gesellschaft, die hohe Mobilität stellen einen weiteren Stressfaktor für die<br />

Babys dar.<br />

1.1.3 Umgang mit Weinen<br />

Der Schrei eines Babys löst in einem Menschen physiologische Reaktionen<br />

<strong>aus</strong>. Er nimmt eine Anspannung und Unruhe wahr, die abnimmt sobald das<br />

Baby erfolgreich beruhigt wurde. In unserer Gesellschaft wird auf das<br />

Weinen eines Babys unmittelbar reagiert, es wird als Signal für ein Bedürfnis<br />

gesehen, dass es zu stillen gilt. Wenn das Baby jedoch trotzdem weint,<br />

obwohl scheinbar alle Bedürfnisse erfüllt sind, verstehen Eltern oft die Welt<br />

nicht mehr. Es wird versucht, das Baby mit allen zur Verfügung stehenden<br />

Hilfen wie Schnuller, Fläschchen, Spielzeug zum ruhig-sein zu bewegen, o<strong>der</strong><br />

es wird für sein Verhalten bestraft und allein gelassen. Weinen sollte jedoch<br />

nicht als negativ o<strong>der</strong> etwas Schlimmes gesehen werden, dem immer sofort<br />

mit einem „Gegenmittel“ entgegengewirkt werden muss. Es gibt weit<strong>aus</strong><br />

mehr und tieferliegende Gründe, weshalb ein Baby weint. Was also fehlt<br />

ihm, wenn alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt sind? In Anbetracht <strong>der</strong><br />

seelisch-geistigen Bedürfnisse, dem <strong>aus</strong>geprägten Gefühlsleben und <strong>der</strong><br />

eigenständigen Persönlichkeit eines jeden Säuglings lässt sich eine Antwort<br />

auf diese Frage finden.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 13<br />

Durch das Weinen kann <strong>der</strong> Mensch sein Befinden und seine Gefühle <strong>aus</strong>-<br />

drücken und emotionalen Stress abbauen. Wenn das Baby mit seinem<br />

Weinen nun starke Empfindungen wie Ängste, Sorgen o<strong>der</strong> Ärger <strong>aus</strong>drückt<br />

o<strong>der</strong> auf Wichtiges in seinem Erleben hinweist ist es wichtig, dass ihm<br />

jemand zuhört und dass es die Gelegenheit bekommt sich mitzuteilen und<br />

<strong>aus</strong>zu-weinen. Mit jedem weiteren Versuch, das Baby mit Maßnahmen zu<br />

beruhigen, die es in dem Moment gar nicht braucht kann die Irritation auf<br />

beiden Seiten, sowohl bei Eltern als auch beim Babys wachsen. Eltern<br />

sollten versuchen, ihr Kind in einer unterstützenden, verständnisvollen<br />

Atmosphäre, in <strong>der</strong> es we<strong>der</strong> ignoriert noch zum Schweigen gebracht wird,<br />

bewusst weinen zu lassen. Das Baby wird nicht mehr beruhigt, son<strong>der</strong>n<br />

getröstet, fühlt sich geborgen und akzeptiert.<br />

Weinen im Jugend- und Erwachsenenalter gilt unserer Gesellschaft als<br />

Zeichen von Schwäche, nicht gesellschaftsfähig und peinlich. Wir haben<br />

gelernt unsere Tränen zurückzuhalten und das Weinen in bestimmten<br />

Situationen zu unterdrücken. Oft vermitteln Eltern ihren Kin<strong>der</strong>n, dass ihre<br />

Gefühle nicht erwünscht, nicht passend sind. Sprüche wie „<strong>Ein</strong> Indianer<br />

kennt keinen Schmerz“ o<strong>der</strong> „starke Jungs weinen nicht“ ermutigen Kin<strong>der</strong><br />

schon, das Weinen zu unterdrücken. Gefühle offen zu zeigen gilt in <strong>der</strong><br />

Pubertät als nicht „cool“ und könnte zum Spott o<strong>der</strong> Ausschluss <strong>aus</strong> einer<br />

Gemeinschaft führen. Dabei gibt es Momente, in denen Weinen in<br />

Gegenwart eines an<strong>der</strong>en Menschen eine große Erleichterung sein kann<br />

und befreiend wirkt. Nicht <strong>aus</strong>gedrückte Gefühle werden häufig durch<br />

Wut<strong>aus</strong>brüche, aggressivem o<strong>der</strong> auch depressivem Verhalten<br />

kompensiert.<br />

1.2 Das „Schreibaby“<br />

Schwierigkeiten <strong>der</strong> Verhaltensregulation im Säuglingsalter zählen zu den<br />

am häufigsten anzutreffenden Problemen in <strong>der</strong> Pädiatrie. Zwischen 20 und<br />

29 % gesun<strong>der</strong> Säuglinge leiden in den ersten Lebensmonaten unter unstillbarem/exzessivem<br />

Schreien (Alvarez u. St. James-Roberts 1996, St.James<br />

Roberts u. Halil 1991).<br />

Der Startzeitpunkt für das exzessive Schreien liegt durchschnittlich in <strong>der</strong><br />

zweiten Lebenswoche. In <strong>der</strong> sechsten Lebenswoche erreicht die Schreidauer<br />

des Säuglings ihren Höhepunkt, nach Ablauf des dritten Monats<br />

werden Schreien und Unruhezustände zunehmend weniger. Häufig hält das<br />

Schreiverhalten jedoch länger an.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 14<br />

1.2.1 Definition<br />

Zwei Definitionen sind möglich:<br />

In <strong>der</strong> Forschungsliteratur liegt exzessives Schreien dann vor, wenn ein Baby<br />

länger als drei Stunden, öfter als drei Tage schreit und dies über mehr als<br />

drei Wochen(Wessels, 1954). Diese Definition wird, trotz ihres Alters, noch<br />

immer als Richtlinie bei den heutigen Diagnosestellungen eingesetzt.<br />

Sobald Eltern die Schrei- und Unruheneigung ihres Babys subjektiv als so<br />

problematisch empfinden, dass sie deswegen klinische Hilfe suchen, wird<br />

das Schreien ebenfalls als exzessiv aufgefasst.<br />

1.2.2 Persönlichkeitsmerkmale<br />

Das Verhalten von „Schreibabys“ ist so unterschiedlich wie ihre Charaktere.<br />

Es gibt es einige gemeinsame Persönlichkeitsmerkmale, die jedoch nicht<br />

zwangsläufig auf jedes Baby zutreffen müssen.<br />

Im Gegensatz zu unproblematischen Säuglingen werden exzessiv<br />

schreiende Säuglinge von ihren Eltern als leichter irritabel, schwerer tröstbar,<br />

weniger vorhersagbar und weniger anpassungsfähig an neue Situationen<br />

beschrieben (Barr et al. 1989, Lehtonen et. al 1994c, Papousek u.v.<br />

Hofacker 1995). „Schreibabys“ befinden sich in einem permanenten<br />

Erregungszustand, sowohl körperlich als auch geistig. Typisch ist <strong>der</strong> enorm<br />

hohe Drang zu Aktivität, Rast- und Ruhelosigkeit, Nervösität und <strong>der</strong><br />

verkrampfte Körper. Sie suchen unaufhörlich „geistige Stimulation“ und<br />

haben ein großes Bedürfnis nach Unterhaltung. Es ist zu beobachten, dass<br />

„Schreibabys“ bevorzugen in aufrechter Position getragen zu werden, sich<br />

jedoch nie entspannt anschmiegen. Die aufrechte Körperhaltung<br />

ermöglicht dem Baby am besten seine Umwelt zu erforschen und entspricht<br />

seiner extremen Muskelspannung beson<strong>der</strong>s gut. Dieses dringende und<br />

permanente Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung, häufig auch<br />

nach viel Körperkontakt und die extrem niedrige Frustrationsschwelle<br />

beansprucht die Eltern unaufhörlich. <strong>Ein</strong>ige „Schreibabys“ zeigen<br />

wie<strong>der</strong>um eine starke Empfindlichkeit gegenüber Berührungen, und<br />

scheinen zuviel Körperkontakt nicht zu ertragen.<br />

Viele „Schreibabys“ leiden an einer Störung <strong>der</strong> Schlaf-Wach-Regulation<br />

und haben große Probleme damit, Reize <strong>aus</strong>zublenden. Sie leiden daher<br />

unter


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 15<br />

permanentem Schlafmangel. Sie sind zwar erschöpft und müde, können<br />

jedoch nicht richtig abschalten, da sie empfindlicher gegenüber<br />

Außenreizen sind als an<strong>der</strong>e Säuglinge. Oft werden die Babys in diesen<br />

Situationen überreizt, wenn Eltern versuchen das Schreien des müden<br />

Säuglings durch Herumtragen zu beruhigen anstatt ihm die dringend<br />

benötigte Ruhe zu verschaffen. Das Schreisignal „Ich weine vor Müdigkeit“<br />

wird als Bedürfnis nach Körperkontakt und vertikaler Körperhaltung<br />

missverstanden (Lucas, S. 1999).<br />

Dadurch, dass ihre Reaktionen unberechenbar sind und ihre Bedürfnisse<br />

ständig zu wechseln scheinen, fallen sie auf durch die erschwerte Erkennbarkeit<br />

ihrer Signale an die Umgebung. In <strong>der</strong> stressvollen Atmosphäre mit<br />

einem Schreibaby kann dies leicht zu Fehlkommunikationen zwischen Eltern<br />

und Kind führen. Blickkontakt zu Bezugspersonen zu halten, etwas zu fixieren<br />

fällt vielen „Schreibabys“ schwer. Sie sind oft zu überreizt, um sich visuell auf<br />

etwas konzentrieren zu können. Versuchen Eltern mit ihrem Kind zu spielen<br />

und wendet das Baby sein Gesicht dabei immer wie<strong>der</strong> ab, lässt die<br />

Motivation <strong>der</strong> Eltern schnell nach.<br />

1.3 Faktoren zur Entstehung von exzessivem Schreien<br />

Experten wissen heute, dass exzessives Schreien in den ersten drei Lebens-<br />

monaten durch ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren entstehen<br />

kann. Die Annahme, dass „falsches“ Verhalten <strong>der</strong> Mütter/Eltern von<br />

exzessiv schreienden Säuglingen ein primär <strong>aus</strong>lösen<strong>der</strong> Faktor ist<br />

unterstütze ich nicht. Ursachen und Folgen von exzessivem Schreien können<br />

von außen betrachtet an einem gewissen Punkt nicht mehr<br />

<strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>gehalten werden. Eltern und Kind befinden sich in einem<br />

Teufelskreis <strong>aus</strong> Reaktionen, die sich gegenseitig beeinflussen und das<br />

exzessive Schreien aufrechterhalten können. Das exzessive, nicht tröstbare<br />

Schreien des Säuglings löst in Eltern Gefühle von Unsicherheit, Hilflosigkeit,<br />

Versagen und Ohnmacht <strong>aus</strong>. Eltern verstehen nicht mehr, was das Baby<br />

mit dem Schreien sagen will und das Baby ist irritiert, dass seine<br />

Schreisignale nicht richtig interpretiert werden. Positives, gegenseitiges<br />

feed-back bleibt <strong>aus</strong> und die intuitive, elterliche Kompetenz ist erschöpft.<br />

Treten zu dem exzessiven Schreiverhalten des Babys noch psychosoziale<br />

Belastungen <strong>der</strong> Eltern hinzu, dann können sich <strong>aus</strong> negativen<br />

Interpretationen und falschen Wahrnehmungen <strong>der</strong> kindlichen Reaktionen<br />

und Signalen Störungen <strong>der</strong> Kommunikation und <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />

Eltern und Kind entwickeln. Diese negativen Gefühle und die ange-


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 16<br />

spannte Haltung <strong>der</strong> Eltern nimmt <strong>der</strong> Säugling genau wahr, was wie<strong>der</strong>um<br />

zu einer Verstärkung seines Schreiverhaltens führen kann. Das Baby befindet<br />

sich in einem permanent erhöhten Spannungszustand, da es nie wirklich<br />

reguliert wird. Im folgenden werden verschiedene <strong>aus</strong>lösende sowie<br />

aufrechter-haltende Faktoren, die zur Entstehung von exzessivem Schreien<br />

beitragen können beschrieben.<br />

1.3.1 <strong>Ein</strong>fluss des mo<strong>der</strong>nen Lebens<br />

Studien über das Phänomen „Schreibabys“ zeigen, dass dieses Problem nur<br />

in unserer sogenannten zivilisierten Welt auftritt. Die Tatsache, dass die<br />

Anzahl <strong>der</strong> exzessiv schreien<strong>der</strong> Säuglinge stetig zunimmt, lässt vermuten,<br />

dass dieses Problem tatsächlich mit unserer heutigen Gesellschaft und<br />

Lebensweise zusammenhängt (Thöne, M. 2000). Vergleicht man das<br />

alltägliche Leben einer mo<strong>der</strong>nen Mutter im Jahre 2000 mit dem Leben<br />

einer H<strong>aus</strong>frau vor 100 Jahren, werden die Unterschiede schnell deutlich:<br />

damals gab es keine elektronische Unterhaltung(Fernseher, Radio), keine<br />

Autos, keinen Verkehrs-lärm und die Mutter bewegte sich wegen <strong>der</strong><br />

eingeschränkten Mobilität hauptsächlich zu H<strong>aus</strong>e im Kreise ihrer Familie.<br />

Aufmerksamkeitsspanne, Aufnahmevermögen und integrative Fähigkeiten<br />

sind beim Neugeborenen noch begrenzt und bedürfen zu ihrer Entfaltung<br />

beson<strong>der</strong>er Vor<strong>aus</strong>setzungen, die normalerweise dank erstaunlicher<br />

intuitiver didaktischer Fähigkeiten auf Seiten <strong>der</strong> Eltern in den ruhigen<br />

Zwiegesprächen mit dem Baby optimal erfüllt werden( Papousek u.<br />

Papousek, 1981). Gerade in <strong>der</strong> heutigen Zeit wächst jedoch die Gefahr<br />

<strong>der</strong> Reizüberflutung und Über-lastung. Geräusche von Fernseher,<br />

Straßenverkehr, lauten Geschäfte mit grellen Lichtern und vielen Menschen,<br />

Babygruppen usw. lassen den Säugling oft nicht zur Ruhe kommen. Nicht<br />

je<strong>der</strong> Säugling kann die Reize unserer Umwelt ohne weiteres <strong>aus</strong>blenden<br />

und habituieren (siehe S. 28). Gerade sensible Säuglinge mit<br />

entwicklungsbedingten selbstregulatorischen Schwie-rigkeiten, die mit den<br />

normalen Alltagsreizen schon überfor<strong>der</strong>t sind, werden zusätzlich belastet.<br />

An<strong>der</strong>erseits kann das Schreien Ausdruck für mangelnde Anregungen und<br />

Langeweile sein. Unterstimulation bedingt durch aufwen-dige<br />

Kin<strong>der</strong>zimmer<strong>aus</strong>stattungen und Spielzeuge, die in <strong>der</strong> heutigen Zeit eine<br />

intensive Beschäftigung und Dialoge mit <strong>der</strong> Bezugsperson ersetzen sollen.<br />

Der wichtigste und beim Säugling beliebteste Kontakt mit einer vertrauten<br />

Bezugsperson, die die Anregungen auf den jeweiligen Zustand <strong>der</strong><br />

kindlichen Aufnahmebereitschaft abstimmt scheint in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>n Welt<br />

immer weiter in den Hintergrund gerückt zu werden.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 17<br />

1.3.2 Schwangerschaft und Geburt<br />

Lange Zeit wurde das Erleben und die Empfindungen eines Ungeborenen<br />

während <strong>der</strong> Schwangerschaft und <strong>der</strong> Geburtsphase unterschätzt.<br />

Aufgrund verschiedener Studien von amerikanischen Entwicklungsforschern<br />

gibt es viele Hinweise darauf, dass das Ungeborene in <strong>der</strong> Gebärmutter<br />

Freuden und Belastungen <strong>der</strong> Mutter wahrnimmt. Es kann bereits Gefühle<br />

des seelischen Schmerzes, <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>samkeit, <strong>der</strong> Trauer, <strong>der</strong> Verlassenheit, <strong>der</strong><br />

Enttäuschung, <strong>der</strong> Abwehr o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung haben, wenn es<br />

entsprechende Erlebnisse hat (Hannig, B. 2001).<br />

Komplikationen während <strong>der</strong> Schwangerschaft, eine negative <strong>Ein</strong>stellung<br />

<strong>der</strong> Mutter zu ihrem Kind und psychische Belastungen führen zu<br />

hormonellen Verän<strong>der</strong>ungen, die über die Plazenta auch auf das<br />

Ungeborene übergehen. Stresssymptome wie z.B. ein erhöhter Blutdruck<br />

verringert die Sauerstoffzufuhr für das Kind, das dadurch ebenfalls gestresst<br />

reagiert und eigene Stresshormone produziert. Wissenschaftler sind <strong>der</strong><br />

Meinung, dass sich dieser Stress-Zustand auf das zentrale Nervensystem des<br />

Babys <strong>aus</strong>wirken kann und die Spannungen auch nach <strong>der</strong> Geburt<br />

anhalten können.<br />

„<strong>Ein</strong> und dieselbe Seele regiert beide Körper... die Dinge, die die<br />

Mutter sich während <strong>der</strong> Zeit wünschte, in <strong>der</strong> sie mit ihrem Kind<br />

Schwanger ging, haben sich seinen Glie<strong>der</strong>n häufig als Mal<br />

eingeprägt.“<br />

(Leonardo da Vinci, Qua<strong>der</strong>ni)<br />

Das Verhalten eines Babys wird bereits in <strong>der</strong> Schwangerschaft mit geprägt<br />

und durch das, was das Baby in <strong>der</strong> Gebärmutter fühlt und hört kann sein<br />

Temperament durch<strong>aus</strong> positiv o<strong>der</strong> negativ beeinflusst werden (Lucas, S.<br />

1999) <strong>Ein</strong> unruhiges Temperament, welches sich durch häufiges Schreien<br />

und auffällige Rhythmusstörungen beim Essen, Trinken und Schlafen<br />

<strong>aus</strong>zeichnet kann exzessives Schreien begünstigen, wenn die elterlichen<br />

Kompetenzen nicht <strong>aus</strong>reichend sind um das Verhalten und den<br />

Erregungszustand des Babys zu regulieren.<br />

Die Geburt ist für Mutter und Baby gleichermaßen ein Erlebnis, durch das<br />

sich von einem Moment auf den nächsten das ganze bisherige Leben<br />

verän<strong>der</strong>t. Aus <strong>der</strong> Partnerschaft wird eine Familie, die bereits bestehende<br />

Familie bekommt ein neues Familienmitglied, das familiäre System wird neu<br />

organi-


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 18<br />

siert. Das Leben <strong>der</strong> Eltern richtet sich von nun an auf das Neugeborene, für<br />

das sie Verantwortung tragen. Das imaginäre Kind ihrer Träume und<br />

Phanta-sien und <strong>der</strong> unsichtbare aber reale Fötus, verschmelzen nun mit<br />

dem wirklichen, neugeborenen Baby das die Eltern sehen, hören und in<br />

den Armen halten können (Brazelton T.B., Cramer B.G. 1994).<br />

Das Baby wird bei <strong>der</strong> Geburt <strong>aus</strong> seiner bekannten, vertrauten Welt in eine<br />

völlig verän<strong>der</strong>te Umgebung gerissen: fremde Geräusche, fremdes Licht,<br />

fremde Temperaturen, womöglich Schmerzen bei medizinischen <strong>Ein</strong>griffen.<br />

Der einzig vertraute Ort ist die Mutter, bei <strong>der</strong> er die Wärme bekommt die er<br />

sucht, den vertrauten Herzschlag, die Stimme und den Atem hört. Durch<br />

intensiven, unmittelbaren Körperkontakt bekommt das Baby die Sicherheit,<br />

die es braucht und kann die Erlebnisse <strong>der</strong> Geburt und auch die Anpassung<br />

an die neue Umwelt besser verarbeiten (Thöne M. 2000).<br />

Stressreiche Geburten wie Früh- o<strong>der</strong> Spätgeburten, Zangengeburten, eingeleitete<br />

Geburten, Geburten unter Medikamenteneinfluss, Nabelschnur-<br />

geburten und die Erfahrung <strong>der</strong> Atmungsverzögerung können ebenfalls zu<br />

vermehrtem Schreien des Babys führen. Die Entwicklungspsychologin<br />

Aletha J.Solter geht davon <strong>aus</strong>, dass frühe Traumata, wie sie etwa durch<br />

eine schwierige Geburt entstehen durch Weinen, Zittern und Gähnen<br />

verarbeitet werden können. Das Weinen diene <strong>der</strong> „Entlastung“<br />

angestauter Spannungen (Riedel-Henck, J. 1998).<br />

Das Kiss-Syndrom<br />

KISS ist die Abkürzung für Kopfgelenk-Induzierte Symmetrie-Störung. Damit ist<br />

eine Fehlfunktion im Bereich <strong>der</strong> Halswirbelsäule gemeint, die meistens unter<br />

<strong>der</strong> Geburt auftritt, durch den Druck auf den Kopf des Babys bei <strong>der</strong><br />

Geburt, häufig auch bei Mehrlingsgeburten, Zangengeburten sowie beim<br />

<strong>Ein</strong>satz einer Saugglocke. Typische Symptome des Kiss-Syndroms sind z.B.<br />

Berührungsempfindlichkeit, exzessives Schreien, Schlafstörungen,<br />

motorische Unruhe, Muskelhypertonie, Gleichgewichtsprobleme,<br />

Schluckprobleme.<br />

Die Frühgeburt<br />

In Deutschland kommen jedes Jahr 50000 Babys zu früh, vor <strong>der</strong> 37.<br />

Schwangerschaftswoche auf die Welt. Ungefähr 2500 dieser Babys wiegen<br />

bei <strong>der</strong> Geburt weniger als 1000 Gramm. Seit den siebziger Jahren ist <strong>der</strong><br />

Anteil an Frühgeborenen um rund 40 % gestiegen. Heute können neun von<br />

zehn <strong>der</strong> extrem früh geborenen Säuglinge gerettet, und am Leben<br />

gehalten<br />

werden. Dies ist vor allem <strong>der</strong> hoch entwickelten high- tech- Medizin zu


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 19<br />

verdanken. Der Alltag eines zu früh geborenen Babys, das wochenlang im<br />

Inkubator auf <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>station liegt ist von stressreichen Erfahrungen für das<br />

Baby gekennzeichnet. Infusionsnadeln, Beatmungsgeräte, Sonden zur<br />

künstlichen Ernährung, ständige Blutabnahmen; die ersten Empfindungen<br />

des frühgeborenen Babys sind mit Schmerzen und, bedingt durch den<br />

Inkubator, mit <strong>der</strong> Trennung von <strong>der</strong> Mutter verbunden.<br />

Diese <strong>Ein</strong>drücke und <strong>der</strong> damit zusammenhängende Stress haben massive<br />

Auswirkungen auf die psychische und physische Entwicklung des Babys.<br />

Frühgeborene Säuglinge sind häufig extrem unruhig, haben <strong>aus</strong>geprägte<br />

Schlafprobleme, sind beson<strong>der</strong>s schmerz- und berührungsempfindlich und<br />

schreien oft exzessiv. Die Ursachen für das exzessive Schreien bei Früh-<br />

geborenen können zudem auch mit einer mangelnden Ausreifung in <strong>der</strong><br />

Verhaltensregulation des Säuglings zusammenhängen, worauf im<br />

folgenden Abschnitt näher eingegangen wird.<br />

Heute wird die Gerätemedizin bei Frühgeborenen immer öfter mit <strong>der</strong><br />

„Kängeruh-Methode“ kombiniert. Beim „Kängeruhen“ werden die Babys<br />

täglich wie<strong>der</strong>holt nackt auf die Brust <strong>der</strong> Mutter gelegt und sanft<br />

gestreichelt und gewiegt. Der für die Säuglinge so wichtige unmittelbare<br />

Körperkontakt zur Mutter ist somit zeitweise gewährleistet. Es konnte<br />

nachgewiesen werden, dass Frühgeborene die diese Liebe und<br />

Zuwendung während <strong>der</strong> Zeit im Inkubator genießen, sich erheblich besser<br />

entwickeln.<br />

Postnatale Depression<br />

In den ersten Tagen und Wochen nach <strong>der</strong> Geburt beeinträchtigen zahlreiche<br />

Faktoren das mütterliche Wohlbefinden. Hormonelle Schwankungen,<br />

die Umstellung des Körpers, das <strong>Ein</strong>finden in die neue Rolle als Mutter,<br />

Schmerzen durch Geburtsverletzungen (Kaiserschnitt, Dammnaht) machen<br />

eine Frau in dieser Zeit anfälliger für Depressionen. Vom „Babyblues“ bzw.<br />

<strong>der</strong> „Wochenbettdepression“, die zwischen dem dritten und fünften Tag<br />

nach <strong>der</strong> Entbindung auftritt, bleiben nur wenige Mütter verschont. Ängste<br />

vor dem Leben mit dem Kind o<strong>der</strong> davor, dass sich die Beziehung zu dem<br />

Partner negativ verän<strong>der</strong>n könnte und man als Frau nicht mehr<br />

begehrenswert für den eigenen Partner sein könnte bewirken, dass v ielen<br />

Müttern nur noch zum Weinen zumute ist.<br />

Manchmal entwickelt sich nach <strong>der</strong> Geburt eine ernsthafte seelische<br />

Verstimmung, die postnatale Depression, an <strong>der</strong> durchschnittlich 10 bis 15 %<br />

aller Mütter erkranken. Oft geht <strong>der</strong> Zustand einer harmlosen „Wochenbettdepression“<br />

nahtlos darin über, kann aber auch erst zwei bis sechs Monate


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 20<br />

nach <strong>der</strong> Geburt auftreten. Auslöser einer postnatalen Depression sind<br />

körperliche, psychische, soziale und gesellschaftliche Gründe, die<br />

zusammen-wirken. Dies kann eine mangelhafte Unterstützung durch die<br />

eigene Familie, Partner o<strong>der</strong> Freunde, soziale Isolation o<strong>der</strong> auch die<br />

Überfor<strong>der</strong>ung mit <strong>der</strong> Verantwortung als Mutter sein.<br />

Mögliche Symptome sind eine nie<strong>der</strong>geschlagene, traurige<br />

Grundstimmung, häufiges Weinen, Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit,<br />

Desinteresse am Alltäglichen, Ängste, Abwehr gegenüber Partner und<br />

Kind,....<br />

Da Babys genau wahrnehmen was um sie herum geschieht, können sich<br />

die negativen Gedanken und die durch Antriebslosigkeit oft fehlende<br />

adäquate Interaktionsfähigkeit <strong>der</strong> Mutter auf das Baby übertragen,<br />

welches durch vermehrtes Schreien sein Unbehagen <strong>aus</strong>drückt. Bei einem<br />

„Schreibaby“ kann das depressive Verhalten als<br />

verstärken<strong>der</strong>/aufrechterhalten<strong>der</strong> Faktor wirken.<br />

1.3.3 „Dreimonatskolik“<br />

Der Begriff „Dreimonatskolik“ wurde lange Zeit als primär <strong>aus</strong>lösen<strong>der</strong> Faktor<br />

für exzessives Schreien eingesetzt und weist auf verdauungsbedingte<br />

Störungen beim Säugling hin. Kin<strong>der</strong>ärzte vermuten, dass es während des<br />

Verdauungsprozesses zu vermehrter Gasansammlung im Magen-Darm-Trakt<br />

und zu schmerzhaften Verkrampfungen <strong>der</strong> Magen-Darm- Muskulatur<br />

kommt. Viele Eltern machen daher als einzige Ursache häufig unwissentlich<br />

Bauchkrämpfe für das Schreien verantwortlich, die starke Schmerzen<br />

<strong>aus</strong>lösen. Heute zeigen Ergebnisse neuerer Untersuchungen jedoch, dass<br />

Blähungen Folge und nicht Ursache des Schreiens sind. Manche Babys<br />

schlucken während des Schreiens vermehrt Luft, was durch<strong>aus</strong> zu<br />

Blähungen führen kann. Verdauungsprobleme, so wie allergische<br />

Reaktionen auf Nahrungsmittel und <strong>der</strong> gastroösophagealer Reflux 3 als<br />

tatsächliche Ursache von exzessivem Schreien wird nur bei 10-12 % <strong>der</strong><br />

Säuglinge nachgewiesen. Auf organisch-bedingtes unstillbares Schreien<br />

wird in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen, da Medikamente den<br />

größten Erfolg zur Behandlung beitragen.<br />

3 “Rückfluß von Mageninhalt in die Speiseröhre“ aufgrund eines<br />

Fehlmechanismus im Speiseröhrenverschluss. Als Folge davon kommt es zu<br />

Sodbrennen, Entzündung <strong>der</strong> Speiseröhre und Erbrechen.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 21<br />

1.3.4 Defizite in <strong>der</strong> Selbstregulationsfähigkeit<br />

<strong>Ein</strong>e <strong>der</strong> ersten Entwicklungsaufgaben für das Baby besteht in <strong>der</strong><br />

Regulation von Verhaltenszuständen. Die sechs Verhaltenszustände sind <strong>der</strong><br />

Tiefschlaf, <strong>der</strong> Traumphasenschlaf, <strong>der</strong> Halbschlaf, <strong>der</strong> wache<br />

Aufmerksamkeitszustand, <strong>der</strong> aufmerksame, aber quengelige Zustand und<br />

das Schreien (Brazelton, T. 1994). In Kapitel 2 werden diese<br />

Verhaltenszustände näher betrachtet.<br />

Verhaltenszustände regulieren zu können, beinhaltet die Fähigkeit zur<br />

Regulation <strong>der</strong> Zuwendung o<strong>der</strong> Abwendung gegenüber <strong>der</strong> Außenwelt.<br />

Die Kontrolle über die Verhaltenszustände bedeutet regulieren zu können,<br />

ob und wann das Baby Informationen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Umwelt aufnimmt und auf<br />

diese reagiert. Diese Fähigkeit muss von den Babys (universell) in den ersten<br />

Lebenswochen erworben werden. In einer überstimulierenden Umgebung<br />

kann das Baby z.B. durch Blickabwendung, Tiefschlaf o<strong>der</strong> Schreien äußern,<br />

dass ihm etwas zu viel wird und kann sich zurückziehen.<br />

Die mangelnde Ausreifung <strong>der</strong> Verhaltensregulation eines Säuglings,<br />

bedingt durch eine cerebrale Unreife, wird v on <strong>der</strong> Säuglingsforschung als<br />

meist vorkommen<strong>der</strong>, <strong>aus</strong>lösen<strong>der</strong> Faktor für exzessives Schreien betrachtet.<br />

Das Schreien ist demzufolge Ausdruck einer erschwerten Anpassung des<br />

Babys an seine Umgebung. Die Mängel in <strong>der</strong> Verhaltensregulation<br />

betreffen Biorhythmen, die Organisation des Schlaf- Wach- Rhythmus und<br />

Verhaltens-zustände, <strong>der</strong> adäquate und flexible Umgang mit Reizen.<br />

Da „Schreibabys“ Probleme damit haben Reize <strong>aus</strong>zublenden, werden sie<br />

daran gehin<strong>der</strong>t einzuschlafen und die Tiefschlafphase zu erreichen. Die<br />

Fähigkeit tief schlafen zu können ist gekoppelt an Reifungsvorgänge des<br />

Zentralnervensystems.<br />

Die Qualität <strong>der</strong> Wachphasen bestimmt die Möglichkeit <strong>der</strong> Reizaufnahme<br />

o<strong>der</strong> Reizabnahme. „Schreibabys“ sind durch den Schlafmangel selten<br />

richtig wach und zufrieden. Häufig ist eine Unreife <strong>der</strong> Verhaltensregulation<br />

bei Frühgeborenen zu beobachten. „Schreibabys“ brauchen für die<br />

Entfaltung <strong>der</strong> Selbstregulation mehr Zeit und Unterstützung, und sind daher<br />

auf eine gelungene Interaktion angewiesen. Da die Signale eines<br />

„Schreibabys“ schwerer erkennbar sind, kommt es oft zu Fehldeutungen<br />

und Missverständ-nissen zwischen Baby und Eltern, was das Schreiverhalten<br />

wie<strong>der</strong>um verstärken kann.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 22<br />

1.3.5 soziale Hintergründe<br />

Zu den Faktoren, die exzessives Schreien aufrechterhalten und begünstigen<br />

können, gehören auch psychosoziale Belastungen im familiären System.<br />

Partnerkonflikte, Finanznot, mangelnde (emotionale) Unterstützung <strong>der</strong><br />

Mutter durch das soziale Umfeld, das psychische Befinden <strong>der</strong> Eltern, und<br />

eine mangelnde Qualität <strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung und –Interaktion<br />

(Überstimulation, Unterstimulation, nicht-adäquates Reagieren, verzerrte<br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> kindlichen Signale durch unangemessene Erwartungen<br />

o<strong>der</strong> unbewusste Reinszenierungen dysfunktionaler Kommunikationsmuster<br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit) stehen in Wechselwirkung mit Schrei- und Unruheneigungen<br />

des Babys.<br />

1.4 Auswirkungen auf Eltern und Kind<br />

Gefühle, die ein permanent schreiendes Baby in seinen Eltern <strong>aus</strong>löst sind<br />

vielfältig. Während ständige Versuche, dem Schreien erfolgreich entgegenzuwirken<br />

und die Schreisignale zu erkennen scheitern, wachsen die<br />

Beunruhigung und Sorgen um den Gesundheitszustand und das Wohl-<br />

befinden des Babys.<br />

Zweifel an den eigenen elterlichen Kompetenzen und Selbstvorwürfe<br />

werden immer stärker, aber auch die Enttäuschung über das eigene Baby.<br />

In den Medien werden grundsätzlich nur glückliche Mütter mit ihren<br />

zufriedenen Babys präsentiert, für Schattenseiten des Mutterdaseins ist hier<br />

kein Platz. Das schreiende, unruhige Baby in <strong>der</strong> Realität dagegen macht<br />

seine Eltern hilflos und bringt auch ihren Rhythmus durcheinan<strong>der</strong>. Die Folge<br />

ist nicht nur eine körperliche son<strong>der</strong>n auch eine seelische Erschöpfung und<br />

Überfor<strong>der</strong>ung. Schlafmangel und Schlafrhythmusstörungen können zu<br />

Stresserscheinungen wie Kurzatmigkeit, Übelkeit, Zittern, Muskelschmerzen,<br />

Schweiß<strong>aus</strong>brüche, Magen-Darmbeschwerden, aber auch Gereiztheit,<br />

Weinanfälle und Vergesslichkeit führen. Diese Stresserscheinungen machen<br />

es den Eltern erst recht unmöglich auf das Schreien des Babys einzugehen,<br />

welches den Stress und die Anspannung <strong>der</strong> Eltern genau spürt und mit<br />

weiterem Schreien reagiert.<br />

Das Schreien kann eine Lautstärke von bis zu 117 Dezibel erreichen. Diese


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 23<br />

akustische Belastung kann über Wochen in Eltern ambivalente, negative<br />

Gefühle wie Wut und Aggressivität hervorrufen. Über diese Gefühle zu<br />

sprechen wagen die meisten Eltern nicht, obwohl sie angesichts einer<br />

solchen Situation ganz normal sind. Aus Scham und Angst als „schlechte“<br />

Eltern dazustehen werden Aggressionen immer weiter unterdrückt.<br />

In <strong>der</strong> Öffentlichkeit werden Mütter mit schreienden Babys, die sich nicht<br />

beruhigen lassen, schnell verurteilt. Verständnislose Blicke, Kommentare und<br />

Ärger über Belästigung durch das schreiende Baby för<strong>der</strong>n zusätzlich die<br />

Verunsicherung und Hilflosigkeit. Die Folge ist eine zunehmende Isolation<br />

<strong>der</strong> Mutter, die sich mit dem „Schreibaby“ immer mehr zurückzieht. Durch<br />

diese Situation können Depression und Aggressionen gegen das Baby noch<br />

gestärkt werden.<br />

Die Partnerschaft leidet in dieser Zeit oft beson<strong>der</strong>s und die Bedürfnisse <strong>der</strong><br />

Eltern werden <strong>aus</strong> Rücksicht auf das Schreibaby grundsätzlich in den<br />

Hintergrund gestellt. Es gibt keine Zeit mehr für intensive Gespräche,<br />

Unternehmungen, <strong>aus</strong>gedehnte Zärtlichkeit o<strong>der</strong> gemeinsames Essen. Viele<br />

Paare erleben sich nur noch als Eltern, nicht aber als Menschen mit eigenen<br />

Interessen. Viele Mütter haben keine Zeit mehr, sich um ihre Hobbys o<strong>der</strong> ihr<br />

Äußeres zu kümmern. Sie fühlen sich nicht glücklich und <strong>aus</strong>geglichen,<br />

son<strong>der</strong>n erschöpft und unattraktiv.<br />

1.4.1 die belastete Eltern-Kind-Beziehung<br />

Die Kommunikation zwischen Eltern und Baby ist geprägt von intuitiven<br />

Kompetenzen und Verhaltensbereitschaften auf Seiten <strong>der</strong> Eltern, die zur<br />

Entstehung einer vertrauten emotionalen Beziehung beitragen (Papousek,<br />

M. 1991, siehe Kapitel 2).<br />

Durch Mimik, Gestik, Stimme und Blickkontakt reagieren Eltern auf die<br />

kindlichen Signale, stimulieren und unterstützen das Verhalten des Babys.<br />

Eltern besitzen eine Sensibilität für die Bedürfnisse ihres Babys und stellen sich<br />

mit ihrem Verhalten darauf ein.<br />

„Sich begegnen, etwas teilen können, auf <strong>der</strong> selben Wellenlänge zu<br />

sein löst Spannung und öffnet einen Raum für neue Erfahrungen“<br />

(Lenz, G.M. 2000)


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 24<br />

Interaktive Spiele (Anregung mit steigen<strong>der</strong> Stimme - P<strong>aus</strong>e –<br />

Spannungsentladung mit abfallen<strong>der</strong> Intensität und Tonhöhe - Lachen),<br />

Dialoge in denen die Eltern dem Kind Zeit zum Antworten geben und<br />

gemeinsam aufeinan<strong>der</strong> abgestimmte Vokalisation (Duettieren) gehören zu<br />

den typischen Verhaltensmerkmalen <strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung (Papousek,<br />

M. 1991). Sie wird beeinflusst durch die elterlichen <strong>Ein</strong>stellungen, Gefühle,<br />

Phantasien und Interpretationen des kindlichen Verhaltens (Fraiberg et al.,<br />

1975), durch die physischen und psychischen Ressourcen bei<strong>der</strong><br />

Beziehungs-partner und durch mögliche Belastungen und <strong>Ein</strong>schränkungen<br />

dieser Ressourcen (Papousek M. et al., 1996) .<br />

„Schreibabys“ können häufig nur sehr ungenaue und undeutliche Signale<br />

bezüglich ihrer Bedürfnisse an die Eltern weitergeben und sind oft auch<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage auf Interaktionsangebote <strong>der</strong> Eltern einzugehen. Das<br />

übermäßige Schreien, die leichte Irritierbarkeit und die mangelnde<br />

Konzentrationsfähigkeit des Babys schränkt die Interaktionsfähigkeit auf<br />

beiden Seiten ein. Für die Eltern immer schwieriger, die intuitiven elterlichen<br />

Kompetenzen adäquat einzusetzen, und die Bedürfnisse des Babys zu<br />

stillen. Blickzuwendung, Lächeln und positive Vokalisation sind<br />

Rückkopplungssignale des Säuglings, die als Quelle von Belohnung und<br />

Bestärkung des elterlichen Selbstwertgefühls wirken. Bleiben diese Signale<br />

<strong>aus</strong>, kann dies die intuitiven elterlichen Kompetenzen hemmen und<br />

beeinträchtigen. Eltern und Baby sind gestresst, fühlen sich missverstanden<br />

und finden nicht zueinan<strong>der</strong>. Momente, in denen sich Eltern und Baby voller<br />

Freude im gemeinsamen Spiel begegnen, fehlen meist ganz.<br />

Psychosoziale und familiäre Probleme können die Eltern-Kind-Beziehung in<br />

einer solchen Situation zusätzlich belasten und, abhängig von den<br />

Ressourcen die einer Familie zur Verfügung stehen, Kommunikations- und<br />

Beziehungsstörungen för<strong>der</strong>n. Ist das psychische Befinden <strong>der</strong> Mutter z.B.<br />

durch eine postnatale Depression negativ beeinflusst, kann sie oft nicht in<br />

<strong>der</strong> Lage sein auf die beson<strong>der</strong>en Bedürfnisse ihres Babys einzugehen. Die<br />

Kommunikation kann durch das depressive Verhalten und die damit<br />

zusam-menhängende Antriebshemmung stark beeinflusst werden. Intuitive<br />

Kompetenzen sind dadurch möglicherweise blockiert und können nicht<br />

<strong>aus</strong>reichend eingesetzt werden. <strong>Ein</strong> „Schreibaby“ benötigt in einer solchen<br />

Situation ein stabiles und unterstützendes soziales Umfeld. Ist dies nicht<br />

gegeben und kommen zudem noch Konflikte <strong>der</strong> Eltern hinzu, kann das<br />

familiäre System <strong>aus</strong> dem Gleichgewicht geraten. Die Gefahr von<br />

Kindesmisshandlung- und Vernachlässigung steigt, je größer die Überfor-<br />

<strong>der</strong>ung und Erschöpfung <strong>der</strong> Ressourcen <strong>der</strong> Eltern ist.


KAPITEL 1. EXZESSIVES SCHREIEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT 25<br />

1.4.2 diagnostische Maßnahmen<br />

ätiologische Faktoren diagnostische Maßnahmen<br />

Kind<br />

- Unreife <strong>der</strong> Verhaltensregulation - Anamnese, pädiatrische<br />

Untersuchung,<br />

- Temperament - Fragebögen,<br />

Tabelle 1: Ätiologische Faktoren und diagnostische Maßnahmen bei exzessivem<br />

Schreien/ „Koliken“ (von Klitzing, K. 1998)<br />

Verhaltensbeobachtung<br />

Verhaltensbeobachtung<br />

- „Dreimonatskolik“ - Oberbauch-Sonographie,<br />

pH-Metrie<br />

- Proteinunverträglichkeit - Probatorische Milch-<br />

Mutter<br />

umstellung bei<br />

begründetem Verdacht<br />

- Postnatale Depression - Tiefenpsychologisches<br />

- Psychische Belastungen Interview, Anamnese,<br />

- Erziehungseinstellungen Fragebogen,<br />

- soziale Unterstützung psychiatrische<br />

- Kindheitserlebnisse Untersuchung<br />

Familiäres System<br />

- Eltern-Kind-Beziehung und- - Interaktionsbeobachtung<br />

Interaktion in störungs- und alters-<br />

Relevanten Kontexten<br />

- Partnerschaftsbeziehung - Anamnese, Fragebogen<br />

- Beziehung zur Herkunftsfamilie - Anamnese


Kapitel 2<br />

Die frühe Eltern-Kind-Beziehung<br />

In Kapitel 1 wurde beschrieben, welche Auswirkungen das exzessive<br />

Schreien eines Säuglings auf die frühe Beziehung zwischen Eltern und Kind<br />

haben kann. Die Eltern-Kind-Beziehung wird als dynamisches System<br />

betrachtet, in dessen wechselseitiger Beeinflussung je<strong>der</strong> Teilnehmer auf<br />

den an<strong>der</strong>en einwirkt und seinerseits durch den Partner geprägt wird. Sie<br />

schließt multiple, sich regel-mäßig wie<strong>der</strong>holende Interaktionen in<br />

unterschiedlichen Kontexten ein und dient im frühen Kindesalter vor allem<br />

zur Unterstützung <strong>der</strong> Erregungssteue-rung des Säuglings, <strong>der</strong> Regulation<br />

von Affekten und <strong>der</strong> Integration von Erfahrungen (Papousek et al. 1996).<br />

Dieses Kapitel richtet sich vor allem auf eine Frage: Welche elterlichen und<br />

kindlichen Fähigkeiten, die zur Entstehung und zu einem günstigen Verlauf<br />

<strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung beitragen, sind daran beteiligt?<br />

2.1 Fähigkeiten des Neugeborenen und sein Beitrag zur<br />

Interaktion<br />

Die veraltete Vorstellung davon, dass ein Neugeborenes mehrere Wochen<br />

nach <strong>der</strong> Geburt we<strong>der</strong> hören noch sehen kann bedeutet gleichzeitig, dass<br />

eine Interaktion zwischen Eltern und Kind in dieser Phase unmöglich wäre.<br />

Lange wurde angenommen, dass sich ein Neugeborenes von <strong>der</strong> Geburt<br />

bis zum Alter von zwei Monaten in einer Art präsozialer, präkognitiver und<br />

noch nicht organisierter Lebensphase befindet. Der Psychoanalytiker Freud<br />

(1920) glaubte, dass Säuglinge durch einen „Reizschutz“ gegen<br />

Bezogenheit abgeschirmt würden, so dass sie äußere Reize , darunter auch<br />

an<strong>der</strong>e Menschen, nicht aufnehmen und verarbeiten müssten. Mahler, Pine<br />

und Bergman (1975), ebenfalls Psychoanalytiker, waren <strong>der</strong> Auffassung,<br />

dass Säuglinge sich in einem Zustand des „normalen Autismus“, ohne<br />

Beziehung zu an<strong>der</strong>en Personen, befinden. Die Säuglinge verharren<br />

demnach in einem Zustand, in dem keine soziale Welt existiert und in dem<br />

sie nur indirekt mit an<strong>der</strong>en Menschen verbunden sind, soweit diese <strong>Ein</strong>fluss<br />

auf ihre inneren Zustände wie Hunger, Müdigkeit, usw. nehmen.<br />

26


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 27<br />

Heute ist das Wissen um die Fähigkeiten <strong>der</strong> Sinne und das Verhaltens-<br />

repertoire eines Neugeborenen soweit fortgeschritten, dass diese Theorien<br />

glücklicherweise wi<strong>der</strong>legt werden können. Die Erkenntnis über die weitreichenden<br />

kommunikativen Fähigkeiten eines Neugeborenen hat die<br />

<strong>Ein</strong>stellung und das Verhalten <strong>der</strong> Bezugspersonen gegenüber Säuglingen<br />

während dieser ersten Lebensphase entscheidend verän<strong>der</strong>t. M. Papousek<br />

schreibt, dass das Neugeborene von Anfang an fähig und motiviert ist,<br />

seine Umwelt mit allen Sinnen wahrzunehmen, seine Wahrnehmungen zu<br />

integrieren, zu speichern, sich mit <strong>der</strong> Umwelt vertraut zu machen, Regeln<br />

zu entdecken und sein Verhalten darauf abzustimmen. D. Stern (2000)<br />

beschreibt das subjektive Erleben eines Säuglings, dessen Verhalten von<br />

Beginn an als sozial angesehen wird und <strong>der</strong> somit in <strong>der</strong> Lage ist, die<br />

Beziehung zu seinen Eltern aktiv mitzugestalten. Die Aufgaben des Babys-<br />

Trinken, Schlafen, homöostatische Regulation 4 - werden von den<br />

Verhaltensweisen <strong>der</strong> Eltern begleitet: Schaukeln, Streicheln, Zureden,<br />

Besänftigen, Singen, mimische Reaktionen. Dieses elterliche Verhalten<br />

geschieht in Reaktion auf das kindliche Verhalten, das von Stern als<br />

überwiegend sozial beschrieben wird: Schreien, Quengeln, Lächeln und<br />

visuelle Kommunikation. Die physiologische Regulation erfolgt demnach<br />

vorwiegend über den Aust<strong>aus</strong>ch von Sozialverhalten (Stern, D. 2000). Im<br />

folgenden werden die Fähigkeiten <strong>der</strong> fünf Sinne, über die ein gesundes<br />

Neugeborenes verfügt, sowie die sechs Verhaltenszustände näher<br />

betrachtet.<br />

2.1.1 Erscheinungsbild und Sinne<br />

Das äußere Erscheinungsbild eines Babys, das sanfte rundliche Gesicht, die<br />

zarte Haut und die winzigen Händchen lösen unseren Pflegetrieb <strong>aus</strong>. Die<br />

durch einen Säugling <strong>aus</strong>gelösten Verhaltensweisen passen sich optimal<br />

den angeborenen Wahrnehmungsfähigkeiten an. <strong>Ein</strong> deutliches Beispiel<br />

hierfür ist die Anwendung <strong>der</strong> „Babysprache“. Sie ist gekennzeichnet durch<br />

eine erhöhte Stimme, vereinfachte Syntax, durch langsames Sprechtempo<br />

und übertriebene Höhenkonturen (Ferguson 1964, Snow 1972, Fernald 1982,<br />

Stern,<br />

4 homöostatische Regulation beinhaltet die Fähigkeit, zwischen <strong>der</strong> Aufnahme von<br />

Reizen (input) und den eigenen Verhaltensweisen (output) ein Gleichgewicht herzustellen.<br />

Mit dieser Fähigkeit ist <strong>der</strong> Säugling einerseits in <strong>der</strong> Lage, sich gegen Reize abzusperren,<br />

an<strong>der</strong>erseits Reize aufzunehmen und zugleich die eigenen Verhaltenszustände und<br />

physiologischen Funktionen zu steuern.


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 28<br />

Spieker und MacKain 1983). Die im folgenden beschriebenen Sinne des<br />

Neugeborenen betreffen die Fähigkeiten des Sehens, Hörens, Riechens,<br />

Schmeckens und Fühlens während <strong>der</strong> ersten Lebenswochen.<br />

Sehen<br />

Wenn Eltern ihr Baby zum ersten mal hochnehmen wird es, sofern es nicht<br />

medikamentös beeinträchtigt ist, die Augen öffnen und ihr Gesicht suchen.<br />

Für Brazelton (1994) ist <strong>der</strong> unmittelbaren Blickkontakt in <strong>der</strong> Neugeborenenphase<br />

möglicherweise ebenso wichtig wie <strong>der</strong> Körperkontakt zwischen<br />

Eltern und Kind. Er ist <strong>der</strong> Auffassung, dass Babys anscheinend mit dem<br />

Bedürfnis und <strong>der</strong> Fähigkeit zur Welt kommen, das menschliche Gesicht zu<br />

erforschen. Tatsächlich bevorzugen sie die Betrachtung von ovalen<br />

Formen, wie den Umriss des Gesichts, glänzende Augen und den Mund.<br />

Außerdem zeigen sie eine Vorliebe für reaktionsbereite und lebendige<br />

Gesichter, welche sie mit zunehmen<strong>der</strong> Erregung verfolgen. Im Alter von<br />

drei Wochen beginnt ein Säugling das Gesicht seiner Mutter zu erkennen<br />

und reagiert mit vier bis fünf Wochen auf die Gesichter an<strong>der</strong>er, vertrauter<br />

Erwachsenen. Neugeborene sind verhältnismäßig kurzsichtig und verfügen<br />

über ein Sehvermögen von 13 %. Die größte Sehschärfe erreichen sie in<br />

einer Entfernung von ca. 20 Zentimetern, erkennen jedoch noch keine<br />

Details. Robert Fantz (1961) fand her<strong>aus</strong>, dass Neugeborene außerdem eine<br />

Vorliebe für stark kontrastierende Farben, große Flächen und mäßig<br />

beleuchtete Objekte haben. Am besten können sie Gegenstände<br />

verfolgen, die sehr langsam hin- und her bewegt werden. Neugeborene<br />

versuchen aktiv, ihr Sehvermögen zu verbessern, indem sie die Dauer ihrer<br />

Aufmerksamkeit für ein attraktives Objekt stets verlängern.<br />

Die gesunde Reaktion eines Neugeborenen auf visuelle Reize kann als<br />

Abfolge von vier verschiedenen Phasen, <strong>der</strong> Habituation, gesehen werden:<br />

1) anfängliches Munterwerden<br />

2) wachsende Aufmerksamkeit<br />

3) allmählich nachlassendes Interesse<br />

4) endgültiges Abwenden von einem gleichbleibenden Reizangebot<br />

Habituation bzw. Gewöhnung, stellt eine Schutzreaktion dar, durch die sich<br />

das Nervensystem gegen zu starke äußere Stimulation absperrt und durch<br />

den das Baby seinen Verhaltenszustand aktiv regulieren kann. Diese<br />

Habituationsreaktion kann durch auditive, optische o<strong>der</strong> taktile Reize herbei<br />

geführt werden. Bietet man einen Reiz wie<strong>der</strong>holt an, werden<br />

Neugeborene


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 29<br />

immer schwächer reagieren. <strong>Ein</strong>e kleine Verän<strong>der</strong>ung des Reizes weckt<br />

jedoch erneut ihr Interesse und sie werden wie<strong>der</strong> aufmerksam. Die<br />

Habituationsfähigkeit bei „Schreibabys“ ist oft herabgesetzt, so dass sie in<br />

stärkerem Maß allen Arten von Reizen <strong>aus</strong>geliefert sind.<br />

Hören<br />

Gleich nach <strong>der</strong> Geburt zeigt sich die Hörfähigkeit des Neugeborenen,<br />

wenn es sich <strong>der</strong> mütterlichen Stimme zuwendet. Im allgemeinen zeigen<br />

Neugeborene eine Vorliebe für die weibliche Stimmhöhe und menschliche<br />

Geräusche. Die Frequenz, die sie bevorzugen und von allen akustischen<br />

Reizen beson<strong>der</strong>s gut wahrnehmen können, liegt bei 500-900 Hertz. Die<br />

bereits genannte „Babysprache“, die Erwachsene intuitiv einsetzen sobald<br />

sie mit einem Baby sprechen, trifft genau diesen Frequenzbereich. Bei zu<br />

hohen o<strong>der</strong> lauten Geräuschen wird ein Säugling zunächst erschrecken<br />

und den Kopf vom Geräusch abwenden, wobei seine Herz- und<br />

Atemfrequenz steigen. Wenn sich dieses Geräusch wie<strong>der</strong>holt, werden sie<br />

versuchen „abzuschalten“, d.h. in den Schlaf zu fallen. Gelingt dies nicht<br />

werden sie anfangen zu weinen, um ihre Schreck- und an<strong>der</strong>e motorische<br />

Reaktionen unter Kontrolle zu bringen. <strong>Ein</strong> sanfter, zarter und<br />

gleichbleiben<strong>der</strong> auditiver Stimulus hingegen wird die Aufmerksamkeit des<br />

Säuglings wecken und er wird sich dem Geräusch zuwenden. Seine<br />

Bewegungen verlangsamen sich und gleichzeitig sinkt die Herzfrequenz<br />

(Brazelton, T. 1994). Unmittelbar nach <strong>der</strong> Geburt gleicht das Neugeborene<br />

seine Bewegungen dem Rhythmus <strong>der</strong> Stimme seiner Mutter an. Diese<br />

versucht ihrerseits den Sprachrhythmus den Bewegungen des Babys<br />

anzupassen(Condon W, San<strong>der</strong>, L. 1975). Heute weiß man, dass sprachliche<br />

Zuwendung die neuronalen Vernetzungen im Gehirn und damit spätere<br />

geistige Fähigkeiten för<strong>der</strong>n. Dabei ist <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Sprache zunächst<br />

bedeutungslos.<br />

Riechen und Schmecken<br />

Neugeborene kommen mit einem hochentwickelten Geruchssinn auf die<br />

Welt, mit dem sie schon wenige Tage nach <strong>der</strong> Geburt den Geruch 5 ihrer<br />

Mütter erkennen und von an<strong>der</strong>en unterscheiden können. Sie zeigen<br />

außerdem eine Vorliebe für süßliche Gerüche, die anziehend wirken. Beim<br />

5 <strong>der</strong> Geruch <strong>der</strong> Mutter bezieht sich auf den natürlichen Körpergeruch und den<br />

Geruch <strong>der</strong> Muttermilch. Künstliche, kosmetische Düfte irritieren den Säugling.


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 30<br />

Geruch von Essig o<strong>der</strong> Alkohol wenden sie sich ab (Engen, Lipsitt & Kaye,<br />

1963). Der Geschmackssinn ist in dieser Lebensphase ebenfalls beson<strong>der</strong>s<br />

gut entwickelt. Neugeborene verfügen über hochsensible<br />

Geschmacksknospen, die sogar besser <strong>aus</strong>gebildet sind als beim<br />

Erwachsenen. Der Geschmacks-sinn liefert ihnen von allen Sinnen die<br />

zuverlässigsten Informationen, daher wird alles zu Erforschende zunächst in<br />

den Mund gesteckt. Süßes, wie die Muttermilch, wird bevorzugt, Bitteres<br />

hingegen abgelehnt.<br />

Fühlen<br />

Intensiver Körperkontakt zu einer Bezugsperson schafft ein Gefühl von<br />

Schutz und Geborgenheit und gehört zu den Grundbedürfnissen eines<br />

Babys. Für den Säugling und <strong>der</strong> Bezugsperson ist <strong>der</strong> Körperkontakt eine Art<br />

Mitteilungssystem. Er kann sowohl beruhigen, als auch aufwecken und<br />

anregen. Der Übergang von beruhigen<strong>der</strong> zu anregen<strong>der</strong> Wirkung ist dabei<br />

von Kind zu Kind unterschiedlich. Wie ein Neugeborenes auf Berührung<br />

reagiert hängt auch von <strong>der</strong> Körperregion ab, die stimuliert wird. <strong>Ein</strong>e<br />

Berührung <strong>der</strong> Mundregion löst Such- und Saugreflexe <strong>aus</strong>. Durch den<br />

Druck auf eine Handfläche dreht das Neugeborene den Kopf zur gleichen<br />

Seite und öffnet den Mund (Babkin-Reflex). Sobald man den Mundwinkel<br />

streichelt, wird die Hand auf <strong>der</strong> selben Seite zur F<strong>aus</strong>t geballt und zum<br />

Mund geführt. Diese Hand-zu-Mund Reaktionen sind bereits pränatal<br />

vorhanden und dienen zur Selbstberuhigung, zur Kontrolle <strong>der</strong> motorischen<br />

Aktivität und zur Selbststimulierung (Brazelton, T. 1994)<br />

Verbundenheit <strong>der</strong> Sinne<br />

Lange Zeit wurde angenommen, dass Neugeborene die verschiedenen<br />

Sinnesreize zunächst isoliert voneinan<strong>der</strong> aufnehmen. Verschiedene<br />

Experimente haben jedoch gezeigt, dass die wahrgenommenen <strong>Ein</strong>drücke<br />

bereits von drei bis vier Wochen alten Säuglingen miteinan<strong>der</strong> in Beziehung<br />

gesetzt werden (kreuzmodale Wahrnehmung).<br />

Sehen und Hören: <strong>Ein</strong> 30 Tage alter Säugling ist z.B. irritiert, wenn die Stimme<br />

die er hört, nicht <strong>aus</strong> dem sprechenden Gesicht kommt, das er sieht.<br />

Sehen und Fühlen: <strong>Ein</strong> drei Wochen alter Säugling saugt an einem Schnuller<br />

mit Noppen. Zeigt man ihm anschließend einen Schnuller mit und einen<br />

ohne Noppen, betrachtet er den Noppenschnuller länger als den an<strong>der</strong>en.


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 31<br />

2.1.2 Verhaltenszustände<br />

Von Geburt an reagieren Neugeborene auf ihre Umgebung und<br />

interagieren mit ihr. Damit ein Erwachsener auf diese Reaktionen eingehen<br />

kann, muss er wissen, welche Verhaltenszustände für das Neugeborene<br />

charakteristisch sind. Die Definition <strong>der</strong> Verhaltenszustände bezieht sich auf<br />

den Ansprechbarkeits- o<strong>der</strong> Wachheitsgrad des Neugeborenen. Je nach<br />

<strong>der</strong> augenblicklichen Verfassung ist eine Stimulation angemessen o<strong>der</strong><br />

unan-gemessen. Wie bereits in Kapitel 1 beschrieben, muss die Fähigkeit zur<br />

Regulation <strong>der</strong> Verhaltenszustände von den Neugeborenen in den ersten<br />

Lebenswochen erworben werden. Erst dann können sie regulieren, ob und<br />

wann sie Informationen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Umwelt aufnehmen und auf diese<br />

reagieren. Die Eltern unterstützen die Entfaltung <strong>der</strong> Selbstregulation, indem<br />

sie ein dem Verhaltenszustand angemessenen Reiz anbieten.<br />

Brazelton (1994) beschreibt unterscheidet 6 Verhaltenszustände:<br />

1. Tiefschlaf<br />

Die Augenlie<strong>der</strong> sind fest geschlossen, die Atmung ist tief und gleichmäßig;<br />

es findet keine motorische Aktivität statt. In diesem Zustand ist das Baby für<br />

äußere Reize verhältnismäßig unzugänglich. Er tritt bei Neugeborenen in<br />

Zyklen von ungefähr vier Stunden auf. Dieser Zustand beruhigt und<br />

organisiert das unreife und schnell überlastete Nervensystem. Je reifer ein<br />

Baby wird, desto länger kann das Bedürfnis nach Tiefschlaf<br />

hin<strong>aus</strong>geschoben werden.<br />

2. Traumphasenschlaf (REM-Schlaf)<br />

In diesem leichten o<strong>der</strong> aktiven Schlaf sind Babys für die Außenwelt<br />

empfänglicher. Ihre Augen sind geschlossen, zeigen aber langsame und<br />

kreisende Bewegungen. Die motorische Aktivität reicht von kleinen<br />

Zuckungen bis hin zu Drehungen des Körpers und Ausstrecken <strong>der</strong> Arme<br />

und Beine. Die Atmung ist unregelmäßig und schneller als im Tiefschlaf. Das<br />

Baby runzelt die Stirn, grimassiert o<strong>der</strong> lächelt; zuckende Bewegungen des<br />

Gesichts und Saugbewegungen sind zu beobachten.<br />

3. Halbschlaf<br />

Der Säugling öffnet und schließt abwechselnd die Augen, vollführt sanfte<br />

Bewegungen mit Armen und Beinen und atmet regelmäßiger. Wird es in<br />

diesem Zustand stimuliert, erwacht es wahrscheinlich und wird<br />

aufmerksamer und reaktionsfähiger.


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 32<br />

4. Wacher Aufmerksamkeitszustand<br />

Körper und Gesicht des Säuglings sind relativ ruhig und inaktiv, aber seine<br />

Augen strahlen. Optische und akustische Reize lösen vorhersagbare<br />

Reaktionen <strong>aus</strong>. Im Alter von zwei bis drei Wochen kann das Baby den<br />

Zustand unter Umständen bereits zwanzig bis dreißig Minuten beibehalten.<br />

Den Eltern bringen diese Phasen die größte Befriedigung.<br />

5. Aufmerksamer, aber quengliger Zustand<br />

Er stellt einen Übergangszustand vor dem Weinen dar. Die Babys sind für<br />

äußere Reize zugänglich; möglicherweise kann ein attraktiver Reiz sie immer<br />

noch beruhigen o<strong>der</strong> ihre Aufmerksamkeit erregen. Werden sie jedoch<br />

überstimuliert, reagieren sie erneut quengelig. Ihre Bewegungen wirken<br />

ruckartig, sind unkoordiniert und versetzen die Babys in noch größere<br />

Unruhe, weil sie sie erschrecken.<br />

6. Schreien<br />

Das Schreien erfüllt für das Baby mehrere Funktionen. Es ist das<br />

durchschlagendste Mittel, die Bezugsperson herbeizurufen. Schon in einer<br />

sehr frühen Lebensphase des Babys können mindestens vier verschiedene<br />

Arten des Schreiens unterschieden werden (Schmerz, Hunger, Langeweile,<br />

Unbehagen). <strong>Ein</strong> schreiendes Baby löst in den Eltern automatisch eine<br />

Reaktion <strong>aus</strong>. Sie fühlen sich gezwungen, etwas zu tun, um her<strong>aus</strong>zufinden,<br />

warum das Baby weint. Wenn sie Erfolg haben, fühlen sie sich als Eltern<br />

bestätigt. Im Laufe <strong>der</strong> zweiten o<strong>der</strong> dritten Lebenswoche wird das Baby<br />

tagsüber immer wie<strong>der</strong>- zumeist in bestimmten Zyklen- in ein unzufriedenes<br />

Geschrei <strong>aus</strong>brechen, das offenbar als Spannungsabfuhr dient und die<br />

Verhaltenszustände zu regulieren hilft.<br />

2.1.3 Antriebsquellen<br />

Der Säugling verfügt über ein breites Repertoire angeborener Fähigkeiten,<br />

Vorlieben und innerer Motivation. Diese Motivation zur Leistungsfähigkeit,<br />

mit denen <strong>der</strong> Säugling Rückkopplungssignale (feed-back) an die Eltern<br />

weitergibt und auf Reize reagiert entspringt sogenannten inneren und<br />

äußeren Antriebsquellen. Brazelton (1994) beschreibt, dass<br />

Energiekreisläufe, die sich bei Vollendung einer erwarteten Leistung<br />

schließen, das Baby von innen her<strong>aus</strong> beeinflussen. <strong>Ein</strong>e vollbrachte<br />

Leistung schafft Befriedigung und setzt wie<strong>der</strong>um Energien frei, die das<br />

Baby zur nächsten Leistung vorantreiben.


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 33<br />

Zudem findet eine Unterstützung <strong>der</strong> Entwicklung und <strong>der</strong> selbstregulatorischen<br />

Kompetenzen des Säuglings durch eine äußere Antriebsquelle,<br />

<strong>der</strong> sozialen Umwelt, statt. Die Bezugspersonen bestärken die<br />

Verhaltensweisen des Säuglings, ermutigen ihn und setzen ihm neue Ziele.<br />

Unter idealen Bedingungen befinden sich die zwei Antriebsquellen im<br />

Gleichgewicht und liefern die Energie für die weitere Entwicklung. Wenn<br />

jedes System nur mangelhaft ist, kann die Fähigkeit des Säuglings, affektive<br />

und kognitive Zustände zu kontrollieren, beeinträchtigt sein. Dies ist <strong>der</strong> Fall,<br />

wenn <strong>der</strong> Säugling entwe<strong>der</strong> auf Reize nicht reagiert o<strong>der</strong> seine<br />

Reizschwelle niedrig ist, und auch die Umwelt unangemessen (über- o<strong>der</strong><br />

unterstimulierend) reagiert.<br />

2.2 Intuitive elterliche Kompetenzen<br />

„Ohne kraftvolle, angeborene Reaktionen, die dem Kind die<br />

mütterliche Fürsorge und Nähe während seiner Kindheit garantieren,<br />

würde es sterben.“<br />

(John Bowlby, Über das Wesen <strong>der</strong> Mutter-Kind-Bindung)<br />

Ebenso wie das Baby, verfügen Eltern über Verhaltensmöglichkeiten, die<br />

ihnen die Anpassung an ihr Baby und zugleich seine Anpassung an das<br />

postnatale Leben ermöglichen (Papousek H., Papousek, M. 1990). Diese<br />

elterlichen Verhaltensbereitschaften sind universell angelegt und können<br />

sowohl von Eltern wie Nichteltern, aber auch von Kin<strong>der</strong>n ab dem<br />

4.Lebensjahr im Umgang mit einem Baby gezeigt werden. Sie werden ohne<br />

bewusste Kontrolle intuitiv gesteuert und durch Signale im Aussehen und<br />

Verhalten des Säuglings <strong>aus</strong>gelöst.<br />

Die intuitiven Verhaltensbereitschaften erfüllen wichtige Funktionen:<br />

- die Entstehung einer vertrauten, emotionalen Beziehung<br />

- die Anregung für kognitive und kommunikative Lernprozesse<br />

- Unterstützung <strong>der</strong> postpartalen Reifungs- und Anpassungsprozesse<br />

- Erleichterung des Übergangs zum Schlaf o<strong>der</strong> zu gut regulierten<br />

Wachphasen, in denen <strong>der</strong> Säugling lernt, seine Erfahrungen mit <strong>der</strong><br />

Umwelt zu integrieren<br />

Sie beinhalten nach Papousek (1991):


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 34<br />

1) Unterstützen von Befinden und Aufmerksamkeit<br />

- Kommentare zu Verhaltensweisen des Kindes (zum Gähnen,<br />

Schluckauf)<br />

- Beruhigen und Trösten bei Erregung (Streicheln, Berühren <strong>der</strong><br />

Händchen)<br />

- fallende Stimmkontur zum Beruhigen, steigende zum<br />

Aktivieren<br />

2) Unterstützen von Blickkontakt<br />

- Bemühen um Blickkontakt<br />

- Augengruß, kurzer Dialogabstand, Präsentieren des Gesichtes<br />

3) Vokalisation<br />

4) Mimik<br />

im Zentrum des Blickfeldes<br />

- Anregungen, Nachahmungen, kontingentes Antworten<br />

- deutliche Artikulation, Wie<strong>der</strong>holungen mit spielerischer<br />

Variation<br />

- langsames Sprechen, erhöhte Stimmlage,<br />

Lautstärkenkontraste, verstärkte Intonation<br />

- För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> kindlichen Mimik: Freude an Lächeln und<br />

Lachen<br />

- Mimisches Nachahmen<br />

Die Eltern passen ihre gesteigerte o<strong>der</strong> abschwächende<br />

Stimulationsintensität dem Erregungszustand des Babys an. Im<br />

gemeinsamen Dialog werden P<strong>aus</strong>en gelassen, um dem Kind die<br />

Möglichkeit zu geben eigene Signale zu senden, die wie<strong>der</strong>um von den<br />

Eltern aufgegriffen werden. Wendet sich das Kind ab, werden Ruhep<strong>aus</strong>en<br />

zugelassen. Die Rückkopplungssignale des Säuglings (Lächeln,<br />

Blickzuwendung, positive Vokalisation) bestärken das elterliche<br />

Selbstvertrauen in die eigenen Kompetenzen. Der Säugling erlebt die<br />

Interaktion durch das Auslösen adäquater elterlicher Antworten als<br />

angenehme und belohnende Erfahrung. Depressivität, Verunsicherung,<br />

eine verzerrte Wahrnehmung <strong>der</strong> kindlichen Signale und negative<br />

Rückkopplungssignale, wie das exzessive Schreien eines Säuglings, können<br />

die intuitiven elterlichen Kompetenzen beeinträchtigen und hemmen.


KAPITEL 2. DIE FRÜHE ELTERN-KIND-BEZIEHUNG 35<br />

2.3 Individuelle Unterschiede im Interaktionsverhalten<br />

Die individuellen Unterschiede in den Charakterzügen von Babys<br />

beeinflussen sowohl die Art, wie <strong>der</strong> Säugling an <strong>der</strong> frühen Interaktion<br />

teilnimmt, als auch die Reaktion <strong>der</strong> Eltern (Brazelton, T. 1994). Sie sind oft<br />

von großer Bedeutung für die Eltern-Kind-Beziehung. In Familien, in denen<br />

Zuwendungsbedürfnis und Zuwendungsfähigkeit <strong>der</strong> Eltern den individuellen<br />

Bedürfnissen und Anlagen des Babys gerecht werden, können Probleme in<br />

<strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung fast <strong>aus</strong>geschlossen werden. <strong>Ein</strong> sehr lebhaftes<br />

und for<strong>der</strong>ndes Baby würden eine stille und empfindliche Mutter<br />

möglicherweise überfor<strong>der</strong>n, während aktive und energische Eltern sich mit<br />

diesem Baby vielleicht gerade wohl fühlen würden. Grundsätzlich scheinen<br />

Eltern die individuellen Beson<strong>der</strong>heiten ihres eigenen Babys zu suchen und<br />

zu schätzen. Wenn ein Neugeborenes jedoch unter einer Behin<strong>der</strong>ung<br />

leidet, unter einer angeborenen Krankheit o<strong>der</strong> wenn es zu früh auf die Welt<br />

kommt ist das Bild <strong>der</strong> Eltern vom imaginären Baby ihrer Träume plötzlich<br />

zerstört. Die Eltern müssen sich mit <strong>der</strong> Realität <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>setzen und nicht<br />

selten sind damit große Probleme <strong>der</strong> innerlichen Anpassung <strong>der</strong> Eltern an<br />

den Säugling verbunden. Die eingeschränkte Interaktionsfähigkeit, die<br />

behin<strong>der</strong>te o<strong>der</strong> frühgeborene Säuglinge häufig aufweisen, kann die<br />

Beziehung zwischen Eltern und Kind zusätzlich belasten. Chronische Unruhe<br />

und exzessives Schreien, ein schwieriges Temperament des Säuglings<br />

welches das Interaktionsverhalten beeinträchtigen können, stellen ebenfalls<br />

eine beson<strong>der</strong>e Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ung für die Familie dar.


Kapitel 3<br />

Behandlungsmethoden<br />

Sind Eltern mit dem Schreiverhalten ihres Säuglings überfor<strong>der</strong>t, suchen sie<br />

als erste Maßnahme oft einen Kin<strong>der</strong>arzt auf. Im Falle einer organischbedingten<br />

Störung, z.B. Kolik o<strong>der</strong> Nahrungsmittelunverträglichkeit können<br />

Medikamente zu einer erfolgreichen Behandlung beitragen. Liegen die<br />

Ursachen jedoch in <strong>der</strong> Unreife <strong>der</strong> Selbstregulationsfähigkeit und einer<br />

dysfunktionalen Kommunikation zwischen Eltern und Säugling o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

psychischen Beeinträchtigung <strong>der</strong> Mutter begründet, können<br />

Beratungsstellen und spezielle therapeutische Interventionen oft eine<br />

effektivere und auf die beson<strong>der</strong>en Bedürfnisse abgestimmte Behandlung<br />

anbieten. Im folgenden Abschnitt werden verschiedene<br />

Behandlungsmethoden, die sich an Eltern mit exzessiv schreienden<br />

Säuglingen richten, vorgestellt.<br />

3.1 Das Münchner Modell einer interaktionszentrierten<br />

Säuglings-Eltern-Beratung und –Psychotherapie<br />

1991 wurde im Rahmen <strong>der</strong> Forschungs- und Beratungsstelle des<br />

Kin<strong>der</strong>zentrums München eine Spezialsprechstunde für Familien mit exzessiv<br />

schreienden Säuglingen eingerichtet. Das Behandlungsmodell dieser<br />

Sprechstunde hat seine Wurzeln in den langjährigen Forschungsarbeiten<br />

von H. Papousek über die Frühentwicklung <strong>der</strong> integrativen Fähigkeiten des<br />

Säuglings (1969) und in den gemeinsamen Arbeiten über die intuitive<br />

elterliche Früherziehung im Kontext <strong>der</strong> vorsprachlichen Kommunikation<br />

(Papousek 1994; Papousek u. Papousek 1979; 1987)<br />

Die Schwerpunkte <strong>der</strong> Sprechstunde wurden eingeteilt in diagnostischer<br />

sowie therapeutischer Arbeit und in Forschungsarbeit mit dem Ziel, die<br />

wissenschaftlichen Grundlagen für die Früherkennung, Prävention und<br />

gezielte Behandlung zu vertiefen. Das therapeutische Angebot wurde sehr<br />

bald erweitert und umfasste u.a. die Behandlung von Schlafstörungen,<br />

Fütter- und Gedeihstörungen, motorischer Unruhe, Trennungsängste und<br />

aggressivem Verhalten. Da das Münchner Modell <strong>der</strong> interaktionszentrierten<br />

Säuglings-Eltern-Beratung und –Psychotherapie von einer systemischen<br />

Sicht-<br />

36


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 37<br />

weise <strong>aus</strong>geht, wurden in diesem Zusammenhang auch frühe Kommunikations-<br />

und Beziehungsstörungen bei postpartalen o<strong>der</strong> chronischen<br />

psychischen Erkrankungen <strong>der</strong> Mutter berücksichtigt, und akute psycho-<br />

soziale Kriseninterventionen in die Behandlung eingeschlossen.<br />

Wie bereits in Kapitel 1 behandelt können unterschiedliche biologische,<br />

psychosoziale o<strong>der</strong> kulturell bedingte Störfaktoren, die einen o<strong>der</strong> beide<br />

Interaktionspartner beeinträchtigen das kommunikative System zwischen<br />

Eltern und Kind in einen Teufelskreis negativer gegenseitiger Beeinflussung<br />

treiben. Die selbstregulatorischen Probleme des Säuglings mit ihren<br />

negativen Rückwirkungen auf die Eltern können die intuitiven elterlichen<br />

Kompetenzen erschöpfen bzw. verunsichern und infolge dessen eine<br />

befriedigende Kommunikation mit wechselseitiger, positiver Beeinflussung<br />

verhin<strong>der</strong>n. Den Mittelpunkt <strong>der</strong> Behandlung bildet daher die<br />

therapeutische Arbeit auf <strong>der</strong> Interaktions-/Kommunikationsebene, die sich<br />

primär auf die Säuglings-Eltern-Kommunikation im Hier und Jetzt und in<br />

alltagstypischen Kontexten konzentriert (Wickel,- Spiel-, und/o<strong>der</strong><br />

Fütterungsinteraktionen).<br />

Die Behandlung umfasst eine Reihe differenzierter Verfahrenstechniken <strong>aus</strong><br />

unterschiedlichen Disziplinen (Entwicklungsberatung, Physiotherapie,<br />

sensorische Integrationstherapie, Verhaltenstherapie, Gesprächspsycho-<br />

therapie, systemische Paar- und Familientherapie, körperbezogene<br />

Therapien), die auf das diagnostische Profil, die Bedürfnisse und Vorlieben<br />

des Säuglings und <strong>der</strong> Familie zugeschnitten, flexibel kombiniert und in den<br />

Behandlungsplan integriert werden. Im Falle einer neuromotorischen Unreife<br />

beim Säugling mit Problemen <strong>der</strong> Haltungskontrolle und <strong>der</strong><br />

Tonusregulation, o<strong>der</strong> bei Problemen <strong>der</strong> sensorischen Erregbarkeit und<br />

Wahrnehmungs- verarbeitung bieten Physiotherapie o<strong>der</strong> sensorische<br />

Integrationstherapie zusätzliche Unterstützung. Gemeinsam mit den Eltern<br />

werden Hilfen beim Halten, Tragen und Beruhigen erprobt.<br />

Schwerwiegende psychische Störungen bei den Müttern<br />

(Bor<strong>der</strong>linestörung, neurotische Beziehungsstörung) werden häufig in<br />

Kombination mit einer externen individuelle Psychotherapie, Paar- o<strong>der</strong><br />

Familientherapie behandelt. Bei körperlicher Erschöpfung und psychischer<br />

Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> bei<strong>der</strong> Eltern werden<br />

Entlastungsmöglichkeiten gesucht, darunter auch Gespräche in <strong>der</strong><br />

Sprechstunde angeboten. Dort kann das empathische Zuhören und<br />

Verhalten eines Therapeuten helfen, den angestauten, oft negativen<br />

Gefühlen einen Platz zu geben. Die Eltern wissen sich ernstgenommen und<br />

verstanden.


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 38<br />

Als gemeinsames therapeutische Ziel wird angegeben, Kind und Eltern zu<br />

ermöglichen, sich aktiv auf eine entspannte Interaktion einzulassen und sie<br />

in ihrer positiven Gegenseitigkeit 6 zu erleben und zu genießen. Die in<br />

München entwickelte Form <strong>der</strong> Kommunikationstherapie, einer<br />

kindgeleiteten Unterstützung <strong>der</strong> intuitiven elterlichen Kompetenzen,<br />

bezieht den Säugling als aktiven Partner in den therapeutischen Prozess ein.<br />

Alle Aufmerksamkeit von Eltern und Therapeut, <strong>der</strong> im Hintergrund als<br />

sichere Basis wirkt, sind auf die momentanen Bedürfnisse, Interessen o<strong>der</strong><br />

regulatorischen Probleme des Kindes <strong>aus</strong>gerichtet. Der Therapeut<br />

unterstützt die Eltern darin, das Kind zu beobachten, und sich von seinen<br />

Interessen und Initiativen leiten zu lassen, vermeidet jedoch konkrete und<br />

direktive Verhaltensanweisungen. Die Eltern werden angeregt, die<br />

zufriedenen Wachzustände des Kindes bewusster wahrzunehmen, für<br />

gemeinsame spielerische Interaktionen zu nutzen und bewusster auf<br />

Anzeichen des Babys zu achten, die eine Überlastung signalisieren können.<br />

Unter <strong>der</strong> aufmerksamen Zuwendung <strong>der</strong> Eltern (und des Therapeuten im<br />

Hintergrund) ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Baby die Initiative<br />

ergreift, Kontakt aufnimmt o<strong>der</strong> mit positiven Feedbacksignalen auf die<br />

Zuwendung reagiert. Bleibt das Baby passiv o<strong>der</strong> abwehrend kann das<br />

Nachahmen des mimischen, stimmlichen o<strong>der</strong> gestischen Verhaltens das<br />

Baby zu verstärkter Initiative motivieren. Im Falle einer Übermüdung werden<br />

die Eltern darin unterstützt, das Baby zu beruhigen und zum Schlafen zu<br />

bringen. Die innere Motivation <strong>der</strong> Eltern zur intuitiven Verhaltenssteuerung<br />

ihrer elterlichen Verhaltensbereitschaften scheint eng an die<br />

Rückkopplungs- signale des Babys gebunden zu sein, die entwe<strong>der</strong> als<br />

Verstärkungs- mechanismen o<strong>der</strong> auch als demotivierende<br />

Hemmungsmechanismen wirken können (Papousek, 1995). <strong>Ein</strong> positiver<br />

Wechsel im kindlichen Feedback (Blickzuwendung statt Blickvermeidung,<br />

Lächeln statt Quengeln und Schreien, Nähesuchen satt Versteifung,...) kann<br />

unmittelbar die intuitiven Verhaltensbereitschaften <strong>der</strong> Eltern wecken und<br />

sie von Gefühlen <strong>der</strong> Hilflosigkeit und Ohnmacht befreien.<br />

<strong>Ein</strong>e große Rolle innerhalb <strong>der</strong> Kommunikationstherapie spielt <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>satz<br />

von videogestützten Analysen, mit denen das Interaktionsgeschehen<br />

zurück-verfolgt werden kann.<br />

6 Begriff <strong>aus</strong> <strong>der</strong> systemischen Familien- und Paartherapie, vergleichbar mit <strong>der</strong><br />

wechselseitigen, positiven Beeinflussung in einem dynamischen System, welches das<br />

Kernstück des Münchner Behandlungsmodells darstellt.


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 39<br />

Zusammenfassend lässt sich das <strong>der</strong>zeitige Münchener Behandlungsmodell<br />

als interdisziplinär, individuell abgestimmt, intermittierend und<br />

interaktionszentriert, „infant-oriented“ und auf die intuitiven elterlichen<br />

Kompetenzen <strong>aus</strong>gerichtet charakterisieren.<br />

Abb.1: Kommunikationstherapie als Kernstück <strong>der</strong> interaktionszentrierten Säuglings-<br />

Eltern-Beratung und –Psychotherapie. (<strong>aus</strong>: Psychotherapie in <strong>der</strong> frühen Kindheit;<br />

Papousek, M. 1998)


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 40<br />

3.2 alternative Behandlungsmöglichkeiten und<br />

Beruhigungsmethoden<br />

In <strong>der</strong> Literatur, die sich intensiv mit dem Thema „Schreibabys“ befasst,<br />

werden verschiedene Hilfen, Beruhigungs- und Heilmethoden für Eltern und<br />

ihre exzessiv schreienden Säuglinge vorgestellt. <strong>Ein</strong>ige werden im folgenden<br />

zusammengefasst, wobei erwähnt werden sollte, dass nicht alle Methoden<br />

den gewünschten Effekt bei jedem Baby „herbeizaubern“ können. So<br />

vielfältig die Ursachen für das Schreien sein können, so unterschiedlich<br />

wirken alle erwähnten Behandlungsmöglichkeiten. Das Grundbedürfnis des<br />

Babys nach liebevoller Unterstützung bleibt auch bei kinesiologischer o<strong>der</strong><br />

homöopathischer Behandlung bestehen.<br />

3.2.1 Babymassage, Aromatherapie, Kinesiologie,<br />

Homöopathie<br />

Babymassage<br />

Das erste Kommunikationsmittel zwischen Mutter und Neugeborenem ist die<br />

körperliche Berührung. Hautkontakt und körperliche Nähe ist ein essentielles<br />

Bedürfnis eines jeden Babys.<br />

„Wir müssen unsere Babys so nähren, dass sie wirklich satt werden,<br />

innen wie <strong>aus</strong>sen. Berührt, gestreichelt und massiert werden, das ist<br />

Nahrung für das Kind. Nahrung, die gen<strong>aus</strong>o wichtig ist wie<br />

Mineralien, Vitamine und Proteine. Nahrung, die Liebe ist.“<br />

(Fre<strong>der</strong>ick Leboyer, 1979)<br />

Oft massieren Eltern ihr Baby ganz intuitiv, wenn sie es streicheln, mit Öl o<strong>der</strong><br />

Creme einreiben, an – und <strong>aus</strong>ziehen, wickeln o<strong>der</strong> baden. Unabhängig<br />

von den vermuteten Ursachen für exzessives Schreien können sanfte<br />

Massagen zu Wohlbefinden und Entspannung des Babys beitragen (Riedel-<br />

Henck, J. 1998). „Schreibabys“ haben oft ein beson<strong>der</strong>s großes Bedürfnis<br />

nach Körperkontakt und werden daher häufig stundenlang von ihren Eltern<br />

getragen. Dieser Zustand kann Eltern erschöpfen und <strong>der</strong> ununterbrochene,<br />

„quantitative“ Körperkontakt wird als Belastung empfunden. Momente, in<br />

denen sich die Eltern ganz bewusst und mit ganzer Aufmerksamkeit dem<br />

Baby zuwenden


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 41<br />

sind selten. <strong>Ein</strong>e Massage bietet die Möglichkeit einen ganz bewussten,<br />

„qualitativen“ Körperkontakt zu dem Baby herzustellen. Das Baby spürt,<br />

dass man sich ihm ganz widmet und kann sich an <strong>der</strong> intensiven<br />

Zuwendung <strong>der</strong> Eltern „emotional sättigen“ (Thöne, M. 2000). <strong>Ein</strong>e wichtige<br />

Vor<strong>aus</strong>setzung für den Erfolg ist, den richtigen Zeitpunkt für eine Massage zu<br />

finden. Eltern sollten auf die Signale des Babys achten, nicht bei Müdigkeit,<br />

Weinen, Hunger o<strong>der</strong> unmittelbar nach einer Mahlzeit massieren, und sich<br />

selber auch in Ruhe darauf einlassen können. Sobald Eltern verkrampft und<br />

hektisch sind, kann auch ein Baby nicht mehr entspannen.<br />

„Denn wenn sich deine Gedanken mit an<strong>der</strong>en Dingen<br />

beschäftigen, wird es das Kind sofort bemerken. Das ganze wäre rein<br />

mechanisch, nicht mehr als eine körperliche Übung. Ohne Tiefe,<br />

langweilig und leer.“<br />

(Fre<strong>der</strong>ick Leboyer, 1979)<br />

<strong>Ein</strong>e angenehme Atmosphäre mit <strong>aus</strong>reichend warmer Raumtemperatur,<br />

gedämpftem Licht und <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>satz von sanfter, leiser Hintergrundmusik<br />

för<strong>der</strong>n die Entspannung zusätzlich. Fre<strong>der</strong>ick Leboyer (1979) empfiehlt,<br />

dass die Mutter bei <strong>der</strong> Massage auf dem Boden sitzen sollte, dem Baby<br />

gegenüber, so dass ein Augenkontakt möglich ist. Die Massage dauert so<br />

lange, wie es das Baby als angenehm empfindet. Für manche Babys ist die<br />

Massage schon zuviel Stimulation und es genügt einfach die Hände<br />

aufzulegen. Anregungen und Tipps für die richtigen Massagetechniken bei<br />

Babys sind entwe<strong>der</strong> in Literatur (z.B. „Sanfte Hände“ von Fre<strong>der</strong>ick<br />

Leboyer) o<strong>der</strong> in Kursen unter praktischer Anleitung zu finden.<br />

Aromatherapie<br />

Die Aromatherapie ist eine jahrt<strong>aus</strong>end alte Methode, um den Körper und<br />

die Seele zu stimulieren, zu beruhigen und bei <strong>der</strong> Heilung zu unterstützen<br />

(Thöne, M. 2000). Erwachsene wissen um die intensive und wohltuende<br />

Wirkung von ansprechenden Düften. Neugeborene haben bereits einen<br />

hoch-entwickelten Geruchssinn, mit dem sie zwischen ansprechenden und<br />

nichtansprechenden Gerüchen unterscheiden können (Brazelton, T.B.<br />

1994). Aromaöle bieten die Möglichkeit, Babys zu helfen sich wohl zufühlen<br />

und zu entspannen. <strong>Ein</strong>ige Düfte wirken wie<strong>der</strong>um anregend und<br />

stimulierend. Beratungen zum gezielten <strong>Ein</strong>satz von Aromaölen werden in<br />

Naturläden o<strong>der</strong> Reformhäusern gegeben.


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 42<br />

Kinesiologie<br />

Kinesiologie bedeutet „Lehre vom Energiefluss im bewegten Muskel“. Durch<br />

Aktivierung <strong>der</strong> Körperenergien sollen das körperliche, seelische und<br />

geistige Gleichgewicht erhalten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>hergestellt werden. In <strong>der</strong><br />

Kinesiologie werden verschiedene westliche und asiatische Heilmethoden<br />

vereint (Chiropraktik, Ernährungs- und Bewegungslehre und Akupunktur).<br />

Mit Hilfe von verschiedenen Muskeltests werden Energieblockaden im<br />

Körper aufgedeckt. Durch verschiedene Methoden, soll die Energie im<br />

Körper wie<strong>der</strong> zum freien Fliessen gebracht werden.<br />

Durch das lange und häufige Schreien nehmen exzessiv schreiende Babys<br />

meist eine verkrampfte Haltung ein, so dass Verspannungen auftreten und<br />

das Unbehagen noch weiter zunimmt. Techniken <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Chiropraktik<br />

können Verschiebungen <strong>der</strong> Wirbel gerichtet und damit verbundene<br />

Verspannungen und Schmerzen gelöst werden. M. Thöne (2000)beschreibt<br />

die Behandlung bei einer Kinesiologin, die die Ursache für die auffälligen<br />

Verhaltensmuster ihres Sohnes <strong>der</strong> vorgeburtlichen Erfahrung zuschreibt und<br />

diese mit <strong>der</strong> Stimulation von Reflexpunkten zu beheben versucht: „<br />

Nachdem die Kinesiologin verschiedene Dinge „durchgetestet“ hatte, ging<br />

sie zurück zur eigentlichen Ursache für Timons Verhalten. Wir kamen zu dem<br />

frühesten Zeitpunkt <strong>der</strong> Schwangerschaft. In dieser Zeit hatte ich heftigste<br />

Bauchschmerzen gehabt, da das Wachstum meiner Gebärmutter nicht so<br />

verlief wie normalerweise <strong>der</strong> Fall ist... Dies war also die ursächlichste<br />

Erfahrung. Das weitere Verhalten von Timon basierte immer auf <strong>der</strong> aller<br />

ersten Erfahrung, die er in meinem Körper gemacht hatte. Er empfand sich<br />

selbst als hilflos, nicht in <strong>der</strong> Lage sich zu artikulieren, o<strong>der</strong> sich <strong>aus</strong> eigener<br />

Kraft <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Situation zu befreien, er hatte das Gefühl sich nicht bewegen<br />

zu können und Schuld daran zu sein, dass es mir so schlecht ging. Da er zu<br />

diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit hatte, die Situation zu verän<strong>der</strong>n, legte<br />

er dieses Verhaltensmuster auch weiterhin an den Tag. Wenn er sich in einer<br />

für ihn <strong>aus</strong>sichtslosen Situation befand, begann er einfach zu schreien, denn<br />

er fühlte sich wie<strong>der</strong> hilflos, unfähig etwas zu beeinflussen o<strong>der</strong> zu verän<strong>der</strong>n<br />

und obendrein schuldig.“<br />

Homöopathie<br />

Die Homöopathie beruht auf dem Leitsatz „Ähnliches wird durch Ähnliches<br />

geheilt“. <strong>Ein</strong>e homöopathische Behandlung bezeiht sich immer auf den<br />

ganzen Menschen und seine individuelle körperliche, seelische und geistige<br />

Verfassung. Symptome werden nicht mit einem Gegenmittel unterdrückt,


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 43<br />

son<strong>der</strong>n durch Aktivierung <strong>der</strong> Selbstheilungskräfte abgebaut. In <strong>der</strong><br />

klassischen Homöopathie steht jedes Mittel für ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale.<br />

Vor Beginn <strong>der</strong> Behandlung führt <strong>der</strong> Homöopath ein<br />

<strong>aus</strong>führliches Gespräch, um möglichst viele Charaktereigenschaften des<br />

Babys zu erfassen (Anamnese). M. Thöne (2000) schreibt nach <strong>der</strong> homöopathischen<br />

Behandlung ihres „Schreibabys“: „Was mich an <strong>der</strong> Wirkungsweise<br />

<strong>der</strong> Homöopathie am meisten beeindruckt ist, dass das Kind hier<br />

nicht „<strong>aus</strong>geschaltet“ o<strong>der</strong> betäubt wird, wie das im Falle von beruhigend<br />

wirkenden schulmedizinischen Mitteln <strong>der</strong> Fall wäre. Ich hatte immer den<br />

<strong>Ein</strong>druck, dass ein fehlendes B<strong>aus</strong>teinchen eingesetzt wurde, und dass<br />

danach wie<strong>der</strong> die natürliche Balance von Körper und Geist herrschte.“<br />

3.2.2 Bewegung und Geräusche<br />

Bewegen und Schaukeln<br />

Jedes Baby hat im Bezug auf tröstende Maßnahmen bestimmte Vorlieben.<br />

Visuell orientierte Babys reagieren beson<strong>der</strong>s auf alles, was sie betrachten<br />

können, an<strong>der</strong>e werden beson<strong>der</strong>s aufmerksam wenn sie bestimmte Musik<br />

hören. Körperorientierte Babys mögen schaukelnde, rhythmische<br />

Bewegungen. Schon im Mutterleib ist <strong>der</strong> Fötus immer mehr o<strong>der</strong> weniger in<br />

Bewegung, bei jedem Schritt <strong>der</strong> Mutter wird er geschaukelt. Es ist<br />

naheliegend, dass Bewegungen die den Säugling an seine Zeit im<br />

Mutterleib erinnern, tröstend wirken. Die Wahrnehmung bewegt zu werden<br />

ist für den Säugling ein deutliches Zeichen, dass eine Bezugsperson in <strong>der</strong><br />

Nähe ist. „Schreibabys“ reagieren im allgemeinen positiver darauf sanft<br />

„auf“ und „ab“ als „hin“ und „her“ bewegt zu werden, wobei Tempo und<br />

Stärke des Schaukelns häufig variabel eingesetzt werden. Leichtes auf- und<br />

abwippen mit Hilfe eines Gymnastikballs kann ebenso effektiv sein wie das<br />

Schaukeln in einer Hängematte. Eltern sollten das Bewegen so dosieren,<br />

dass es zu keiner Überstimulierung kommt. Schreien kann auch ein Zeichen<br />

von Übermüdung sein. Der Versuch das Baby in dieser Situation zu mit<br />

Schaukel-Bewegungen zu beruhigen führt dazu, dass das Schreiverhalten<br />

noch verstärkt wird.<br />

Geräusche,Klänge, Vibration<br />

Monotone Geräusche, wie sie durch Elektrogeräte (Fön, Staubsauger,<br />

Waschmaschine)erzeugt werden, haben oft eine beson<strong>der</strong>s beruhigende<br />

und einschläfernde Wirkung. Auch die mit einer Autofahrt verbundenen


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 44<br />

Vibrationen und Geräusche können ein schreiendes Baby beruhigen.<br />

Schon im Mutterleib nimmt <strong>der</strong> Fötus Klänge überwiegend als Vibrationen<br />

wahr. J. Riedel- Henck (1998) beschreibt, dass das Neugeborene in einem<br />

fahrenden Auto die Vibrationen direkt an seinem Körper spürt und <strong>der</strong>en<br />

Schwingungen gleichzeitig auch über das Außenohr wahrnimmt. Durch<br />

diese Verbindung entsteht eine Brücke zwischen vor- und nachgeburtlicher<br />

Wahrnehmung. Die Schwingungen <strong>der</strong> Stimme von Mutter o<strong>der</strong> Vater kann<br />

das Baby beson<strong>der</strong>s intensiv wahrnehmen, wenn <strong>der</strong> Kopf in Höhe des<br />

Brustkorbes liegt. Die Klangfarbe <strong>der</strong> mütterlichen Stimme ist dem Baby am<br />

vertrautesten. Schreit ein Baby anhaltend über einen langen Zeitraum kann<br />

es helfen, die Stimmung des Kindes durch Klänge und Geräusche<br />

aufzufangen, die dem Tempo und <strong>der</strong> Lautstärke des Erregungszustandes<br />

angepasst sind. In Kapitel 4 folgt eine genauere Betrachtung <strong>der</strong><br />

Bedeutung und Wirkung von Klängen und Musik in <strong>der</strong> prä- und<br />

postnatalen Periode.<br />

3.2.3 Gestaltung des Alltags<br />

Eltern von „Schreibabys“ sollten ihren Alltag so umgestalten, dass er sich<br />

positiv den Bedürfnissen des Babys anpasst. Die Welt ist für ein „Schreibaby“<br />

chaotisch, denn es kann die vielen Reize nicht richtig verarbeiten und<br />

sortieren. Der Tagesablauf sollte daher möglichst jeden Tag gleich<br />

strukturiert sein, um den Baby einen festen Rhythmus vorzugeben, z.B. durch<br />

feste Zeiten für die Mahlzeiten, feste Rituale beim Wickeln, usw.. Dabei sollte<br />

dem Baby auch <strong>der</strong> Wechsel von aktiven und passiven Phasen aufgezeigt<br />

werden. Wenn sich die Eltern eine kurze Zeit nicht um das Kind kümmern<br />

können und es unruhig ist, sollte es in Sichtweite bleiben und ihm durch<br />

beruhigendes Zureden versichert sein, dass es nicht allein ist. Danach sollte<br />

wie<strong>der</strong> eine Phase stattfinden, in <strong>der</strong> sich die Eltern intensiv mit dem Baby<br />

beschäftigen. Dieser strukturierte Tagesablauf wirkt einerseits beruhigend,<br />

an<strong>der</strong>erseits gibt es auch den Eltern die Möglichkeit, besser mit dem Alltag<br />

zurechtzukommen.<br />

Wie gut o<strong>der</strong> wie schlecht ein Baby einschlafen kann, hängt vor allem mit<br />

dem Verlauf <strong>der</strong> Wachzeiten zusammen. Je harmonischer und ruhiger diese<br />

gestaltet werden, umso harmonischer wird auch die <strong>Ein</strong>schlafphase sein.<br />

Eltern von „Schreibabys“ wird geraten, sich gerade in diesen schreifreien<br />

Wachphasen beson<strong>der</strong>s intensiv mit ihrem Baby zu beschäftigen und sich<br />

ihm während dieser Zeit voll und ganz widmen. Zu viel Stress und Hektik, z.B.<br />

beim <strong>Ein</strong>kaufen, überfor<strong>der</strong>n das Baby. Häufig wird gerade jede Minute, in<br />

<strong>der</strong> das Baby nicht schreit für an<strong>der</strong>e Beschäftigungen genutzt und die<br />

Zuwendung erfolgt nur noch, sobald das Baby schreit.


KAPITEL 3. BEHANDLUNGSMETHODEN 45<br />

Die „perfekte“ Mutter, die durch die Gesellschaft in Form von Medien,<br />

allgemeiner Meinung und Erwartungshaltung geschaffen wurde ist<br />

ordentlich, liebevoll, geduldig, fröhlich, stillt, lässt ihre Kin<strong>der</strong> nicht oft allein<br />

und ist vor allem glücklich, denn: Kin<strong>der</strong> geben dem Leben angeblich erst<br />

einen Sinn, bereichern, halten jung und fit. Kann eine Mutter mit einem<br />

„Schreibaby“ diesem Idealbild <strong>der</strong> perfekten Mutter und H<strong>aus</strong>frau wirklich<br />

entsprechen? Existiert dieses Idealbild überhaupt? Ich denke nicht. Viele<br />

Eltern spielen trotzdem ihre Rollen, versuchen nach außen zufrieden und<br />

glücklich zu erscheinen, anstatt offen über Probleme und Zweifel zu<br />

sprechen. Wenn mehr Eltern offen und ehrlich zu ihren Frustrationen stehen<br />

würden und <strong>der</strong> Druck innerhalb <strong>der</strong> Gesellschaft nachlassen würde, hätten<br />

Eltern auch nicht das Gefühl alleine dazustehen. Gerade Eltern von<br />

„Schreibabys“ sollten das unrealistische Bild <strong>der</strong> perfekten Eltern loslassen<br />

und die eigenen Ansprüche als Partner, Eltern und was den H<strong>aus</strong>halt betrifft<br />

nicht so hoch stellen.<br />

Um den eigenen Bedürfnissen nachzugehen und sich selbst Ruhep<strong>aus</strong>en zu<br />

gönnen, sollten Eltern die Verantwortung für das Baby zeitweise an an<strong>der</strong>e<br />

Personen abgeben, sei es in Form eines Babysitters o<strong>der</strong> durch Verwandte/<br />

Bekannte. In dieser Zeit können sich die Eltern wie<strong>der</strong> die Energie holen, die<br />

sie nötig brauchen, um sich wie<strong>der</strong> intensiv auf das Baby einzulassen. Vor<br />

allem <strong>aus</strong>geruhte Eltern können einem Baby Geduld und Wärme<br />

entgegen-bringen.<br />

M. Thöne (2000) weist in ihrem Buch darauf hin wie wichtig es ist, das Mutter-<br />

sein in unserer Gesellschaft nicht länger als Sklaventum an die Kin<strong>der</strong> zu<br />

vermitteln, son<strong>der</strong>n als aktives Leben miteinan<strong>der</strong>. Das bedeutet, dass<br />

schon sehr früh Grenzen gesetzt und die eigenen Bereiche abgegrenzt<br />

werden sollten (konform mit dem Alter des Kindes). Nur allzu oft sind Mütter<br />

gefangen in ihren eigenen Ansprüchen an sich selbst, dass sie nicht mehr in<br />

<strong>der</strong> Lage ist, sich selbst die geringsten Ausflüchte <strong>aus</strong> ihrem Alltag<br />

zuzugestehen. Gerade Eltern von „Schreibabys“ plagt schnell das schlechte<br />

Gewissen, wenn sie die Verantwortung für das Baby für eine gewisse Zeit an<br />

an<strong>der</strong>e abgeben, um etwas für sich selbst zu tun. Sie übersehen dabei<br />

jedoch, dass diese P<strong>aus</strong>en wichtig sind, sowohl für das eigene Befinden als<br />

auch für die Beziehung zum Baby.


Kapitel 4<br />

Musiktherapie und „Schreibabys“<br />

4.1. Die Bedeutung von Musik in <strong>der</strong> frühen Eltern-Kind-<br />

Beziehung<br />

Die frühe Eltern-Kind- Beziehung, die zwischenmenschliche Interaktion in<br />

den ersten Lebensmonaten basiert vor allem auf nichtsprachlichen<br />

Elementen. Wie kommunizieren Eltern und Kind in dieser Zeit? Wie wichtig<br />

sind musikalische Elemente in <strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung? Die Erkenntnis,<br />

dass Musik als präverbales und nonverbales Ausdrucks- und<br />

Verständigungsmittel <strong>aus</strong> Klang-Rhythmus-Melodie, Dynamik und Form<br />

besteht und diese Phänomene schon pränatal erfahren werden, führen zur<br />

Annahme, dass sie auch nach <strong>der</strong> Geburt wahrgenommen und verstanden<br />

werden( Schumacher, K. 1999).<br />

Prä- und postnatale Wahrnehmungsfähigkeiten bezüglich<br />

musikalischer Elemente<br />

„Das Hören ist <strong>der</strong> Sinn, <strong>der</strong> neben den Gleichgewichts- und<br />

Bewegungsempfindungen ab Mitte <strong>der</strong> Schwangerschaft wesentlich<br />

den Bezug des Fötus zur Mutter und zur Außenwelt herstellt und in<br />

unmittelbarer Kontinuität zur nachgeburtlichen Erfahrung<br />

hinüberführt. Das vorgeburtlich gehörte wird nachgeburtlich<br />

wie<strong>der</strong>erkannt und schlägt damit eine Brücke zwischen den Welten“<br />

(Janus, 1991)<br />

Vor <strong>der</strong> Geburt nehmen Säuglinge Klänge vor allem in Form von<br />

Vibrationen und Schwingungen über die gesamte Körperoberfläche auf.<br />

Das Hörorgan des Fetus ist ab <strong>der</strong> 16. Schwangerschaftswoche voll<br />

<strong>aus</strong>gebildet. Äußeres Ohr und Mittelohr des Fetus sind voller Fruchtwasser,<br />

dadurch werden die Trommelfellschwingungen vermin<strong>der</strong>t und Geräusche<br />

vor allem über Knochenleitung, die Skelettvibrationen wahrgenommen. Der<br />

rhythmische, mütterliche Herzschlag ist neben <strong>der</strong> mütterlichen Stimme ein<br />

vor<strong>der</strong>gründiger Höreindruck den ein Fetus im Mutterleib erlebt. Er variiert in<br />

seiner Dynamik je nach Aktivität <strong>der</strong> Mutter zwischen schnell und ruhig, leise<br />

46


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 47<br />

und laut, hoch und tief. Zusammen mit an<strong>der</strong>en intrauterinen Geräuschen<br />

wie <strong>der</strong> mütterlichen Blutzirkulation, Atemfluss und Darmbewegungen ist <strong>der</strong><br />

Fötus einer Geräuschkulisse von ca. 60 dB <strong>aus</strong>gesetzt. Diese<br />

Körpergeräusche sind jedoch überwiegend tieffrequent und werden durch<br />

die Filterwirkung <strong>der</strong> Knochen größtenteils <strong>aus</strong>geblendet (Nean<strong>der</strong>, K.-D.<br />

1999).<br />

Klang und Melodie erlebt <strong>der</strong> Fötus primär über die mütterliche Stimme. Der<br />

einzigartige Klang und die Sprechmelodie prägen sich beim Fötus<br />

beson<strong>der</strong>s schnell ein. Die Stimme <strong>der</strong> Mutter wird über die Wirbelsäule in<br />

den Bauchraum und das Becken weitergeleitet und durch die Form des<br />

Beckens noch 2,5-fach verstärkt. Das Zitat: „ Das Becken einer Frau<br />

funktioniert wie ein Kontrabass“ von Alfred Tomatis verdeutlicht dieses<br />

Phänomen sehr passend. Melodische Modulationen von Vokalen kann <strong>der</strong><br />

Fötus dabei besser wahrnehmen als Konsonanten und phonetische<br />

Merkmale (Busnel &Granier-Deferre, 1983).<br />

Monika Nöcker-Ribeaupierre weist in ihrer Arbeit mit früh geborenen<br />

Kin<strong>der</strong>n darauf hin, „dass musikalische Parameter <strong>der</strong> mütterlichen Stimme<br />

auch psychische, emotionale Anteile vermitteln, die wie<strong>der</strong>um als<br />

psychische Gedächtnisspuren internalisiert werden.“ Schon im Mutterleib<br />

reagiert <strong>der</strong> Fötus auf den durch Klang und Rhythmus vermittelten<br />

emotionalen Gehalt in <strong>der</strong> Mutterstimme. <strong>Ein</strong>e negative <strong>Ein</strong>stellung zum<br />

Kind, depressive Stimmungslagen o<strong>der</strong> partnerschaftliche Spannungen<br />

können bewirken, dass sich <strong>der</strong> Fötus auditiv verschließt, indem er den<br />

Kontakt zum mütterlichen Knochen vermeidet (Nean<strong>der</strong>, K.-D. 1999).Externe<br />

Geräusche wie die Stimme des Vaters und Musik werden erst ab einer<br />

Lautstärke von mehr als 100 dB direkt übertagen, da die Bauchdecke ein<br />

starker Schalldämmer ist. Sie werden über das Trommelfell <strong>der</strong> Mutter durch<br />

Knochenvibration übertragen (Nean<strong>der</strong>, K.-D. 1999).<br />

Nach <strong>der</strong> Geburt werden sowohl die Stimme <strong>der</strong> Mutter als auch die<br />

Stimme des Vaters vom Säugling unter allen an<strong>der</strong>en wie<strong>der</strong>erkannt<br />

(Cooper& Aslin 1989, De Casper& Fifer, 1980). Auch an den Klang des<br />

mütterlichen Herzschlags und an die natürlichen intrauterinen Geräusche<br />

erinnert sich ein Neugeborenes (De Casper & Sigafoos, 1983). Die<br />

Musiktherapie von Benenzon (1983) basiert auf diesen pränatalen<br />

Erfahrungen. Er arbeitet u.a. mit Klängen und Geräuschen, die an die<br />

Periode im Mutterleib erinnern. Dadurch, dass <strong>der</strong> Mensch diese ersten<br />

sinnlichen <strong>Ein</strong>drücke gerne wie<strong>der</strong> erfährt hat diese Musik eine beson<strong>der</strong>s<br />

„öffnende“ Wirkung.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 48<br />

Monika Nöcker-Ribaupierre (1993) nutzt als Musiktherapeutin die Stimme<br />

von Mutter und Vater in gesungener o<strong>der</strong> gesprochener Form als „Musik“<br />

für frühgeborenen Kin<strong>der</strong> im Inkubator. Der vertraute Klang <strong>der</strong> Stimmen<br />

hält als akustische Stimulation den Hirnstrom des Babys in Gang und<br />

überbrückt die physische Distanz zwischen Eltern und Kind psychischemotional.<br />

Musik, die Eltern während <strong>der</strong> Schwangerschaft gehört o<strong>der</strong> gesungen<br />

haben, sowie spezifische Klänge <strong>der</strong> Umgebung werden vom Säugling<br />

wie<strong>der</strong>erkannt und können je nach Assoziation eine beruhigende o<strong>der</strong><br />

aktivierende Wirkung haben. Hans Helmut Decker-Voigt (1999)<br />

beschreibt, dass <strong>der</strong> Fötus beson<strong>der</strong>s positiv auf Summtöne o<strong>der</strong> Singen <strong>der</strong><br />

Mutter, des Vaters o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en nahestehenden Menschen reagiert. Die<br />

Mutter sollte Musik hören, die sie gerne mag, wobei Stilrichtung, Gattung<br />

und „Niveau“ keine Rolle spielen. Jede positiv von <strong>der</strong> Mutter besetzte<br />

Musik wirkt über ihr Körpergefühl und ihre psychisch-emotionale<br />

Befindlichkeit auch auf das Kind positiv. Die akustische Belastbarkeitsgrenze<br />

<strong>der</strong> Mutter gilt gleichzeitig auch für das Kind. Längere Beschallung mit<br />

hoher Lautstärke sollte vermieden werden.<br />

<strong>Ein</strong>e beson<strong>der</strong>e Erlebensebene des Säuglings sind die von Daniel Stern<br />

beschriebenen „Vitalitätsaffekte“ (Stern, D. 2000). Gemeint sind damit<br />

Gefühlsqualitäten, die <strong>der</strong> Säugling wahrnimmt, wenn er z.B. gestreichelt<br />

wird o<strong>der</strong> wenn mit ihm gesprochen o<strong>der</strong> gesungen wird. Diese Qualitäten,<br />

die immer mit einer gewissen Intensität und Dynamik verbunden sind,<br />

können sein:<br />

- ruckartig - fließend<br />

- anschwellend - abschwellend<br />

- explosionsartig - schleichend<br />

- berstend - beruhigend, usw.<br />

Der Säugling erlebt diese „Vitalitätsaffekte“ als körperliche Empfindung,<br />

aber auch in Verbindung mit mimisch-visuellen und lautlich-akustisch<br />

wahrnehmbaren Ereignissen (Schumacher, K. 1999). Das Medium Musik ruft<br />

diese Vitalitätsaffekte wie kein an<strong>der</strong>es hervor.<br />

Musikalische Elemente in <strong>der</strong> frühen Interaktion zwischen Eltern und Säugling<br />

Stimmliche Äußerungen gehören in <strong>der</strong> frühen Kommunikation zwischen<br />

Eltern und Kind zu den häufigsten Verhaltensweisen, wobei das<br />

Neugeborene bereits aktiv beteiligt ist. Die vokale Interaktion zwischen<br />

Eltern und Säugling enthält dabei dieselben Parameter wie Musik.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 49<br />

Tonhöhe, Melodie, Rhythmus, Intensität und P<strong>aus</strong>en bestimmen die<br />

elterlichen Sprechweisen und stimmlichen Äußerungen, wobei zunächst<br />

nicht <strong>der</strong> semantische Inhalt <strong>der</strong> Worte relevant ist. Verstanden werden die<br />

nichtsprachlichen, musikalischen und analogen Anteile <strong>der</strong> verbalen<br />

Sprache.<br />

Mechthild Papousek (1981) beschreibt die Laute eines Neugeborenen als<br />

vokalartige Grundlaute : „eine Gruppe von wohltönenden Lauten mit einer<br />

überwiegend musikalischen Klangstruktur ohne Geräuschbeimengung.“ Sie<br />

klingen wie Zwischenformen von a, e und o und entstehen ohne<br />

artikulatorische Bewegung anfangs als Begleitprodukte <strong>der</strong> Aus- bzw.<br />

<strong>Ein</strong>atmung. Verhaltenszustände des Säuglings beeinflussen den Klang <strong>der</strong><br />

Grundlaute. So sind sie im ruhigen Wachzustand angenehm wohlklingend<br />

und zeigen eine harmonische Klangstruktur, mit zunehmen<strong>der</strong> Unruhe und<br />

Aufregung hingegen ist <strong>der</strong> Ryhthmus <strong>der</strong> Lautfolgen beschleunigt und<br />

Unregelmäßig. Die Lautstärke nimmt zu und die Laute sind häufig<br />

stakkatoartig verkürzt. Im Alter von 8 Wochen entwickeln sich die<br />

anfänglichen Grundlaute zu verlängerten, wohlklingenden Gurrlauten<br />

(„Cooing) die dem Säugling ermöglichen, die Tonhöhe zu modulieren und<br />

die musikalischen Elemente zu variieren. Der Säugling lernt zunehmend, die<br />

Atmung zugunsten <strong>der</strong> Lautbildung zu kontrollieren. Die Laute werden zum<br />

einen als Ausdruck des emotionalen Zustands des Kindes gesehen, zum<br />

an<strong>der</strong>en als wichtige Grundb<strong>aus</strong>teine <strong>der</strong> Kommunikation und <strong>der</strong><br />

kognitiven Entwicklung. (M. Papousek & H. Papousek, 1981 b; H. Papousek<br />

& M. Papousek, 1987).<br />

Bevor <strong>der</strong> Säugling lernt, seine Laute kommunikativ einzusetzen, werden die<br />

Grundlaute von den Eltern als Kommunikationsmittel interpretiert und wie in<br />

einem Gespräch beantwortet und kommentiert. Während das Schreien des<br />

Säuglings häufig durch beruhigendes Zureden o<strong>der</strong> ablehnende<br />

Äußerungen zu stillen versuchen werden die Grundlaute auf vielfältige<br />

Weise stimuliert: Unmittelbares Antworten in Form von Nachahmung, wobei<br />

die Vokalisation des Säuglings intuitiv zu melodischen Modulationen geleitet<br />

wird, Anregungen durch melodische, frageähnliche Intonationsmuster,<br />

variieren <strong>der</strong> bestehenden Melodien und das <strong>Ein</strong>bringen von abwartenden<br />

P<strong>aus</strong>en. Damit legen Eltern den Grundstein für das Abwechseln in ersten<br />

Dialogen. Die Intensität <strong>der</strong> Stimulation passen die Eltern intuitiv an den<br />

Erregungszustand des Säuglings an. Gesang o<strong>der</strong> musikalische Elemente in<br />

<strong>der</strong> Sprache werden den Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gefühls- und<br />

Verhaltenszustände des Säuglings angepasst. Damit können sowohl die<br />

ruhigen und aktiven Wachzustände des Säuglings aufrechterhalten<br />

werden, als auch <strong>der</strong> Übergang zum Schlaf erleichtert werden.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 50<br />

Tiefe und eindringliche Töne, „dunkle“ Klangfarben wirken beruhigend,<br />

während hohe Töne mit „heller“ Klangfarbe die Aufmerksamkeit wecken.<br />

Melodien von Wiegenlie<strong>der</strong>n haben einen geraden Takt und verlaufen in<br />

Wellenbewegungen. Meistens überwiegen abfallende Tonfolgen, die eine<br />

einschläfernde Wirkung erzeugen. Indem eine abschwellende Dynamik<br />

während des Singens eingesetzt wird, kann die beruhigende Wirkung<br />

zusätzlich unterstützt werden. Diese Lie<strong>der</strong> sind beson<strong>der</strong>s auf die<br />

Wahrnehmungsfähigkeiten des Säuglings <strong>aus</strong>gerichtet. Improvisierte<br />

Melodien von Eltern, die während <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>schlafphase o<strong>der</strong> zur Beruhigung<br />

ihres Säuglings gesungen werden, haben oft intuitiv schon diese Merkmale.<br />

Beispiele für typische Wiegenlie<strong>der</strong>:<br />

1. „Wer hat die schönsten Schäfchen?“<br />

Text: Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Melodie: Johann Friedrich Reichardt<br />

2. „Guten Abend, gut` Nacht“<br />

Text: Volkslied, Melodie: Johannes Brahms


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 51<br />

Unterhaltsame, muntere Kin<strong>der</strong>lie<strong>der</strong> mit schnellen Tonfolgen und<br />

Bewegungen dagegen för<strong>der</strong>n die Aufmerksamkeit und unterstützen die<br />

Interaktion. Untrennbar von <strong>der</strong> Vokalisation ist die Körpersprache, Mimik<br />

und Gestik, die Eltern dem Säugling vermitteln.<br />

Die Sprechweise <strong>der</strong> Eltern, das langsame Sprechen und die erhöhte<br />

Stimmlage, passen sich optimal den Wahrnehmungsfähigkeiten des<br />

Säuglings an, die eine Vorliebe für hohe Stimmlagen haben. Sprechweisen<br />

und melodischen Konturen in <strong>der</strong> an den Säugling gerichteten Sprache<br />

erfüllen mehrere Funktionen. Zum einen beeinflussen sie beim Säugling<br />

Verhaltens- und Gefühlszustände, dienen als auditive Stimulation, als<br />

auditives Feedback, als didaktische Unterstützung von Wahrnehmung und<br />

Verständnis <strong>der</strong> Sprache, primär jedoch <strong>der</strong> nonverbalen, musikalischen<br />

Ausdruckselemente (Papousek & Papousek, 1981 a,b,c). Wichtig ist nicht<br />

„was“ gesprochen wird, son<strong>der</strong>n „wie“ (zur näheren Betrachtung siehe<br />

Anhang).<br />

Benjaman Schögler (1998) vergleicht die frühe Kommunikation zwischen<br />

Eltern und Kind mit <strong>der</strong> Kommunikation von Musikern innerhalb einer Jazz-<br />

Improvisation. Säugling und Musiker nutzen dabei ähnliche Fertigkeiten. Es<br />

ist das aufeinan<strong>der</strong> abgestimmte Verhalten, das gegenseitige Stimulieren<br />

und aufeinan<strong>der</strong> reagieren, das Teilen des gleichen Rhythmus, das<br />

Aufschnappen und Weitergeben von Signalen innerhalb eines (für den<br />

Säugling noch) non-verbalen kommunikativen Systems. Die fundamentalen<br />

Merkmale <strong>der</strong> Eltern-Kind-Kommunikation verschwinden nicht während<br />

unserer Entwicklung, son<strong>der</strong>n bleiben als Basis für all unsere kommunikativen<br />

Systeme bestehen. Jazz- Improvisation wird von Schögler als das Feiern<br />

dieser kommunikativen Fertigkeiten gesehen. Es ist eine Art, sich selbst in<br />

Kommunikation mit an<strong>der</strong>en <strong>aus</strong>zudrücken.<br />

4.2 Ausgangspunkte in <strong>der</strong> Musiktherapie<br />

Der folgende Teil beschäftigt sich mit dem noch sehr neuen Gebiet <strong>der</strong><br />

musiktherapeutischen Arbeit in <strong>der</strong> Behandlung von „Schreibabys“ und<br />

<strong>der</strong>en Eltern. Ich habe mich dabei sowohl an <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong><br />

Musiktherapeutin Gisela M. Lenz orientiert, als auch eigene Konzepte und<br />

Ideen mit einfließen lassen. An dieser Stelle soll noch erwähnt werden, dass<br />

die beschriebenen musiktherapeutischen Möglichkeiten aufgrund des<br />

recht unerforschten Gebietes im Hinblick auf die Musiktherapie durch<strong>aus</strong><br />

ergänzungs- bzw. <strong>aus</strong>baufähig sind.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 52<br />

4.2.1 Therapieformen<br />

In <strong>der</strong> musiktherapeutischen Behandlung von „Schreibabys“ wird in <strong>der</strong><br />

einzig bestehenden Literatur eine Therapieform vorgestellt, die auch in <strong>der</strong><br />

Kommunikationstherapie des Münchner Behandlungsmodells (siehe Kapitel<br />

3)eine große Rolle spielt. Es handelt sich hierbei um das „triadische Setting“,<br />

in dem die Mutter (o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vater), das Kind und <strong>der</strong> Therapeut gleichzeitig<br />

involviert sind. Gisela M. Lenz (2000) beschreibt diese Form <strong>der</strong> aktiven<br />

Musiktherapie in ihrer Pilotstudie, in <strong>der</strong> sie <strong>der</strong> Frage nachgeht, ob eine<br />

spezielle musiktherapeutische Intervention die Beziehung zwischen Mutter<br />

und Kind in einer entgleisten Interaktion verbessern kann. Nach meinen<br />

Überlegungen wäre es sinnvoll, Musiktherapie in dieser Form auch in <strong>der</strong><br />

häuslichen Umgebung einer Familie anzubieten. Zum einen zur Entlastung<br />

<strong>der</strong> Eltern, da <strong>der</strong> Musiktherapeut mit seinen Instrumenten sicher mobiler ist<br />

als manche Eltern mit Baby und Zubehör. Zum an<strong>der</strong>en kann sich <strong>der</strong><br />

Therapeut in den Tagesablauf integrieren, das Baby wird nicht <strong>aus</strong> seiner<br />

gewohnten Umgebung „gerissen“ und <strong>der</strong> Stressfaktor ist<br />

dementsprechend gering.<br />

Es soll noch eine weitere, mögliche Therapieform mit musiktherapeutischer<br />

Begleitung vorgestellt werden, die sich primär an die Eltern von exzessiv<br />

schreienden Säuglingen richtet: die Elterngruppe. Ich nenne diese Form<br />

ganz bewusst „Elterngruppe“ und nicht „Elterntherapie“, da das Wort<br />

„Therapie“ bei vielen Eltern sicher abschreckend wirken könnte und das<br />

Gefühl weckt, als hätten sie die Schuld am exzessiven Schreien ihres Babys<br />

und müssten behandelt werden. Die Elterngruppe soll vor allem <strong>der</strong><br />

ressourcenorientierten Unterstützung dienen. In Kapitel 1 wurden die<br />

Auswirkungen, die exzessives Schreien auf die Eltern haben können bereits<br />

beschrieben. Erschöpfung, Un<strong>aus</strong>geglichenheit, Isolation aber auch<br />

Gefühle wie Wut und Aggression bewirken, dass sich die Eltern immer<br />

weniger auf das Baby mit seinen beson<strong>der</strong>en Bedürfnissen einlassen und<br />

sich ihm widmen können. Das „burn-out“- Syndrom <strong>der</strong> Eltern überträgt sich<br />

auch auf das Baby und wirkt zusätzlich Stress-verstärkend. Eltern, bei denen<br />

Unterstützung und Entlastungsmöglichkeiten durch ihre Umgebung nicht<br />

gegeben ist, sollten in <strong>der</strong> Elterngruppe die Gelegenheit bekommen<br />

regelmäßig zur Ruhe zu kommen, Kraft zu tanken und sich wie<strong>der</strong> auf sich<br />

selbst zu konzentrieren. Da die Babys nicht mit einbezogen werden, muss<br />

während dieser Zeit (gerade bei Eltern ohne soziale Unterstützung) eine<br />

Betreuung angeboten werden. Innerhalb eines interdisziplinären Teams<br />

wäre diese Möglichkeit gegeben.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 53<br />

4.2.2 Ziele<br />

Bevor verdeutlicht wird, warum Musiktherapie indiziert ist, werden<br />

Zielsetzungen <strong>der</strong> triadischen Therapie und <strong>der</strong> Elterngruppe formuliert.<br />

Triadische Therapie<br />

- dysfunktionale Kommunikationsmuster (Missverständnisse, inadäquates<br />

Reagieren) zwischen Säugling und Eltern beheben, und<br />

somit den Teufelskreis negativer Gegenseitigkeit durchbrechen<br />

- das Vertrauen <strong>der</strong> Eltern in eigene intuitive Kompetenzen stärken<br />

- Momente <strong>der</strong> Freude und positiven Gegenseitigkeit mit dem<br />

Säugling erleben<br />

- dem Säugling durch musikalischen Kontakt Orientierung geben<br />

- emotional- musikalische Zuwendung<br />

- Struktur schaffen durch Rituale<br />

Elterngruppe<br />

- ambivalenten Gefühlen wie Wut und Enttäuschung Raum geben<br />

und Ausdruck verleihen<br />

- sich selbst wie<strong>der</strong> als Mensch wahrnehmen, <strong>der</strong> nicht nur Elternteil<br />

ist<br />

- Entspannung und Wohlbefinden<br />

- <strong>der</strong> Isolation entgegenwirken, Gefühl des „alleinseins“ aufheben<br />

4.2.3 Indikationskriterien<br />

Neben den Indikationskriterien für die triadische Therapieform und die<br />

Elterngruppe werden vor allem die Eigenschaften des Mediums Musik<br />

erwähnt, die es ermöglichen, dieses therapeutisch in <strong>der</strong> Arbeit mit<br />

„Schreibabys“ und <strong>der</strong>en Eltern einzusetzen.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 54<br />

Indikationskriterien für die triadische Therapie:<br />

1) Probleme <strong>der</strong> Erregungsmodulation und Wahrnehmungsverarbeitung<br />

beim Baby<br />

Musik ermöglicht Kontakt; Musik dringt immer nach innen<br />

Musik gilt als äußerst geschicktes Medium, um Säuglinge während eines<br />

Schreianfalls zu erreichen, zu regulieren und die Aufmerksamkeit zu för<strong>der</strong>n<br />

(Decker- Voigt H.-H. 1999, Lenz, G.M. 2000). Wird das Schreien des Kindes<br />

durch singen/spielen in ähnlicher Frequenz begleitet, empfindet sich das<br />

Baby offenbar nicht mehr so allein und besser verstanden als vorher<br />

(Decker-Voigt, H.-H. 1999)<br />

Musik bietet/ist Struktur<br />

Musik kann oft wie<strong>der</strong>holt werden (externe Redunanz) und eine interne<br />

Struktur besitzen, die sehr einfach und repetitiv ist (interne Redunanz), z.B.<br />

Wiegenlie<strong>der</strong> (Smeijsters, H. 1999). Durch die Struktur von Musik können<br />

Reize dosiert eingesetzt werden. Das Wie<strong>der</strong>holen von Lie<strong>der</strong>n kann die<br />

Reize auf ein Maß reduzieren, so dass diese für ein Baby leichter zu<br />

habituieren sind. Musik gilt als äußerst geschicktes Medium, um Säuglinge<br />

während eines Schreianfalls zu erreichen, zu regulieren und die<br />

Aufmerksamkeit zu för<strong>der</strong>n (Decker- Voigt H.-H. 1999, Lenz, G.M. 2000).<br />

Spielt o<strong>der</strong> singt man in gleicher Frequenz des Schreiens mit, empfinden sich<br />

die Babys offenbar nicht mehr so allein und besser verstanden als vorher<br />

(Decker-Voigt, H.-H. 1999).<br />

Musik kann eine beruhigende Wirkung haben<br />

Die spezielle Eigenschaft von Wiegenlie<strong>der</strong>n und Musik, die vom Fötus im<br />

Mutterleib erfahren wurde, kann in <strong>der</strong> postnatalen Zeit eine positive,<br />

beruhigende Wirkung haben. Das langsames Tempo und die gleichbleibende,<br />

geringe Dynamik eines auditiven Stimulus haben <strong>Ein</strong>fluss auf<br />

physiologische Reaktionen. Bewegungen verlangsamen sich, die Atmung<br />

wird gleichmäßig und zugleich sinkt die Herzfrequenz.<br />

2) Berührungsempfindlichkeit<br />

Musik kann Nähe und Geborgenheit vermitteln<br />

Musik, <strong>der</strong> Klang einer vertrauten Stimme, kann ebenso wie Körperkontakt<br />

unmittelbar emotionale Nähe und Geborgenheit vermitteln. „Durch den


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 55<br />

akustischen Modus fällt in beson<strong>der</strong>er Weise <strong>der</strong> Moment des Abstandes<br />

hinweg (...) ob nah o<strong>der</strong> fern, <strong>der</strong> Ton dringt ohne Abstand in uns ein“ (Senf,<br />

1988). Die Fähigkeit <strong>der</strong> Stimme, Distanz aufzuheben, auch wenn kein<br />

visueller o<strong>der</strong> körperlicher Kontakt, z.B. zur Bezugsperson aufgenommen<br />

werden kann, ist bereits für das Kleinkind von größter angstmin<strong>der</strong>n<strong>der</strong><br />

Bedeutung (Rittner, S. 1996).<br />

3) Dysfunktionale Kommunikationsmuster in <strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung,<br />

eingeschränkte Interaktionsfähigkeit<br />

Musik ist eine für den Säugling verständliche „Sprache“.<br />

Musik schließt an die frühe Kommunikation zwischen Eltern und Säugling an,<br />

in <strong>der</strong> <strong>der</strong> verbale, digitale 7 Aspekt von Kommunikation unzureichend und<br />

von sekundärer Bedeutung ist. Gerade <strong>der</strong> analoge Anteil, <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Kommunikationstheorie von Watzlawick (1975) die Beziehung <strong>aus</strong>drückt, die<br />

Art „wie“ etwas gesagt und nicht „was“ gesagt wird, ist entscheidend. Die<br />

musiktherapeutische Improvisation lässt sich als analoge Kommunikation<br />

bezeichnen. Musik ruft „Vitalitätsaffekte“, die Gefühlsqualitäten die ein<br />

Säugling beson<strong>der</strong>s intensiv wahrnimmt, wie kein an<strong>der</strong>es Medium hervor<br />

(siehe S. 48).<br />

Analoge Prozesse<br />

Watzlawick sieht die Familie als ein System, in dem das Verhalten jedes<br />

Individuums abhängig ist von dem Verhalten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Familienmitglie<strong>der</strong>. Alles Verhalten ist Kommunikation und hat automatisch<br />

<strong>Ein</strong>fluss auf das Verhalten an<strong>der</strong>er. Diese gegenseitige Beeinflussung, das<br />

Geben von „feed-back“, kann gleichzeitig stattfinden und als zirkulär<br />

betrachtet werden. In <strong>der</strong> freien Improvisation reagieren die Spieler bewusst<br />

o<strong>der</strong> unbewusst aufeinan<strong>der</strong>, geben „feed-back“ und jede Verän<strong>der</strong>ung<br />

eines einzelnen bewirkt eine Verän<strong>der</strong>ung im Ganzen. Diese Beeinflussung<br />

geschieht ebenfalls gleichzeitig und ist zirkulär.<br />

G. Lenz (2000) geht in ihrer Studie davon <strong>aus</strong>, dass die frühe Beziehung von<br />

Mutter/Eltern und Kind und aktive Musiktherapie (freie Improvisation)<br />

ähnlichen Prinzipien folgen:<br />

7 <strong>der</strong> digitale Aspekt <strong>der</strong> Kommunikation verweist auf den Inhalt <strong>der</strong> Worte


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 56<br />

- ununterbrochener, dynamischer Fluss<br />

- sich gegenseitig beeinflussen<br />

- teilen des selben Gefühlsraumes, entsprechend musikalischer<br />

Phrasen<br />

- sich anpassen an schnelle Wechsel beim Improvisieren, die<br />

intuitiven Verhaltensweisen unterliegen<br />

- gemeinsames Improvisieren im Sinn von Signale geben und<br />

- beantwortet werden, wodurch ein Gefühl von Urheberschaft,<br />

etwas in <strong>der</strong> Welt bewirken zu können, entsteht<br />

Musikalische Prozesse können als analog zu Prozessen im System bezeichnet<br />

werden. Störungen im Interaktionsmuster können sich demzufolge im<br />

musikalischen Geschehen zwischen Eltern und Kind wie<strong>der</strong>spiegeln und als<br />

Ausgangspunkt für Verän<strong>der</strong>ungen dienen: wie reagieren Eltern und Kind<br />

aufeinan<strong>der</strong>? Wie reagieren Eltern auf Signale des Säuglings? Gibt es<br />

Missverständnisse? Was ist an Spannung und Hilflosigkeit zu spüren?<br />

Musik kann positive, gemeinsame Erfahrungen und Freude för<strong>der</strong>n<br />

Der Gebrauch von Instrumenten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> eigenen Stimme kann den Eltern<br />

neue <strong>Weg</strong>e <strong>der</strong> Interaktion mit ihren Kin<strong>der</strong>n öffnen. Die Eltern haben durch<br />

die von ihnen produzierten Klänge, die das Kind erreichen, das Gefühl<br />

etwas bewirken zu können. Gemeinsame, musikalische Spiele können das<br />

Miteinan<strong>der</strong> för<strong>der</strong>n und Momente <strong>der</strong> Freude entstehen lassen.<br />

Kontraindikationen?<br />

In Verbindung mit den Indikationskriterien für Musiktherapie hat sich für mich<br />

auch die Frage nach möglichen Kontraindikationen gestellt. Wenn<br />

„Schreibabys“ aufgrund von Defiziten in <strong>der</strong> Selbstregulationsfähigkeit eine<br />

zu niedrige Reizschwelle haben, können zu viele akustische und visuelle<br />

Reize eine Überfor<strong>der</strong>ung darstellen, beson<strong>der</strong>s wenn <strong>der</strong> Säugling<br />

übermüdet ist und Ruhe braucht. In dieser Situation können die speziellen,<br />

strukturierten Eigenschaften von Wiegenlie<strong>der</strong>n, welche die <strong>Ein</strong>schlafphase<br />

för<strong>der</strong>n, genutzt werden um das Baby in <strong>der</strong> Selbstregulation zu<br />

unterstützen. Ob und in welchem Maße nun definitiv Kontraindikationen für<br />

Musiktherapie mit „Schreibabys“ bestehen, können nur Erkenntnisse und<br />

Erfahrungen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> praktischen Arbeit zeigen.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 57<br />

Musik sollte, im Hinblick auf eine mögliche eingeschränkte Habituations-<br />

und Selbstregulationsfähigkeit bei „Schreibabys“, als bewusster und<br />

primärer Reiz in einer gewissen Struktur eingesetzt, und je nach Reizschwelle<br />

des Babys dosiert werden. Der Therapeut unterstützt die Eltern zusätzlich, die<br />

Anzeichen des Kindes, die eine Überlastung signalisieren zu erkennen und<br />

das Verhalten darauf ab zustimmen.<br />

Indikationskriterien für die Elterngruppe:<br />

1) Psychische und körperliche Überlastung <strong>der</strong> Eltern<br />

Musik kann als Ausdrucksmittel dienen<br />

Durch Musik können schwer-verbalisierbare, ambivalente Emotionen<br />

(Ängste, Wut) <strong>aus</strong>gedrückt werden.<br />

Musik wird direkt erfahren<br />

Musik wird unmittelbar, im „Hier und Jetzt“ erlebt und ermöglicht eine<br />

bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers. Es gibt keine Musik, die nicht<br />

von, mit und durch den Körper zum Klingen kommt (Loos, G.K. 1996). In <strong>der</strong><br />

Improvisation konzentriert sich <strong>der</strong> Spieler auf die momentanen,<br />

wechselnden Geschehnisse, die ihn von <strong>der</strong> schwierigen Situation zu H<strong>aus</strong>e<br />

ablenken können.<br />

Musik kann Entspannung för<strong>der</strong>n und Assoziationen hervorrufen<br />

Durch das Hören von bestimmter Musik kann Stress reduziert werden und<br />

körperliche Entspannung geför<strong>der</strong>t werden. Die Merkmale sogenannter<br />

trophotroper (beruhigende, entspannte) Musik sind schwebende<br />

Rhythmen, <strong>der</strong> Gebrauch von Konsonanzen, eine geringe Dynamik,<br />

vorherrschendes Legato, eine sanfte und fließende Melodie und<br />

harmonische Bewegungen (Decker-Voigt, H.-H. 1999). Während des Hörens<br />

von Musik können bestimmte Vorstellungen o<strong>der</strong> Gedanken auftreten.<br />

Solche Assoziationen sind möglich, weil in <strong>der</strong> Vergangenheit eine<br />

Verbindung zwischen Musik und an<strong>der</strong>en Situationen entstanden ist<br />

(Smeijsters,H. 1999). Dadurch kann die Situation, in <strong>der</strong> sich eine Person<br />

befindet, für eine gewisse Zeit durch die Erinnerung an vergangene,<br />

positive Zeiten <strong>aus</strong>get<strong>aus</strong>cht werden.<br />

4.2.4 die therapeutische Beziehung<br />

Innerhalb <strong>der</strong> triadischen Therapie wirkt <strong>der</strong> Musiktherapeut, ähnlich wie im


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 58<br />

Münchner Behandlungsmodell (siehe Kapitel 3), als sichere Basis für Eltern<br />

und Säugling. Dies setzt eine gewisse Kenntnis über die frühe Eltern-Kind-<br />

Beziehung, Entwicklungspsychologie und die Problematik vor<strong>aus</strong>. Der Musik-<br />

therapeut nimmt, an <strong>der</strong> klientzentrierten Therapie orientiert, eine<br />

empathische und unterstützende Haltung ein, wobei er das Verhalten von<br />

Eltern und Baby bedingungslos akzeptiert. Das Baby steht mit seinen<br />

Bedürfnissen und Problemen zentral. Im Hinblick auf das Repertoire<br />

angebo-borener Fähigkeiten, Vorlieben und innerer Motivation mit dem <strong>der</strong><br />

Säugling <strong>aus</strong>gestattet ist und die Anwesenheit des intuitiven, elterlichen<br />

Verhaltens (siehe Kapitel 2) geht <strong>der</strong> Musiktherapeut davon <strong>aus</strong>, dass Eltern<br />

und Baby das Potential besitzen, um die Probleme selbständig lösen zu<br />

können. Die Therapie unterstützt diesen „Selbstheilungsprozess“, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong><br />

von Carl Rogers entwickelten Sicht basiert.<br />

Vergleichbar mit <strong>der</strong> musiktherapeutischen Arbeitsweise bei autistischen<br />

Kin<strong>der</strong>n von Karin Schumacher (1994) gilt es für den Musiktherapeuten, die<br />

Symptome des Kindes (in diesem Fall das übermäßige Schreien) positiv zu<br />

besetzen und sie als Anknüpfungspunkt für einen möglichen Kontakt zu<br />

„verwenden“. <strong>Ein</strong>ige Elemente und Techniken <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Schöpferischen<br />

Musik-therapie von Nordoff & Robbins (1986) können ebenfalls in dem<br />

triadischen Prozess wie<strong>der</strong>erkannt werden. Beim weinenden o<strong>der</strong><br />

schreienden Kind pro-biert <strong>der</strong> Therapeut, die Intensität des Verhaltens<br />

(Bewegungen und Klänge) des Kindes durch die Musik <strong>aus</strong>zudrücken und<br />

Kontakt aufzunehmen. Die Musik akzeptiert den Zustand des Kindes und<br />

kommt ihm entgegen, wenn sie übereinstimmt mit seinem Ausdruck, ihn<br />

begleitet und intensiviert (Nordoff, P. & Robbins, C. 1986). Das Kind erkennt<br />

sich in dem musikalischen Geschehen wie<strong>der</strong> und hat das Gefühl, dass es<br />

verstanden wird. Beispiel <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Arbeit mit einem psychotisch-autistischen<br />

Kind (Edward):<br />

„Angst, Zorn, Ärger, Weinen, Schreien und emotional-motorischer Aufruhr<br />

waren „normal“ in seinem Leben. Ich nahm mir vor, seinen Ausbruch als<br />

emotional-expressive Realität in <strong>der</strong> Situation zu akzeptieren und ihn<br />

musikalisch aufzunehmen (Nordoff, P. & Robbins, C. 1986).“


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 59<br />

In <strong>der</strong> Elterngruppe nimmt <strong>der</strong> Therapeut ebenfalls eine empathische und<br />

unterstützende Haltung ein. Zu <strong>der</strong> Frage, welchen therapeutischen<br />

Hintergrund <strong>der</strong> Elterngruppe zugeschrieben werden kann, möchte ich<br />

zunächst eine Definition über Musiktherapie von Schomer anführen:<br />

„Music therapy may be defined as the application of music to<br />

produce a condition of well-being in an individuell.”<br />

(<strong>aus</strong> Bruscia, 1998 S.276)<br />

Ich betrachte diese Definition als Ausgangspunkt <strong>der</strong> von Musiktherapie<br />

begleiteten Elterngruppe. Das durch Musik erreichte Wohlbefinden<br />

(körperlich und psychisch) unterstützt und begleitet den Prozess zwischen<br />

Eltern und Kind. Das auf <strong>der</strong> Gestalttherapie basierende Element des<br />

Erlebens im „Hier und Jetzt“ ist von zentraler Bedeutung in <strong>der</strong> Elterngruppe.<br />

4.3 Arbeitsweisen in <strong>der</strong> triadischen Therapie<br />

4.3.1 die freie Improvisation<br />

„Babies erwarten direkte, spontane Reaktionen. Gefragt ist das freie<br />

Spiel, sich anstecken lassen – reine Improvisation.“<br />

(Lenz, G. 2000)<br />

Die von Gisela Lenz beschriebene musiktherapeutische Arbeit konzentriert<br />

sich fast <strong>aus</strong>schließlich auf die freie Improvisation. Das Baby wird mit seinen<br />

stimmlichen Äußerungen und Bewegungen als aktiver Partner in das<br />

gemeinsame Spiel eingebunden. Dabei wird versucht, ähnlich dem Iso-<br />

Prinzip 8 o<strong>der</strong> auch Containment 9 , beim Baby anzuschließen und die<br />

Stimmung aufzufangen, wobei Klänge und Geräusche dem Tempo und <strong>der</strong><br />

Lautstärke des jeweiligen Erregungszustandes angepasst werden. Der<br />

dadurch entstehende Kontakt gibt dem Baby während eines Schrei-Anfalls<br />

Orientierung und sein innerer Zustand kann reguliert werden (Lenz, G.<br />

2000).In dieser Situation werden Instrumente mit hoher Frequenz und<br />

Intensität eingesetzt (Ocean-Drum, Rasseln, Chimes...) o<strong>der</strong> die stimmliche<br />

Dynamik angepasst. Wird das Baby aufmerksam, kann <strong>der</strong> Rhythmus<br />

verlangsamt werden und die Interaktion über die Stimme, Mimik und Gestik<br />

aufrecht erhalten werden.<br />

8 beim Iso-Prinzip schließt die Musik des Therapeuten an die Stimmung und den Charakter<br />

des Patienten an um Kontakt herzustellen (Smeijsters, H. 1991).<br />

9 beim Containment kreiert <strong>der</strong> Musiktherapeut eine musikalische Atmosphäre, die alle<br />

Stimmung des Patienten wie<strong>der</strong>spiegelt, und den Gefühlen eine akzeptierende Form gibt.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 60<br />

Tief- frequente Xylophone, Trommeln und Monochorde werden nun in die<br />

Beziehung zu dem Baby einbezogen. Der Therapeut kann hierbei<br />

verschiedene, Empathie betreffende Techniken von Bruscia (1990)<br />

anwenden:<br />

Imitating (Imitation):<br />

Der Therapeut wie<strong>der</strong>holt/imitiert, was <strong>der</strong> Klient v orgibt. Dabei kann er sich<br />

nach allen Geräuschen, Rhythmen, Intervallen, Melodien, Bewegungen,<br />

Gesichts<strong>aus</strong>drücken, usw. richten, die <strong>der</strong> Klienten hören bzw. sehen lässt.<br />

Synchronizing (Synchronisation):<br />

Der Therapeut macht im gleichen Moment das, was <strong>der</strong> Klient macht,<br />

wobei nur ein Element (z.B. Rhythmus) o<strong>der</strong> verschiedene Elemente<br />

synchronisiert werden können.<br />

Pacing (Übereinstimmen):<br />

Der Therapeut gebraucht die gleiche Dynamik/Intensität und das gleiche<br />

Tempo, um mit dem Energieniveau des Klienten überein zustimmen.<br />

Der Therapeut versucht, immer mit den Eltern in Kontakt zu bleiben und sie<br />

mit in die musikalische Interaktion einzubeziehen. Dabei kann <strong>der</strong> Therapeut<br />

beobachten, welche Instrumente Eltern in die Kommunikation und in<br />

verschiedenen Situationen einbeziehen, mit welcher Dynamik sie bespielt<br />

werden und inwiefern die musikalischen Äußerungen auf die Signale des<br />

Kindes abgestimmt werden. Gisela Lenz hat die Erfahrung gemacht, dass<br />

alle Kin<strong>der</strong> unmittelbar auf Klang reagieren und die Eltern dadurch das<br />

Gefühl von „ich kann etwas bewirken“ bekommen. Oft kristallisieren sich<br />

beim Experimentieren mit verschiedenen Instrumenten Vorlieben des Babys<br />

für bestimmte Klänge her<strong>aus</strong>, welche beson<strong>der</strong>s die Aufmerksamkeit<br />

wecken. Babys im Krabbelalter beginnen mit den Instrumenten zu<br />

experimentieren und zu spielen. Eltern und Babys machen hier die<br />

Erfahrung von Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit in <strong>der</strong> Interaktion. In <strong>der</strong><br />

spielerisch- musikalischen Begegnung, über die Instrumente und im<br />

Umgang mit <strong>der</strong> Therapeutin, erleben die Eltern ihre Kin<strong>der</strong> ganz an<strong>der</strong>s<br />

und erfahren das „Miteinan<strong>der</strong>- sein“ als positiv und angenehm.<br />

4.3.2 Stimm-/Lie<strong>der</strong>gebrauch<br />

Intensiver Körperkontakt schafft Geborgenheit und zeigt einem Baby, dass<br />

es nicht allein ist. „Schreibabys“ haben häufig das Bedürfnis nach<br />

beson<strong>der</strong>s viel körperlicher Nähe.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 61<br />

Eltern, die ihre Babys stundenlang herumtragen gelangen nach einer<br />

gewissen Zeit jedoch an einen Punkt, an dem sie erschöpft und genervt<br />

sind. Die Anspannung überträgt sich durch den Körperkontakt wie<strong>der</strong>um<br />

auf das Baby, wodurch <strong>der</strong> Teufelskreis <strong>aus</strong> negativer Beeinflussung wie<strong>der</strong><br />

verstärkt wird.<br />

Für „Schreibabys“, die beson<strong>der</strong>s empfindlich auf Berührungen reagieren<br />

und die nur wenig körperlichen Kontakt zulassen ist es wichtig, dass sie<br />

trotzdem das Gefühl von emotionaler Nähe und Geborgenheit bekommen.<br />

Indem sich Muter/Vater in diesen Situationen neben das Baby legen, es<br />

nicht berühren son<strong>der</strong>n sich ihm durch Vorsingen ganz bewusst und intensiv<br />

zuwenden spürt das Baby ebenfalls, dass es nicht allein ist. Die vertrauten<br />

Stimmen vermitteln dem Baby in einer musikalisch-emotionalen<br />

Atmosphäre unmittelbar Nähe und Geborgenheit. Um sich darauf<br />

einzulassen ist es wichtig, dass die Eltern selbst zur Ruhe kommen und den<br />

eigenen Atemrhythmus auf die Situation einstimmen. Wenn das Baby<br />

unruhig ist, können anregende Lie<strong>der</strong> und Melodien die Stimmung<br />

auffangen und die Aufmerksamkeit des Babys wecken. Wiegenlie<strong>der</strong> (siehe<br />

S. 50)unterstützen das Baby in <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>schlaf-phase und wirken beruhigend,<br />

ebenso wie Lie<strong>der</strong> und Melodien die während <strong>der</strong> Schwangerschaft<br />

gesungen o<strong>der</strong> gehört wurden. Grundsätzlich sollten sich die Eltern mit dem<br />

Musikangebot an ihr Kind wohl fühlen, denn die Gefühlswelt <strong>der</strong> Eltern, die<br />

dem Kind vermittelt wird, spielt ebenso mit wie die musikpsychologisch o<strong>der</strong><br />

medizinisch erforschte vegetative Wirkung <strong>der</strong> Musik auf das autonome<br />

Nervensystem des Säuglings. Anstelle von den typischen Wiegenlie<strong>der</strong>n<br />

können auch alle an<strong>der</strong>en Lie<strong>der</strong> (z.B. englisch- sprachige Balladen), die<br />

die Eltern als beruhigend empfinden, einbezogen werden. Um eine<br />

Reizüberflutung zu verhin<strong>der</strong>n und dem Baby Struktur zu bieten, werden<br />

immer wie<strong>der</strong> die gleichen Lie<strong>der</strong> gesungen. Dies kann dem Baby auch zur<br />

Orientierung dienen; im Tagesablauf können bestimmte Lie<strong>der</strong> dann<br />

bevorstehende Handlungen ankündigen und das Baby darauf vorbereiten.<br />

Der Musiktherapeut unterstützt die Eltern bei <strong>der</strong> Lied<strong>aus</strong>wahl und bietet in<br />

<strong>der</strong> Therapie eine musikalische Begleitung mit z.B. Gitarre o<strong>der</strong> Klavier im<br />

Hintergrund.<br />

Singen, <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>satz <strong>der</strong> eigenen Stimme, kann für Mütter/Väter auch eine<br />

neue, ungewohnte Erfahrung und sehr konfrontierend sein. Der Musiktherapeut<br />

kann die Eltern unterstützen und eine sichere Atmosphäre schaf-<br />

fen, indem er ein kleines musikalisches Fragment/Melodie vorgibt (welches<br />

immer wie<strong>der</strong>holt wird) und die Mutter/den Vater ermutigt mitzusingen,<br />

bzw. zu summen.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 62<br />

Absteigende Tonfolgen/Wellenbewegungen und ein langsames Tempo<br />

tragen zur Beruhigung bei und dienen zusätzlich <strong>der</strong> Entspannung auf<br />

Seiten <strong>der</strong> Eltern. Die Tonlage sollte auf die Eltern abgestimmt und als ange-<br />

nehm empfunden werden. Tiefe Töne unterstützen die beruhigende<br />

Wirkung. <strong>Ein</strong>e gewisse Sicherheit kann am Beginn die Begleitung des<br />

Gesangs auf einem Harmonieinstrument (u.a. Gitarre, Klavier) bieten. Nach<br />

mehrmaliger Wie<strong>der</strong>holung kann <strong>der</strong> Musiktherapeut u.U. an einigen Stellen<br />

eine zweite Stimme einbringen. Beispiel:<br />

4.3.3 musikalische Begleitung durch den Therapeuten<br />

„Klang berührt Mutter und Kind unmittelbar- sie teilen den selben<br />

Empfindungsraum.“<br />

(Lenz, G. 2000)<br />

Während die Eltern das Baby füttern, sich mit ihm bewegen o<strong>der</strong> es wiegen<br />

begleitet <strong>der</strong> Musiktherapeut die Interaktion musikalisch. Dies geschieht<br />

entwe<strong>der</strong> durch freie Improvisation (z.B. am Monochord) o<strong>der</strong> durch<br />

bestehende Lie<strong>der</strong> (z.B. am Klavier), welche die Bewegungen und Interventionen<br />

<strong>der</strong> Eltern unterstützen.<br />

<strong>Ein</strong>ige Beispiele für Musik, die mir in diesem Zusammenhang als beson<strong>der</strong>s<br />

geeignet erscheint:<br />

W.A. Mozart Sonata in A Major (Theme)<br />

Louis Kohler Andantino<br />

Claude Debussy Clair de Lune (Suite Bergamesque)<br />

Louis Moreau Gottschalk The last Hope<br />

Zdenek Fibich Poem<br />

Juventino Rosas Over the waves<br />

Erik Satie Three Gymnopedies (Nr.1)<br />

Sid Lippman Too Young<br />

Charles Chaplin Smile<br />

Enya Watermark<br />

Laurens van Rooyen Song for Mary


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 63<br />

Diese Stücke sind überwiegend im ¾ Takt notiert und haben einen leicht<br />

schwebenden und sanften Charakter (z.T. Wiegenliedcharakteristiken).<br />

Durch diese Eigenschaften können Bewegungsabläufe beson<strong>der</strong>s gut<br />

begleitet und eine entspannte Atmosphäre geschaffen und unterstützt<br />

werden.<br />

4.4 Arbeitsweisen in <strong>der</strong> Elterngruppe<br />

„Musiktherapie ist undenkbar ohne <strong>Ein</strong>beziehung des Körpers. Körper<br />

ist, wie Musik auch, wie Leben überhaupt: Schwingung, Bewegung,<br />

Rhythmus, Herzschlag, Atem, kosmisches <strong>Ein</strong>gebundensein.“<br />

(Loos, G.K. 1996)<br />

<strong>Ein</strong> wichtiger Aspekt bei allen, im folgenden vorgestellten Arbeitsweisen ist<br />

die Körperwahrnehmung. Es geht sowohl um den Abbau von körperlicher<br />

Anspannung, als auch um die Anregung einer bewussten Wahrnehmung<br />

des eigenen Körpers und die För<strong>der</strong>ung von Entspannung und<br />

Wohlbefinden- sich selbst wie<strong>der</strong> als Mensch wahrnehmen, <strong>der</strong> nicht nur<br />

Elternteil ist! Im Hinblick auf den unbestreitbaren Zusammenhang zwischen<br />

Körper und Psyche wirkt sich das angestrebte körperliche Wohlbefinden<br />

und die Entspannung positiv auf den psychischen Zustand <strong>aus</strong>, und<br />

beeinflusst diesen indirekt. Die momentanen Bedürfnisse <strong>der</strong> Eltern sollten<br />

bei dem <strong>Ein</strong>satz <strong>der</strong> verschie-denen Arbeitsweisen und dem Aufbau <strong>der</strong><br />

Sitzungen stets berücksichtigt werden. Ich habe sie hier in einer Reihenfolge<br />

notiert, die dem Iso-Prinzip entspricht. Wenn Eltern gestresst und<br />

angespannt in die „Therapie“ kommen, schließt die Musiktherapie an diese<br />

Stimmung an und versucht ihr Raum zu geben, z.B. durch Trommeln. Den<br />

Abschluss einer Sitzung kann die Entspan-nung mit Musik bilden. Natürlich<br />

können Eltern auf laute Geräusche, wie sie z.B. beim Trommeln entstehen<br />

können, auch beson<strong>der</strong>s empfindlich reagieren und den Stressfaktor noch<br />

zusätzlich erhöhen.<br />

4.4.1 Trommeln<br />

Exzessives Schreien löst in je<strong>der</strong> Bezugsperson ab einem gewissen Punkt<br />

Gefühle <strong>aus</strong>, die sie am liebsten unterdrücken würde. Das Verschweigen<br />

und Unterdrücken von Aggressivität und Wut kann jedoch irgendwann in<br />

Gewalt umschlagen, die sich dann im Extremfall gegen das eigene Kind<br />

richtet. <strong>Ein</strong>e Möglichkeit, ambivalenten Gefühlen wie Wut und Aggression<br />

Ausdruck zu verleihen und Spannung abzubauen, ist das Trommeln auf<br />

Percussion- Instrumenten.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 64<br />

Conga und Djembe halte ich innerhalb einer Gruppe für beson<strong>der</strong>s gut<br />

geeignet, da je<strong>der</strong> Teilnehmer die gleichen Möglichkeiten zur Verfügung<br />

hat (niemand übertönt wird) und <strong>der</strong> Gemeinschaftsaspekt jedem<br />

einzelnen zudem Sicherheit bietet. Um die Teilnehmer mit den Instrumenten<br />

und verschiedenen Techniken vertraut zu machen, kann <strong>der</strong> Therapeut am<br />

Anfang einige Basisübungen vorgeben:<br />

1) gemeinsames Spielen eines einfachen Rhythmus mit ansteigen<strong>der</strong><br />

Dynamik. Beispiel 4/4 Takt:<br />

2) Der Musiktherapeut verteilt 2 bzw. 3 Rhythmen in <strong>der</strong> Gruppe, wobei <strong>der</strong><br />

Schwierigkeitsgrad immer erhöht werden kann. Beispiele 4/4 Takt:<br />

(B= Bass, O=Offen, S= Slap)<br />

Nach und nach kann das Spiel in eine freie Improvisation übergeleitet<br />

werden, die entwe<strong>der</strong> bestimmte Themen aufgreift und verarbeitet o<strong>der</strong><br />

spontan entsteht.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 65<br />

4.4.2 das „musikalische Geschenk“<br />

In dieser Arbeitsweise steht jeweils eine Person im Mittelpunkt des<br />

Geschehens. Diese nimmt entwe<strong>der</strong> liegend o<strong>der</strong> sitzend eine für sie<br />

angenehme und bequeme Haltung ein. Die restlichen Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />

suchen sich Instrumente <strong>aus</strong> und beginnen für die Person in <strong>der</strong> Mitte zu<br />

spielen/ singen. Dabei sollten folgende Fragen beachtet werden:<br />

- welche(r) Klang/Musik würde <strong>der</strong> Person im Moment gut tun?<br />

Welche(n) Klang/Musik würde ich in dieser Situation als<br />

angenehm empfinden?<br />

- welche Dynamik ist angemessen (laut/leise, schnell/langsam,<br />

zart/grob)?<br />

- welchen körperlichen und klanglichen Abstand wähle ich? Ist er<br />

angenehm o<strong>der</strong> könnte er aufdringlich sein?<br />

Während des Spiels können sich alle frei bewegen und auch Instrumente<br />

get<strong>aus</strong>cht werden. Dieses „musikalische Geschenk“ entsteht <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

gemeinsamen, freien Improvisation her<strong>aus</strong> und soll einer Person die<br />

Möglichkeit geben, alle Töne und Klänge auf sich wirken, und sich in<br />

diesem Moment völlig fallen lassen zu können. Der Teilnehmer kann in<br />

diesem dieser Zeit alle Verantwortung abgeben und das genießen, was<br />

sich an<strong>der</strong>e für ihn <strong>aus</strong>denken.<br />

4.4.3 Vokalimprovisation<br />

<strong>Ein</strong>e beson<strong>der</strong>s intensive Anregung <strong>der</strong> eigenen Wahrnehmungsfähigkeit<br />

kann über den Atem und den <strong>Ein</strong>satz <strong>der</strong> eigenen Stimme erfolgen.<br />

Innerhalb einer Vokalimprovisation in einer Gruppe geht es sowohl um das<br />

bewusste Erleben <strong>der</strong> eigenen Stimme, als auch um die unmittelbare<br />

klangliche Interaktion, in <strong>der</strong> man in Kontakt und im schwebenden<br />

<strong>Ein</strong>gebundensein als Teil des Ganzen mitwirkt. Vokale Äußerungen können<br />

hierbei sowohl Körpergeräusche als auch stimmhafte Konsonanten, kurze<br />

Tonfolgen und Melodien sowie sprachliche Elemente sein. Oft entsteht sehr<br />

schnell das Bedürfnis, die Augen zu schließen, um „glänzlich ins Hören und<br />

sinnliche Spüren einzutauchen“(Rittner, S. 1996).<br />

„Auch werden Gedankenkreisläufe unterbrochen, die inneren<br />

verbalen Ströme kommen für einen Moment zur Ruhe.“<br />

(Rittner, S. 1996)


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 66<br />

Dieses Zitat finde ich im Hinblick auf die Elterngruppe sehr wichtig. Die Eltern<br />

können die Gedanken, die rund um die Uhr um ihr Baby kreisen, und die<br />

damit verbundenen Sorgen für eine Zeit „<strong>aus</strong>schalten“ und sich nur auf sich<br />

selbst konzentrieren. Auf dem <strong>Weg</strong> zur freien Vokalimprovisation kann <strong>der</strong><br />

Therapeut als Vorbereitung verschiedene, das Selbstvertrauen in die eigene<br />

Stimme unterstützende und zudem Sicherheit bietende Arbeitsweisen<br />

<strong>aus</strong>führen:<br />

1) <strong>Ein</strong> Kanon wird gesungen und immer wie<strong>der</strong> ein wenig verän<strong>der</strong>t<br />

(Dynamik, Tempo, Rhythmik, Text,...).<br />

2) <strong>Ein</strong> stimmliches Geräusch o<strong>der</strong> eine kurze Tonfolge wird im Kreis von<br />

Teilnehmer zu Teilnehmer weitergereicht.<br />

3) Der Musiktherapeut gibt ein kleines Melodiefragment vor, das<br />

gemeinsam mit <strong>der</strong> Gruppe gesungen und beliebig oft wie<strong>der</strong>holt wird.<br />

Während des Wie<strong>der</strong>holens kann das Fragment von jedem Teilnehmer<br />

entwe<strong>der</strong> angefüllt o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t werden. Es kann jedoch auch immer<br />

wie<strong>der</strong> zum sicheren Melodiefragment zurückgekehrt werden.<br />

4) Die Gruppe wird aufgeteilt, so dass einige Teilnehmer die Stimme<br />

benutzten, mit Klängen experimentieren und die an<strong>der</strong>en dies auf<br />

Instrumenten begleiten.<br />

4.4.4 das Hören von mitgebrachter Musik<br />

Eltern von exzessiv schreienden Säuglingen vergessen oft nach einiger Zeit,<br />

dass sie selbst auch Interessen haben und ganz einfach auch ein eigenes<br />

Leben führen. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf das Baby, das die Eltern<br />

häufig so vereinnahmt, dass keine Zeit mehr für eigene Bedürfnisse bleibt.<br />

Mit dieser Arbeitsweise soll den Eltern das eigenes Lebensgefühl und die<br />

eigenen Interessen wie<strong>der</strong> bewusst gemacht, und diese sozusagen<br />

„wie<strong>der</strong>-belebt“ werden. Die Teilnehmer werden gebeten Musik<br />

mitzubringen, die eine große Bedeutung für sie hat, die sie früher „vor dem<br />

Baby“ oft gehört haben o<strong>der</strong> mit denen sie bestimmte, positiv besetzte<br />

Erinnerungen verbinden. Sie werden gebeten, diese Musik zu H<strong>aus</strong>e in Ruhe<br />

<strong>aus</strong>zusuchen und sich trotz Stress ein paar Minuten Zeit dafür zu nehmen.<br />

Schon durch diese kleine „Aufgabe“ werden die Eltern wie<strong>der</strong> beginnen,<br />

sich mit ihren Interessen <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong> zusetzen und sich für einen Moment<br />

nur auf sich zu konzentrieren. In <strong>der</strong> Gruppe wird ein Musikstück gemeinsam


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 67<br />

angehört; anschließend können Gespräche über mögliche Assoziationen<br />

und Erinnerungen geführt werden: Was macht diese Musik so beson<strong>der</strong>s für<br />

mich? Welches Lebensgefühl steckt dahinter? Kommt dieses Lebensgefühl<br />

wie<strong>der</strong> hoch, wenn ich die Musik höre?<br />

4.4.5 Entspannung mit Musik<br />

Die folgenden Arbeitsweisen bilden einen wichtigen Bestandteil <strong>der</strong><br />

musiktherapeutischen Arbeit in <strong>der</strong> Elterngruppe. Ziel ist es, Stress und<br />

körperlicher Anspannung entgegen zu wirken, und Entspannung sowie<br />

Wohlbefinden zu för<strong>der</strong>n. Mit Hilfe <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Fähigkeit des Mediums<br />

Musik können physiologische Zustände eines Menschen beeinflusst und<br />

verän<strong>der</strong>t werden. Beruhigende und entspannte, sogenannte trophotrope<br />

Musik, kann folgende Reaktionen <strong>aus</strong>lösen (Decker-Voigt, H.-H. 1999):<br />

- Blutdruckabfall<br />

- Verlangsamung von Atem- und Pulsfrequenz<br />

- Entspannung <strong>der</strong> Skelettmuskulatur<br />

- verengte Pupillen<br />

- geringerer Hautwie<strong>der</strong>stand<br />

- Beruhigung/Lustgefühl bis zur Somnolenz 10<br />

<strong>Ein</strong>e angenehme Raumtemperatur, bequeme Liegemöglichkeiten<br />

(Decken, Kissen,...) und ein warmes/gedämpftes Licht för<strong>der</strong>n eine<br />

entspannte Atmosphäre und unterstützten zusätzlich die auditive Wirkung.<br />

Der Musik-therapeut sollte darauf achten, dass keine lauten und störenden<br />

Hintergrund-geräusche vorhanden sind.<br />

1) Musik und Atmung<br />

Die Atmung ist direkt mit dem vegetativen Nervensystem verbunden, das<br />

den Erregungszustand des Körpers kontrolliert. Die Folgeerscheinung von<br />

Stress, ist häufig eine schnelle und flache Atmung.<br />

„Pulsiert <strong>der</strong> Atem frei und regelmäßig(...) so beruhigt sich auch <strong>der</strong><br />

Gedankenfluss, und das immerwährende Räsonieren kommt zum<br />

Stillstand.“ (Hamel, P.M. 1976)<br />

Die Gruppenmitglie<strong>der</strong> nehmen entwe<strong>der</strong> eine bequeme Sitzposition ein,<br />

wobei auf eine gerade Sitzhaltung geachtet werden sollte, o<strong>der</strong> legen sich<br />

10 (lat. somnolentia- Schläfrigkeit) schläfriger Zustand, <strong>aus</strong> dem ein Mensch durch<br />

äußere Reize weckbar ist.


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 68<br />

auf den Rücken. Die Atmung wird zum Mittelpunkt <strong>der</strong> Wahrnehmung.<br />

Bevor die Musik angeschaltet wird, werden die Gruppenmitglie<strong>der</strong> gebeten<br />

eine Weile ganz bewusst auf ihre Atmung zu achten und sie zu<br />

beobachten. Der Musiktherapeut gibt dabei keine Anweisungen wann ein-<br />

o<strong>der</strong> <strong>aus</strong>geatmet wird, da je<strong>der</strong> einzelne in <strong>der</strong> Gruppe seinen natürlichen<br />

Atemrhythmus beibehalten soll. Sobald die Musik einsetzt entsteht <strong>der</strong><br />

Atem, beeinflusst und geleitet von Rhythmus und Dynamik des Musikstücks,<br />

von selbst. Im positiven Verlauf sorgt eine niedrige und regelmäßige<br />

Atemfrequenz für Entspannung.<br />

2) Musik und progressive Muskelentspannung<br />

Die Methode <strong>der</strong> progressiven Muskelentspannung besteht <strong>aus</strong><br />

Anspannung und Entspannung von Muskelgruppen im ganzen Körper. Ziel<br />

ist, Entspannung zu erzeugen, die auftritt, wenn Spannung gelöst wird.<br />

Gerade Musik, in <strong>der</strong> spannungsgeladene (dissonante) und entspannte<br />

(konsonanten) Momente einan<strong>der</strong> ablösen, kann den Prozess <strong>der</strong><br />

körperlichen Muskelan- und Entspannung zusätzlich unterstützen und<br />

motivieren. Folgende Körperteile werden nun <strong>der</strong> Reihe nach angespannt<br />

und nach einigen Sekunden wie<strong>der</strong> gelöst:<br />

- Hände zu Fäusten ballen<br />

- Arme <strong>aus</strong>strecken und Unter- sowie Oberarm anspannen<br />

- Schulter nach hinten bewegen, Schulterblätter gegeneinan<strong>der</strong><br />

drücken<br />

- Schultern heben<br />

- Kopf nach hinten/ auf den Boden drücken<br />

- Füße nach oben beugen<br />

- Füße nach unten beugen<br />

Die Gruppenmitglie<strong>der</strong> sollten möglichst auf dem Rücken liegen; <strong>der</strong><br />

Musiktherapeut beschreibt die einzelnen Übungen und gibt sie im<br />

langsamen Tempo, angepasst an die Musik, vor. Die Entspannungsphase<br />

sollte länger sein als die Anspannungsphase. Alle Spannung wird auf einmal<br />

gelöst. Wie fühlen sich die Muskeln an, im Vergleich zu dem Gefühl <strong>der</strong><br />

Anspannung?<br />

3) Musik und Imagination<br />

Bei <strong>der</strong> Imagination geht es um die Erzeugung von Bil<strong>der</strong>n im Kopf.<br />

Imaginationen hängen beson<strong>der</strong>s mit kreativen Denkfunktionen zusammen<br />

und werden auch im Alltag oft geformt, z.B. durch die Erinnerung an<br />

Vergangenes, das Schmieden von Zukunftsplänen o<strong>der</strong> durch Phantasien.<br />

Der entspannende Effekt angenehmer Imagination hängt zum Teil von <strong>der</strong><br />

Ablenkung von stressbeladenen Gedanken ab. Musik kann diese Bil<strong>der</strong> zum


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 69<br />

einen hervorrufen, zum an<strong>der</strong>en verstärken und die Vorstellungskraft<br />

för<strong>der</strong>n.<br />

Die Gruppenmitglie<strong>der</strong> werden gebeten, sich den Ort ihrer Wünsche und<br />

Träume vorzustellen und sich in diese angenehme und entspannte<br />

Umgebung zu versetzen. Der Musiktherapeut gibt dabei keine Vorgaben<br />

(„stellen Sie sich vor...“.), die die persönlichen Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> einzelnen Gruppen<br />

–mitglie<strong>der</strong> beeinflussen könnten. Anmerkungen, die als Orientierungshilfe<br />

zu Beginn gemacht werden können, sind: Wie sieht es dort <strong>aus</strong>? Entwerfen<br />

Sie visuelle Details, machen Sie sie so lebendig wie möglich. Wie riecht es?<br />

Ist es warm o<strong>der</strong> eher kühl?<br />

Der Musiktherapeut kann, je nach Bedürfnissen und <strong>der</strong> Fähigkeit zur<br />

Imagination innerhalb <strong>der</strong> Gruppe, mehr o<strong>der</strong> weniger Bil<strong>der</strong> vorgeben. In<br />

<strong>der</strong> musikgeleiteten Phantasiereise wird eine bestimmte Szene mit Grund-<br />

strukturen vorgegeben (z.B. in einem Boot liegen, über eine Wiese laufen,<br />

am Strand liegen). Jahreszeit und Wetter können die Szene weiter beleben<br />

(z.B. die Sonne scheint und strahlt Wärme und angenehmes Licht <strong>aus</strong>). Wird<br />

die Strandszene <strong>aus</strong>gewählt, können sich die Gruppenmitglie<strong>der</strong> das<br />

Gefühl des Sandes vorstellen; in einem imaginären Boot das Gefühl des<br />

leichten Schaukelns und Treibens.<br />

5) Musik und Massage<br />

Kaum ein Mensch weiß nicht um die wohltuende Wirkung einer Massage;<br />

das angenehme Gefühl einer entspannten Muskulatur und das dar<strong>aus</strong><br />

resultie-rende gesteigerte Wohlbefinden. Massiert werden, das ist auch<br />

verbunden mit dem Gefühl, loszulassen und den Alltagsstress gegen einen<br />

Moment <strong>der</strong> Erholung eint<strong>aus</strong>chen zu können. Selbst ein einfaches<br />

Streichen mit den Händen, o<strong>der</strong> das Kreisen eines Massageballs auf dem<br />

Rücken kann eine körperliche Entspannung hervorrufen. Musik kann die<br />

entspannende Wirkung <strong>der</strong> Berührungen för<strong>der</strong>n, die Bewegungen<br />

zusätzlich unterstreichen und die Wahrnehmung <strong>der</strong> Sinne intensivieren. In<br />

<strong>der</strong> Elterngruppe empfehle ich die Arbeit mit Massagebällen. Dieser erfüllt<br />

zwei Funktionen: Nähe und zugleich Distanz. Wenn die Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />

untereinan<strong>der</strong> noch nicht so vertraut sind (es sei denn, die Gruppe besteht<br />

nur <strong>aus</strong> Pärchen, was jedoch unwahrscheinlich ist), ist die Berührung mit<br />

einem Massageball zwar wirkungsvoll, jedoch nicht so direkt wie <strong>der</strong><br />

Kontakt mit den Händen. Dies wird für beide Seiten, sowohl für die<br />

massierende Person als auch für die Person die massiert wird, als angenehm<br />

empfunden. Paarweise wird die Massage in <strong>der</strong> Gruppe durchgeführt,<br />

wobei die Rollen nach einer gewissen Zeit get<strong>aus</strong>cht werden. Der<br />

Musiktherapeut gibt keine Anweisungen; die Bewegungen mit dem<br />

Massageball sollen durch die Musik (Dynamik, Tempo) inspiriert und geleitet


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 70<br />

werden. Die zu massierende Person liegt in bequemer Position auf dem<br />

Bauch, die massierende Person sitzt neben ihr. Neben <strong>der</strong> Rückenpartie<br />

können auch Arme und Beine mit einbezogen werden. Im<br />

Gegensatz zur klassischen Massage behalten können die<br />

Gruppenmitglie<strong>der</strong> ihre Kleidung anbehalten; leichte Kleidungsstücke wie T-<br />

Shirt und Stoffhosen sind empfehlenswert.<br />

4) Musik intensiv wahrnehmen<br />

In den vorherigen Übungen wird die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit<br />

<strong>der</strong> Gruppenmitglie<strong>der</strong> vor<strong>der</strong>gründig auf körperliche und mentale<br />

Prozesse gerichtet. Die Musik fungiert im Hintergrund als verstärken<strong>der</strong> und<br />

för<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Faktor. Nun wird die Musik selbst zum Mittelpunkt <strong>der</strong><br />

Wahrnehmung. Nachdem die Gruppenmitglie<strong>der</strong> eine angenehme Liege-<br />

bzw. Sitzposition eingenommen haben, wird die Aufmerksamkeit ganz dem<br />

musikalischen Geschehen gewidmet: „Welche Instrumente werden<br />

wahrgenommen? Wie bewegen sie sich? Wechseln sie einan<strong>der</strong> ab, fallen<br />

sie zusammen? Versuchen Sie, einem Instrument zu folgen! Welche<br />

Stimmung wird erzeugt? Fühle ich mich wohl in dieser Stimmung? Lassen Sie<br />

die Stimmung auf sich wirken!“ Diese Anmerkungen können dabei helfen,<br />

die Gedanken ganz auf die Musik zu lenken, darin „einzutauchen“ und<br />

dabei die eigenen stressvollen und negativen Gedanken loszulassen.<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach passen<strong>der</strong> Musik für die angegebenen Entspannungs-<br />

techniken ist mir aufgefallen, dass in <strong>der</strong> entsprechenden Literatur überwiegend<br />

nach bestimmten klassischen Stücken verwiesen wird. Dieses<br />

Repertoire halte ich für zu eingeschränkt, vor allem im Hinblick auf die<br />

vielen bestehen-den Stilrichtungen. Da die Elterngruppe wahrscheinlich<br />

größtenteils <strong>aus</strong> jungen Müttern/Vätern besteht, und die<br />

Entspannungswirkung umso stärker ist je ansprechen<strong>der</strong> die Musik<br />

empfunden wird, habe ich eine Liste erstellt, in <strong>der</strong> sowohl die populare als<br />

auch die klassische Musikrichtung vertreten ist. In dieser Liste wird neben<br />

Titel und Interpret(en) angegeben, ob ein Stück rein instrumental o<strong>der</strong> auch<br />

vokal ist. Die heute oft angebotenen, diversen Ent-spannungs- CD´ s (<br />

bestehend <strong>aus</strong> Synthesizer- Klängen und Naturgeräu-schen) werden in<br />

dieser Liste nicht berücksichtigt. Wie und ob die angege-benen Titel jeweils<br />

zu gebrauchen sind, wird die Erfahrung in <strong>der</strong> praktischen Arbeit zeigen.<br />

Anmerkung: Ob ein Musikstück die Entspannung för<strong>der</strong>t, hängt immer mit<br />

<strong>der</strong> emotionalen <strong>Ein</strong>stellung des Hörers zur Musik ab. Auch trophotrope (ent-


KAPITEL 4. MUSIKTHERAPIE UND „SCHREIBABYS“ 71<br />

spannende, beruhigende) Musik mit dementsprechenden Merkmalen<br />

(siehe S. 57) kann jemanden erregen, wenn er etwas Aufregendes mit<br />

dieser Musik assoziiert o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klang eines bestimmten Instruments (z.B.<br />

Panflöte) als negativ erfahren wird. Diese Tatsache sollte <strong>der</strong> Therapeut bei<br />

<strong>der</strong> Auswahl berücksichtigen und evtl. Vorlieben o<strong>der</strong> Abneigungen in <strong>der</strong><br />

Gruppe besprechen.<br />

Jazz/Popularmusik New Age<br />

1) Charlie Haden – Nocturne 1) Adiemus – Songs of Sanctuary<br />

(instrumental) (vokal)<br />

“ Yon sin ti (Me without you)“ “ Adiemus”<br />

“ Transperence” “ Cantus Insolitus”<br />

“ Nightfall” “ Amate Adea”<br />

2) Charlie Haden, Pat Metheny – 2) Enya – Shepered Moons<br />

beyond the Missouri Sky (vokal)<br />

(instrumental) “ Shepered Moons”<br />

“ Message to a friend” “Angels”<br />

“ The Moon Is A Harsh Mistress” “ Evacuee”<br />

“ He`s Gone Away” “ Marble Halls”<br />

“ The Moon Song”<br />

“ Cinema Paradiso” 3) Michael Borek- Behind The<br />

Ocean (instrumental)<br />

3) Carlos Vamos – Vamotion “ My Story”<br />

(instrumental) “ Recitative”<br />

“ Vamotions” “ Homeland”<br />

„ Glory“<br />

4) Georg Gabler – After Midnight<br />

4) Eva Cassidy – Songbird (instrumental)<br />

(vokal) “ The Luck of the Irish”<br />

“ Fields of Gold” “ Oh Vienna”<br />

“ I Know You By Heart”<br />

Latin Klassik/Filmmusik<br />

1) Dino Saluzzi - Cite de la Musique 1) Rachel Portman – Soundtrack<br />

(instrumental) Gottes Werk & Teufels Beitrag<br />

„ Gorrion“ (instrumental)<br />

2) Buena Vista Social Cub 2) Gabriel Yared - Soundtrack<br />

(instrumental) The English Patient<br />

“ Murmullo” (instrumental)


Schlussbetrachtung<br />

Die erste Fragestellung, auf <strong>der</strong> meine Arbeit basiert, lautet: „Wie kann<br />

Musiktherapie in <strong>der</strong> Behandlung von exzessiv schreienden Säuglingen und<br />

<strong>der</strong>en Eltern eingesetzt werden?“<br />

Zwei Musiktherapeutinnen beschäftigen sich meines Wissens, außerhalb<br />

eines interdisziplinären Teams in eigener Praxis, in Deutschland mit dem<br />

Thema „Schreibabys“. Sie zeigen, dass Musiktherapie einen sinnvollen<br />

Beitrag in <strong>der</strong> Behandlung leisten kann, wobei dort hauptsächlich die<br />

triadische Therapie-form angewendet wird. Die Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Triade<br />

besteht darin, dass Eltern, Kind und Therapeut gleichzeitig involviert sind.<br />

Der Therapeut kommt als sichere Basis, als sogenannter „hilfreicher Dritter“<br />

für Eltern und Kind zur Gel-tung. Ich betrachte in meiner Arbeit jedoch nicht<br />

nur eine Behandlung <strong>der</strong> Eltern mit dem Baby. Ich habe den systemischen<br />

Aspekt erweitert und gebe einer Behandlung <strong>der</strong> Eltern ohne <strong>Ein</strong>beziehung<br />

des Babys einen bedeu-tenden Stellenwert. In Kapitel 4 wurden diese zwei<br />

verschiedenen, möglichen Therapieformen vorgestellt. Im Anschluss daran<br />

wurden musiktherapeutische Arbeitsweisen beschrieben <strong>aus</strong> denen<br />

hervorgeht, wie Musiktherapie in <strong>der</strong> Behandlung von exzessiv schreienden<br />

Säuglingen und <strong>der</strong>en Eltern eingesetzt werden kann.<br />

Die seelische und kognitive Entwicklung eines Kindes ist von <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong><br />

Beziehungen zu Menschen seiner Umgebung abhängig, im beson<strong>der</strong>en<br />

von <strong>der</strong> Beziehung zu seinen primären Betreuungspersonen.<br />

Unterschiedliche biologische, psychosoziale o<strong>der</strong> kulturell bedingt<br />

Störfaktoren, die einen o<strong>der</strong> beide Interaktionspartner beeinträchtigen,<br />

können die Qualität <strong>der</strong> Beziehung negativ beeinflussen und das System<br />

zum Entgleisen bringen. In <strong>der</strong> triadischen Therapie geht es darum, eine<br />

positive Entwicklung <strong>der</strong> Eltern-Kind-Beziehung zu stimulieren und das<br />

System wie<strong>der</strong> in Gleichgewicht zu bringen. Dies geschieht mit Hilfe von<br />

therapeutisch-musikalischen Prozessen, die auf mögliche dysfunktionale<br />

Kommunikationsmuster und I nteraktions-störungen zwischen Eltern und Kind<br />

(pathologisch-musikalische Prozesse) eingehen.<br />

In <strong>der</strong> Elterngruppe wird versucht, Körper und Psyche mit musiktherapeutischen<br />

Methoden zu beeinflussen und Wohlbefinden und Ausgeglichenheit<br />

hervorzurufen. Diese psychische und körperliche Verän<strong>der</strong>ung wirkt sich<br />

wie<strong>der</strong>um positiv auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind <strong>aus</strong> und ör<strong>der</strong>t<br />

das systemische Gleichgewicht. Um den therapeutischen Aspekt <strong>der</strong> Eltern-<br />

72


gruppe zu verdeutlichen, führe ich ein Zitat von H. Smeijsters (1999) an:<br />

„Auch wenn die musikalischen Prozesse nicht als psychotherapeutische<br />

Prozesse aufgefasst werden, wird nichtsdestoweniger eine Beeinflussung <strong>der</strong><br />

Psyche beabsichtigt und haben diese Prozesse psychotherapeutische<br />

Konse-quenzen.“ In Anlehnung an den bekannten Spruch von Watzlawick:<br />

„Du kannst nicht nicht kommunizieren“ macht Smeijsters (1999) den<br />

Ausspruch: „Wenn beabsichtigt wird, die Psyche zu beeinflussen, kann man<br />

nicht nicht psychotherapeutisch beschäftigt sein.“<br />

Die zweite Fragestellung lautet: „ Kann Musiktherapie als unterstützende<br />

Therapieform innerhalb einer interdisziplinären Kommunikationstherapie für<br />

Eltern mit exzessiv schreienden Säuglingen fungieren?“<br />

Diese Frage lässt sich in Bezug auf die Erkenntnisse dieser Arbeit eindeutig<br />

mit „Ja“ beantworten. Vorbild <strong>der</strong> interdisziplinären<br />

Kommunikationstherapie ist das Münchner Behandlungsmodell einer<br />

interaktionszentrierten Säuglings-Eltern- Beratung und -Psychotherapie,<br />

welches in Kapitel 3 beschrieben wurde. Mittelpunkt und Fokus <strong>der</strong><br />

Behandlung bildet die therapeutische Arbeit auf <strong>der</strong> Interaktions-<br />

/Kommunikationsebene. Zur Unterstützung werden je nach Bedarf<br />

Techniken <strong>aus</strong> unterschiedlichen Disziplinen in den Behandlungsplan<br />

integriert. Diese werden auf das diagnostische Profil, die Bedürfnisse und<br />

Vorlieben <strong>der</strong> individuellen Patienten, des Säuglings, bei<strong>der</strong> Eltern und <strong>der</strong><br />

Familie zugeschnitten. Das Angebot besteht <strong>aus</strong> Entwicklungs-beratung,<br />

sensorischer Integration, Physiotherapie, Verhaltenstherapie,<br />

Gesprächspsychotherapie, systemischer Paar- und Familientherapie,<br />

körper-bezogenen Therapien und psychodynamisch orientierten<br />

Psychotherapien. Für mich stellte sich angesichts <strong>der</strong> kommunikativen und<br />

interaktiven Prozesse, die Musiktherapie aufgreift die Frage, ob nicht<br />

gerade Musiktherapie als „kreative“ Therapie innerhalb einer solchen<br />

interdisziplinären Kommunika-tionstherapie geeignet ist. In Kapitel 4 zeigt<br />

sich, dass Musiktherapie indiziert ist:<br />

- Musiktherapie kann einen beson<strong>der</strong>en Beitrag leisten, da eine<br />

Analogie zwischen musikalischen Prozessen und Prozessen in <strong>der</strong><br />

frühen Eltern-Kind Beziehung besteht.<br />

- Musik schließt an die frühe Kommunikation zwischen Eltern und<br />

Säugling an und ermöglicht Kontakt (Musik dringt immer nach innen).<br />

- die beruhigenden Eigenschaften von Lie<strong>der</strong>n mit speziellen Wiegenliedcharakteristiken<br />

können in <strong>der</strong> Musiktherapie eingesetzt werden;<br />

73


Ausblick<br />

Eltern bekommen Anregungen für zu H<strong>aus</strong>e und u.U. entstehen<br />

Rituale, die dem Baby Struktur bieten und als Orientierungshilfe im<br />

Alltag dienen.<br />

- bei beson<strong>der</strong>en Bedürfnissen des Babys, im Falle einer starken<br />

Berührungsempfindlichkeit, o<strong>der</strong> bei extremer körperlicher Anspannung<br />

<strong>der</strong> Eltern, kann Musiktherapie einen unterstützenden Beitrag<br />

leisten; Musik, <strong>der</strong> Klang einer vertrauten Stimme, kann ebenso wie<br />

Körperkontakt unmittelbar Nähe und Geborgenheit vermitteln.<br />

- <strong>der</strong> spielerische Aspekt <strong>der</strong> Musiktherapie macht diese zum<br />

attraktiven Therapieangebot, das die Interaktion von Eltern und Kind<br />

auf einer neuen Ebene stattfinden lässt. Spielerisch-musikalisches<br />

Miteinan<strong>der</strong> kann neue <strong>Weg</strong>e in <strong>der</strong> Beziehung öffnen.<br />

- Musiktherapie bietet im Bereich <strong>der</strong> ressourcenorientierten Unter-<br />

stützung <strong>der</strong> Eltern Möglichkeiten <strong>der</strong> physischen sowie psychischen<br />

Entlastung und Erholung.<br />

Für den musiktherapeutischen Teil dieser Arbeit stand mir lediglich ein Artikel<br />

zur Verfügung. Wie viele Musiktherapeuten sich weltweit bisher mit dem<br />

Thema „Schreibabys“ <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>gesetzt haben, ist mir nicht bekannt. Ich<br />

hatte während des Schreibens oft das Gefühl, eine Art Pioniersarbeit zu<br />

leisten. Ich hoffe, dass sich in Zukunft mehr Menschen mit dem Thema<br />

vertraut machen, und <strong>der</strong> Nutzen von speziellen Beratungsstellen und<br />

therapeu-tischen Interventionen gesehen wird. Die Zahl <strong>der</strong> „Schreibabys“<br />

in unserer Gesellschaft steigt stetig an und gleichzeitig auch <strong>der</strong> Bedarf an<br />

kompetenter Unterstützung im Falle <strong>der</strong> bedrohten Entwicklung einer<br />

befriedigenden Eltern-Kind-Beziehung. <strong>Ein</strong> Vergleich mit den Hilfsangeboten<br />

in den Nie<strong>der</strong>landen und denen in Deutschland hat mir gezeigt, dass es in<br />

Deutschland wesentlich an Anlaufstellen für Eltern mangelt. Viele Menschen<br />

können mit dem Begriff „Schreibaby“, so lange sie nicht selbst betroffen<br />

sind, nichts anfangen. Diese Unwissenheit führt schnell zu Ausgrenzung und<br />

Unverständnis statt zur benö-tigten Integration und Akzeptanz. Auch viele<br />

Ärzte sind auf diesem Gebiet nicht <strong>aus</strong>reichend geschult und verschreiben<br />

mit <strong>der</strong> Vermutung auf „Kolik“ Medikamente- womit das Problem jedoch<br />

meistens noch nicht behoben ist. Im Hinblick darauf stufe ich Deutschland<br />

mit den vorhandenen <strong>Ein</strong>richtungen<br />

74


eindeutig als Entwicklungsland ein. In den Nie<strong>der</strong>landen stehen den Eltern<br />

von „Schreibabys“ Ansprechpartner in „Consultatiebure<strong>aus</strong>“ zur Verfügung,<br />

sogenannte Trostkoffer werden verteilt, und auch Hometraining mit Hilfe<br />

von Videofeedback wird angeboten. Ich kann mich noch gut an den<br />

erstaunten Blick meiner Betreuerin Carola Werger erinnern als ich ihr<br />

mittelte, dass eine <strong>Ein</strong>richtung wie das „Consultatiebureau“ in Deutschland<br />

nicht existiert. Dies machte mir auch deutlich, wie selbstverständlich das<br />

Thema in den Nie<strong>der</strong>landen, im Gegensatz zu Deutschland, behandelt<br />

wird. Ich hoffe, das Thema „Schreibabys“ mit meiner Diplomarbeit einen<br />

Schritt weiter in die Öffentlichkeit gebracht und gleichzeitig aufgezeigt zu<br />

haben, dass auch eine musiktherapeutische Behandlung möglich ist, von<br />

<strong>der</strong> viele wahrscheinlich nicht wussten, dass sie überhaupt existiert. Ich<br />

denke, dass beson<strong>der</strong>s Musiktherapie in diesem Bereich viel zu bieten hat<br />

und mehr möglich ist als das, was bereits praktiziert wird. Ich hoffe, dass ich<br />

in Zukunft die Gelegenheit bekomme, mein theoretisches Wissen weiter in<br />

die Praxis umzusetzen.<br />

Anmerkung: Ich beschränke mich in meiner Arbeit auf zwei mögliche<br />

musiktherapeutische Therapieformen innerhalb eines Behandlungsmodells<br />

wie es in München entwickelt wurde. In <strong>der</strong> individuellen psychotherapeutischen<br />

Behandlung <strong>der</strong> Müttern von exzessiv schreienden Säuglingen<br />

mit postnatalen Depressionen o<strong>der</strong> Bor<strong>der</strong>linestörungen kann<br />

Musiktherapie ebenfalls eingesetzt werden und einen sinnvollen Beitrag<br />

leisten.<br />

75


Literatur Es ist viel besser, sich wenige<br />

Autoren anzueignen,<br />

als sich durch viele<br />

verwirren zu lassen.<br />

(Seneca, römischer<br />

Philosoph)<br />

Brazelton, T., Cramer, B. (1994): Die frühe Bindung. Die erste Beziehung<br />

zwischen dem Baby und seinen Eltern. Klett- Cotta, Stuttgart<br />

Bruscia, K.E. (1990): 64 technieken bij improvisatorische muziektherapie.<br />

Bruscia, K.E. (1998): Defining Music Therapy, Second Edition. Barcelona<br />

Publishers<br />

Decker-Voigt, H.-H. (1999): Mit Musik ins Leben. Wie Klänge wirken:<br />

Schwangerschaft und frühe Kindheit. Ariston Verlag, Kreuzlingen<br />

Decker-Voigt, H.H; Knill P.J.; Weymann E. (1996): Lexikon Musiktherapie.<br />

Hogrefe-Verlag, Göttingen<br />

Engelbrecht, J.(1999): „Wie die un<strong>aus</strong>gesprochenen Spielregeln hörbar<br />

werden können...“ Zur Integration systemischer Konzepte in die Musik-<br />

therapie und zu den Möglichkeiten <strong>der</strong> Musiktherapie in <strong>der</strong> systemischen<br />

Familientherapie. Diplomarbeit, Conservatorium Hogeschool Enschede<br />

Fries, M. (1998): Schreikin<strong>der</strong> Ursachen und Hilfen. Leipzig<br />

Hannig, B.(2002): Tränenreiche Babyzeit- warum weinen Babys mehr als<br />

Eltern erwarten? Über die Problematik <strong>der</strong> schreienden Babys. <strong>Ein</strong>e<br />

Broschüre des Bundes Deutscher Hebammen. Internet:<br />

www.geburtskanal.de<br />

Leboyer, F.(2000): Sanfte Hände. Die traditionelle Kunst <strong>der</strong> indischen Baby-<br />

Massage. Kösel-Verlag, München


77<br />

Lenz, G. (2000): Musiktherapie bei Schreibabys . <strong>Ein</strong>e Pilotstudie zu frühen<br />

Interaktionsstörungen zwischen Mutter und Kind. Musiktherapeutische<br />

Umschau 21, 126-140<br />

Lucas, S. (1999): Schreibabys. <strong>Ein</strong> Hilfebuch für Eltern. Econ & List<br />

Nean<strong>der</strong>, K.-D. (1999): Musik und Pflege. Urban & Fischer<br />

Nordoff, P., Robbins, C. (1986): Schöpferische Musiktherapie. Praxis <strong>der</strong><br />

Musiktherapie Band 3. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, Jena<br />

Papousek, M. (1981): Die Bedeutung musikalischer Elemente in <strong>der</strong> frühen<br />

Kommunikation zwischen Eltern und Kind. Sozialpädiatrie 3, 412-415, 468-473<br />

Papousek, M. (1984): Psychobiologische Aspekte des Schreiens im frühen<br />

Säuglingsalter. Sozialpädiatrie 6, 517-526<br />

Papousek, M. (1985): Beobachtungen zur Auslösung von Schreiepisoden im<br />

frühen Säuglingsalter. Sozialpädiatrie, 7, 86-92<br />

Papousek,M. (1991): Vom ersten Schrei zum ersten Wort: Anfänge <strong>der</strong><br />

Sprachentwicklung in <strong>der</strong> vorsprachlichen Kommunikation. Huber, Bern<br />

Papousek, M. (1996): Editorial: <strong>Ein</strong>führung in den Themenschwerpunkt.<br />

Special Issue: Kommunikations- und Beziehungsdiagnostik im Säuglingsalter.<br />

Kindheit und Entwicklung, 5, 136-139<br />

Papousek, M. (1996): Die intuitive elterliche Kompetenz in <strong>der</strong><br />

vorsprachlichen Kommunikation als Ansatz zur Diagnostik von präverbalen<br />

Kommunikations- und Beziehungsstörungen. Kindheit und Entwicklung, 5,<br />

140-146<br />

Papousek, H. (1997): Anfang und Bedeutung <strong>der</strong> menschlichen<br />

Musikalität.Handbuch <strong>der</strong> Kleinkindforschung. 2 Auflage, Bern, 565-585<br />

Payne, R.A. (1998) : Entspannungstechniken : ein praktischer Leitfaden für<br />

Therapeuten. Gustav Fischer Verlag, Lübeck, Stuttgart, Jena, Ulm


78<br />

Riedel-Henck, J. (1998): Weinendes Baby- ratlose Eltern. Wie Sie sich und<br />

Ihrem „Schrei-Baby“ helfen können. Kösel-Verlag, München.<br />

Rigert, S., Kone D. : Djemberhythmen <strong>aus</strong> Mali. Buchdruckerei Lustenau<br />

Schögler, B. (1998): Music as a Tool in Communications Research. Nordic<br />

Journal of Music Therapy, 7, 40-49<br />

Schumacher, K.(1994): Musiktherapie mit autistischen Kin<strong>der</strong>n. Praxis <strong>der</strong><br />

Musiktherapie Band 12. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, Jena<br />

Schumacher, K. (1999): Musiktherapie und Säuglingsforschung. Europäische<br />

Hochschulschriften. Peter Lang<br />

Smeijsters, H. (1990): De muzikale ontwikkeling van foetus tot adolescent.<br />

Hogeschool Nijmegen<br />

Smeijsters,H. (1991): Muziektherapie als Psychotherapie. Van Gorcum,<br />

Assen<br />

Smeijsters, H. (1999): Grundlagen <strong>der</strong> Musiktherapie. Hogrefe-Verlag,<br />

Göttingen<br />

Stern, D. (2000): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart<br />

Thöne, M.(2000) : Schreibabys und ihre Eltern. <strong>Ein</strong> Mutmacher und<br />

praktischer Ratgeber für betroffene Mütter und Väter. Internet: www.<br />

Schreibaby.com<br />

Von Hofacker, N., Jacubeit, T., Malinowski, M. & Papousek, M. (1996):<br />

Diagnostik und Beeinträchtigungen <strong>der</strong> Mutter- Kind- Beziehung bei<br />

frühkindlichen Störungen <strong>der</strong> Verhaltensregulation. Kindheit und<br />

Entwicklung, 5, 160-167<br />

von Klitzing, K. (1998): Psychotherapie in <strong>der</strong> frühen Kindheit. Vandenhoek &<br />

Ruprecht, Göttingen


Anhang<br />

3. Sind so kleine Ohren scharf und unerlaubt.<br />

Darf man nie zerbrüllen werden davon taub.<br />

4. Sind so schöne Mün<strong>der</strong> sprechen alles <strong>aus</strong>.<br />

Darf man nie verbieten kommt sonst nichts mehr r<strong>aus</strong>.<br />

5. Sind so klare Augen die noch alles seh`n.<br />

Darf man nie verbinden könn` sie nichts versteh` n.<br />

6. Sind so kleine Seelen offen und ganz frei.<br />

Darf man niemals quälen geh`n kaputt dabei.<br />

7. Ist so`n kleines Rückgrat sieht man fast noch nicht.<br />

Darf man niemals beugen weil es sonst zerbricht.

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