12Christliche PatientenvorsorgeKapitel 2Selbstbestimmungund Fürsorge2.2 Fürsorge im Respekt vor derSelbstbestimmung des AnderenDie ethische und rechtliche Grundlagealler Vorsorgeverfügungen ist das Selbstbestimmungsrecht.Der Wille des Patientenist die Grundlage jeder Behandlung.Für die Durchführung oder Unterlassungeiner Behandlung ist entscheidend, obder Patient den ärztlich vorgeschlagenenDiagnose- und Therapiemaßnahmen nacheiner angemessenen Aufklärung zustimmt.Selbstbestimmung kann jedoch nicht gedachtwerden, ohne die Abhängigkeit vonder eigenen Leiblichkeit, von der Fürs orgeanderer Menschen und von Gottes Wirkenzu erkennen und zu bejahen. Selbstbestimmungdarf nicht als völlige Unabhängigkeitmissverstanden werden. Sie gewinnt nurin sozialen Kontexten Gestalt, d. h. derMensch ist und bleibt eingebunden in diemitmenschliche Gemeinschaft und ist aufsie angewiesen. Die Gesellschaft hat ihrerseitseine Fürsor gepflicht gegenüber ihrenMitgliedern. Hieraus ergibt sich die Pflichtdes Staates zum Schutz des Lebens seinerBürger. In diesen Zusammenhang gehörtauch die Pflicht des Arztes, das Beste fürden Pa tienten zu wollen. Für eine sorgsameund angemessene medizinische Betreuungist es wichtig, ein vertrauensvollesVerhältnis zwischen Arzt und Patient aufzubauen.Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorgefür den Patienten sind miteinanderzu verbinden und aufeinander zu beziehen.Selbstbestimmung ist auf Fürsorgeangewiesen. Ebenso gehört es zu rechtverstandener Fürsorge, die Selbstbestimmungeines Patienten zu achten und ihr soweit wie möglich Folge zu leisten. Fürsorgemuss daher immer die körperbezogenen,psychologischen, sozialen und spirituellenWünsche und Vorstellungen des Pa tienteneinbeziehen. »Fürsorge im Respekt vor derFreiheit des Anderen«, ein Leitmotiv derHospizbewegung, trifft auch auf die Anwendungvon Vorsorgeverfügungen zu.2.3 Zur Reichweite vonBehandlungswünschenund PatientenverfügungDer Begriff der Reichweite bezieht sich imvorliegenden Zusammenhang auf die Frage,ob die Behandlungswünsche oder Verfügungeneines Patienten uneingeschränktGeltung beanspruchen können oder ob sie– und wenn ja, welchen – Einschränkungenunterworfen sind. Diese Frage spielte bereitseine Rolle bei der Klarstellung, dassdie Tötung auf Verlangen schon wegen ihresgesetzlichen Verbotes nicht vom Patientenverfügt werden kann (Näheres sieheAbschnitt 1.3). Das am 1. September 2009in Kraft getretene »Dritte Gesetz zur Änderungdes Betreuungsrechts« teilt diese spezielleBegrenzung der Reichweite, nimmtaber keine weiteren Einschränkungen vor.Das heißt, dass die Bestimmungen derVorsorgeverfügungen sowohl Krankheitenbetreffen können, die voraussichtlich inkurzer Zeit zum Tode führen (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Organversagen,fortgeschrittene Krebserkrankung), alsauch solche, bei denen die Sterbephase –medizinisch betrachtet – noch weit entferntist (z. B. die unfallbedingte Querschnittslähmung,anhaltende schwereSchmerzzustände, das so genannte Wachkoma,Demenz).Nach dem Gesetz kommt Behandlungswünschenund Patientenverfügungen, vonden genannten Ausnahmen abgesehen,
Christliche Patientenvorsorge 13immer bindende Wirkung zu – unabhängigvon Art oder Stadium der Erkrankung. ImGegensatz dazu wurde gefordert, dieReichweite auf bestimmte Stadien einerErkrankung zu begrenzen, nämlich auf dasEndstadium tödlich verlaufender Krankheitenund auf den Sterbeprozess selbst.Die Frage nach Reichweite und Reichweitenbegrenzunggeriet in den Jahren deröffentlichen Debatte über eine gesetzlicheRegelung von Patientenver fü gungen zueinem Hauptstreitpunkt − auch unterChristen.Aus heutiger Sicht kann – unbeschadet derVielfalt individueller Urteilsbildung zurReichweitenbegrenzung – zwischen denKirchen folgender Konsens festgehaltenwerden:a) Das Gesetz sieht keine Reichweitenbegrenzungvor. Der Diskussionsbeitragder Kirchen sollte sich deshalb auf dieethische Frage konzentrieren, ob mandie bestehenden rechtlichen Möglichkeitenin Anspruch nimmt oder ausguten Gründen darauf verzichtet.b) Die Krankheitszustände und -diagnosensind gerade zum Lebensende hin vonsehr komplexer Natur. Entsprechendgeht es im Blick auf sie um besondersschwierige und höchst individuelle Entscheidungen.Um unter diesen schwierigenBedingungen zu einer moralischüberzeugenden Urteils bil dung gelangenzu können, müssen allgemeine Regelungenund Ratschläge daher immer auchauf den konkreten Einzelfall angewendetwerden.c) Ein besonders schwieriges Thema istdas so genannte Wachkoma (auch »andauerndervegetativer Status« genannt).Ausgangspunkt für die ethische Bewertungist die Feststellung: Menschen imso genannten Wachkoma sind keineSterbenden (Näheres siehe Abschnitt3.2.4). Ein Wachkoma kann sich bei entsprechenderBetreuung über Jahre hinziehen,bis der Patient vielleicht an eineranderen, akuten Ursache stirbt. Eineethische Pflicht dieses Patienten, eineauftretende akute Zweiterkrankung behandelnzu lassen und auf diese Weiseder Anwendung »außergewöhnlicherMittel« zuzustimmen, kann schwerlichgeltend gemacht werden. Eine Basisbetreuung,zu der u. a. menschenwürdigeUnterbringung, Zuwendung, Körperpflege,Lindern von Schmerzen, Atemnotund Übelkeit sowie das Stillen (derGefühle) von Hunger und Durst gehören,ist jedoch aufrecht zu erhalten.Entscheidendist der konkreteEinzelfallUnd ob ich schonwanderte im finstern Tal,fürchte ich kein Unglück;denn du bist bei mir,dein Stecken und Stabtrösten mich.Psalm 23,4