1985 - Gen-ethischer Informationsdienst
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I 08.11<br />
Im Rahmen des evangelischen Kirchentages hat sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema „Eu-<br />
thanasie unä Abtreibung von Behinderten" befaßt. In einem Übersichtsbeitrag wurden die<br />
wichtigsten Aussagen, Quellen und Schlußfolgerungen zu einem Diskussionspapier zusam-<br />
mengestellt. In redaktionell leicht überarbeiteter Fassung veröffentlichen wir diesen Beitrag<br />
in zwei Teilen. Teil zwei folgt in der nächsten Ausgabe.<br />
Widerstehen, befreien, gewaltfrei leben - in diesem Zusammenhang wollen wir auf ein Pro-<br />
blem hinweisen - der Umgang der Gesellschaft mit Behinderten. Einige von uns betrifft diese<br />
Thematik besonders, sie haben behinderte Verwandte oder haben, im Rahmen ihrer medizini-<br />
schen Ausbildung mit Behandlung und sogenannter ,,Prävention" von Behinderten zu tun.<br />
Eine Frau unserer Gruppe mußte während der NS-Zeit ihre geistig behinderte Schwester vor<br />
dem Zugriff des Staates verstecken.<br />
Das faschistische Regime wurde zwar gestürzt - aber änderte sich damit auch die feindliche<br />
Haltung gegenüber Behinderten? Die Krüppelinitiative deckt in ihrem Buch „Die Wohltäter-<br />
mafia" die personale und ideologische Verflechtung zwischen Behindertenvernichtung im Na-<br />
tionalsozialismus und den genetischen Beratungsstellen oder Verbänden auf, die vorgeben,<br />
für das Wohl der Behinderten einzutreten.<br />
Leid durch Abschaffung des Leids ,,verhindern"<br />
Dazu heißt es in dem Buch „Wohltätermafia" (S.79): „Die Spuren der NS-Verbrechen führen<br />
vielmehr direkt in die großen Verbände der Wohlfahrt, der etablierten Behindertenvereine<br />
und Versorgungseinrichtungen. Wir wissen, daß die im KZ-Ravensbrück unmenschlich an jü-<br />
dischen Frauen experimentierende Ärztin Oberheuser trotz der von ihr herbeigeführten Op-<br />
fer eine Anstellung in der evangelischen Johanniter-Heilstätte bei Plön fand; nachzulesen ist,<br />
daß der Organisator der Morde an behinderten Menschen, Hefelmann, sich mit der Hilfe der<br />
katholischen Caritas ins rettende Ausland absetzen konnte; kein großes Geheimnis ist es, daß<br />
der Pädagoge Lesemann als Vorsitzender des deutschen Hilfschulwesens die Schüler der<br />
Zwangssterilisation zuführte und nach Kriegsende die Hilfschulklassen wieder aufzubauen be-<br />
gann: dokumentiert ist die Überweisung eines behinderten Kindes in eine durch ihre tödliche<br />
,Hungerabteilung' berüchtigte Münchner Anstalt von dem Arzt Severing, 1981 amtierender<br />
Präsident der bayrischen Ärztekammer. Diese Kontinuität der Personen muß eine Kontinuität<br />
des Denkens zur Folge haben. Leid wird verhindert durch die Abschaffung der Leidenden."<br />
Kosten-Nutzen-Rechnungen, wie sie aus der NS-Zeit bekannt sind, tauchen auch heute bei<br />
Humangenetikern auf. „In neuerer Zeit", kann man in dem Buch „Wohltätermafia" (S.38) le-<br />
sen, „sind solche Kosten-Nutzen-Analysen auch für die Bundesrepublik erstellt worden.<br />
Sämtliche Berechnungen haben gezeigt, daß je nach zugrundegelegten Voraussetzungen der<br />
Nutzen den Aufwand um ein Mehrfaches überwiegt. Würden z.B. in der Bundesrepublik alle<br />
Schwangerschaften von Frauen ab 40 Jahren untersucht, so wären 11.000 pränatale Diagnosen<br />
erforderlich. Hierbei würden Kosten in Höhe von 28.000 Mark pro Schwangerschaft mit chro-<br />
mosomengeschädigter Frucht entstehen. Demgegenüber würden die durchschnittlichen Ko-<br />
sten für die lebenslange Betreuung eines ausgetragenen Kindes etwa 200.000 DM betragen,<br />
was einer Kosten-Nutzen-Relation von 1 : 7 entspricht."<br />
mmer noch junge und gesunde<br />
In einem Vortrag von Prof. W.Lenz vom Institut für Humangenetik der Universität Münster<br />
heißt es in diesem Zusammenhang: „Man darf den Ausdruck ,eugenische' Indikation, der im<br />
Sinne einer negativen Eugenik falsch ist, vielleicht auf einen Gesichtspunkt anwenden, der<br />
wohl jedem erfahrenen genetischen Berater wichtig erscheint, wenn er auch in der Diskussion<br />
oft kaum beachtet wird. Wenn die Wahl nur zwischen vorgeburtlicher Tötung oder Aufzucht ei-<br />
nes kranken Kindes zu treffen wäre, dann sollte man häufiger vom Schwangerschaftsabbruch<br />
abraten. In Wirklichkeit aber ist die Wahl oft zwischen einem unheilbar kranken und einem ge-<br />
sunden Kind zu treffen, also nicht zwischen zwei eindeutigen Übeln. Und hier möchte ich mich<br />
zu einem Werturteil bekennen: Die Menschen, die genetische Beratung suchen, aus welcher<br />
GEN-ETHISCHER INFORMATIONSDIENST<br />
Gesamtausgabe Nr. 8<br />
Dokumentation