KunstWeißes Licht am Ende der StraßeKunst und Religion – Die Familie Rockefeller, die Künstler Marc Chagall undHenri Matisse gestalteten gemeinsam eine Kirch<strong>eV</strong>onHannah Petersohn,Berlin„Nein, tut mir leid. Keine Ahnung, wo dieKirche mit den Chagall-Fenstern seinkönnte.” Der höfliche IT-Berater mit zerknittertemHemd sitzt in seinem Büro undschiebt sich runzelnd seine Brille zu recht.Er kann auch nicht sagen, wo die Kircheliegt, deren Fenster weltberühmt sein sollen.„Noch nie davon gehört.“ Aber vielleicht dasReisebüro nebenan, schlägt er vor. Nein, einenAugenblick: „Wir sehen im Internetnach. Union Church, Marc Chagall, Windows“,tippt er ein und wundert sich überden seltsamen Namen. Doch tatsächlich. Unweitder Route 9, an der auch sein kleinesquadratisches Büro, in einem beigefarbenenamerikanischen Fertighaus der 1970er Jahre,mit der klapprig knarrenden Eingangstür,den Gazefenstern und der unverkennbarbrummenden Klimaanlagen-Box im Fensterliegt, zeigt Google Maps eine Kirche mit demNamen „Union Church“. Der Zeigefinger desIT-Beraters fährt über den Computerbildschirm:„Ein kurzes Stück noch am HudsonFluss entlang, dann links abbiegen auf dieBedford Road.“ Manhattan ist nur noch einpaar Meilen entfernt, doch erinnert hier we-tiefe Flusstal des Hudson erhaschen. DerFluss wird nun immer breiter und die Brückenimmer gewaltiger. Im Herbst leuchtetdie Gegend in üppig gelben, orangen undroten Tönen, wenn die Bäume in warme Farbengedeckt auf den Winter warten. ZuMount Pleasantville gehören die PocanticoHills, auf denen die Union Church erbautwurde. Unweit aliegt die Ortschaft SleepyHollow, der Washington Irving zu zweifelnigan die flirrenden Wolkenkratzer, die hektische,nunmehr depressive Wallstreet oderdie Exzentrik der bunten Menschenmassen,die sich dicht an dicht in den dunklen U-Bahnschächten aneinander vorbeidrängen,japsend, denn kein Luftzug hebt die Schweredes Atmens auf. Hier, an der Route 9 in derKleinstadt Mount Pleasantville nördlich vonNew York kann das Auge zwischen den holzvertäfeltenGebäuden einen Blick auf dasDer barmherzige Samariter, Lukas 10, 25–3726 <strong>Zum</strong> <strong>Leben</strong>
von Himmelblau bestimmt, um dann ähnlicheines die Blüte umschließenden grünenBlattkranzes das innere gelbe sternenförmigeGebilde zu umfassen. Alles weist auf einenkleinen farblosen Punkt in dem Zentrum derRose hin. Matisse hat dabei scheinbar dieFarben nach der Anordnung der Spektralfarbendes Lichts nach Isaac Newton auf dasFenster gebracht. Der durchsichtige, rundePunkt in der Mitte könnte das weiße Lichtbedeuten, wobei es sich um ein aus allenWellenlängen des sichtbaren Spektralbereichsgemischtes Licht handelt. Die Idee dergleichzeitigen Existenz aller Lichtspektrengeht Hand in Hand mit derjenigen Vorstellung,unter der die Kirche erbaut wurde: einenOrt des Dialogs zwischen den Religionenschaffen, sie vereinigen.haftem Ruhm verhalf, als er an diesem Ortsein Schauermärchen über den kopflosenReiter, dem niemand lebendig entkommensollte, ansiedelte. Selbst im Oktober, wennder Indian Summer die Touristen anlockt,verirren sich nur wenige bis in die BedfordRoad. Je höher man die Hügel hinauffährt,desto herrschaftlicher werden die Gebäude.Viktorianische Einfamilienhäuser, deren weißedorische Eingangssäulen meist Efeu umranktden akkurat rasierten Rasen des Vorgartensbegrenzen, säumen die Straße. Sieschlängelt sich zwischen der bürgerlichenIdylle weiter bergauf, vorbei an einem Golfplatz,entlang eines Waldgebietes und führtschließlich zu einem großen Parkplatz, deran einer neogotischen Kirche – der UnionChurch – endet.„Kunst ist gut für die Nerven“Der nüchterne, rustikale Bau schmiegt sichharmonisch in das ländliche Gebiet des WestchesterCounty (Landkreis Westchester imStaat New York). Die Kirche, von außenblockhaft-eckig geschlossen, eine historischeFassade aus grob behauenem, braun schattiertemStein mit gotischen Spitzbögen, wurdeursprünglich als nicht konfessionsgebundeneKirche organisiert. John D. Rockefellerund seine Frau Abigail „Abby“ Greene Aldrichließen sie nach Plänen des aus Österreichemigrierten Architekten Ludwig W. Eisinger(1875-1935) im Jahre 1921 errichten.Der Rockefeller-Dynastie, Sinnbild des amerikanischenTraumes – vom Tellerwäscherzum Millionär –, gehörte einst der Großteiljenes hügeligen Gebietes. Der tiefe GlaubeUnion Church of Pocantico Hills von Bedford Roadan Gott und ein entsagender <strong>Leben</strong>sstilprägte das Familienleben der Rockefellers.Weder waren Alkohol oder Zigaretten nochTheater oder Kinobesuche erlaubt. GrundlegendeWerte wie der Zusammenhalt der Familie,fleißiges Arbeiten, regelmäßige Kirchenbesucheund ein Hang zur Wohltätigkeitbestimmten ihr <strong>Leben</strong>. Darüber hinaus manifestiertesich innerhalb der Familie frühdie Leidenschaft für die bildenden Künste. Soschrieb einst Abby Rockefeller an einen ihrerSöhne: „Ich habe das Gefühl, dass [die Kunst]das spirituelle <strong>Leben</strong> bereichert und denMenschen ausgewogen und mitfühlend, demütigund verständnisvoll macht; außerdemist sie gut für die Nerven.“ Es verwundertalso wenig, dass Abby eine der Gründerinnendes weltberühmten Museum of Modern Art(MoMA) war, wodurch sie Künstler wie auchHenri Matisse in die Sammlung aufnehmenkonnte. Ihr gilt daher die Fensterrose nachgotischem Maßwerk über dem Altar.Und in der Mitte weißes LichtDer französische Künstler Henri Matisse(1869-1954) ließ sich von Abbys Sohn Nelsonüberreden, seiner Mutter zu Ehren nachderen Ableben 1948 die Gestaltung der Rosettein der Union Church zu übernehmen.Es sollte sein letztes künstlerisches Werkwerden. In seiner typischen Malweise hält erdie Farben flächig, voneinander abgegrenzt,ohne Schatten und Tiefe, so dass dem Betrachtereinzig die Konzentration auf seineigenes Empfinden beim Anblick der Fensterrosebleibt. Interessant ist dabei die Anordnungder Farben: Außen wird der KreisHesekiel 2,8–3,3Chagall auf der FluchtNach dem Tod von John Davison Rockefeller,dem Ehemann Abbys und Vater von Nelsonund David, beschloss die Familie, ihm einpersönliches Denkmal zu setzen, indem siedie restlichen neun Glasfenster der Kirchebunt gestalten lassen wollte. Sie sollten diewichtige Rolle des Glaubens im <strong>Leben</strong> ihresVaters wiedergeben. Während eines Aufenthaltesin Paris entdeckte David zufällig Bilderdes französischen Malers Marc Chagall, dessenFensterbilder für die Synagoge des Hadassah-Hebrew-University-Hospitalin Jerusalemim Louvre ausgestellt wurden. Davidwar überzeugt: „Chagall ist die richtigeWahl.“ Während des zweiten Weltkriegs flohder jüdische Künstler mit Hilfe einer Organisation,die unter anderem auch von der Rockefeller-Familiefinanzielle Unterstützung<strong>Zum</strong> <strong>Leben</strong>27