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Zur Darstellung künstlerischer Existenz in Thomas Manns frühen ...

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kann autonom mit diesen beiden menschlichen Aspekten spielen und sie bewusst<br />

steuern. Dementsprechend kann der moderne Künstler se<strong>in</strong>e Kunstwerke gestalten,<br />

und das Publikum kann sich dank der künstlerischen Techniken, der Ausstattung,<br />

dank der wachen künstlerischen Gekonntheit ganz se<strong>in</strong>en beiden Ich-Aspekten<br />

überlassen und sich so amüsieren.<br />

Deshalb schwebt Wagners musikalische Kunst <strong>in</strong> anderen Sphären des menschli-<br />

chen Seelenlebens als denjenigen, die „zur unendlichen Melodie“ geschaffen wur-<br />

den 41 und die dem Genießenden e<strong>in</strong>en religiösen Übergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong> himmlisches<br />

Reich sichern. 42 Ist Wagners Publikum wie Tiecks William Lovell oder die anderen<br />

Romantiker – außer Novalis – noch gläubig schicksalsergeben, dann wird Wagner<br />

mit der modernen Selbstverständlichkeit se<strong>in</strong>er Praxis e<strong>in</strong>er verführerischen Ton-<br />

kunst das „unhöflichste Genie“. 43 Ohne se<strong>in</strong>en ihn ermächtigenden transzendenten<br />

Urheber, als e<strong>in</strong> mit der menschlichen Psyche spielender ‚Erlöser’ verführt er das<br />

se<strong>in</strong>e berauschende Musik tr<strong>in</strong>kende Publikum absichtlich zu e<strong>in</strong>em Trugbild. Wer<br />

diesen Schleier der Maja nicht durchschauen kann, wird deshalb zum Spielball sei-<br />

ner Manipulation.<br />

Weil die episch-musikalische Wirkung der Wagnerschen Opern das Publikum im<br />

Gegensatz zur apoll<strong>in</strong>ischen Musik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sentimentale, verme<strong>in</strong>tlich ‚naive’ Ge-<br />

fühlswelt verführt und damit e<strong>in</strong>er dionysischen Macht ausliefert, deren wahres Ge-<br />

sicht sich selbst dekorativ vermummt, ist Wagners „Artefakt“ nur e<strong>in</strong> artistisches<br />

Sche<strong>in</strong>gebilde. Es versetzt se<strong>in</strong> Publikum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Trance-Zustand, mit dem der mu-<br />

sikalisch gewandte Schauspieler-Künstler bloß raff<strong>in</strong>iert zu spielen weiß. Gefesselt<br />

durch die Grundkonstellationen se<strong>in</strong>er psychischen Tiefe, beschäftigt sich das Pu-<br />

blikum nicht mit der Gekonntheit der Kunsttechnik.<br />

Mit der Transformation des Genies, das die dionysische Wildheit apoll<strong>in</strong>isch bän-<br />

digt, zur Literarisierung und Ästhetisierung <strong>in</strong> der Autonomie des spielenden Geis-<br />

tes ist das Genie erloschen. Diese als schuldig und ungenial verstandene ‚Geniali-<br />

tät’, die jenseits der geistesgeschichtlichen Idealvorstellungen existiert, kritisiert<br />

Nietzsche als das „Klapperschlangen-Glück des Meisters“, 44 das der Spieler des<br />

Sche<strong>in</strong>s sich verschafft und das ihn auf e<strong>in</strong>e neue Weise groß macht.<br />

41 Nietzsche 1888, S. 7.<br />

42 So Nietzsche ironisch-kritisch: „Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen“; ebd.,<br />

S. 7.<br />

43 Ebd., S. 8.<br />

44 Nietzsche 1888, S. 16.<br />

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