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Zur Darstellung künstlerischer Existenz in Thomas Manns frühen ...

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6.2.3.2 „Talent“ als Grundbedürfnis nach schöpferischer Form<br />

In e<strong>in</strong>em ganz kurzen, aber für unser Thema wichtigen Aphorismus aus dem Jahr<br />

1912 formuliert <strong>Thomas</strong> Mann unter der Überschrift Talent den folgenden allgemei-<br />

nen Gedanken:<br />

Das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne Weiteres e<strong>in</strong><br />

Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, e<strong>in</strong> kritisches Wissen um das Ideal, e<strong>in</strong>e<br />

Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert.<br />

Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel. 195<br />

Dieser Aphorismus ist wörtlich der Erzählung Schwere Stunde entnommen und wird<br />

hier zur allgeme<strong>in</strong>en Sentenz erhoben. 196 Die körperliche Quälerei unter dem glü-<br />

henden Drang zur Bewältigung des mächtigen Stoffes besagt viel über das Talent<br />

des siebenunddreißigjährigen Dichters. Die Figuration se<strong>in</strong>es ganzen gebrechlichen<br />

Körpers kommt dem spekulativ entwickelten Verständnis über künstlerische Bega-<br />

bung nahe. Wie e<strong>in</strong> lebender Leichnam wird der Dichter geschildert, wie er vom<br />

wärmenden Ofen schmerzlich und verzweifelt zu se<strong>in</strong>em Werk h<strong>in</strong>über bl<strong>in</strong>zelt.<br />

Se<strong>in</strong> ganzer Körper sieht aus wie derjenige e<strong>in</strong>es Toten, der aber noch lebt, „tra-<br />

gisch“ vielleicht auch Goethe gegenüber.<br />

Es sche<strong>in</strong>t, als wartete er auf e<strong>in</strong>e blitzschnelle Erleuchtung se<strong>in</strong>es Wissens, die<br />

buchstäblich als Intuition zu bezeichnet wäre. Die aber wird ihm erst dann gegönnt,<br />

wenn der Geist unabhängig vom leidenden Körper ist, wenn er diesen unterdrückt<br />

und ke<strong>in</strong>er der doch bestehenden Schmerzen im ganzen Körper empfunden wird –<br />

so dass der Geist ganz auf den dichterischen Stoff konzentriert ist und nur <strong>in</strong> diesem<br />

Wunder-Moment <strong>in</strong>tuitiv und unmittelbar empfänglich ist für die Sendung jenes<br />

Lichts. Dann erst kann er den gewussten Stoff geistig gestalten. Könnte dies von ei-<br />

nem meditativ-<strong>in</strong>tuitiven Arbeitsprozess gesagt werden, <strong>in</strong> dem nichts anderes als<br />

die befehlende Stimme klänge, wenn doch <strong>Thomas</strong> Mann diese Krankheit später im<br />

195 Essays I, S. 364. Vgl. im Kommentarband dazu S. 473f.<br />

196 „Denn das Talent, me<strong>in</strong>e Damen und Herren dort unten, weith<strong>in</strong> im Parkett, das Talent ist nichts<br />

Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne Weiteres e<strong>in</strong> Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, e<strong>in</strong><br />

kritisches Wissen um das Ideal, e<strong>in</strong>e Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst<br />

schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel…“<br />

Mann 2004, S. 424.<br />

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