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10 quadrat 10 / 2012 � zurück geblickt<br />
Auf „krummen Wegen“<br />
durch Lüneburg<br />
VON DER BEWANDTNIS ABSONDERLICHER FORMEN UND VERFORMUNGEN IN LÜNEBURGS STADTBILD<br />
VON APL. PROF. DR. WERNER H. PREUSS<br />
Das „Stadtpalais“ Auf dem Meere mit abfallenden Fensterlinien „Pfusch am Bau“: Das Pfarrwitwenhaus Auf dem Michaeliskloster<br />
Lüneburgs westliche Altstadt steht auf einem<br />
Salzstock, der mehrere Kilometer dick ist und<br />
bis etwa 40 Meter unter die Erdoberfl äche<br />
emporragt. Durch Grundwasserströme und vor<br />
allem durch die Förderung der Sole haben sich<br />
Hohlräume gebildet, in die der Erdboden absackte<br />
oder hineinstürzte. 1024 Jahre lang hatte die<br />
„Sülze“ nachweislich dem Untergrund eine mit Salz<br />
nahezu gesättigte Sole entzogen. Im Mittelalter<br />
expandierte sie zu einem in Europa einzigartigen<br />
Industriebetrieb. In einer Zeit kleiner Handwerksunternehmen<br />
produzierte die Saline ununterbrochen<br />
Tag und Nacht jährlich 20.000 bis 30.000 Tonnen<br />
Salz. 300 bis 400 Personen waren auf der Sülze<br />
beschäftigt. Seit die Saline Lüneburg am 9. September<br />
1980 die Produktion eingestellt hat, haben<br />
die zerstörerischen Bodenbewegungen glücklicher-<br />
weise an Intensität verloren. Über den ersten bekannten<br />
Erdfall überliefern die „Quedlingburger<br />
Annalen“ von 1013: „In diesem Jahr geschah eine<br />
starke Bewegung in der Luft, so dass an vielen Orten<br />
Häuser einstürzten. Auch öffnete sich auf dem<br />
Lüneburger Berge eine fürchterliche Erdspalte,<br />
welche der Kirche den Einsturz drohte und den<br />
von Furcht ergriffenen Einwohnern für den Augenblick<br />
alle Hoffnung auf diesen Zufl uchtsort nahm.“<br />
Wo sich der „Lüneburger Berg“ vermutlich einst<br />
erhoben hat, zieht sich heute zwischen Marien-<br />
platz und Michaeliskirche eine lange Senke hin:<br />
die Straße „Auf dem Meere“. Spuren der ältesten<br />
Bebauung fi ndet man heute in acht Metern Tiefe.<br />
Als Überrest eines versumpften Sees blieb eine<br />
Torfschicht zurück, die in vier Meter Tiefe ansetzt.<br />
In den 20er Jahren hat man sogar alte „Uferbefes-<br />
tigungen“ aus Eichenpfählen ausgegraben. Über-<br />
liefert ist auch, „daß bey Gründung des St. Marien-<br />
klosters (1229), da wo jetzt die Reitende-Diener-<br />
Gasse und das Meer liegt, ein sumpfi gtes Wasser,<br />
Gösebrink (ein Gänseteich) genannt, sich befunden,<br />
aus welchem der Marien-Kirchhof als ein Berg her-<br />
vorgeragt habe“.<br />
Welches Ausmaß Erdstürze als Folge von Ausspülungen<br />
eines Salzstocks annehmen können, das<br />
kann man am Arendsee bei Salzwedel (nahe Gorleben!)<br />
studieren. Nach Bodeneinbrüchen in den<br />
Jahren 815, 822 und 1685 bedeckt das Wasser<br />
heute eine Fläche von 554 Hektar. Der Arendsee<br />
ist 4,1 Kilometer lang, 2,5 Kilometer breit und<br />
PREUSS<br />
49,5 Meter tief. Daran gemessen war „Auf dem<br />
W.<br />
Meere“ in Lüneburg doch nur ein bescheidenes<br />
Gewässer entstanden. FOTOS: