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FOTO: SHAWN BRACKBILL Als die Nadel die Mainline trifft, verliert sich der Fan im Vinyl, und der schwarze Stoff, aus dem die Verheißung, ihr Name ist Klang, fl ießt, steigt ihm zu Kopfe. Was müssen das wohl für Zeiten gewesen sein, damals, als die Kunst und der Rock’n’Roll das erste Mal zusammen ins Bett gingen? Wir stellen uns New York 1965 vor, Andy Warhol, wie er sein neuestes Spielzeug, eine spröde deutsche Schönheit namens Christa Päffgens in seine legendäre Wirkstätte, die Factory mitbringt. Sie sollte bald weit besser bekannt sein unter ihrem Pseudonym Nico. Er hilft ihr aus dem Pelzmantel, klatscht aufgeregt in die Hände und ruft „seine“ Band herbei: „Kinder, Kinder, kommt doch mal her, ich habe da eine ganz außergewöhnliche Idee!“ Aus der Dunkelheit schälen sich alsbald zwei dünne, in eng anliegendes Existenzialistenschwarz gezwängte Körper. Der Mann hat etwas von einem Reptil, seine glanzmatten Augen behält er hinter der schon damals für Angehörige seiner Zunft obligatorischen Sonnenbrille verborgen. Sein Name ist Lou Reed und er ist Sänger in einer Rock’n’Roll-Band, die sie „The Velvet Underground“ getauft haben. Nie, niemals würde er sich eingestehen, dass ihm gar nicht so genau klar ist, wohin das Schicksal ihn verbracht und was das alles hier eigentlich zu bedeuten hat. Der andere Typ, auch er trägt eine Sonnenbrille, scheint dandyhafter. Ein Intellektueller, man sieht ihm an, dass nicht Roy Orbison und das Radio es waren, die ihn geprägt haben. Er packt seine elektrisch verstärkte Bratsche beiseite und begrüßt die kühle Blonde mit einem angedeuteten Handkuss. Der gebürtige Waliser namens John Cale zeigt sich hocherfreut über weiteren Zuwachs aus der alten Welt. Schon bald würde das Banddebüt „The Velvet Underground & Nico“ das Licht der Welt erblicken, die Platte mit Warhols berühmten Bananencover, die Musik ein düster-verstörender, urbaner Gegenentwurf zu den Träumen der Hippies jener Zeit, der Musikgeschichte schreiben sollte. Als Cale sich John Cale GENIALER KUPPLER ZWISCHEN KUNST UND ROCK seinerzeit als Stipendiat mit klassischer Ausbildung für Bratsche und Piano auf den Weg über den Atlantik machte, hätte er sich wohl nicht träumen lassen, dass er, der er im Dunstkreis der so genannten „Neuen Musik“ Karriere zu machen gedachte, jemals Mitglied einer, ja sogar DER am meisten kopierten Rockband aller Zeiten sein würde; genauso unvorhersehbar, dass dabei mit Andy Warhol der wohl illustreste und enigmatischste Künstler seiner Zeit Pate stehen würde für ein Konzept, das heute noch junge Menschen dazu veranlasst, eine ER VERLIESS ZU KLEIN GEWORDENE GEFILDE UND EROBERTE SICH NEUE TERRAINS. Band zu gründen, um etwas von dem gleichen dunkel-coolen Glanz und der Sophistikation zu erheischen, mit der „The Velvet Underground“ für alle Zukunft reüssiert hatten. Das eigene kleine Stück vom Gegenwartskulturkuchen, die 15 Minuten Ruhm − Popartpapst Andy Warhol hatte dies kühn einem jeden Angehörigen der westlichen Zivilisation versprochen. Doch wie recht er tatsächlich behalten sollte, hatte er gut vier Dekaden vor Youtube & Facebook wohl kaum wissen können. 1968 verabschiedete sich John Cale aus jenem „Neo-Fin de siècle“, um auf beiden Seiten der eingebildeten Demarkationslinie zwischen E- und U- Musik Karriere zu machen. Als Musiker und Produzent arbeitete er mit so unterschiedlichen Charakteren wie John Cage, Iggy Pop, Brian Eno, Siouxsie Sioux, Patti Smith, Marc Almond und vie- len mehr zusammen, auch die Happy Mondays und Element of Crime kamen in den Genuss seiner Wirkkraft. In der Rückschau scheint es fast so, als besäße er die Fähigkeit, Bedeutung zu verleihen. Vielleicht hat er dies von Warhol gelernt, vielleicht hatte Warhol ihn deswegen zu sich geholt − wir werden es nicht mehr erfahren. Fakt ist, dass im Verleihen von Bedeutung das Wesen der Kunst be- gründet liegt. Auf diese Weise macht man aus eigentlich ganz gewöhnlichen Dingen wirkungsvolle Kunstwerke. Dazu gehört nicht viel, nötig sind oftmals nur minimale Veränderungen am Objekt. Dass dies auch für Klänge gilt, bewies Cale eindrucksvoll auf einem seiner wohl bedeutsamsten Alben, „Vintage Violence“, einem Meilenstein minimaler (Rock-) Musik. Dem gegenüber steht das opulente, nicht minder bedeutsame „Paris 1919“, mit dem sich noch heute die Menschen verzaubern lassen. Mit dem fortwährenden Entwurf seiner eigenen musikalischen Terminologie verließ er mehr und mehr zu klein gewordene Gefi lde und eroberte sich immer neue Terrains, wandte sich z. B. der Komposition von Soundtracks zu, einem Metier, das er besonders schätzen lernte. Ganz Künstler mit Leib und Seele und kein Kind von Traurigkeit, fi el er, vor allem in den Achtzigern, immer mal wieder durch scheinbar umherirrendes Verhalten auf, blieb aber, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, trotz zahlreicher Jahre im Banne der Substanzen, erstaunlich gesund. Heute sei Kaffee seine härteste Droge und die Sonnenbrille ein Relikt alter Zeiten, sagt er und streicht über sein graues Kinnbärtchen, das sich gut in sein Charaktergesicht einfügt. In diesem Jahr ist Cale 70 geworden, wurde inzwischen gar zum Ritter geschlagen und ist auch sonst eigentlich über alle Kritik erhaben. Wer die Gelegenheit nutzen möchte, einen Künstler, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient hat, live zu erleben, sollte sich den 23. Oktober 2012 notieren. Dann spielen John Cale & Band in Hamburg/Kampnagel eines von nur vier Deutschlandkonzerten − vielleicht die letzten, bevor sich der Tonarm ein letztes Mal hebt und in die fi nale Endlosrille übergeht. (ap) John Cale Kampnagel Hamburg Dienstag, 23. Oktober 20.00 Uhr angehört � quadrat 10 / 2012 81