[ibrp.pdf]Seite 8Bitte lesen Sie sichden folgenden Beispielfall durch:Beispielfall: Frau Mauer wird nachts von der Polizei in die psychiatrische Klinik gebracht, nachdemdas Städtische Krankenhaus die Aufnahme verweigert hat. Sie gilt dort nach mehreren Aufnahmen als„hoffnungsloser“ Fall, akute Lebensgefahr liegt nach Einschätzung des aufnehmenden Arztes im Allgemeinkrankenhausnicht vor. Frau Mauer hat Prellungen am ganzen Körper <strong>und</strong> Schnittw<strong>und</strong>en anden Handgelenken <strong>und</strong> Unterarmen. Ihr körperlicher Zustand ist schlecht, sie ist abgemagert, hat alteSchnittnarben an Armen <strong>und</strong> Händen, sie wirkt ungepflegt <strong>und</strong> riecht stark nach Alkohol.Frau Mauer wirkt verschlossen <strong>und</strong> verstört, sie spricht kaum, ist aber zeitlich <strong>und</strong> örtlich orientiert. Siemacht folgende Angaben:Name: Helga Mauer, 28 Jahre. Wohnort: keiner. Zuletzt hat sie auf einem wilden Campingplatz am Stadtrandwechselnd bei verschiedenen Bekannten übernachtet. Sie hat keine Papiere, keine persönliche Habe<strong>und</strong> ist mittellos. Sie besitzt nur die Kleidung, die sie trägt; diese ist für die Witterung zu dünn, abgetragen<strong>und</strong> sehr verschmutzt.Frau Mauer lässt sich freiwillig stationär aufnehmen. Sie ist ärztlich untersucht worden, weitergehendePlanungen wurden zurückgestellt. Im Team wurde eine Bezugstherapeutin festgelegt. Diese hat mit FrauMauer Kontakt aufgenommen <strong>und</strong> für den nächsten Tag ein längeres Gespräch verabredet.Frau Mauer ist vom Krankenhaus mit Kleidung <strong>und</strong> Waschzeug versorgt worden. Sie hat die ersten beidenTage fast ausschließlich geschlafen, viel gegessen <strong>und</strong> weder mit Mitarbeitern noch mit Mitpatientenmehr als das Nötigste gesprochen.Folgende Informationen haben sich bei Nachfragen von Mitarbeitern ergeben:Sie ist in verschiedenen Heimen aufgewachsen <strong>und</strong> zweimal in Pflegefamilien gewesen. Mit 18 lernte sieihren ehemaligen Mann kennen <strong>und</strong> heiratete ihn, als sie schwanger war. Nach fünf Jahren Ehe folgteScheidung auf Betreiben des Ehemannes, der dann das Sorgerecht für den Sohn gerichtlich zugesprochenbekam <strong>und</strong> jeden Kontakt von Frau Mauer zu ihm <strong>und</strong> dem Sohn ablehnt.Nach der Scheidung war sie wohnungslos <strong>und</strong> hatte verstärkte Alkoholprobleme. Eine Berufsausbildunghat Frau Mauer nicht, sie hat manchmal gejobbt, aber in der letzten Zeit nicht mehr.Bitte versuchen Sie jetzt, die Informationen aus diesem Beispieltext in den Anamnesebogeneinzutragen.© FH Fulda 2004 / PDF-Text-Download von [www.ibrp-online.de] · Stand: 12.10.04 Seite 8 von 41
[ibrp.pdf]Seite 9In einem zweiten Schritt formulieren Sie bitte, welche Informationen sie in einemGespräch mit Frau Mauer noch erfragen müssten (als Liste der Angaben formulieren,am schnellsten geht das mit den Ziffern).Weitere Informationen zu Frau Mauer: Frau Maurer lebte in den ersten drei Lebensjahren bei Mutter<strong>und</strong> Großmutter; über den Vater ist nichts bekannt. Die Mutter arbeitete bei einer Reinigungsfirma,abends half sie oft in einer Gaststätte. Frau Mauer berichtet, das die Mutter stark getrunken habe. DieGroßmutter habe sie versorgt, sehr gemocht <strong>und</strong> habe sie verwöhnt.Nach dem Tod der Großmutter kam sie in ein Kinderheim, da die Mutter mit der Versorgung des Kindesüberfordert war. Als 6-jährige nahm sie eine Pflegefamilie auf, nach dem plötzlichen Tod des Pflegevatersaber musste sie wieder zurück ins Heim.Mit elf Jahren erfolgte wieder ein Wechsel in eine Pflegefamilie, die eine etwas jüngere eigene Tochterhatte. Es gab sehr viele Schwierigkeiten. Frau Mauer fühlte sich zurückgesetzt, die Pflegemutter klagteüber störrisches Verhalten <strong>und</strong> fehlende Mithilfe. Nach sechs Monaten kam sie ins Heim zurück <strong>und</strong> bliebdort bis zum 18. Lebensjahr.Frau Mauer besuchte eine staatliche Schule bis zum Hauptschulabschluss. Sie war keine gute Schülerin<strong>und</strong> hatte wenig Kontakte in der Klasse <strong>und</strong> zu den Lehrern. Nach dem Schulabschluss begann sie eineLehre im Einzelhandel, die sie auf Gr<strong>und</strong> der Schwangerschaft abbrach.Während ihrer Ehe <strong>und</strong> auch nach der Scheidung übernahm sie st<strong>und</strong>enweise Aushilfstätigkeiten, zeitweiligauch in einer Fabrik. Diese Beschäftigungsverhältnisse wechselten jedoch häufig, im letzten Jahrhatte sie gar keine Arbeit.Frau Mauer berichtet, das die Ehe sehr schwierig gewesen sei. Sie habe es ihrem Mann <strong>und</strong> der bei ihnenlebenden Schwiegermutter nicht recht machen können. Den kleinen Sohn habe man ihr immer mehr entfremdet.Sie habe dann häufig Alkohol getrunken <strong>und</strong> sich auch öfter selbst verletzt. Nach fünf Jahrenhabe der Mann die Scheidung eingereicht <strong>und</strong> das Sorgerecht bekommen. Er sei inzwischen wieder verheiratet<strong>und</strong> habe zwei weitere Kinder.Zur Mutter von Frau Mauer besteht seit Jahren keinerlei Kontakt.Vorgeschichte der Erkrankung: Nach dem Tod der Großmutter fühlte sich Frau Mauer einsam <strong>und</strong> verlassen.Sie zog sich immer mehr zurück, war oft traurig <strong>und</strong> konnte sich im Kinderheim nicht einleben. Indieser Zeit dachte sie oft, dass sie auch lieber tot wäre, wie die Großmutter.In den folgenden Jahren wuchs ihre innere Überzeugung, niemand könnte sie gern haben, sie sei wertlos<strong>und</strong> überflüssig.Schon im Heim kam es bei seelischen Belastungen zu selbstverletzendem Verhalten, das sie aber zu verheimlichensuchte. In der Ehe wurde dieses Verhalten sehr viel stärker, oft in Verbindung mit Alkohol.Frau Mauer war mehrmals zur W<strong>und</strong>versorgung in der Ambulanz des Städtischen Krankenhauses, wurdeaber in der letzten Zeit wegen ihrer „Alkoholfahne“ wieder weggeschickt.In den letzten Monaten vor ihrer Einweisung war Frau Mauer fast ständig betrunken. Sie lebte bei verschiedenenMännern, wurde häufig geschlagen <strong>und</strong> verlor ihre letzte Habe.Inzwischen ist sie seit drei Wochen auf der psychiatrischen Station. Sie hat sich körperlich erholt, nachder Entgiftung hat sie sich strikt an das Alkoholverbot gehalten. Sie besucht eine Selbsthilfegruppe vonaußerhalb, die sich zweimal in der Woche in der Klinik trifft.Mit dieser Übung machen sie sich schnell mit dem Anamnesebogen vertraut.© FH Fulda 2004 / PDF-Text-Download von [www.ibrp-online.de] · Stand: 12.10.04 Seite 9 von 41