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Anduin 94

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Was Dir der Penner erzählt<br />

Grinsen und hervorquellenden Augen, und<br />

wir waren zu abgekämpft, um etwas anderes<br />

zu tun als dazuliegen und seine Beleidigungen<br />

über uns ergehen zu lassen. Er erklärte<br />

uns das Geheimnis unserer Existenz: wir waren<br />

tot. Alle tot.<br />

Markgraf hatte uns ermordet. Alle außer<br />

sich selbst natürlich. Er war wohl so eine Art<br />

vom Tod besessener Magier gewesen, der<br />

versucht hatte, die Lebensessenzen seiner<br />

Opfer zu sammeln, die er irgend einem Gott<br />

oder Teufel opferte, um sein eigenes Leben<br />

zu verlängern. Damit hatte er sich schon seit<br />

den 50er Jahren beschäftigt, also musste er<br />

wohl einigen Erfolg gehabt haben, weil er für<br />

uns aussah, als sei er vielleicht Ende Dreißig.<br />

Er hatte mich entführt und in seinem Keller<br />

gefoltert und mich dann auf dem Operationstisch<br />

geopfert, den wir in seiner Villa vorgefunden<br />

hatten. Das Gleiche galt für die Leute,<br />

die wir in der Hölle zurückgelassen hatten,<br />

oder besser: dem Fegefeuer, das dieser Dämon<br />

nur für Markgraf erschaffen hatte.<br />

Du musst wissen, dass der Dämon sich in<br />

dem Moment an Markgraf gehängt hatte, als<br />

dieser damit anfing, auf dem Pfad des Todes<br />

zu wandeln, um ihn nach seinem Tod in Empfang<br />

zu nehmen und ihn zu ‚reinigen‘, was<br />

auch immer damit gemeint sein mag.<br />

Markgrafs Dämon sammelte uns ein, uns<br />

Opfer, um mit uns das endgültige Fegefeuer<br />

zu bevölkern. Bewusstlos warteten wir auf<br />

den Moment, da Markgraf starb; und dieser<br />

Moment kam eher als er selbst geglaubt hätte.<br />

Der entführte Junge war sein vorletztes<br />

Opfer gewesen. Das war zu diesem Zeitpunkt<br />

etwas über ein Jahr her. Aber danach nahm<br />

er sich zu viel vor. Sein nächstes auserwähltes<br />

Opfer war die Nachbarin, die jetzt bei<br />

uns war, die aber eine sehr starke Seele hatte,<br />

stärker als alles, was man sich vorstellen<br />

kann, denn sie war keine gewöhnliche Frau,<br />

nicht mal ein Mensch.<br />

Als er sie auf seinem Operationstisch hatte,<br />

zapfte er ihre reiche Seele an, aber er konnte<br />

der nun in ihn strömenden Energieflut nicht<br />

Herr werden. Er erlitt eine Gehirnblutung<br />

und starb auf der Stelle, zusammen mit seinem<br />

Opfer.<br />

Der Dämon kam und holte beide ab, ließ<br />

Markgrafs Körper für die Polizei zurück und<br />

verbarg das Zimmer mit dem Operationstisch<br />

auf magische Weise vor Entdeckung.<br />

Er steckte Markgraf, der womöglich sogar<br />

im Tod noch Macht über die Kreatur gehabt<br />

hätte, in die Rolle des Vaters seines vorletzten<br />

Opfers und ließ uns andere mehr oder<br />

weniger das sein, was wir vor unserem Tod<br />

gewesen waren. Er löschte die gesamten Erinnerungen<br />

des Doktors und unsere letzten.<br />

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Dann war die Bühne bereit für den ersten<br />

Akt.<br />

Aber anscheinend hatte Markgraf noch ein<br />

Ass im Ärmel. Er hatte ein Wesen aus dem<br />

Jenseits heraufbeschworen und ihr einen<br />

geweihten, magischen Dolch anvertraut, den<br />

ihm dieses Wesen bringen sollte, sobald er<br />

tot und im Fegefeuer sein würde. Er hatte allerdings<br />

nicht mit der Möglichkeit gerechnet,<br />

dass seine Erinnerung gelöscht sein würde –<br />

aber als er den Dolch mit dem Willen zu töten<br />

schwang, schlitzte er die falsche Realität des<br />

Fegefeuers dennoch auf und öffnete uns den<br />

Fluchtweg.<br />

Aber wie schon gesagt, der Dämon war<br />

uns gefolgt oder gar vorangeeilt und machte<br />

sich daran, seinen Fang ein zweites Mal einzuholen.<br />

Während sich die Realität wieder<br />

festigte und begann, Markgraf wieder seine<br />

alte Gestalt zu geben, hatte der Dämon um<br />

uns bereits ein Netz des Wahnsinns gewoben,<br />

das kein Entkommen erlaubte.<br />

Der Dämon hatte uns jetzt da, wo er uns<br />

haben wollte, und er wollte den Lohn für<br />

seine Mühen abholen: Markgraf, der sich<br />

nun seiner selbst endlich völlig bewusst war,<br />

aber dem Dämon machtlos ausgeliefert. Und<br />

er nahm ihn einfach mit, zerrte ihn in einem<br />

unmöglichen Winkel über die Hauswand hinter<br />

sich her und verschwand im Nebel.<br />

Und dann verhielten sich die Dimensionen<br />

plötzlich wieder normal, und ich konnte gerade<br />

noch nach der Leiter greifen und mich<br />

daran festklammern, während sich der Nebel<br />

langsam zurückzog. Die Nachbarin hing irgendwo<br />

über mir. Sie hatte wohl einen besseren<br />

Halt gefunden, und sie schrie.<br />

Dann geschah etwas, das meine Hoffnung<br />

wieder ein wenig herstellte, wenn schon<br />

nicht meinen Glauben. Ich hörte ein Geräusch<br />

wie von mächtigen Schwingen.<br />

Zwei Gestalten glitten an mir vorbei<br />

nach oben, und ich konnte<br />

sie erst deutlich sehen, als<br />

sie auf meiner Höhe waren.<br />

Ich kann sie nur als Engel<br />

beschreiben, kein anderes<br />

Wort wird ihnen gerecht; und<br />

sie nahmen die Nachbarin in ihre<br />

Mitte und trugen sie fort. Erst in diesem Moment<br />

öffneten sich meine Augen wirklich für<br />

ihre engelsgleiche Schönheit…<br />

Sekunden später war ich allein auf der Leiter<br />

und der Nebel wurde immer lichter. Bald<br />

konnte ich den Boden sehen und kletterte<br />

hinunter. Ich wusste, dass ich verschont worden<br />

war. Oder vielleicht war ich nur wie ein<br />

unwichtiger Bauer in einem Schachspiel,<br />

das ich nicht verstand, fortgeworfen<br />

ANDUIN <strong>94</strong><br />

worden. Für die Welt war ich tot, obwohl ich<br />

lebte und immer noch lebe. Aber ich habe es<br />

nie gewagt, in mein altes Leben zurückzukehren.<br />

Und deshalb lebe ich hier auf der Straße,<br />

in dieser dunklen Gasse, und verbringe meine<br />

Tage damit, um etwas zu essen oder etwas<br />

Kleingeld zu betteln, und gelegentlich erzähle<br />

ich jemandem meine Geschichte. Natürlich<br />

glaubt mir nie jemand, deshalb musste ich<br />

einen Weg finden, das Interesse meiner Zuhörer<br />

zu wecken.<br />

So, damit ist alles gesagt. Es gibt nichts<br />

mehr zu erzählen. Hör auf, dich zu wehren.<br />

Du kannst dich nicht befreien.<br />

Ja, das ist genau der Dolch, von dem ich dir<br />

erzählt habe. Ich habe ihn damals in der Penthouse-Wohnung<br />

an mich genommen, als die<br />

anderen nicht mehr an ihn dachten, als wir<br />

gerade dabei waren, aus dem Fenster zu klettern.<br />

Ich habe keine Ahnung, ob noch irgend<br />

welche Magie in ihm schlummert, aber eine<br />

Sache weiß ich, und das ist das Letzte, was<br />

ich dir mit auf den Weg gebe: manchmal ist<br />

es besser zu sterben als verschont zu werden.<br />

�<br />

Seite 75

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