KulturFenster Nr. 05|2013 - Oktober 2013
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Das Thema<br />
Die „Guidonische Hand“, nach Guido<br />
von Arezzo (um 992 – 1050) benannt,<br />
diente zur Orientierung im Tonsystem<br />
und als Gedächtnisstütze beim Erlernen<br />
von Chorälen.<br />
hens. So konnte oder kann der Dirigent als<br />
Selbstdarsteller oder Dompteur agieren –<br />
wie dies Hector Berlioz getan haben soll,<br />
der sich beim Dirigieren nicht dem Orchester,<br />
sondern anscheinend «wild gestikulierend»<br />
dem Publikum zuwandte. Oder er<br />
kann sich mit dezenten, wohlüberlegten<br />
Gesten zurücknehmen und der Musik ihren<br />
Platz lassen.<br />
Die heutigen Taktstöcke sind noch kleiner<br />
und vor allem viel leichter geworden.<br />
Ein Taktstock besteht hauptsächlich aus<br />
ausbalanciertem Holz – häufig aus Balsaholz<br />
oder anderen leichten Holzarten –<br />
oder Fiberglas und misst nur noch 30 bis<br />
40 Zentimeter. Wenige – auch große Dirigenten<br />
wie Pierre Boulez oder Kurt Masur<br />
– haben den «Schrumpfprozess» noch<br />
weiter getrieben und kommen sogar ohne<br />
Taktstock aus.<br />
Dass das Dirigieren auch heute noch<br />
gefährlich ist, aber nicht wie in Lullys Fall<br />
gerade zum Tod führen muss, zeigen diese<br />
skurrilen Beispiele. Georg Solti hat sich bei<br />
einer Aufführung ins Auge gestochen; er<br />
musste die Aufführung mehrere Minuten<br />
unterbrechen. Der israelische Dirigent Eliahu<br />
Inbal musste nach dem gleichen Unglück<br />
sofort ins Spital gebracht werden. Der<br />
niederländische Dirigent Bernhard Haitink<br />
stach sich mit dem Stock in den Handballen.<br />
Der Stock brach, und Haitink musste<br />
sich ein gut vier Zentimeter langes Holzstück<br />
aus der Hand operieren lassen. Ein<br />
Schüler von Herbert Blomstedt hat sich<br />
mit dem Stab das Trommelfell durchbohrt<br />
und ein finnischer Dirigent stach sich bei<br />
einer Aufführung in den Oberkörper, zog<br />
den Stab hinaus, wischte das Blut ab und<br />
setzte das Konzert fort. Für einen anderen<br />
finnischen Dirigenten – Leif Segerstam –<br />
hielt der Dirigentenstab eine andere, unblutige<br />
Überraschung bereit. Ihm rutschte<br />
nämlich sein Taktstock bei einem Konzert<br />
aus der Hand und landete anscheinend<br />
wie Amors Pfeil vor den Füßen seiner<br />
späteren Frau.<br />
Ob gerolltes Notenblatt, Papier, Geigenbogen,<br />
Zeremonienstab, Zahnstocher oder<br />
«von Hand», die Liste der Gegenstände ist<br />
immens. Der Taktstock ist heute aber kein<br />
Machtsymbol mehr wie noch zu Lullys Zeit,<br />
sondern ein Mittel zur Kommunikation, um<br />
die vollkommenste, beste Musik aus den<br />
Musizierenden zu locken – oder eben zu<br />
zaubern.<br />
Reto Naef<br />
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von<br />
Redaktion und Autor aus: „Maestro“ <strong>Nr</strong>. 3/2011 in:<br />
„Unisono – die Schweizer Zeitschrift für Blasmusik“<br />
<strong>Nr</strong>. 15-2011 vom 15. August 2011<br />
Franz Werfel<br />
Der aus Prag gebürtige und nach Amerika ausgewanderte deutsche Schriftsteller<br />
Franz Werfel (1890 – 1945) hat uns in der Form eines Sonetts die folgende literarische<br />
Karikatur eines Dirigenten, der sich in seiner Selbstdarstellung zu gefallen<br />
scheint, hinterlassen. Übrigens, mit seinem 1924 erschienenen Roman „Verdi. Roman<br />
der Oper“ hat er wesentlich zur „Verdi-Renaissance“ in Deutschland beigetragen.<br />
Der Dirigent<br />
Dirigieren als „Dressurakt“ - diese<br />
Karikatur von Titus nimmt den Maestro<br />
Riccardo Muti aufs Korn.<br />
Er reicht den Violinen eine Blume<br />
Und ladet sie mit Schelmenblick zum Tanz.<br />
Verzweifelt bettelt er das Blech zum Glanz<br />
Und streut den Flöten kindlich manche Krume.<br />
Tief beugt das Knie er vor dem Heiligtume<br />
Des Pianissimos, der Klangmonstranz.<br />
Doch zausen Stürme seinen Schwalbenschwanz,<br />
Wenn er das Tutti aufpeitscht, sich zum Ruhme.<br />
Mit Fäusten hält er fest den Schlussakkord.<br />
Dann staunt er, hilflos eingepflanzt am Ort,<br />
dem ausgekommenen Klang nach wie ein Clown.<br />
Zuletzt, dass er den Beifall dankend rüge,<br />
Zeigt er belästigte Erlöserzüge<br />
Und zwingt uns, ihm noch Größeres zuzutraun.<br />
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<strong>KulturFenster</strong>