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einigkeit 06/15

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GESCHICHTE<br />

Offenbach ausgewiesen – 138 von ihnen<br />

waren Cigarrenarbeiter. Auch Friedrich Wilhelm<br />

Fritzsche, der 1878 Reichstagsabgeordneter<br />

der SAP geworden war, wurde aus<br />

Berlin ausgewiesen und kehrte nach Leipzig<br />

zurück, um in der Südstraße, der heutigen<br />

Karl-Liebknecht-Straße, seinen letzten<br />

Wohnsitz in Deutschland zu beziehen (s. S.<br />

24). Nach dem Verlust seiner Immunität bei<br />

der folgenden Reichstagswahl 1881, bei der<br />

er nicht wieder antrat, wanderte Fritzsche in<br />

die USA aus – wie viele andere, die aufgrund<br />

ihrer Ächtung als politische Agitatoren keine<br />

neue Existenz an einem anderen Ort aufbauen<br />

konnten.<br />

Um nicht vollständig verboten zu werden,<br />

änderten die Gewerkschaften daraufhin ihre<br />

Vereinszwecke und wurden „Reiseunterstützungsvereine“.<br />

Auch die Tabakarbeiter<br />

waren nun im „Unterstützungsverein deutscher<br />

Tabakarbeiter“ organisiert und Bäcker,<br />

Lebküchler und Böttcher hatten ebenfalls<br />

solche Vereine.<br />

Trotz des Sozialistengesetzes wurde die SAP<br />

stärker, auch im Reichstag. Bismarcks Regierung<br />

reagierte mit den „Sozialgesetzen“,<br />

Foto: NGG<br />

„Ich bin bei Bahlsen in die Gewerkschaft<br />

gegangen, weil mein Vater pro-gewerkschaftlich<br />

eingestellt war, immer schon.<br />

Und da war es für mich eine Selbstverständlichkeit,<br />

in diesem großen Betrieb in<br />

die Gewerkschaft zu gehen, in die NGG. […]<br />

Ich hab immer gesagt, als guter Betriebsrat<br />

[…] muss man eigentlich eine gute Menschenkenntnis<br />

haben. Aber man darf auch<br />

nicht so vermessen sein, dass man sagt,<br />

ich will nur immer fordern, sondern es<br />

muss auch möglich sein. Ich habe immer<br />

versucht, die ganze Zeit, beides zu verbinden.<br />

Also das, was machbar ist, dann aber<br />

auch auszureizen und dann auch zu holen. Das war so meine Prämisse.“<br />

Joachim Böhm, Jg. 1944, Gesamtbetriebsratsvorsitzender Bahlsen. Das komplette<br />

Interview: http://<strong>15</strong>0.ngg.net/menschen-in-der-ngg/joachim-boehm/<br />

die die Basis für die heutige gesetzliche<br />

Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung<br />

bildeten und neben der Verbesserung der<br />

sozialen Situation für die Arbeiter auch ihre<br />

Abkehr von SPD und Gewerkschaften bewirkten.<br />

Aber auch die gewerkschaftlichen Betätigungen<br />

konnten nicht zurückgedrängt werden,<br />

und es gründeten sich sogar bei den Brauern<br />

und den Zigarrensortierern neue Vereine.<br />

1890 waren Sozialdemokratie (jetzt unter<br />

dem neuen Parteinamen SPD) und Gewerkschaften<br />

stärker als 1878, und es fand<br />

sich nach den Wahlen zum Reichstag keine<br />

Mehrheit zur Verlängerung des Gesetzes:<br />

Die Gewerkschaften hatten ihre erste große<br />

Belastungsprobe bestanden und überlebt.<br />

Von der Berufs- zur Industrie- bis hin zur Einheitsgewerkschaft<br />

In der Zeit nach 1890 gelang es den Gewerkschaften<br />

immer besser, sich als Interessenvertretung<br />

zu etablieren – und ihre<br />

Entscheidung, Streikkassen aufzubauen, um<br />

von vornherein für Arbeitskämpfe gerüstet<br />

zu sein, erwies sich als richtig: Zunehmend<br />

konnten Erfolge erzielt und erstmals<br />

Tarifverträge abgeschlossen werden (s. S.<br />

13). Dennoch gab es auch heftige Arbeitskämpfe<br />

– Tabakarbeiter, Bäcker und Brauer<br />

waren vor dem Ersten Weltkrieg mehrmals<br />

im Streik. Um den wachsenden Einfluss der<br />

Gewerkschaftsverbände zurückzudrängen,<br />

gingen auch die Arbeitgeber aggressiv vor<br />

und sperrten mehrmals die Arbeiter aus, um<br />

die Streikkasse zu schwächen.<br />

Aus dieser Entwicklung heraus begannen die<br />

nach Berufssparten gegliederten Gewerkschaften<br />

früh, über Fusionen nachzudenken.<br />

Bereits 1892 zogen die Gewerkschaften<br />

im Nahrungsmittelbereich eine gemeinsame<br />

Organisation in Erwägung, doch erst<br />

kurz vor dem Ersten Weltkrieg fanden die<br />

ersten Zusammenschlüsse statt. Bis 1927,<br />

als der Verband der Nahrungsmittel- und<br />

Getränkearbeiter (VNG) gegründet werden<br />

konnte, bedurfte es noch verschiedener<br />

Zwischenschritte. Der Deutsche Tabakarbeiter-Verband<br />

(DTAV) schloss sich früh mit<br />

der Gewerkschaft der Zigarrensortierer und<br />

Kistenbekleber zusammen, trat aber dem<br />

VNG nicht bei. Im Gastgewerbe konnte sich<br />

1920 der Zentralverband der Hotel-, Restaurant-<br />

und Caféangestellten (ZVHRC) bilden,<br />

aber einige Berufsverbände aus der Branche<br />

blieben ihm weiterhin fern.<br />

Außerdem waren die Gewerkschaften<br />

politisch unterschiedlich ausgerichtet: Es<br />

gab neben den freien Gewerkschaften auch<br />

liberale und christliche Verbände. Dies<br />

machte insbesondere in der zweiten Hälfte<br />

der Weimarer Republik unter der politischen<br />

Radikalisierung des Landes den Gewerkschaften<br />

zunehmend Schwierigkeiten.<br />

Während die Gewerkschaften im Ersten<br />

Weltkrieg – obwohl sie bis kurz vor Ausbruch<br />

noch vehement für Frieden aufgerufen und<br />

demonstriert hatten – am „Burgfrieden“ teilnahmen<br />

und einem Verbot entgingen, nützte<br />

ihnen 1933 die gleiche Haltung gegenüber<br />

den Nationalsozialisten nichts: Einen Tag<br />

nach den Maidemonstrationen besetzten<br />

die Nazis die Gewerkschaftshäuser und<br />

verhafteten zahlreiche Funktionäre. Alle<br />

Gewerkschaften wurden in die „Deutsche<br />

Arbeitsfront“ überführt. In den schwärzesten<br />

Jahren der deutschen Geschichte waren die<br />

Gewerkschaften kaltgestellt – doch leisteten<br />

einige Gewerkschafter auch in den zwölf<br />

Jahren der Nazi-Diktatur Widerstand.<br />

Getrennte Wege: Einheitsgewerkschaft in<br />

Ost und West<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

geht es für Millionen Menschen vor allem<br />

darum zu überleben. Nahrungsmittel sind<br />

knapp, und die Wohnungsnot wird durch fast<br />

zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene<br />

auf der Suche nach einer neuen Heimat<br />

noch verschärft. In dieser Zeit beginnt die<br />

Geschichte des Wiederaufbaus auch der<br />

Gewerkschaften:<br />

Am 1. August 1947 tritt in Hamburg der<br />

Gründungsverbandstag der Industriegewerkschaft<br />

Nahrung-Genuss-Gaststätten für die<br />

Britische Zone zusammen. Im Mai 1949 kommen<br />

in München die Landesgewerkschaften<br />

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