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SPORTaktiv Oktober 2016

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Schon komisch, aber das erste,<br />

was mir nach dem Überqueren<br />

der Ziellinie am Kardungh La-<br />

Pass, auf 5.602 Meter, durch<br />

den Kopf geht, ist: Die Crocodile-Trophy<br />

war schon beinhart – aber dort<br />

kriegst wenigstens Luft ...<br />

Dass ich jetzt, am höchsten befahrbaren<br />

Pass der Welt, trotzdem mit<br />

geschwellter Brust da stehe, liegt wahrlich<br />

nicht an prall gefüllten Lungenflügeln,<br />

sondern einzig und allein an der<br />

Tatsache, dass ich bei diesem Wahnsinnsrennen<br />

– bei dem man sechs Tage<br />

lang nach jedem einzelnen Sauerstoffmolekül<br />

giert und die Ausfallrate so<br />

hoch ist wie bei keinem anderen Bikerennen<br />

weltweit – einer von nur zwölf<br />

bin, die es bis ins Ziel schafften. Und<br />

das in meinem Fall sogar mit der zweitbesten<br />

Zeit.<br />

Gespürt hatte ich die Höhe zum<br />

ersten Mal schon bei der Ankunft in<br />

unserem Hotel in Leh: Die Hotelboys<br />

waren mit dem Gepäck (Bikebag und<br />

Tasche zu je 23 kg) die Stiegen hinauf<br />

gelaufen – ich folgte: erste Stufe, zweite<br />

Stufe, dritte Stufe, … gefühlte 160<br />

Puls. Vierte Stufe, fünfte Stufe – 5 Sekunden<br />

Pause und am Geländer anhalten.<br />

Schon hier, auf 3.500 m Höhe, zeigte<br />

also der geringe Anteil an Sauerstoff<br />

(korrekterweise der geringe Partialdruck)<br />

seine Wirkung.<br />

„EINFAHREN“ AUF 4.500 M<br />

Am Flughafen, im Hotel, in der Stadt,<br />

überall sieht man die Verhaltensregeln<br />

für die Anpassung an die Höhe: Bettruhe<br />

in den ersten 24 Stunden nach Ankunft,<br />

nicht Rauchen, absolutes Alkoholverbot,<br />

vermehrte Wasseraufnahme<br />

zur Vermeidung von<br />

Dehydrierung – und immer wieder der<br />

konkrete Hinweis: „Höhenkrankheit<br />

äußert sich in Kopfschmerzen, Übelkeit,<br />

Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen,<br />

Orientierungslosigkeit, Gedächtnisverlust<br />

…“<br />

Erster Tag also im Hotelzimmer,<br />

am zweiten Tag beginnt die aktive Akklimatisierung<br />

und die finale Vorbereitung<br />

aufs Rennen: Sightseeing mit<br />

dem Rad. Am dritten Tag geht’s im<br />

Trainingstempo auf 4.000 m, am vierten<br />

auf 4.500 m. Der Körper funktioniert<br />

und hat sich an die Höhe angepasst:<br />

Wir messen mit dem<br />

Pulsoxymeter eine Sauerstoffsättigung<br />

Der Extrembiker<br />

DR. PETER URDL, 49, ist Techniker in<br />

der Forschungabteilung einer Elektronikfirma,<br />

lebt mit seiner Frau und<br />

seinen beiden Kindern in Stainz (St).<br />

Der (lt. Eigendefinition) „Sportsüchtige“<br />

fuhr schon die Titandesert-Tour<br />

in Marokko, die Crocodile Trophy in<br />

Australien, die Mongolia Bike Challenge<br />

in der Mongolei und die Transrockies<br />

in Kanada. Nun wurde er<br />

Zweiter beim Himalayan Highest<br />

MTB-Race in Indien.<br />

KONTAKT: p.urdl@gmx.at<br />

von 93%. Dieser Wert entspricht einer<br />

idealen Anpassung an die Höhenlage<br />

von 3.500 m. Den letzten Schliff hole<br />

ich mir über die unendlichen Serpentinen<br />

auf der Südseite des Kardungh La-<br />

Passes, die GPS-Uhr zeigt erstmals über<br />

5.000 m Seehöhe an; my heart makes<br />

bum bum … ein kleiner Vorgeschmack<br />

auf das Rennen.<br />

Im Briefing am Vorabend zur ersten<br />

Etappe erklärt uns der italienische<br />

Veranstalter sein Erfolgsrezept: 30 %<br />

Kondition und Fitness, 30 % Schlafen,<br />

Essen, Trinken, 30 % Anpassung an die<br />

Höhe, 10 % mentale Stärke. „Wenn ihr<br />

diese vier Grundbausteine mitnehmt,<br />

könnt ihr am Ende des Rennens Finisher<br />

sein.“ Na dann: Die erste Etappe<br />

kann kommen ...<br />

PROMINENTER WINDSCHATTEN<br />

Wir lassen den Startbogen mit dem<br />

Schriftzug „Himalayan Highest MTB<br />

Race“ rasch hinter uns, und folgen dem<br />

Indus-Tal flussaufwärts. Von der Schotterpiste<br />

blickt man teilweise bis zu 200<br />

Meter tief zum Indus hinunter, links<br />

und rechts begleiten uns Sechstausender.<br />

Auf der Strecke habe ich bald einen<br />

starken Partner gefunden – Gilberto<br />

Simoni, 2-facher Sieger des Giro d’ Italia.<br />

Der einstige Superstar lässt sich<br />

hier beim Windschattenfahren nicht<br />

lang bitten, ist immer fair und bereit,<br />

abwechselnd vorne im Wind zu fahren.<br />

Zum Verständnis: Die körperliche<br />

Belastung auf dieser Höhe entspricht<br />

ca. der doppelten Belastung auf Meeresniveau.<br />

Vier Stunden Fahrtzeit auf<br />

4.500 m Seehöhe wären ca. acht Stunden<br />

daheim in der Weststeiermark.<br />

Das gleiche gilt für die Erholung, auch<br />

da braucht der Körper doppelt so lang.<br />

Und auf dieser Höhenlage einmal im<br />

Kräftedefizit – immer im Kräftedefizit.<br />

Auf der 2. Etappe atmen wir erstmals<br />

im Renntempo „5.000 m-halbierte“-Sauerstoffpartikel.<br />

Die prachtvolle<br />

Landschaft nimmt dir zusätzlich den<br />

Atem, das Zeltlager auf 4.700 m ist<br />

schon eine echte Herausforderung.<br />

Auch hier misst der indische Arzt wieder<br />

die Sauerstoffsättigungswerte und<br />

nimmt zwei Fahrer aus dem Rennen.<br />

Mir gibt mein Messwert von 87 % auch<br />

die mentale Sicherheit, dass ich vollkommen<br />

akklimatisiert bin und meinen<br />

Körper voll belasten kann. Gut so,<br />

denn nun kommen die höchsten Himalaya-Pässe.<br />

Über unzählige Serpentinen<br />

schlängelt sich an Tag 3 der Weg<br />

zur Passhöhe, die Steigungen sind mit<br />

maximal 8 % aber relativ moderat.<br />

Zwei Stunden dauert der stetige Anstieg<br />

hinauf, dann bin ich am Tanglang<br />

La. „5.360 m“ zeigt der Höhenmesser.<br />

„THE SKY IS THE LIMIT“<br />

Tag 4: Rauf zum 5.320 m hohen Chang<br />

La, als Belohnung dürfen wir in einem<br />

Kloster schlafen. Als hätte ich nicht<br />

schon meine ganzen Sünden abgebüßt.<br />

Die 5. Etappe führt uns entlang<br />

des Shyok-Rivers – eine Rumpelpartie<br />

im Flussbett, bei der mein vollgefedertes<br />

Scott-Spark wieder sein Können<br />

zeigt und mir zum 3. Etappensieg verhilft.<br />

Wir sind auf 3.200 m Seehöhe, der<br />

tiefste Punkt des Rennens – es fühlt<br />

sich wie in einem Sauerstoffzelt an.<br />

Der Abschluss ist das Einzelzeitfahren<br />

„The sky is the limit“ rauf auf<br />

den Kardungh La-Pass, auf 5.602 m.<br />

Eine Etappe des Quälens, der Schmerzen,<br />

der Selbstüberwindung, aber auch<br />

der Freude und überschäumenden<br />

Emotionen. Wieder geben welche der<br />

anfangs 23 Starter auf, mich aber trennen<br />

nur noch diese 55 km von meinem<br />

absoluten sportlichen Höhepunkt. Im<br />

wahrsten Sinn des Wortes – noch nie<br />

war ich dem Himmel so nah ...<br />

Nr. 5, <strong>Oktober</strong> / November <strong>2016</strong><br />

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