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06<br />
Partnerschaft<br />
Auf der Suche nach der Vergangenheit<br />
Als der Zweite Weltkrieg Europa in Schutt und Asche legte, dachten viele gezwungenermassen<br />
nur ans eigene Überleben. Und doch gab es immer auch solche, die mehr taten. In einer der grössten<br />
Hilfsaktionen des Schweizerischen Roten Kreuzes wurden in der Zeit von 1942 bis 1955 rund 180 000<br />
«Kriegskinder» von Gastfamilien in der Schweiz aufgenommen. 60 Jahre später erzählt Faustin<br />
Carigiet von seinen Erlebnissen mit seinen beiden Pflegegeschwistern und der Suche nach ihnen.<br />
Es war ein Tag im Spätwinter 1947, als der<br />
siebenjährige Faustin Carigiet sich zusammen<br />
mit seiner Mutter aufmachte, einen kleinen<br />
Jungen vom Bahnhof Tavanasa abzuholen.<br />
Die Familie Carigiet aus Brigels im Kanton<br />
Graubünden war eine von schweizweit rund<br />
100 000 Familien, die sich an der Hilfsaktion<br />
des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK)<br />
zugunsten von kriegsgeschädigten Kindern<br />
beteiligte. «Nie werde ich dieses Bild vergessen,<br />
als ich Fredi Skrivenek das erste Mal<br />
sah: Aus dem Zug stieg ein blasser, halbverhungerter<br />
Junge – ein Kind am Ende seiner<br />
Kräfte. Um den Hals trug er ein Schild des<br />
SRK, auf dem sein Name stand», erinnert<br />
sich der heute 69-jährige Faustin Carigiet.<br />
Auf dem Bauernhof seiner Eltern angekommen,<br />
schenkten die Eltern Carigiet dem Jungen,<br />
der vermeintlich aus Berlin kam, besonders<br />
viel Aufmerksamkeit. In den drei Monaten<br />
während seines Aufenthaltes tat man<br />
alles, was im Rahmen der bescheidenen Mittel<br />
eben möglich war, um den kleinen Fredi<br />
aufzupäppeln und ihn von den Schrecken des<br />
Krieges, und doch auch vom Heimweh, abzulenken.<br />
Doch die Nachkriegsjahre waren<br />
auch in Brigels hart: Da der Bauernbetrieb<br />
der Carigiets nicht genug abwarf, um eine<br />
zwölfköpfige Familie zu finanzieren, liess sich<br />
Vater Jakob nebenbei zum Säger ausbilden.<br />
Auch Mutter Julia hatte mit der Erziehung der<br />
Kinder und der Arbeit auf dem Hof keine<br />
leichte Zeit. Dennoch nähte und strickte sie<br />
die Nächte durch, um Fredi Skriveneks abgetragene<br />
und zerschlissene Sachen durch<br />
neue Kleider zu ersetzen. In das Innenfutter<br />
seines Kindermantels nähte die gelernte<br />
Schneiderin ein wenig Geld ein, damit man<br />
es ihm bei der Heimreise an der Grenze nicht<br />
abnehmen konnte. Selbstverständlich dauerte<br />
es nicht lange, bis Faustin sich damals<br />
«Wenn es einen Weg<br />
gibt, während des Krieges<br />
zehn Mäuler zu stopfen,<br />
reicht es nach dem Krieg<br />
auch für ein elftes.»<br />
eifersüchtig über den gleichaltrigen Neuankömmling<br />
beschwerte. «Mein Vater entgegnete<br />
mir damals in strengem Ton, dass wenn<br />
es einen Weg gebe, während des Krieges<br />
zehn Mäuler zu stopfen, es nun allemal auch<br />
für ein elftes reiche. Diese Ermahnung meines<br />
Vaters, mit anderen zu teilen, dieses Gebot<br />
zur Nächstenliebe ist mir bis heute geblieben»,<br />
erzählt Faustin Carigiet.<br />
Die Suche nach der eigenen Geschichte<br />
2009, also über 60 Jahre nach Fredis Aufenthalt<br />
in der Schweiz, feiert die Bauunternehmung<br />
Gebrüder Carigiet AG das 45-jährige<br />
Firmenbestehen. Anlässlich des Jubiläums<br />
begann man, sich mit der Gründungsgeschichte<br />
des Familienunternehmens zu befassen.<br />
«Unser Vater hatte uns auch bei der Gründung<br />
unserer Firma unterstützt. Einmal mehr<br />
wurde uns bewusst, was unsere Eltern, trotz<br />
der schweren Zeiten, in ihrem Leben alles<br />
geleistet hatten. Und dann fielen uns auf<br />
einmal auch diese beiden Kriegskinder wieder<br />
ein, die meine Eltern während einiger<br />
Monate bei sich aufgenommen hatten: 1947<br />
Fredi Skrivenek und im Winter 1952/1953<br />
dann ein fünfjähriges Mädchen, Gertrude<br />
Nowak. Wir fragten uns, was wohl aus ihnen<br />
geworden war», erzählt Faustin Carigiet<br />
weiter. Die Geschwister Carigiet überlegten<br />
gemeinsam, wie man die Kinder von damals<br />
ausfindig machen könnte. Schliesslich erinnerte<br />
man sich an die SRK-Namensschilder,<br />
die die beiden kleinen Ankömmlinge aus der<br />
Fremde damals um den Hals getragen hatten,<br />
und wandte sich an die Geschäftsstelle<br />
des SRK in Chur.<br />
Nicole Windlin, Leiterin des Suchdienstes<br />
beim SRK: «Noch heute erinnern sich viele<br />
Menschen an die Scharen erschöpfter Kriegskinder<br />
mit den Rotkreuz-Namenstäfelchen,<br />
die damals an den Schweizer Bahnhöfen auf<br />
ein besseres Leben und ein Stückchen Normalität<br />
warteten. Bis zum Ende der Kinderhilfe-Aktion,<br />
die von 1942 bis 1955 dauerte,<br />
wurden rund 180 000 unterernährte Kinder<br />
von Pflegefamilien in der Schweiz aufgenommen<br />
und während einiger Monate betreut.<br />
Jedes Kind wurde vom SRK auf einer Karteikarte<br />
mit Namen, persönlichen Angaben zur<br />
Situation und dem Namen der Gastfamilie<br />
registriert. Diese Karteikarten, die alle im<br />
SRK-Archiv innerhalb des Bundesarchives<br />
gelagert sind, ermöglichen uns heute die<br />
Suche nach den Gastfamilien und den Kindern.»<br />
Bei der Suchanfrage von Familie Carigiet<br />
habe die Karteikarte sogar den entscheidenden<br />
Hinweis gegeben: Man habe<br />
die Karte von Fredi Skrivenek gefunden und<br />
entdeckt, dass das Kind nicht wie angenommen<br />
aus Berlin, sondern aus Wien stammte.<br />
In Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz in<br />
Österreich habe man schliesslich die aktuelle<br />
Adresse von Fredi Skrivenek ermitteln können<br />
und ihn schriftlich angefragt, ob er mit<br />
seiner ehemaligen Pflegefamilie in Kontakt<br />
treten wolle. Ein Kontakt werde nämlich nur<br />
mit Einverständnis der gesuchten Person<br />
hergestellt, betont Nicole Windlin. «In der �