04.11.2016 Aufrufe

ci_gangart7_200dpi

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge hat Ende des 18. Jahrhunderts<br />

festgehalten, dass im Wachen die Bilder Empfindungen<br />

hervorrufen, während im Traum die Empfindungen Bilder inspirieren.<br />

Das könnte ein Einstieg sein – in eine Wirklichkeit, die ihr Geheimnis<br />

hütet bis zum heutigen Tag.<br />

Historische Spuren I<br />

Die Welt der Träume hat von jeher Menschen angezogen, inspiriert<br />

und verunsichert. Traumbücher, in denen Träume als Offenbarungsmedium<br />

göttlichen oder dämonischen Ursprungs, aber auch als<br />

Spiegel der menschlichen Seele gehandelt und systematisiert wurden,<br />

sind spätestens seit der Antike fixer Bestandteil einer privatreligiösen<br />

Subkultur. Bis das grelle Licht der Aufklärung auf sie fiel und als<br />

nutzlose, verzerrende oder gefährliche Truggespinste brandmarkte.<br />

Fran<strong>ci</strong>sco de Goya malte sich aus, was viele zu dieser Zeit dachten<br />

und betitelte damit 1799 eine seiner Radierungen aus den Caprichos:<br />

El sueño de la razón produce monstruos. Der Schlaf der Vernunft gebiert<br />

Ungeheuer. Mit der Aufklärung wird das Auge zum bevorzugten<br />

Sinnesorgan. Um in der Tageshelle die Wahrheit zu erblicken, war man<br />

bereit, dafür die anderen Sinne zu opfern und das, was in der Nacht<br />

mit uns passiert, geflissentlich auszuklammern. Wer beiden Welten<br />

lauschen wollte, war auch zuvor schon ein Grenzgänger – wie jener<br />

Odysseus aus Ithaka, der sich auf seinen Irrfahrten dem betörenden<br />

Gesang der Sirenen nur hingeben konnte, indem er sich von seinen<br />

Gefolgsleuten an den Schiffsmast binden ließ – nicht ohne vorher deren<br />

Ohren mit Wachs verschlossen zu haben, damit sie weiterrudern<br />

konnten.<br />

Doch es wäre falsch, sich die fortan verbotenen Verlockungen,<br />

von denen hier die Rede ist, nur als entrückte Ungeheuerlichkeit<br />

vorzustellen. Der Albtraum der neuen Rationalität beginnt<br />

schon dort, wo der Mensch sich nicht in die Apparatur<br />

der maschinellen Produktion hineinzwängen lässt. In<br />

diesem Sinne hat auch die Taugenichts-Figur, die Joseph<br />

von Eichendorff 1823 entwirft, gegen-aufklärerische<br />

oder zumindest Industrie-kritische Züge. Es ist für<br />

die Zeit skandalös, wie sehr dieser Figur die bürgerlichen<br />

Kardinaltugenden Fleiß und Effektivität fehlen. Seine<br />

Abneigung gegen das Arbeitsame drückt sich in seiner<br />

Schlafsucht aus: keine Reise, kein Tun, ohne dass er dem<br />

Schlaf verfällt: „Ich wollte mir doch Italien recht genau besehen<br />

und riß die Augen alle Viertelstunden weit auf. Aber<br />

kaum hatte ich ein Weilchen so vor mich hingesehen, so<br />

verschwirrten und verwickelten sich mir die sechzehn Pferdefüße<br />

vor mir wie Filet so hin und her und übers Kreuz,<br />

daß mir die Augen gleich wieder übergingen, und zuletzt<br />

geriet ich in ein solches entsetzliches und unaufhaltsames<br />

Schlafen, daß gar kein Rat mehr war.“<br />

Nicht nur sein Geigenspiel ist „brotlose Kunst“, durch<br />

sein Schlafen verweigert er sich einer auf Nutzen und<br />

Gewinn ausgerichteten Welt und begibt sich in das für<br />

die Vernunft unzugängliche Reich der Träume. Daneben<br />

frönt er einer weiteren symptomatischen Verhaltensweise:<br />

dem Ersteigen von Bäumen. Um zu fliehen, sich zu<br />

verstecken, zur eigenen Belustigung oder – um zu schlafen;<br />

in der Blätterkrone entzieht er sich den Forderungen<br />

seiner Umgebung, ist unauffindbar, und wird noch dazu<br />

mit einem weiten Ausblick in das Land hinaus belohnt.<br />

Die Sicherheit, mit der Taugenichts in diesem Land<br />

unterwegs ist, hat etwas Traumwandlerisches – jenseits<br />

geläufiger Kategorien und Wegweiser.<br />

> Fortsetzung nächste Seite<br />

gangart 13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!