seitenbühne Nr. 6 - Niedersächsische Staatstheater Hannover
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audiamus!<br />
Proszenium <strong>seitenbühne</strong> | Seite 3<br />
Samstag, 6. Oktober 2007: Im Laves-Foyer treffen sich frühmorgens, mit<br />
großen Partituren bewaffnet, knapp 20 junge Menschen, um sich den ganzen<br />
Tag über einem einzigen Tun zu widmen: dem Hören von Musik. Dem gemeinsamen<br />
Hören, Analysieren und Diskutieren von Tönen, Melodien,<br />
Rhythmen, Harmonien, Klangfarben und Interpretationen. Unter dem Motto<br />
audiamus werden diese musikbegeisterten Jugendlichen, die von der Staatsoper<br />
in das gleichnamige Stipendiatenprogramm aufgenommen wurden, in den<br />
nächsten Monaten immer wieder zusammenkommen und die Arbeit und<br />
zahlreiche Konzerte des <strong>Niedersächsische</strong>n Staatsorchesters begleiten.<br />
Sicher erinnern sich einige von Ihnen, verehrtes Publikum, bei audiamus an<br />
auswendig zu lernende lateinische Flexionstabellen und vielleicht auch an die<br />
besondere Form des Conjunctivus adhortativus: eine Aufforderung, die sich an<br />
mehrere Personen richtet, zu denen sich der Sprecher selbst auch rechnet.<br />
Audiamus von audire (hören) ist ein solcher Adhortativ, für den das Deutsche<br />
jedoch keine direkte Übersetzung kennt. Wir können diese Form nur umschreiben<br />
mit einem „Lasst uns hören!“ oder „Wir wollen hören!“ Eine Aufforderung<br />
also an ein gemeinsames Tun und kein einseitig imperativisches audi (höre!)<br />
oder audite (hört!).<br />
Audiamus – unter diesem Motto des gemeinsamen Hörens versammeln sich<br />
nicht nur die Stipendiaten in ihren Workshops, sondern auch Sie sich als unser<br />
Opern- oder Ballettpublikum und natürlich als unser lauschendes Auditorium in<br />
den Konzerten des Staatsorchesters. Hier, im Konzertsaal, steht das Hören ganz<br />
im Vordergrund, werden die Ohren zum alleinigen Aufnahmeort für die Kunst.<br />
Hier wird ein Sinn gefordert, der in unserer immer stärker visuell geprägten<br />
Gesellschaft über die Jahrhunderte an Bedeutung verloren hat. So nahm das Ohr<br />
noch einen besonderen Stellenwert in den mündlichen Kulturen der Antike ein,<br />
in denen die Schriftlichkeit erst in den Kinderschuhen steckte. Riesengroß sind<br />
etwa die Ohren der im mexikanischen Chichen-Itzá entdeckten Kriegerfiguren<br />
aus dem 8. Jahrhundert. Und in medizinischen Texten aus dem alten Ägypten<br />
wird überliefert, dass die Ohren als Eintrittsstelle für den Lebens- bzw. Todeshauch<br />
gegolten haben.<br />
Eine Eintrittstelle in eine fremde Welt zu sein, „dem Menschen ein unbekanntes<br />
Reich aufzuschließen“ (E.T.A. Hoffmann) – das wurde auch immer wieder dem<br />
Hören von Musik zugesprochen, denn im Konzertsaal entstehen Bilder und<br />
Ideen, die wir weder rational begreifen noch in Worte fassen können. Lassen<br />
wir uns so gemeinsam mit den Musikern des <strong>Niedersächsische</strong>n Staatsorchesters<br />
immer wieder von der Musik entführen in fremde Welten und unbekannte Reiche!<br />
Lassen wir uns mit riesengroßen Ohren immer wieder verführen zu einem anstrengenden<br />
und intensiven, neugierigen und wachen, entspannten und genussvollen<br />
Hören!<br />
In diesem Sinne – ein herzliches audiamus!<br />
Dorothea Hartmann<br />
Konzertdramaturgin