COMPACT-Spezial "Asyl unsere Toten"
Asyl, Unsere Toten Unsere Toten, Unsere Trauer
Asyl, Unsere Toten
Unsere Toten, Unsere Trauer
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<strong>COMPACT</strong> <strong>Spezial</strong><br />
_ Unsere Toten, <strong>unsere</strong> Trauer<br />
«Wir haben Dich sehr lieb<br />
und vermissen Dich sehr»<br />
_ von Martin Müller-Mertens<br />
Nach dem Terroranschlag von Berlin steht ein Brandenburger Dorf<br />
noch immer unter Schock. Einer der Söhne von Ragösen ist unter<br />
den Opfern. Zur Beerdigung kamen Paparazzi statt Politiker. Eine<br />
Spurensuche.<br />
Im Januar fuhren<br />
die Feuerwehrautos<br />
von Bad Belzig<br />
mit Trauerflor.<br />
In den Tagen nach dem Anschlag,<br />
hier am 21.12.2016, trauerten die<br />
Berliner um die Toten. Foto: picture<br />
alliance / Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa<br />
Als das Vaterunser verklungen war, senkte sich<br />
Stille über Ragösen. Rund 300 Trauernde wollten<br />
Abschied nehmen. Nicht alle fanden Platz in der<br />
von Fachwerk geschmückten Kirche des kleinen<br />
Dorfes im brandenburgischen Landkreis Potsdam-<br />
Mittelmark. Die Übrigen harrten draußen im Frost<br />
aus – man schrieb den 7. Januar 2017. Sebastian<br />
B., einen der ihren, geleiteten sie auf seinem letzten<br />
Gang. 32 Jahre war er alt, als der Attentäter<br />
Anis Amri ihm sein Leben nahm.<br />
Die meisten deutschen Toten des Berliner Breitscheidplatzes<br />
haben bis heute weder Namen noch<br />
Gesicht. Vielleicht ist das sogar in ihrem Sinne.<br />
Wahrscheinlich wollte auch Sebastian nie bekannt<br />
werden. Er war kein Held, nur ein Opfer. Er wartete<br />
in der Schlange eines Glühweinstandes, als Anis<br />
Amri den gekaperten Sattelschlepper von der Hardenbergstraße<br />
in den belebten Weihnachtsmarkt<br />
lenkte. Was er dachte, fühlte, hoffte in jenen Augenblicken,<br />
als Tonnen von Stahl auf ihn zuschossen –<br />
niemand wird es jemals erfahren. Es waren die letzten<br />
Sekunden eines Lebens, das doch erst am Beginn<br />
seiner Blüte stand. Zurück bleibt Hilflosigkeit:<br />
«Unsere Hände erreichen Sebastian nicht mehr. Wir<br />
können nichts mehr für ihn tun», sagte Pfarrer Jens<br />
Meiburg während der Messe und richtete sich dann<br />
direkt an Gott: «Halte ihn fest in Deiner Treue und<br />
lass uns nicht allein in <strong>unsere</strong>m Kummer.»<br />
Ein Schal von Borussia<br />
Es ist Ende Februar, gut zwei Monate nach der<br />
Todesfahrt von Berlin – die Vorboten des Frühlings<br />
legen sich über Ragösen, ein Straßendorf am Randes<br />
des Flämings. Die ersten Hügel des eiszeitlichen<br />
Höhenzuges erheben sich am Ende des Ortes.<br />
Kaum einen der 600 Einwohner treffen wir auf<br />
der Straße. Die Bäckerei Krause hat Ruhetag, der<br />
alte Dorfkonsum ist wohl schon längere Zeit verwaist.<br />
Ein halbes Dutzend Bauarbeiter errichtet eine<br />
neue Bushaltestelle. Ein Schotterbett kündet von<br />
der längst aufgegebenen Bahnlinie. Keine hundert<br />
Meter neben dem Friedhof harkt Walter F. (Name<br />
geändert) seinen Garten. «Ja, Sebastian», sagt er<br />
mit leiser Stimme. «Klar kannte ich ihn, ich war ja<br />
sein Lehrer. Er war sehr ruhig, gewissenhaft. Hat<br />
immer seine Arbeit gemacht.» Walter F. denkt an<br />
die Mutter und wirkt mit einem Male fast ängstlich:<br />
«Die arme Frau. Geh’n Sie da bloß nicht hin...»<br />
Das kurze Leben des Sebastian B. begann am<br />
20. September 1984. Es war ein Donnerstag. Das<br />
Wetteramt der DDR meldete 17 Grad Celsius. In<br />
Belzig, Bezirk Potsdam, brachte Ilona B. einen Sohn<br />
zur Welt – während in der libanesischen Hauptstadt<br />
Beirut ein Selbstmordattentäter mit seinem sprengstoffbeladenen<br />
Auto die Absperrung der US-Botschaft<br />
durchstieß – 22 Menschen starben.<br />
Von Sebastians Jugend sind nur Bruchstücke bekannt,<br />
auch heute bleiben die Ragösener darüber im<br />
Ungefähren. Als Kind hat er gern gebastelt, sagte<br />
der Pfarrer während der Trauerrede. Vielleicht spielte<br />
er im Schatten jener Linde neben dem Kriegerdenkmal,<br />
die seit 1910 Luise, Preußens Königin der<br />
Herzen, gewidmet ist. Vielleicht fieberte er mit den<br />
Fußballern des SV Eiche Ragösen. Auf seinem Grab<br />
liegt ein Fanschal von Borussia Dortmund. Irgendwann<br />
wird er das erste Mal verliebt gewesen sein.<br />
12<br />
Im Jahr von Sebastians Geburt lernte Irene M.<br />
(Name geändert) ihren Mann kennen, 1986 zog sie<br />
in das Dorf in der märkischen Provinz. Nun, Ende Fe-