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COMPACT-Spezial "Asyl unsere Toten"

Asyl, Unsere Toten Unsere Toten, Unsere Trauer

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<strong>COMPACT</strong> <strong>Spezial</strong><br />

_ Unsere Toten, <strong>unsere</strong> Trauer<br />

Das Mädchen und der Tod<br />

_ von Marc Dassen<br />

Jetzt hat sie gar nichts mehr. Anis Amri, der Loser, Spieler, Attentäter vom Berliner<br />

Breitscheidplatz, nahm der 22-jährigen Valeriya den Vater und die Mutter. Doch statt<br />

Mitgefühl und Hilfe vom Staat zu erhalten, gerät sie in die Mühlen der rot-rot-grünen<br />

Bürokratie. Ein Armutszeugnis.<br />

Ihr Lächeln wirkt seltsam kühl auf den Fotos, die<br />

die Reporter der Bild-Zeitung in ihrer dreiteiligen<br />

Serie über sie abdrucken. Tief hinter den blaugrünen<br />

Augen des Mädchens meint man den Abgrund<br />

an Traurigkeit zu erahnen, der sich heute in ihr auftut.<br />

Es sind Tore zu einer gemarterten Seele. Die<br />

Berliner Studentin Valeriya Bagratuni, jung, blond,<br />

bildhübsch, steht vor dem Nichts wie vor einem tiefschwarzen<br />

Loch, dass ihr Lebensglück, ihre Zukunft<br />

zu verschlingen droht.<br />

Ihre Mutter Anna und ihr Vater Georgiy, beide<br />

erst 44 Jahre jung, kamen vor 15 Jahren aus der<br />

ukrainischen Hauptstadt Kiew nach Berlin, als Valeriya<br />

noch ein kleines Mädchen war. Sie eine Ingenieurin,<br />

er selbstständiger Unternehmer mit einer<br />

eigenen Computerfirma, waren seit 25 Jahren<br />

verheiratet, hatten ein eigenes Haus – und eine<br />

wunderbare Tochter. Familienfotos zeigen die drei<br />

kurz vor der Katastrophe im Glück vereint vor einem<br />

geschmückten Weihnachtsbaum. Eine einzige kalte<br />

Nacht genügte, um die Zukunft dieser Familie zu<br />

vernichten. Das einzige Kind steht nun einsam vor<br />

den Scherben seiner Existenz.<br />

Erste Meldungen von diesem schrecklichen Ereignis<br />

erreichen sie gegen 21 Uhr. Die Tochter hat<br />

ihr Handy im Hotel vergessen und versucht daher,<br />

ihre Eltern mit dem Telefon ihres Freundes zu kontaktieren,<br />

immer wieder. Nichts. «Beide gingen<br />

nicht ran, aber ich habe mir keine Sorgen gemacht»,<br />

so die 22-Jährige gegenüber Bild. Als sie dann bei<br />

ihren Nachbarn anruft, teilen die ihr mit, dass das<br />

Auto ihrer Eltern nicht in der Einfahrt steht. «Ich<br />

hatte mir vorgenommen, sauer auf meine Eltern zu<br />

sein – weil ich mir umsonst Sorgen gemacht habe»,<br />

erinnert sie sich. «Ich wollte den Gedanken, dass<br />

meinen Eltern etwas zugestoßen ist, einfach nicht<br />

zulassen.» Es folgt eine unruhige Nacht. Der Vater<br />

ihres Freundes ist zwar Notarzt in Berlin, doch<br />

auch er kann ihr keine Gewissheit verschaffen. Die<br />

Telefonleitungen für Angehörige sind ständig belegt.<br />

Valeriya Bagratuni. Foto: Screenshot<br />

Bild Online<br />

«Ich wollte den Gedanken,<br />

dass meinen<br />

Eltern etwas<br />

zugestoßen ist, einfach<br />

nicht zulassen.»<br />

Valeriya<br />

Anna und Georgiy Bagratuni.<br />

Ilustration: IF<br />

Gegen halb sechs an jenem Vorweihnachtsabend<br />

tippt Valeriya die letzte Nachricht an ihre<br />

Eltern in ihr Smartphone. Warum die beiden nach<br />

einem langen Arbeitstag noch ausgerechnet zum<br />

Breitscheidplatz fahren, wird sie wohl nicht mehr<br />

erfahren. «Wir waren vorher nie auf diesem Weihnachtsmarkt.<br />

Es gibt doch so viele andere in Berlin»,<br />

erzählt sie den Bild-Journalisten, die als einzige mit<br />

ihr sprechen konnten.<br />

Quälende Ungewissheit<br />

Genau acht Minuten, bevor Amri den Sattelschlepper<br />

in die belebte Gasse des Weihnachtsmarktes<br />

steuert, ihre Eltern und ein Dutzend weitere<br />

Menschen überrollt, nimmt ihr Vater noch einen<br />

letzten Schnappschuss auf, den er seiner Tochter<br />

kommentarlos aufs Handy schickt. Darauf zu sehen<br />

ist ihre Mutter. Lächelnd hält sie eine rote Tasse<br />

Glühwein in die Kamera. Valeriya ist gerade mit ihrem<br />

Freund Malte in Hamburg unterwegs, erledigt<br />

noch einige Geschenkeinkäufe, als sie das letzte<br />

Lebenszeichen empfängt.<br />

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