2008-03
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Stadtgeschichte<br />
der Gaststube geschrieben. Bei Panschereien durfte der<br />
Ertappte „hinfüro sein Lebtag nie wieder zappen.“ Gastfreundschaft<br />
und tätige Nächstenliebe waren ebenfalls<br />
strengsten Geboten unterworfen. Soziale Gesichtspunkte<br />
hatten da keine Chance. Im Wortlaut ist zu lesen: „Wer die<br />
Geborgenheit innerhalb einer Zunftgemeinschaft nicht<br />
nachweisen kann, soll an den Pranger gestellt und mit<br />
Ruten ausgestrichen werden. Hehler und Herberger, welche<br />
solchem Gesindel Essen und Wohnung geben, sollen<br />
an Leib und Leben bestraft werden. Wer solche Personen<br />
entdeckt, dass sie ergriffen werden, soll bei Verschweigen<br />
seines Namens eine Belohnung erhalten.“<br />
Johannes Koch, der letzte Zunftmeister der Gastwirts-<br />
und Bäckerfamilie Koch, die durch vier Generationen<br />
der Bäckerzunft angehört hatte, erlebte noch kurz<br />
vor seinem Tod 1815 das Ende der Zünfte. Im großen<br />
Sitzungssaal des Siegener Rathauses wurde das Fürstentum<br />
Nassau Siegen an die Beauftragten des Königs von<br />
Preußen übergeben.<br />
Heinrich Koch, Enkel des Gründers von Kochs Ecke<br />
und Vater der Geschwister Ernst und Elisabeth, erhielt<br />
1907 die Wirtekonzession für sein Elternhaus. Hundert<br />
Jahre später denkt Elisabeth Koch an ihre Kindheit zurück.<br />
Sie erinnert sich an die Mobilmachung 1914, den<br />
Auszug der Soldaten, die von der jubelnden Bevölkerung<br />
auf der Koblenzer Straße flankiert wurden. Da war<br />
sie gerade frisch eingeschult. Die Vollendung der Ausbaupläne<br />
für das stattliche Schieferhaus mussten wegen<br />
Einberufung von Gastwirt Heinrich Koch zurückgestellt<br />
werden.<br />
Sorgfältig gebündelt und aufbewahrt hat Elisabeth Koch<br />
die Briefe ihrer Eltern aus den ersten beiden Kriegsjahren.<br />
Der Briefwechsel zwischen Front und Heimat wirft ein<br />
Licht auf den Siegener Kriegsalltag. Lina Koch schreibt<br />
im Februar 1915 an ihren Ehemann: „Du fragst, wie ich<br />
mit der Bäckerei fertig werde. Soweit ganz gut, obwohl wir<br />
strenge Vorschriften haben. Jetzt dürfen wir nur Einheitsbrötchen,<br />
Einheitsbrot und Kriegszwieback backen: Man<br />
kann jetzt mehr verkaufen als backen, weil jeder für Vorrat<br />
sorgt.“ Der Mann an der Front schreibt zurück: „In dieser<br />
schweren Zeit erkennt man erst, was ein treues, herzensgutes,<br />
pflichtbewusstes Weib dem Manne wert ist.“ Lina<br />
Koch starb 1916 im 30. Lebensjahr. Die Doppelbelastung<br />
als Geschäftsfrau und Mutter hatte ihre Kräfte überfordert.<br />
Die Rolle der zweiten Mutter übernahm Haushälterin<br />
Wilhelmine Nolte, die Jahre später Heinrich Kochs Frau<br />
wurde. Der Kriegsheimkehrer hat seine Umbaupläne noch<br />
verwirklichen können. Technischer Fortschritt und die<br />
wirtschaftliche Entwicklung ließen die verschlafene Bergmannsstadt<br />
in den kommenden Jahren nach und nach zu<br />
einer Kleinstadt mit blühender Industrie werden. Der Ausbau<br />
neuer Straßen- und Bahnlinien hatte das Siegerland aus<br />
der Verkehrsferne befreit. Der um mehrere Fremdenzimmer<br />
erweiterte Hotelbetrieb wurde für Reisende aus dem In- und<br />
Ausland eine begehrte Adresse.<br />
Statt der rumpelnden Pferdekutschen brausten jetzt<br />
Benzinkutschen über die Koblenzer Straße. Eine Berliner<br />
Zeitung begrüßte das neue Transportmittel enthusiastisch:<br />
„Die Verbesserung der städtischen Lebensbedingungen<br />
durch Einführung der Motorwagen kann nicht hoch genug<br />
geschätzt werden. Die Straßen bleiben sauber und geruchlos,<br />
befahren von Fahrzeugen, die sich auf Gummireifen<br />
sanft und geräuschlos dahinbewegen. Ein großer Teil der<br />
Nervenbelastung des modernen Lebens kann dadurch beseitigt<br />
werden.“<br />
Heinrich Koch erkannte die Zeichen der Zeit und richtete<br />
vor dem Gasthaus in der Mitte der heutigen Straßenkreuzung<br />
eine Tankstelle ein.<br />
Sein Sohn Ernst Koch kam nach gründlicher Ausbildung<br />
als Bäckermeister und Konditorgeselle nach Hause<br />
zurück. Sein Vater hatte das Gasthaus um einen geräumigen<br />
Laden und neue Fremdenzimmer erweitert. Ernst sollte, unterstützt<br />
von Schwester Elisabeth, Backstube und Konditorei<br />
übernehmen, während der Vater mit Frau Wilhelmine<br />
den Gastbetrieb führen wollte. Aber wieder machte der Tod<br />
Pläne und Hoffnungen zunichte. Heinrich Koch starb 1935,<br />
kaum ein Jahr nach Vollendung des Umbaus.<br />
Die Pläne Adolf Hitlers waren inzwischen fern von Kleinstadtidyllen<br />
gereift. Alles begann 1939 wie 25 Jahre zuvor:<br />
Mobilmachung auch in Siegen; nur der Jubel der Be- <br />
durchblick 3/<strong>2008</strong> 13