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2008-03

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Philosophischer Essay<br />

wortung gezogen zu werden. Diese Harvard-<br />

Kriterien hatten weltweit einen entscheidenden<br />

Einfluss auf die Feststellung des Todes und<br />

indirekt auch auf die Entwicklung der Transplantationsmedizin.<br />

Sie setzten neue Standards<br />

zur Feststellung des Todes. Zu ihnen zählten:<br />

Wahrnehmungs- und Reaktionslosigkeit (tiefes<br />

Koma), keine Atmung, keine Bewegungen, keine<br />

Reflexe und ein flaches Elektroencephalogramm.<br />

Die Hirntoddiagnostik, eine Folter?<br />

Heute gibt es bei uns in Deutschland für die<br />

Feststellung des Hirntodes umfassende Richtlinien<br />

der Bundesärztekammer auf der Grundlage von §<br />

16 des Transplantationsgesetzes. Allerdings wurden diese<br />

Richtlinien schon mehrfach geändert. Wie aber verläuft das<br />

Prozedere einer Hirntoddiagnostik? Voraussetzung für ihre<br />

Durchführung ist, dass bei dem Patienten entweder eine primäre<br />

(direkte Verletzung) oder sekundäre (z. B. Herzinfarkt),<br />

irreversible Hirnschädigung, verbunden mit einer tiefen Bewusstlosigkeit<br />

(Koma), vorliegt. Zur Diagnose gehören die<br />

sogenannten „Klinischen Untersuchungen“. Sie bestehen<br />

aus: der Pupillenreaktion, dem Puppenkopfphänomen, dem<br />

Hornhautreflex, Reaktionen auf Schmerzreize, Würg- und<br />

Hustenreflex sowie die Überprüfung der Spontanatmung<br />

(Apnoe-Test). Diese Untersuchungen werden von zwei intensivmedizinisch<br />

erfahrenen Ärzten, getrennt und unabhängig<br />

voneinander, vorgenommen und bei Erwachsenen<br />

nach einer Beobachtungszeit von 12 Stunden wiederholt.<br />

Alternativ zu der Wiederholung dieser klinischen Untersuchungen<br />

können auch apparative Untersuchungen, wie die<br />

Erstellung einer Elektroenzephalografie (EEG), oder auch<br />

andere apparative Verfahren zur Prüfung von Gehirnaktivitäten<br />

durchgeführt werden. Ein Zwischenruf zum besseren<br />

Verständnis:<br />

Ärzte, die diese Untersuchungen vornehmen, müssen zu<br />

Beginn der Untersuchung davon ausgehen, dass der Patient<br />

noch lebt. Warum ist das wichtig? Weil die Hirntoddiagnose<br />

mit ihren vorgeschriebenen Tests am Körper eines Patienten<br />

letztlich einer „Folter“ gleichkommt, die ein Arzt bei einem<br />

Lebenden niemals ohne dessen Zustimmung durchführen<br />

dürfte, ohne sich der Körperverletzung strafbar zu machen.<br />

Ich verzichte hier bewusst auf Einzelheiten. Erwähnt sei<br />

nur der Apnoe-Test, der sich nach Aussagen vieler Mediziner<br />

therapeutisch negativ auswirkt, da das ohnehin schon<br />

stark geschädigte Gehirn durch diesen Test zusätzlich erheblich<br />

belastet und noch vorhandenes Heilungspotenzial<br />

unwiederbringlich verloren geht. Der japanische Kardiologe<br />

Dr.Yoshio Watanabe ist der Auffassung, wenn die Patienten<br />

nicht dem Apnoe-Test ausgesetzt würden, könnten<br />

sie eine 60-prozentige Chance zur Rückkehr ins Leben haben,<br />

wenn sie rechtzeitig mit therapeutischer Unterkühlung<br />

behandelt würden. 6) Es gibt Mediziner, die die Hirntoddiagnostik<br />

mit dem Apnoe-Test als unethisch verurteilen<br />

und meinen, wenn die Angehörigen um die Brutalität und<br />

Risiken dieses Verfahrens wüssten, würden die meisten ihre<br />

Zustimmung verweigern. Um seine Fragwürdigkeit zu<br />

verdeutlichen, wird er verglichen mit einem Patienten, bei<br />

dem man nach einem erlittenen schweren Herzinfarkt ein<br />

Belastungs-EKG durchführt, um damit den Herzinfarkt zu<br />

bestätigen. Soweit der Zwischenruf.<br />

Sind alle Untersuchungs- und Testergebnisse der Hirntoddiagnostik<br />

negativ, d. h. der Patient zeigt auf die an ihm<br />

durchgeführten Maßnahmen keinerlei Reaktionen oder Reflexe,<br />

und das EEG weist eine Null-Linie auf, wird er für<br />

hirntot erklärt. Um den Hirntod zu dokumentieren, wird<br />

ein Formular (ein detailliertes „Protokoll zur Feststellung<br />

des Hirntodes“) ausgefüllt. Für das gesamte Prozedere sind<br />

insgesamt 8 Unterschriften notwendig. Mit der letzten Unterschrift<br />

tritt der Tod ein, sozusagen als ein bürokratischer<br />

Akt. Durch diesen diagnostischen Totenschein wird der<br />

Patient unmittelbar zu einem potenziellen und begehrten<br />

Organspender. Soweit der Verlauf der Hirntoddiagnose in<br />

Kurzfassung.<br />

Als Laie kann ich hier nur staunen, wie schnell durch die<br />

Feststellung des Hirntodes aus einem Patienten plötzlich<br />

eine Leiche wird. Und das, obwohl sich an seinem äußeren<br />

Zustand überhaupt nichts verändert hat. Er ist warm,<br />

sein Brustkorb hebt und senkt sich, sein Herz schlägt, er<br />

schwitzt und er hat eine rosige Haut. Er unterscheidet sich<br />

rein äußerlich überhaupt nicht von den anderen Patienten,<br />

die auf der Intensivstation liegen und gerätemedizinisch<br />

versorgt und überwacht werden. An ihm finden sich keinerlei<br />

äußere Zeichen des Todes. „Herz-Kreislauffunktion,<br />

Nierenfunktion, Verdauung, Regulierung des Wasser- und<br />

Mineralhaushaltes, immunologische Reaktionen und Atmung<br />

auf Zellebene sind erhalten.“ 4) Die normale menschliche<br />

Wahrnehmung des Todes mit seinen äußeren Zeichen<br />

(Atemstillstand, Herzstillstand, Leichenblässe, kalte Haut)<br />

wird bei einer Hirntoddiagnose völlig außer Kraft gesetzt.<br />

Einzig die Aussage der Mediziner, der Patient sei aufgrund<br />

„innerer Zeichen“ tot, muss genügen. Widerstand regt sich<br />

in mir und ich frage mich verwirrt: „Was ist das für ein<br />

Tod, bei dem der Mensch noch lebt?“ 12) Ist die Diagnose<br />

des Hirntodes nicht eher eine Prognose, eine me- <br />

Bildquelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO)<br />

durchblick 3/<strong>2008</strong> 43

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