2010-04
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Erinnerungen<br />
Das Poesiealbum meiner Mutter<br />
Da liegt es nun vor mir. Schwarz-braun geprägtes<br />
Leder. Auf der gepolsterten Vorderseite in Großbuchstaben<br />
– POESIE – vorsichtig, fast liebevoll<br />
streiche ich darüber. Dann schlage ich die erste Seite auf.<br />
Strenge, steile Buchstaben in Sütterlinschrift springen mir<br />
entgegen. Ein warmherziger Spruch. Zur steten Erinnerung<br />
an deinen dich liebenden Vater, lese ich. Ich sehe ihn vor<br />
mir, meinen Großvater. Als er das schrieb, zitterten seine<br />
Hände noch nicht. Später immer. Ich kannte ihn gar nicht<br />
anders. Bestimmt hat er seine einzige Tochter sehr geliebt.<br />
Er war ein Immerliebender. Auch ich habe noch viel von<br />
seiner Liebe gespürt. Ich blättere weiter. „Beklage nie den<br />
Morgen der Müh und Arbeit gibt, es ist so schön zu sorgen<br />
für Menschen die man liebt.“ In ewiger Liebe Deine Mutter.<br />
Januar 1918. Ja, Müh und Arbeit, zwei Worte welche<br />
die Oma richtig beschrieben. Sie kannte nichts anderes.<br />
Sie arbeitete immer und sorgte für alle. Sie war sich für<br />
nichts zu schade und alles, was sie tat, war für die Ihren.<br />
Sie war gewiss eine gute Mutter, für mich die beste Oma<br />
und für meine Kinder eine liebevolle, stolze Urgroßmutter.<br />
Ich liebte sie sehr. Ich blättere um. Ein lustiger Spruch von<br />
Mutters Onkel Otto. Als er das schrieb, war er noch jung<br />
und lebte zu Hause. Später wurde er ein Weitgereister. Unter<br />
anderem war er in Indien und hat dort beim Aufbau des<br />
großen Stahlwerkes in Rurkela mitgewirkt. Nächste Seite.<br />
Eine eindrucksvolle Schrift. Groß, aufwendig, genau. Genau<br />
wie sie selbst. Tante Martha. Unverheiratet. Sie war<br />
Verkäuferin im Schreibwarengeschäft Louis Thomas in der<br />
Kölner Straße. Wie gesagt, sie war groß, schlank, immer gut<br />
gekleidet. Ihre Sprache war gewählt. Mir kam sie immer<br />
etwas gestelzt vor. Nicht nur ihre Sprache, nein, die ganze<br />
Frau. Ihr Spruch im Album ermahnte an Arbeitsamkeit und<br />
Sparsamkeit. Es passte zu ihr. Nächstes Blatt. Fast die gleiche<br />
Schrift. Tante Hedwig, Schwester von Martha. Sie hatte<br />
eine gute Partie gemacht. Reich geheiratet. Sie gönnte sich<br />
was, und so war auch ihr Spruch. Lebe das Leben, stand da,<br />
denn wenn du tot bist kannst du nichts mehr nachholen. Interessant,<br />
wie die Verse, die da standen, auch immer etwas<br />
über den Schreiber aussagten. Jetzt folgten viele Seiten, in<br />
denen sich Nachbarn, Lehrer und Mitschüler verewigten.<br />
Alle drückten den gleichen Sinn aus. Liebe und Treue, Arbeit<br />
und Sparen, Beten und ganz viel Gottvertrauen. Oft sah<br />
ich aufgeklebte Blümchen und bunt ausgemalte Herzchen.<br />
In steter Erinnerung, in ewiger Freundschaft, in inniger Verbundenheit.<br />
Seite um Seite.<br />
Als Mutter das Album von ihrer Tante Martha zu Weihnachten<br />
bekommen hatte, war sie sieben Jahre alt. Mit jeder<br />
beschriebenen Seite wuchsen die Daten. Aus dem Kind<br />
war inzwischen eine junge Frau geworden, doch das Album<br />
ging weiter. Jetzt hatte – sehr ungewohnt – ein Schreiber<br />
gleich mehrere Seiten für sich in Anspruch genommen. Ich<br />
Foto: Inge Göbel<br />
lese und bin erstaunt. Diese Zeilen waren nicht von der<br />
gleichen, meist kindlichen Naivität wie die vorigen. – Nein<br />
– der Schreiber sprach eine andere Sprache.<br />
Und wenn die Nacht sich niedersenkt<br />
dann denk an mich<br />
Wird dir ein neuer Tag geschenkt<br />
dann denk an mich<br />
Auf allen deinen Wegen<br />
kommt dir mein Herz entgegen<br />
und flüstert inniglich<br />
„Oh, denk an mich!“<br />
durchblick 4/<strong>2010</strong> 29<br />
Oder:<br />
Das Leben ist Liebe<br />
aus Liebe entsteht es<br />
Liebe ist sein Inhalt<br />
in Liebe vergeht es<br />
Das ist kein Leben<br />
das keine Liebe kennt.<br />
Ich bin fasziniert. – Wer ist der Schreiber? –<br />
Es ist mein Vater! – Mutters erste und einzige Liebe.<br />
Hier endet das Album, obwohl noch viele leere Seiten zu<br />
beschreiben gewesen wären. Hier war die Kindheit vorbei.<br />
Jetzt begann eine andere Zeit. Fortan beschrieb das Leben<br />
die Seiten.<br />
Inge Göbel