2010-04
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Unterhaltung<br />
Mein Onkel band dem auserkorenen Schwein einen<br />
Strick um das linke Hinterbein und versuchte es mit einigen<br />
aufmunternden Worten, leichtem Druck und sanften<br />
Beinstößen aus dem Stall hinauszutreiben. Das war für die<br />
Sau etwas ganz Neues. Schließlich hatte sie ein Leben wie<br />
im Schlaraffenland geführt, musste ihre Behausung so gut<br />
wie nie verlassen, war nicht zuletzt wegen der mangelnden<br />
Bewegung dick und fett<br />
geworden. Nein, freiwillig<br />
wollte sie nicht auf den Hof<br />
und sie begann zu quieken.<br />
Mein Großvater sah, dass es<br />
so nichts wurde und ging nun<br />
auch noch in den Stall. Mit<br />
vielen Schubsern und Schlägen<br />
auf das Hinterteil gelang es schließlich, das zum Tode<br />
verurteilte Tier zur vorgesehenen Schlachtstelle auf den<br />
Hof zu bringen.<br />
Das Gequieke der Sau war inzwischen so jämmerlich<br />
und durchdringend geworden, dass man es im gesamten<br />
Dorf hörte. Etliche Männer aus der Nachbarschaft eilten<br />
sogar auf die Straße, um das Ende eines kurzen Schweinelebens<br />
zu verfolgen. Ich war mir damals sicher, dass das<br />
Tier um seinen nahen Tod wusste, fühlte aber ebenso wie<br />
der Rest der Familie und auch die Maulaffen feilhaltenden<br />
Beobachter auf der Straße keinerlei Mitleid.<br />
Nun nahte die Stunde des Schlachters. In der einen Hand<br />
ein Bolzengerät, in der anderen den schweren Holzhammer<br />
näherte er sich dem Tier von hinten. Mein Onkel zog so<br />
fest am Strick, dass das hieran befestigte Bein sich vom<br />
Boden löste und schräg nach oben zeigte. Durch die ungewohnte<br />
Stellung auf drei Beinen unsicher geworden, blieb<br />
das Tier starr stehen und stellte seine Befreiungsversuche<br />
und plötzlich auch sein Gequieke ein. Erwin setzte sein<br />
Bolzengerät an eine bestimmte Stelle des Kopfes, holte mit<br />
dem Hammer aus und schlug zu. Alle starrten wie gebannt<br />
auf den Vorgang und weil der Onkel nur auf den Rücken<br />
des Schlachters sehen konnte, nicht aber auf dessen Hände<br />
mit den Gerätschaften, wechselte er seine Stellung. Dabei<br />
lockerte sich der Strick und das linke Schweinebein sackte<br />
nach unten. So kam es, dass die hierdurch neugierig gewordene<br />
Sau, just in dem Moment als der Hammer sich<br />
senkte, eine unerwartete Bewegung mit dem Kopf nach<br />
hinten machte. Der Hammer traf daher nicht den Bolzen,<br />
sondern streifte das Tier seitlich in der Nähe des Ohrs. Der<br />
Schmerz muss unbeschreiblich gewesen sein. Es ertönte ein<br />
Quiekschrei, wie man<br />
ihn bisher noch nicht<br />
gehört hatte und mit<br />
So war der Sau<br />
nicht beizukommen<br />
einer gewaltigen<br />
Kraftanstrengung riss<br />
das Schwein sich los<br />
und raste reichlich benommen<br />
in Richtung<br />
der Straße auf die gaffenden Nachbarn zu. Alles war so<br />
schnell geschehen, dass man die einzelnen Bewegungen<br />
kaum voneinander zu unterscheiden wusste.<br />
Als das Schwein durch die auseinanderspritzenden Beobachter<br />
hindurch die andere Straßenseite gewonnen hatte,<br />
wurden seine Schritte immer kürzer. Endlich vollführte<br />
es noch zwei, drei kleine Hopser mit den Hinterfüßen und<br />
dann stand es still. Langsam drehte sich das durch den ungewohnten<br />
Sprint sichtlich erschöpfte Tier um und glotzte<br />
in die Richtung, aus der es gekommen war. Es erblickte<br />
eine Handvoll Männer, die sich vorsichtig näherten und<br />
wich daraufhin ebenso vorsichtig weiter zurück. So war der<br />
Sau nicht beizukommen. Doch der Großvater wusste Rat,<br />
rief die mutigen Schweinefänger zurück und beorderte sie<br />
über einen Nebenweg in den Rücken des Tiers. Dank dieser<br />
List gelang es meinem Onkel schließlich und endlich, das<br />
immer noch am Hinterbein befindliche Seil wieder in die<br />
Hände zu bekommen. Als die Delinquentin nach vielem<br />
Hin und Her und ständigem Gequieke endlich wieder den<br />
Richtplatz auf dem Hof eingenommen hatte, war es hell<br />
geworden. Allgemein herrschte die Meinung vor, dass zur<br />
Beruhigung der Sau eine Pause und zur Entspannung aller<br />
sonstigen Beteiligten die Einnahme eines zweiten Klaren<br />
angebracht sei.<br />
52 durchblick 4/<strong>2010</strong>