29.11.2017 Aufrufe

2010-04

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Unterhaltung<br />

Mein Onkel band dem auserkorenen Schwein einen<br />

Strick um das linke Hinterbein und versuchte es mit einigen<br />

aufmunternden Worten, leichtem Druck und sanften<br />

Beinstößen aus dem Stall hinauszutreiben. Das war für die<br />

Sau etwas ganz Neues. Schließlich hatte sie ein Leben wie<br />

im Schlaraffenland geführt, musste ihre Behausung so gut<br />

wie nie verlassen, war nicht zuletzt wegen der mangelnden<br />

Bewegung dick und fett<br />

geworden. Nein, freiwillig<br />

wollte sie nicht auf den Hof<br />

und sie begann zu quieken.<br />

Mein Großvater sah, dass es<br />

so nichts wurde und ging nun<br />

auch noch in den Stall. Mit<br />

vielen Schubsern und Schlägen<br />

auf das Hinterteil gelang es schließlich, das zum Tode<br />

verurteilte Tier zur vorgesehenen Schlachtstelle auf den<br />

Hof zu bringen.<br />

Das Gequieke der Sau war inzwischen so jämmerlich<br />

und durchdringend geworden, dass man es im gesamten<br />

Dorf hörte. Etliche Männer aus der Nachbarschaft eilten<br />

sogar auf die Straße, um das Ende eines kurzen Schweinelebens<br />

zu verfolgen. Ich war mir damals sicher, dass das<br />

Tier um seinen nahen Tod wusste, fühlte aber ebenso wie<br />

der Rest der Familie und auch die Maulaffen feilhaltenden<br />

Beobachter auf der Straße keinerlei Mitleid.<br />

Nun nahte die Stunde des Schlachters. In der einen Hand<br />

ein Bolzengerät, in der anderen den schweren Holzhammer<br />

näherte er sich dem Tier von hinten. Mein Onkel zog so<br />

fest am Strick, dass das hieran befestigte Bein sich vom<br />

Boden löste und schräg nach oben zeigte. Durch die ungewohnte<br />

Stellung auf drei Beinen unsicher geworden, blieb<br />

das Tier starr stehen und stellte seine Befreiungsversuche<br />

und plötzlich auch sein Gequieke ein. Erwin setzte sein<br />

Bolzengerät an eine bestimmte Stelle des Kopfes, holte mit<br />

dem Hammer aus und schlug zu. Alle starrten wie gebannt<br />

auf den Vorgang und weil der Onkel nur auf den Rücken<br />

des Schlachters sehen konnte, nicht aber auf dessen Hände<br />

mit den Gerätschaften, wechselte er seine Stellung. Dabei<br />

lockerte sich der Strick und das linke Schweinebein sackte<br />

nach unten. So kam es, dass die hierdurch neugierig gewordene<br />

Sau, just in dem Moment als der Hammer sich<br />

senkte, eine unerwartete Bewegung mit dem Kopf nach<br />

hinten machte. Der Hammer traf daher nicht den Bolzen,<br />

sondern streifte das Tier seitlich in der Nähe des Ohrs. Der<br />

Schmerz muss unbeschreiblich gewesen sein. Es ertönte ein<br />

Quiekschrei, wie man<br />

ihn bisher noch nicht<br />

gehört hatte und mit<br />

So war der Sau<br />

nicht beizukommen<br />

einer gewaltigen<br />

Kraftanstrengung riss<br />

das Schwein sich los<br />

und raste reichlich benommen<br />

in Richtung<br />

der Straße auf die gaffenden Nachbarn zu. Alles war so<br />

schnell geschehen, dass man die einzelnen Bewegungen<br />

kaum voneinander zu unterscheiden wusste.<br />

Als das Schwein durch die auseinanderspritzenden Beobachter<br />

hindurch die andere Straßenseite gewonnen hatte,<br />

wurden seine Schritte immer kürzer. Endlich vollführte<br />

es noch zwei, drei kleine Hopser mit den Hinterfüßen und<br />

dann stand es still. Langsam drehte sich das durch den ungewohnten<br />

Sprint sichtlich erschöpfte Tier um und glotzte<br />

in die Richtung, aus der es gekommen war. Es erblickte<br />

eine Handvoll Männer, die sich vorsichtig näherten und<br />

wich daraufhin ebenso vorsichtig weiter zurück. So war der<br />

Sau nicht beizukommen. Doch der Großvater wusste Rat,<br />

rief die mutigen Schweinefänger zurück und beorderte sie<br />

über einen Nebenweg in den Rücken des Tiers. Dank dieser<br />

List gelang es meinem Onkel schließlich und endlich, das<br />

immer noch am Hinterbein befindliche Seil wieder in die<br />

Hände zu bekommen. Als die Delinquentin nach vielem<br />

Hin und Her und ständigem Gequieke endlich wieder den<br />

Richtplatz auf dem Hof eingenommen hatte, war es hell<br />

geworden. Allgemein herrschte die Meinung vor, dass zur<br />

Beruhigung der Sau eine Pause und zur Entspannung aller<br />

sonstigen Beteiligten die Einnahme eines zweiten Klaren<br />

angebracht sei.<br />

52 durchblick 4/<strong>2010</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!