2010-04
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Unterhaltung<br />
beschauer schon eingetroffen und konnte ohne Verzögerung<br />
seine Arbeit aufnehmen. Er entnahm von einigen Körperstellen<br />
Gewebeproben und untersuchte diese unter dem Mikroskop<br />
auf Krankheitserreger. Es galt also zu warten und man<br />
war so klug, die Zeit zu nutzen, um sich noch einen Klaren zu<br />
genehmigen. Dies geschehe nur wegen der Kälte, versicherte<br />
man sich gegenseitig. Und<br />
weil einer vielleicht nicht<br />
Heil, Heil und dreimal<br />
Heil dem Schwein und<br />
seinem Hinterteil!<br />
ausreichte, um einer Erkältung<br />
wirksam zu trotzen,<br />
gab es gleich danach einen<br />
weiteren Klaren.<br />
Endlich kam die erlösende<br />
Meldung des Fleischbeschauers:<br />
„Das Schwein<br />
ist für den menschlichen Verzehr geeignet!“ Er druckte Freigabestempel<br />
unter anderem auf die beiden Hinterschinken, kassierte<br />
seine Gebühr und zog von dannen. Nun erst durfte die<br />
Zerlegung der Schweinehälften beginnen. Diese erfolgte im<br />
Haus. Unter der geübten Hand des Schlachters verwandelten<br />
sich das Schnitzel- und Kotelettfleisch, die Stücke für Leber-,<br />
Blut- und Mettwurst, Kopf, Zunge und die Beine mit den daran<br />
hängenden Schinken in Einzelteile.<br />
Hiervon bekam ich freilich wenig mit, denn mir war eine<br />
weitere bedeutsame Aufgabe zuteil geworden. Mit meiner<br />
Mutter war ich nämlich zum Bach unterwegs. Sie schob<br />
eine Schubkarre, auf der die Wanne mit einem Teil der Innereien<br />
stand. Es handelte sich um den Zinkzuber, in dem<br />
wir ansonsten samstags badeten. Am Bach angekommen<br />
begannen wir, den Inhalt der Därme, der Blase und des<br />
Magens aus diesen herauszudrücken. Das schnell fließende<br />
Wasser nahm die unerträglich stinkenden Klumpen rasch<br />
mit sich. Dann hielten wir ein Ende der Därme ins Wasser<br />
und ließen eine Zeit lang das Nass am anderen Ende wieder<br />
herausfließen. Endlich wurde unter Zuhilfenahme eines<br />
hölzernen Kochlöffels das Innere der Därme nach außen<br />
gewendet und mit den Fingern gründlich gereinigt. Später<br />
im Haus wurden alle Innereien mit einem Metalllöffel noch<br />
sauber ausgeschabt und in Salzwasser gelegt. Unsere Finger<br />
indes wurden steifer und steifer, das Bachwasser war<br />
eisig kalt und wir froren erbärmlich.<br />
„Hoffentlich erkältest du dich nicht“, sagte die Mutter und<br />
mir kam prompt der rettende Gedanke.<br />
„Mutti“, sagte ich „hast du einen Klaren mitgenommen?“<br />
„Ich? Einen Klaren? Wie kommst du denn darauf?“<br />
„Der Erwin hat gesagt, ein Klarer sei gut gegen Erkältungen!“<br />
„Junge, du bist acht Jahre alt. Klare trinken nur die Großen.“<br />
„Aber ich bin doch schon groß und werde im nächsten<br />
Monat schon Neun.“<br />
Das sei kein großer Unterschied, meinte sie und ergänzte,<br />
dass besagter Klarer ein Schnaps sei, der betrunken<br />
mache. Manche Leute würden danach lustig, andere<br />
hingegen auch sehr böse. Kinder dürften niemals Schnaps<br />
trinken. Uns würde gleich im Haus schon wieder warm<br />
werden. So war es auch.<br />
Und wie mir warm wurde. Es war eine Zeit lang später, da<br />
beorderte man mich nämlich in die Waschküche. Die Därme<br />
waren in der Zwischenzeit gefüllt worden und wurden nun als<br />
Leber-, Blut- und Bratwurst wie zuvor schon das deren Hauptinhalt<br />
bildende Fleisch im kupfernen Waschkessel gekocht.<br />
Sobald sich bei den Würsten eine Luftblase bildete, musste<br />
ich, auf einem altersschwachen<br />
Hocker stehend, mit einer spitzen<br />
Nadel in diese stechen. Einige<br />
Würste platzten trotz aller Vorsichtsmaßnahmen<br />
dennoch auf<br />
und ein Teil ihres Inhalts trat aus<br />
und verteilte sich. Man schimpfte<br />
aber nicht mit mir, denn die aus<br />
dem Kochwasser entstehende<br />
Wurstsuppe schmeckte durch die Beilagen noch besser.<br />
Endlich kam der Abend und mit ihm als Höhepunkt des<br />
Schlachtfests das durch ein Gebet des Großvaters eingeleitete<br />
gemeinschaftliche Essen. Nach dem Verzehr der<br />
Wurstsuppe stellten die Frauen Schüsseln mit Kartoffelpüree<br />
und selbst gefertigtem Sauerkraut auf den Tisch. Danach<br />
servierten sie das vor allem bei den Männern beliebte<br />
Wellfleisch und die frischen Würste.<br />
Ehe wir freilich zulangen konnten, gab es eine Unterbrechung.<br />
Jemand klopfte von außen heftig an eine der<br />
Fensterscheiben.<br />
Nach dem Öffnen des Fensters steckten unsichtbaren Gestalten<br />
einige Holzstöcke mit angebundenen Papiertüten ins<br />
Hausinnere. Die Tüten enthielten Zettel mit kurzen Gedichten.<br />
Schreiber waren die Nachbarskinder, die dem Schlachtfest<br />
ein gutes Gelingen wünschten und sich bei dieser Gelegenheit<br />
eine Wurst erbaten. Fast immer lautete der Text:<br />
„Ich hab gehört, ihr hätt' geschlacht' und hätt' so gute Wurst<br />
gemacht. Gebt mir eine von den Langen, die Kurzen lasset<br />
hangen.” Dem Wunsch nach einer Wurst wurde entsprochen<br />
– aber von den Langen gab es nichts. Extra für diesen Zweck<br />
waren nämlich einige kleinere Würste geformt worden. Ich<br />
beschloss spontan, beim nächsten Schlachtfest in der Nachbarschaft<br />
in der geschilderten Art und Weise ebenfalls wegen<br />
einer Wurst vorstellig zu werden.<br />
Nach dem Essen, bei dem alle mit großem Appetit kräftig<br />
und ausdauernd zugelangt hatten, gab es für die Erwachsenen<br />
einen weiteren Klaren. Aber nachdem man tagsüber<br />
erfolgreich einer Erkältung getrotzt hatte, diente das Getränk<br />
nun plötzlich zur besseren Verdauung. Als alle nun<br />
so gemütlich beisammen saßen, ergriff Schlachter Erwin<br />
das Wort. Nach einigen einleitenden Sätzen, in denen er die<br />
Juden und die Muselmanen bedauerte, denen das Schwein<br />
ein Gräuel sei, trug er ein Gedicht vor, das mit den Worten<br />
endete: „Heil, Heil und dreimal Heil dem Schwein und<br />
seinem Hinterteil!“ Man hob die erneut gefüllten Gläser,<br />
stieß ein weiteres Mal an und meine Mutter fand, dass es<br />
nun höchste Zeit sei, dass ich ins Bett ging und mit den<br />
Worten: „Vergiss nicht zu beten!“, wurde ich eine Etage<br />
höher geschickt. <br />
Ulli Weber<br />
54 durchblick 4/<strong>2010</strong>