FINDORFF GLEICH NEBENAN Nr. 6
FINDORFF GLEICH NEBENAN ist das Magazin für Handel, Dienstleistung, Kultur & Politik im Stadtteil. Jetzt online lesen!
FINDORFF GLEICH NEBENAN ist das Magazin für Handel, Dienstleistung, Kultur & Politik im Stadtteil. Jetzt online lesen!
- Keine Tags gefunden...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
▼ DAS WIRD MAN DOCH WOHL NOCH FRAGEN DÜRFEN<br />
Muss die Jan-Reiners-Lok unbedingt gerettet werden ?<br />
W<br />
er in Findorff lebt, ist auch ihr schon begegnet:<br />
Die Jan-Reiners-Lok ist auch über die<br />
Stadtteilgrenzen hinaus als Wahrzeichen<br />
Findorffs bekannt. Von der zentralen Rolle<br />
der sympathischen Lokomotive zeugen<br />
unter anderem das »Jan-Reiners-Center«,<br />
die Logos verschiedener Findorffer Firmen und die<br />
alljährliche Weihnachtsdekoration in Lokomotiven-Form.<br />
Als FindorfferIn kann<br />
man sich kaum vorstellen, dass es »Jan<br />
Reiners« einmal nicht mehr geben<br />
könnte. Doch so wird es kommen,<br />
wenn sich keine Möglichkeit findet,<br />
deren Restaurierung zu finanzieren.<br />
Doch warum ist diese Lok den<br />
BewohnerInnen des Stadtteils<br />
eigentlich so wichtig ? In erster Linie<br />
geht es um Gefühle. »Jan Reiners« ist<br />
ein wichtiger Bestandteil unseres Viertels,<br />
der einfach schon immer da war. Als<br />
Kind faszinierte einen die Lok als besonderes<br />
Highlight auf Spaziergängen mit den<br />
Eltern. Als Erwachsener sieht man in ihr<br />
eine Art alte Freundin, der man immer<br />
wieder gern begegnet. Aber die Lok berührt<br />
nicht nur durch Nostalgie im Sinne des Erinnerns an die<br />
eigene Kindheit. Sie versprüht diesen besonderen Charme, den<br />
nur sehr alte Dinge besitzen. Als Relikt aus einer anderen Zeit<br />
hat sie fast etwas Geheimnisvolles. Man hat sie sein Leben lang<br />
als selbstverständlich angesehen, aber wo kommt sie eigentlich<br />
her, diese uralte Lok ? Und was macht sie mitten in Findorff ?<br />
Diese Fragen stellen sich BewohnerInnen, die nichts über die<br />
Vergangenheit Findorffs als Eisenbahnerstadtteil wissen. Dabei<br />
kam es überhaupt nur zur Gründung des Stadtteils, weil die<br />
Schmalspurbahn »Jan Reiners« zur Erschließung des Moorgebietes<br />
in Betrieb genommen wurde. Daraufhin ließen sich die<br />
Beschäftigten dieses neuen Wirtschaftszweiges im Gebiet des<br />
heutigen Findorffs nieder. So begann die Besiedelung unseres<br />
Stadtteils. Die Jan-Reiners-Lok hat sich ihre zentrale Rolle<br />
im Stadtteilbild also erstens verdient und trägt zweitens auch<br />
dazu bei, dass sich FindorfferInnen mit der Geschichte ihres<br />
Stadtteils auseinandersetzen. Und die historische Bedeutung<br />
geht sogar noch über die Stadtteilgründung hinaus. Denn die<br />
Lokomotive diente immer wieder als Symbol des Zusammenhalts<br />
und der Selbstständigkeit der regionalen Bevölkerung. Die<br />
BürgerInnen lackierten die Wagen »ihrer« Bahn eigenhändig in<br />
Bremer Farben. Im Winter befeuerten die Passagiere die Öfen<br />
in der Bahn selbst. Schließlich wurde die Kleinbahn in und zwischen<br />
den Weltkriegen intensiv für sogenannte »Hamsterfahr-<br />
<strong>FINDORFF</strong> <strong>GLEICH</strong> <strong>NEBENAN</strong> | 32<br />
JA ODER NEIN ?<br />
ten« in die Moorgebiete genutzt, auf denen die Fahrgäste sogar<br />
vom Bahnpersonal beim Schmuggeln unterstützt wurden.<br />
Diese Geschichten zeigen: Die FindorfferInnen konnten in<br />
guten und in schwierigen Zeiten aufeinander zählen und die<br />
Jan-Reiners-Lok war Zeuge dieser besonderen Momente. Auch<br />
heute kann sie uns daran erinnern, dass wir als Stadtteil eine<br />
Gemeinschaft sind und dass wir stark sind, wenn wir<br />
zusammenhalten. Gerade im Zeitalter von Globalisierung<br />
und Phänomenen wie »urbaner<br />
Einsamkeit« wird die Fähigkeit, sich als<br />
regionale Gemeinschaft zu sehen, umso<br />
wichtiger.<br />
Es mag also sein, dass die Funktion der<br />
Jan-Reiners-Lok heute bloß eine emotionale<br />
ist. Aber es wäre schlichtweg<br />
falsch zu behaupten, Emotionen hätten<br />
keine Macht. Emotionen sind das, was<br />
uns Menschen antreibt. Und wer nicht nur<br />
in der Vergangenheit lebt, sondern auch die<br />
Gegenwart im Blick hat, darf sich ruhig ein wenig<br />
Nostalgie leisten. Also lasst uns in alter<br />
Jan-Reiners-Tradition als Team spielen und<br />
die Finanzierung »unserer« Lieblings-<br />
Lokomotive gemeinsam stemmen !<br />
Leona Ilgner ist in Findorff geboren und aufgewachsen und<br />
wünschte sich als Kind, dass alle Lokomotiven noch so altmodisch<br />
aussähen wie die Jan-Reiners-Lok. Nur, dass man darauf<br />
nicht herum klettern durfte, fand sie immer etwas schade.<br />
K<br />
ein Mensch muss müssen, es sei denn er<br />
muss.« pflegte Oma in meiner Kindheit oftmals<br />
zu sagen. Die Jan-Reiners-Lok allerdings<br />
muss nach mehreren Jahren erneut aufwändig<br />
restauriert werden – und das kostet vermutlich<br />
schlappe 38.000 Euro. An ihr nagt schon<br />
wieder der Zahn der Zeit. Die Lok rostet und ganz besonders<br />
schlimm: Ihre Standfestigkeit ist nicht mehr gewährleistet. Als<br />
inoffizielles Findorffer Wahrzeichen droht sie vom Betonsockel<br />
zu kippen. Das ist irgendwie symptomatisch und hat eine<br />
hohe Symbolkraft. Der trostlose Platz, auf dem die Lok steht,<br />
wird von jüngeren StadtteilbewohnerInnen übrigens treffend<br />
ironisch »Platz des Todes« genannt. Am Platz des Todes vom<br />
Sockel kippen ? Die Eisenbahnfans im Stadtteil, und das sind<br />
sehr, sehr viele, sagen: »Soweit darf es für ›unsere‹ Findorffer<br />
Lok nicht kommen.«<br />
Man könnte an dieser Stelle pragmatisch argumentieren »Besser<br />
ein hässlicher Platz mit Lok, Brunnen und Bänken, anstatt<br />
irgendwann noch ein weiteres Neubauprojekt.« Ja, man u<br />
SCHAUFENSTER<br />
könnte auch gut dagegen argumentieren und Neubauprojekte<br />
grundsätzlich gut finden, weil es nicht nur für Menschen mit<br />
wenig Geld einen eklatanten Mangel an Wohnraum gibt. Aber<br />
das ist im Stadtteil kein echtes Aufregerthema, sondern es gilt<br />
ein viel wichtigeres, eklatantes Drohszenario durchzuspielen:<br />
Falls es der Bürgerverein als bisheriger »Pate« der Lok auf seiner<br />
derzeit laufenden Spendentour bei Beirat, Geschäftsleuten und<br />
Findorffer BürgerInnen nicht schafft, das für die Generalüberholung<br />
erforderliche Geld (oder passender zur Thematik: die<br />
Kohle) zusammenzubringen, soll die Jan-Reiners-Lok Findorff<br />
für immer verlassen. Der Deutsche Eisenbahn-Verein schlägt als<br />
vermeintlichen »Worst-Case« vor, die stillgelegte Jan-Reiners-<br />
Lok wieder fahrtüchtig zu machen – und grunderneuert zu einem<br />
neuen Leben zu erwecken. Der Nachteil für Findorff: Der<br />
Lok würde es ergehen, wie vielen jungen Familen in Bremen.<br />
Sie müsste mangels ausreichenden Kapitals ins niedersächsische<br />
Umland umsiedeln. In Bruchhausen-Vilsen würde sie dann als<br />
Museumslok von den Oldiebahn-Experten des dort ansässigen<br />
Eisenbahn-Vereins erneut in Betrieb genommen werden.<br />
Der mögliche Abschied für immer aus Findorff passt zu einer<br />
wechselhaften Biografie, in der die Lok vor ihrer beruflichen<br />
Freisetzung noch eine besonders trostlose Episode zu überstehen<br />
hatte: Sie diente einige Jahre ziemlich zweckentfremdet in<br />
der Armaturenfabrik von Gustav F. Gerdts (heute: GESTRA)<br />
als Dampfmaschine zum Manometerprüfen, bevor sie am Ende<br />
mit Glanz und Gloria auf einen Betonsockel gehoben wurde.<br />
»Lok will fahren!« und »Free the Jan-Reiners-Lok!« fällt mir<br />
dazu spontan ein, denn kann es für die einst stolze Lokomotive<br />
sinnvoll sein, über fünfzig Jahre versteckt unter Bäumen und<br />
nachts mäßig beleuchtet bewegungslos in der Gegend herum zu<br />
stehen ? Selbstverständlich nicht, abgesehen davon, das Bewegung<br />
im Alter immer wichtiger wird. Sollte die letzte Lok ihrer<br />
Art weiterhin als Symbol des Stillstands stehen ? Man könnte<br />
jetzt kalauern: »Der Zug ist abgefahren.« – und zwar nicht erst<br />
seit gestern. Nach Jahren der Stagnation wandelt sich Findorff<br />
endlich wieder voller Elan und Bewegung. Sollten wir also<br />
01 02 03<br />
q DIE MEINUNGSRUBRIK<br />
Abschied von überholten Denkweisen nehmen für neue, spannende<br />
Wege in die Zukunft ? Manche sagen so. Manche sagen<br />
so. Der Dichter sagt: »Nichts ist zarter als die Vergangenheit.<br />
Rühre sie an wie ein glühend Eisen; denn sie wird dir sogleich<br />
beweisen, du lebest auch in heißer Zeit !« Meinte Johann Wolfgang<br />
von Goethe damit vielleicht auch einfach: »Wer rastet, der<br />
rostet«? Weder das eine, noch das andere ist der Jan-Reiners-<br />
Lok zu wünschen. Gesegnet mit jahrelangen »Erfahrungen«<br />
könnte es die »Grand Dame« des abseitigen Stillstands uns<br />
noch einmal vormachen, wie man auch im hohen Alter mutig<br />
aufbricht: Mit ihrem Wegzug würde sie selbstbewusst das ewige<br />
Abstellgleis verlassen – und mehr noch: Sie dürfte auf einer<br />
neuen Wegstrecke endlich wieder wie in ihrer Jugend volle<br />
Fahrt aufnehmen. Für uns, die sie zurücklassen würde, aber<br />
gilt: Nostalgische Verklärung kann schön sein und gibt uns ein<br />
gutes Gefühl, wird von klugen Psychologen zugleich aber auch<br />
definiert als Hinwendung zu vergangenen Zeiten, die in der<br />
Erinnerung stark idealisiert und wenig reflektiert werden. Eben.<br />
Die Jan-Reiners-Lok war in ihren besten Zeiten ein sichtbares<br />
Zeichen einer florierenden Wirtschaft. Sie galt zurecht lange<br />
Zeit als das Findorffer Wahrzeichen. Aber ist das noch so ? Heute<br />
nehmen die jungen BewohnerInnen den einstigen Eisenbahnerstadtteil<br />
als solchen gar nicht mehr wahr, weil er es spätestens<br />
seit der Einführung des ICE auch nicht mehr ist: Ihnen geht<br />
die ganze Aktion um die Jan-Reiners-Lok ziemlich am Bahnsteig<br />
vorbei. Fazit: Falls der Erhalt der Lok in Findorff mangels Finanzierung<br />
nicht klappt, sollten wir der alten Dame auf ihrer neuen<br />
Wegstrecke wieder ein bewegtes Leben mit vielen Fahrgästen<br />
gönnen. Aber braucht das heutige Findorff dann ein neues, zeitgemäßes<br />
Wahrzeichen? Das wäre gut. Schade nur, dass dieses<br />
ökologisch voll im Trend liegende Windrad auf dem Schornstein<br />
des Schlachthofes anscheinend schon wieder defekt ist.<br />
Kay Grimmich ist Autor für Minderheitsmeinungen. Für starken<br />
Gegenwind bezogen auf seine Position hat er sich vorsorglich<br />
bereits eine Schutzweste gekauft. Illustration: »Railway<br />
locomotive«, Vladislav Kudoyaro © www.shutterstock.com ▲<br />
01 Individuell, günstig: Die LA OLA BOUTIQUE bietet in der Magdeburger Str. 1A Mode und mehr: www.laola.boutique<br />
02 <strong>FINDORFF</strong> <strong>GLEICH</strong> <strong>NEBENAN</strong> im Abo: 4 x im Jahr deutschlandweit per Post für 20,00 €. Infos auf www.findorff.info<br />
03 Internetauftritt selbst bauen ? Kann man ohne Programmierkenntnisse lernen ! Alle Schulungsangebote auf www.raetsch.de<br />
<strong>FINDORFF</strong><br />
<strong>FINDORFF</strong> <strong>GLEICH</strong> <strong>NEBENAN</strong> | 33