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WISSEN<br />

TEXT: BRUNO WÜTHRICH<br />

FOTOS: SHUTTERSTOCK.COM/FLEGERE/GEORGIOS KOLLIDAS<br />

Benjamin Franklin<br />

schaffte es nie, seinen<br />

Schreibtisch oder sein<br />

Tugendbuch ganz in<br />

Ordnung zu halten.<br />

Gib allen Dingen ihren Platz, räume<br />

allen Geschäftsdingen ihre<br />

Zeit ein», schrieb Benjamin<br />

Franklin in sein Notizbuch, das er<br />

sein Leben lang führte, weil er ein besserer<br />

Mensch werden wollte. Gleich 13 Tugenden<br />

wollte er anstreben – darunter<br />

Fleiss, Gerechtigkeit und Diplomatie,<br />

aber auch Gelassenheit und Mässigung.<br />

Jedes Mal, wenn er scheiterte, malte er<br />

einen schwarzen Punkt in sein Büchlein.<br />

Seine Bemühungen funktionierten. Die<br />

Punkte wurden im Verlaufe der Zeit immer<br />

weniger. Wäre da nur nicht diese eine<br />

Tugend gewesen, die nicht so recht klappen<br />

wollte. Die Ordnung.<br />

Die meisten Amerikaner haben Benjamin<br />

Franklin als einen Mann in Erinnerung,<br />

der im Sturm Drachen steigen liess.<br />

Als einen irgendwie seltsamen, exzentrischen<br />

Erfinder. Und als einen Autor volkstümlicher<br />

und geistreicher Bemerkungen.<br />

Zu seiner Zeit war er aber der wohl bekannteste<br />

der amerikanischen Gründerväter.<br />

Ein Wissenschaftler, Literat, Politiker<br />

und Diplomat. Der Sohn eines Seifensieders<br />

war fleissig, intelligent und talentiert.<br />

Er war Erfinder, Dichter, Verfasser von<br />

Druckschriften, Philosoph und ein angesehenes<br />

Mitglied von drei nationalen, wissenschaftlichen<br />

Akademien. Er war Postmeister<br />

von Philadelphia und Amerikas<br />

erster Postminister. Er gründete Philadelphias<br />

erste Polizei, die Feuerwehr und die<br />

erste Feuerversicherung, die Leihbücherei<br />

sowie die Akademie, die später die Universität<br />

von Pennsylvania werden sollte.<br />

Franklin gehörte als Delegierter der Verfassungsversammlung<br />

an, half beim Entwurf<br />

der Unabhängigkeitserklärung und<br />

gilt heute als einer der verdienstvollsten<br />

Staatsmänner Amerikas. Quasi nebenbei<br />

erfand er die Bifokalbrille und den Kaminofen,<br />

er bewies, dass Blitze eine Form der<br />

Elektrizität sind, er zähmte sie mit einem<br />

Blitzableiter und kartierte den Golfstrom.<br />

Und doch schaffte dieser grosse Mann<br />

diese eine seiner angestrebten Tugenden<br />

nicht wunschgemäss: die Ordnung. In allen<br />

anderen Tugenden wurde er ein Meister,<br />

seinen Schreibtisch oder sein Tugendbuch<br />

konnte er jedoch nie ganz in Ordnung<br />

halten, obwohl er 60 Jahre lang<br />

versuchte, sich zu bessern. Ein Besucher<br />

stellte im Hause Franklin erstaunt fest,<br />

«dass Papiere von grösster Wichtigkeit<br />

völlig achtlos über Tische und Fussböden<br />

verteilt waren».<br />

Aber war Franklins Streben nach Ordnung<br />

nicht eine Selbsttäuschung? Ordnung<br />

kann nützlich sein. Aber sie ist nicht<br />

immer eine Tugend. Der Irrtum ist weitverbreitet:<br />

Wir alle bewundern uns selbst,<br />

wenn wir mal einen aufgeräumten<br />

Schreibtisch hinterlassen, und wir fühlen<br />

uns unwohl, wenn dem nicht so ist. Der<br />

Unordnung kann ein Zauber inne wohnen.<br />

Franklins Vorsatz: «Gib allen Dingen<br />

ihren Platz» klingt logisch, vor allem weil<br />

Benjamin Franklin:<br />

Gründervater,<br />

Erfinder, Autor – und<br />

ein bisschen Chaot.<br />

Menschen ein exzellentes räumliches Gedächtnis<br />

haben. Und wir versuchen, uns<br />

Ordnerbezeichnungen auszudenken, in<br />

die wir eintreffende E-Mails einsortieren<br />

könnten. Und gleichzeitig wollen wir,<br />

dass diese Ordnungsstruktur Jahre gültig<br />

sein möge.<br />

AUS UNGENUTZT WIRD ÜBERFLÜSSIG<br />

Leider passen viele E-Mails in mehrere<br />

Kategorien. Einige markieren den Start<br />

eines Riesenprojekts, andere bedeuten<br />

einfach gar nichts – und oft erkennt man<br />

diesen Unterschied nicht in jenem Moment,<br />

in dem die E-Mail eintrifft. Wir<br />

denken uns in aller Eile irgendein Ordnungsprinzip<br />

aus und wenden es auf einen<br />

chaotischen Informationsfluss an.<br />

Einen Ansatz für den Umgang mit echtem<br />

Papier lieferte in den frühen 1990er-<br />

Jahren der japanische Autor Yukio Noguchi.<br />

Er verstaue jedes Dokument in einen<br />

Umschlag, auf dem er jeweils vermer-<br />

s’Positive 6 / 2018 13

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