20.07.2018 Aufrufe

sPositive_06_web

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

DIE GESCHICHTE DES STÖCKLI<br />

kommen und gehen. Bauer und Bäuerin<br />

stehen im Mittelpunkt der Hofgesellschaft.<br />

Zu dieser gehören ferner die Kinder,<br />

die Knechte, die Mägde und die Verwandten.<br />

Die Hofgemeinschaft stellt eine<br />

erweiterte Arbeitsgemeinschaft dar;<br />

denn das gemeinsame Band, das alle miteinander<br />

verknüpft, ist die Arbeit. Wenn<br />

nun die Familie wächst, so kann sich das<br />

Haus nicht dehnen. Nun duldet der Hof<br />

nur einen Bauern und eine Bäuerin. So<br />

wie das Königreich nur einen König und<br />

eine Königin duldet. Beim Verbleib der<br />

alten Eltern im gleichen Haus würden<br />

Spannungen, die dem Hofbetrieb und<br />

damit dem wirtschaftlichen Erfolg abträglich<br />

wären, nicht ausbleiben.<br />

So kam man auf die Idee, die Eltern in<br />

einem gesonderten Haus unterzubringen<br />

und sie doch, wie es der Familiensinn verlangt,<br />

in der Nähe zu behalten. Auf diese<br />

Weise ist das Stöckli im Oberaargau ein<br />

fester, nicht mehr wegzudenkender Teil<br />

der ländlichen Kultur geworden.<br />

EIN STÜCK HEIMAT<br />

Das Stöckli war früher viel mehr als heute<br />

der Inbegriff des Geborgenseins. Das<br />

schöne Häuschen unter der Linde oder<br />

dem Nussbaum, das keine Sorgen mehr<br />

kennt, wo Frieden und Ruhe regieren.<br />

Wenn städtische Beobachter in der Stöckli-Kultur<br />

ein besonders romantisches<br />

oberaargauisches Bauernidyll sehen, so<br />

wird gerne vergessen, dass dahinter eine<br />

praktische Lösung von wirtschaftlichen<br />

und sozialen Herausforderungen steht.<br />

Der Einzug des alten Bauern ins Stöckli<br />

erfolgte mit der Übergabe des Hofes an<br />

den Jungen. Der Hof wurde entweder an<br />

die Jungen verkauft oder verpachtet. Je<br />

nach dem Stand seiner Kräfte und noch<br />

mehr je nach dem Vertrauen zu den Jungen<br />

und nach dem Mass an Weitsicht und<br />

Weisheit entschloss sich der Vater frü-<br />

ZUSATZINFOS<br />

Die Stöcklikrankheit und die Stöcklikatze<br />

Wie weit steht eigentlich<br />

das Stöckli vom Bauernhaus<br />

entfernt? Es gab eine Grundregel:<br />

Es sollte möglich sein,<br />

die Distanz von der Haustüre<br />

des Bauernhauses bis zur<br />

Haustüre des Stöcklis mit<br />

einer Laterne auszuleuchten.<br />

Taschenlampen gab es,<br />

als die meisten Stöckli gebaut<br />

worden sind, ja noch<br />

nicht. Wenn die Grossmutter<br />

vom Abendsitz im Bauernhaus<br />

ins Stöckli hinüber ging<br />

oder wenn die junge Frau<br />

vom Stöckli ins Haus zurückkehrte,<br />

so sollte ein Lichtstrahl<br />

alles Böse von ihnen<br />

abhalten.<br />

NEUE AUFGABEN<br />

Bevor es im Ober aargau<br />

elektrischen Strom gab,<br />

fürchtete man sich in der<br />

Nacht vor bösen Geistern;<br />

und selbst die mutigsten<br />

Kilter (junge Männer, die<br />

nächstens Mädchen in ihrem<br />

bäuerlichen Schlafgemach<br />

aufsuchten) trieben<br />

sich nachts grundsätzlich<br />

nie allein herum. Man sieht<br />

auch daraus den tiefen Familiensinn:<br />

Die Stöcklilüt, in<br />

erster Linie der Grossvater<br />

und die Grossmutter, aber<br />

oft auch die ledigen Geschwister<br />

des Besitzers, der<br />

Stöckligötti oder die Stöckligotte,<br />

wollten mit dem Hof<br />

in naher Verbindung bleiben.<br />

Die räumliche Distanz<br />

war so gering, dass es für<br />

den Bauer und die Bäuerin,<br />

Die «Stöcklilüt» halfen immer noch auf dem Hof mit.<br />

wenn sie sich ins Stöckli zurückzogen,<br />

nicht den völligen<br />

Rückzug von der Arbeit<br />

bedeutete. Ein rechter Bauersmann<br />

besuchte wohl täglich<br />

den Hof, den jetzt der<br />

Sohn oder der Tochtermann<br />

führte, schaute in den Stall,<br />

überwachte Saat und Ernte,<br />

half auch mit in strengen<br />

Tagen. Gerade der Wald<br />

stand meist noch unter Aufsicht<br />

des alten Bauern, der<br />

Holzhandel war seine Sache.<br />

Und oft hatte nun der alte<br />

Bauer Zeit zu einem späten<br />

Einzug in die Welt «draussen»:<br />

Er widmete sich der<br />

lokalen Politik, diente als<br />

Gemeinderat oder in verschiedenen<br />

Kommissionen.<br />

Selbst Mitglieder eines<br />

Bankverwaltungsrates,<br />

Amtsrichter, Grossräte und<br />

schliesslich auch der legendäre<br />

Bundesrat Rudolf Minger<br />

wohnten im Stöckli.<br />

Die alte Bäuerin waltete in<br />

der Küche und half der jungen<br />

Frau vor allem an Backund<br />

Waschtagen. Daneben<br />

hatte sie nun endlich Zeit,<br />

ihr Gärtlein zu pflegen: Die<br />

Rosen, die Lilien, die Nelken,<br />

den Rosmarin auf dem Fenstersims<br />

und die spätsommerlichen<br />

Stockrosen am<br />

Gartenzaun. Im Winter blieb<br />

sie gerne im wärmen Stübli<br />

und strickte: Denn die kleinen<br />

Enkelkinder brauchten<br />

warme Strümpfe und Unterkleider.<br />

TIERISCHE GESELLSCHAFT<br />

Wenn die alte Bäuerin zwischen<br />

dem Bauernhaus und<br />

dem Stöckli hin- und her<br />

wanderte, so wurde sie oft<br />

von der Stöcklikatze begleitet.<br />

Meistens lebte im Stöckli<br />

eine Katze, die sich bei der<br />

alten Bäuerin eingeschmeichelt<br />

hatte und von ihr ausgiebig<br />

gestreichelt wurde.<br />

Die Stöcklikatze schaute<br />

der alten Bäuerin beim<br />

«Lismen» zu, schlich ihr in<br />

Küche und Vorratskammer<br />

nach und hoffte darauf, dass<br />

ab und zu etwas Fressbares<br />

vom Tisch fiel. Sie war im<br />

Wesen freundlich und sanft<br />

und unterschied sich deutlich<br />

von den aggressiveren<br />

Hofkatzen, die oft keinen<br />

Zugang zum Wohnraum der<br />

Menschen hatten.<br />

PROVOZIERTE KONFLIKTE<br />

Es gab aber nicht nur die<br />

Stöckliidylle und Stöckliromantik.<br />

Manchmal zog sich<br />

der Bauer zu früh von der<br />

Arbeit zurück und wusste<br />

mit seiner freien Zeit nichts<br />

anzufangen. Dann befiel ihn<br />

die sogenannte Stöcklikrankheit.<br />

Sie zeigte sich etwa in<br />

Nörgelsucht und Misstrauen<br />

gegenüber jedermann und<br />

provozierte Konflikte mit<br />

dem jungen Bauern und<br />

dessen Frau im Bauernhaus.<br />

Die Stöcklikrankheit galt als<br />

unheilbar, liess sich aber<br />

manchmal mit gutem Zureden<br />

und Geduld etwas lindern.<br />

Wo sie Einzug gehalten<br />

hatte, gab es auch keine<br />

wohlerzogene Stöcklikatzen.<br />

Die sensiblen Tiere flohen<br />

dem Hader und der Streitsucht.<br />

Weshalb kluge Leute<br />

früher sagten: Sage mir, ob<br />

es eine Stöcklikatze gibt und<br />

ich sage Dir, wie es auf dem<br />

Hof zu- und hergeht.<br />

28 s’Positive 6 / 2018

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!