Der Burgbote 1973 (Jahrgang 53)
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Ja noch mehr: Die künstlerische Bedeutung<br />
der Onnagata war zu solch einem integrieren<br />
den Teil von Kabuki geworden, daß bei einem<br />
Ausfall dieser Darsteller die traditionelle We<br />
sensart von Kabuki vielleicht für immer ver<br />
loren gegangen wäre.<br />
Eine andere wichtige Eigenart von Kabuki ist<br />
seine Offenheit für andere Formen des Thea<br />
ters. Entstanden an der Wende des 16. Jahr<br />
hunderts, nahm es verschiedene Teile aller<br />
vorangegangenen Formen des japanischen<br />
Theaters in sich auf. Unter den traditionellen<br />
Formen des Theaters, von denen Kabuki in<br />
'^r Bühnentechnik und im Spielplan viel<br />
Jbrnommen hat, ragen das No-Drama und<br />
das Kyogen-Spiel hervor. Das zweite ist ein<br />
komisches Zwischenspiel bei No-Aufführungen.<br />
Heute ist die Zahl der Japaner, die No<br />
zu schätzen wissen, bei weitem geringer als<br />
die Anhänger von Kabuki. Aber gerade die<br />
vom No-Drama übernommenen und beein<br />
flußten Kabuki-Stücke erfreuen sich großer<br />
Beliebtheit und stellen einen wesentlichen<br />
Teil des Spielplans dar.<br />
Ein anderes Gebiet, von dem Kabuki profitiert<br />
hat, ist das Puppentheater, das oft unter dem<br />
Namen Bunraku genannt wird und dessen<br />
Entwicklung grob gesagt parallel zu der des<br />
frühen Kabuki lief. Beim Kabuki stand im<br />
Vordergrund immer der Schauspieler, viel<br />
mehr als andere künstlerische Gesichtspunkte,<br />
wie etwa der literarische Wert eines Stückes.<br />
Deshalb verließen im frühen 17. Jahrhundert<br />
einige der großen Dramatiker, unter ihnen der<br />
als „Shakespeare Japans" bekannte Monzaemon<br />
Chikamatsu, das Kabuki-Theater, das<br />
von den Schauspieler vollkommen beherrscht<br />
wurde, und wandten sich dem Puppentheater<br />
zu, bei dem ihrer schöpferischen Kraft der<br />
artige Zügel nicht angelegt waren. Die Folge<br />
^von war eine Zeit, in der die Schauspieler<br />
Mx\ den Puppen weit in den Schatten gestellt<br />
wurden und auch beim Volk das Puppenthea<br />
ter beliebter war als Kabuki. Um dieser Kon<br />
kurrenz begegnen zu können, übernahm Ka<br />
buki praktisch alle Puppenspiele in sein eige<br />
nes Programm. So finden heute mehr als die<br />
Hälfte der traditionellen Kabuki-Stücke, abge<br />
sehen von einer Gruppe Tanz-Dramen, ihren<br />
Ursprung im Puppentheater. Ein letztes Bei<br />
spiel dafür, daß Kabuki immer wieder neue<br />
Bausteine in sich aufnimmt, ist das ausge<br />
hende 19. Jahrhundert, als der literarische<br />
Realismus Eingang in diese alte Kunst fand.<br />
Bis zum Aufkommen von Kabuki hatte die<br />
Bevölkerung Japans kein Theater solcher Far<br />
benpracht und solcher Spannung, solchen<br />
Glanzes oder ganz allgemein gesagt, solcher<br />
Außergewöhnlichkeit gesehen. Wahrscheinlich<br />
gibt es kein Theater in der Welt, das daran<br />
dem Kabuki überlegen ist.<br />
II. <strong>Der</strong> Spielplan<br />
Es gibt etwa 300 Stücke des gewöhnlichen<br />
Kabuki-Repertoires. Dazu kommen in letzter<br />
Zeit neue Stücke von Schriftstellern, die nicht<br />
in direkter Verbindung mit Kabuki stehen. Bis<br />
her nämlich wurden die Stücke fast aus<br />
nahmslos von Schriftstellern des Kabuki-Theaters<br />
selbst geschrieben.<br />
Es gibt im Gesamten des Spielplanes eine<br />
Gruppe von Stücken, die Shosagoto oder Tanz<br />
dramen heißt. Diese Stücke befassen sich in<br />
erster Linie und fast ausschließlich mit Tanz.<br />
In diesen Tanzdramen tanzen die Darsteller<br />
bei voller Begleitung von Vokal- und Instru<br />
mentalmusik. Viele Stücke erzählen eine<br />
ganze Geschichte, während andere kaum<br />
mehr als Fragmente sind.<br />
Die nach Abzug der Tanzdramen übrigblei<br />
benden Kabuki-Stücke können vom Thema<br />
her und von den handelnden Personen her<br />
gesehen in zwei Kategorien eingeteilt werden.<br />
1) Historische Dramen (Jidai-Mono)<br />
In diesen Stücken werden historische Tat<br />
sachen gezeichnet oder dramatisch gestaltete<br />
Berichte aus dem Leben der Soldaten oder<br />
des Adels geboten.<br />
2) Bürgerliche Dramen (Sewa-Mono)<br />
Diese Stücke zeichnen ausnahmslos das Le<br />
ben der bürgerlichen Klasse. Den Mittelpunkt<br />
der Handlung bildet der gewöhnliche Mensch,<br />
III. Ästhetische Grundzüge<br />
1) Die Formalisierung der Darstellung<br />
Die Schönheit der Formalisierung ist einer der<br />
ästhetischen Grundsätze, auf die sich die<br />
Kunst des Kabuki in ihrer Gesamtheit stützt.<br />
Im Akt der Darstellung, dem wichtigsten As<br />
pekt von Kabuki, kommt diese Formalisierung<br />
zu ihrer höchsten Vollendung. Wenn sich ein<br />
Kabuki-Darsteller auf seine Rolle in einem<br />
klassischen Stück vorbereitet, dann wird er<br />
zuerst, wie es von alters her zur Gewohnheit<br />
geworden ist, mit dem Studium über den<br />
Stil seiner Vorgänger in dieser Rolle anfan<br />
gen. Ein solches Modell ist, selbst wenn es<br />
ursprünglich eine realistische Darstellung der<br />
Rolle gewesen sein sollte, im Laufe der Kabuki-Entwicklung<br />
bis zu einem hohen Grad<br />
formalisiert und symbolisiert worden, so daß<br />
in den realistischen Stücken sogar die ge<br />
wöhnlichsten Gesten dem Tanz näher stehen