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THEATER KULTUR JOKER 7<br />

Ein kleines, aber tiefes<br />

Schwimmbecken mit Leitern<br />

und Sprungbrett, über und über<br />

mit quietschbunten Graffitis auf<br />

azurblauem Grund besprüht.<br />

Auf der einen Seite eine Reihe<br />

klappriger Umkleidekabinen mit<br />

Schwingtüren, rechts und links<br />

davon zwei aufsteigende Zuschauerblöcke,<br />

von denen man<br />

wie in einen Boxring blickt. Ein<br />

fantastisches Bühnenbild hat<br />

Bernhard Ott da für die neue<br />

Produktion im Theater im Marienbad<br />

entwickelt: Fröhlich und<br />

wild, intim, aber auch klaustrophobisch<br />

eng. So wie das Leben<br />

im Mädcheninternat St. Helens,<br />

das hier exemplarisch steht für<br />

eine weibliche Gemeinschaft<br />

mit gnadenloser Hackordnung.<br />

„Girls like that – Mädchen wie<br />

die“, so der doppeldeutige Titel<br />

des international und 2016 mit<br />

dem Baden-Württembergischen<br />

Jugendtheaterpreis ausgezeichneten<br />

Stücks des kanadischbritischen<br />

Dramatikers Evan<br />

Placey, das sich um Cybermobbing<br />

und Bodyshaming dreht,<br />

beides ausgesprochen fiese Varianten<br />

des pubertären Wahnsinns<br />

im digitalen Zeitalter.<br />

Dazwischen puzzeln sich Retrospektiven<br />

in den feministischen<br />

Kampf für mehr Gleichberechtigung<br />

und Solidarität. Schon das<br />

impliziert einen gewissen aufklärerischen<br />

und moralischen<br />

Impetus, für Jugendtheater ein<br />

gefährliches Pflaster. Ob diese<br />

Cybermobbing und Bodyshaming<br />

„Girls like that – Mädchen wie die“ von Evan Placey im Theater im Marienbad<br />

„Girls like that“: Die Hexenjagd ist eröffnet<br />

beiden Erzählstränge zusammenkommen?<br />

In der Inszenierung<br />

von Tom Schneider (Regie<br />

und Musik) und Alice Gartenschläger<br />

(Choreografie) eher<br />

schlecht.<br />

Der Einstieg ist lahm: Daniela<br />

Mohr sitzt als erwachsene Scarlett<br />

in goldgelbem Patina-Licht<br />

am Beckenrand und sinniert<br />

über ihre damalige Rolle in St.<br />

Helens: Von Anfang an war<br />

sie ganz unten und da blieb sie<br />

auch. Nie war sie auf Geburtstagsfeiern<br />

eingeladen, doch die<br />

Jungs wedelten trotzdem mit<br />

den Schwänzen hinter ihr her.<br />

Mit diesen Worten jedenfalls<br />

erzählen es später ihre Mitschülerinnen.<br />

Die man auch gleich<br />

live erlebt: Zu lautem Sound<br />

entern fünf junge Frauen mit<br />

geballter Zickenpower den Ring<br />

(Ensemblegäste der Freiburger<br />

Schauspielschule: Leah Abele,<br />

Lena Boiral Lieuthier, Malena<br />

Mauch, Julia Schulze, Veronika<br />

Wider): Sie tragen Kniestrümpfe,<br />

Schuluniformen und Zöpfe,<br />

zeigen rotzfreche Gesichter und<br />

Foto: Minz und Kunst<br />

provokante Posen samt Headbanging<br />

und Parkour-Sprüngen.<br />

Eine aufgekratzte Meute, die<br />

dann abwechselnd erzählt, wie<br />

alles begann: Mit einem Summ,<br />

Klick, Plopp und Bing – so platzt<br />

das Nacktfoto von Scarlett mitten<br />

in die Geschichtsstunde.<br />

Dreieinhalb Minuten später hat<br />

es jede in der Schule auf ihrem<br />

Smartphone. Wer dieses Foto<br />

gemacht oder ins Netz gestellt<br />

hat – interessiert nicht, nur der<br />

Skandal. Klar, verreißen sich die<br />

fünf nun die Mäuler, lästern und<br />

kreischen. „Fette, kleine Schlampe!“<br />

so das Kollektivurteil. Im<br />

Marienbad erinnert das an amerikanische<br />

High School-Soaps und<br />

nervt durch hochtourige Schrillheit.<br />

Sofort ist klar, wer hier die<br />

Bösen sind: Verschlagen, eitel,<br />

eifersüchtig oder dumm – keine<br />

der fünf ist eine Sympathie-Trägerin.<br />

Selbst wenn diese Figuren<br />

als Karikaturen gedacht sind,<br />

wird das Stück nun absehbar<br />

und langweilig. Auch wenn dazwischen<br />

immer wieder poetisch<br />

und stark choreografiert erzählt<br />

wird, wie der Himmel in dieser<br />

Mädchenhölle aussieht: Spaß und<br />

Momente tiefster Zusammengehörigkeit<br />

als Meerjungfrauen<br />

oder Synchronschwimmerinnen.<br />

Unvermittelt sind die Einzelszenen:<br />

Schauspielerin Lena<br />

Müller gibt eine junge Frau bei<br />

einer Schwimmbadparty 1928,<br />

eine taffe Rettungspilotin 1945<br />

oder eine Schwangere 1968, die<br />

abtreiben will. Alle lehnen sich<br />

auf gegen Rollenzuweisungen<br />

und Patriarchat, beides haben die<br />

Mädchen von St. Helens trotz zunehmender,<br />

leiser Zweifel längst<br />

internalisiert. Die Hexenjagd<br />

auf Scarlett ist eröffnet. Bei aller<br />

spürbaren Ambition und viel<br />

Dynamik ein moralinsaures und<br />

ödes Stück, bleibt zu hoffen, dass<br />

die jugendlichen Zuschauer das<br />

ganz anders sehen. Ab 14 Jahren.<br />

Termine unter www.marienbad.org<br />

Marion Klötzer<br />

„Eine vernünftige Frau genügt,<br />

damit die Verrücktheit der<br />

ganzen Welt sich an ihr die Zähne<br />

ausbeißt“ ist auf dem Monitor in<br />

der Tiefe der Experimentalbühne<br />

im E-Werk zu lesen – schon das<br />

ein Absurdum, wird hier doch<br />

die märchenhafte Satire „Die Irre<br />

von Chaillot“ von Jean Giraudoux<br />

gespielt, deren Heldin alles andere<br />

als vernünftig ist. Oder doch?<br />

Jedenfalls macht diese Aurelie<br />

(Moira Pawellek) mit skrupellosen<br />

Kapitalisten kurzen Prozess<br />

– und hat dann jede Menge<br />

Leichen im Keller.<br />

Um 1943, im besetzten Paris<br />

geschrieben und 1945 postum uraufgeführt,<br />

bietet dieses groteske<br />

und in mehreren Lesarten schillernde<br />

Stück besten Stoff für das<br />

junge Ensemble der Freiburger<br />

Schauspielschule, das hier in rasenden<br />

Rollenwechseln Gute wie<br />

Böse mimt. Regisseurin Grete<br />

Linz setzt dabei ganz auf den<br />

berühmten Pariser Charme: Aus<br />

dem Off hört man Akkordeon-<br />

Rasante Zickzackwendungen<br />

„Die Irre von Chaillot“ von Jean Giraudoux auf der Experimentalbühne im E-Werk<br />

Musik (Artur Grenz), im Hintergrund<br />

ist ein stimmungsvoller<br />

Straßenausschnitt zu sehen, dazu<br />

blau illuminierte Wände und das<br />

Café-Schild „chez francis“. Hier<br />

baldowern vier zwielichtige Gestalten<br />

am Untergang einer ganzen<br />

Stadt: Mit Strumpfmasken, Anzügen<br />

und expressiver Körpersprache<br />

verkörpern Francesco Riera,<br />

Nils Jensen, Zoë Knapp und Lion<br />

Koch eine Bande von Invasoren<br />

und Ausbeutern, die für Erdöl<br />

das Viertel sofort dem Erdboden<br />

gleichmachen wollen. Immer<br />

wieder gestört vom schrill-bunten<br />

Gauklervolk tritt einer nach dem<br />

anderen ans altertümliche Mikro<br />

am Bühnenrand und stellt sich<br />

vor: Kriminelle und Glücksritter<br />

sind sie, die sich über die „ungeheuerliche<br />

Zusammengehörigkeit<br />

des Abschaums“ beschweren und<br />

das hier „alles nach der Leidenschaft<br />

Lebender riecht“.<br />

Sprachlich verschraubt, etwas<br />

wirr und doch eindrucksvoll<br />

ist der Auftritt dieser „grauen<br />

Herren“, die an Michael Endes<br />

Figuren aus „Momo“ erinnern.<br />

Ihnen gegenüber trubelt, lacht<br />

und lebt eine Gemeinschaft von<br />

Originalen: Geschirrwäscherin<br />

Irma (Jana Ludwig), Blumenmädchen,<br />

Jongleur, Taubstummer<br />

(sowie Polizist und Retter:<br />

Artur Grenz), Chasseur, Lumpensammler<br />

oder Kloakenreinigerin,<br />

sie alle lieben und achten<br />

ihre verrückte Madame Aurelie,<br />

die im Reifrock täglich durch das<br />

Viertel spaziert und aufpasst.<br />

Das ist auch gut so, werden ihr<br />

doch dabei mysteriöse Beobachtungen<br />

zugetragen: Plötzlich<br />

gibt es überall nur noch Macker,<br />

die alles kontrollieren, Macht<br />

und Gold haben und gierig sind.<br />

Schon fliegen die Tauben nicht<br />

mehr, also muss schnell ein Rettungsplan<br />

her um dieses Übel<br />

zu stoppen. Also beruft Aurelie<br />

ein geheimes Treffen mit ihren<br />

Kolleginnen Constance (Jeanine<br />

Amacher). Gabrielle (Selina Farine)<br />

und Joséphine (Aileen Rohde)<br />

ein. Dass dieses durchgeknallte<br />

Kaffeekränzchen es wirklich mit<br />

dem Bösen aufnehmen kann,<br />

bezweifelt man bis zum Schluss.<br />

Aber schließlich ist das Ganze als<br />

Märchen angelegt und dazu gehört<br />

ein Happy End, sei es auch<br />

noch so schräg.<br />

Tempo, Wortwitz, viel Körpertheater,<br />

enorme Wandelbarkeit<br />

und Intensität – diese Inszenierung<br />

mit ihren wilden Zickzackwendungen<br />

macht Spaß, bleibt<br />

kurzweilig und fesselnd, auch<br />

wenn sie als Kapitalismus-Kritik<br />

wenig Biss und der dramaturgische<br />

Bogen einige Hoppler<br />

hat. Fantasievoll sind auch die<br />

Kostüme: Fast durchgängig in<br />

Dunkelrot, Schwarz und Weiß<br />

gehalten, gibt es schwingende<br />

Röcke, viele Punkte und für die<br />

Irren Lichterketten an den Hüten.<br />

Ein guter Plan mit dieser<br />

Inszenierung 2019 wieder zum<br />

Internationalen Theaterfestival<br />

ins rumänische Sibiu zu reisen.<br />

Marion Klötzer

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