_flip_joker_2018-11
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THEATER KULTUR JOKER 7<br />
Ein kleines, aber tiefes<br />
Schwimmbecken mit Leitern<br />
und Sprungbrett, über und über<br />
mit quietschbunten Graffitis auf<br />
azurblauem Grund besprüht.<br />
Auf der einen Seite eine Reihe<br />
klappriger Umkleidekabinen mit<br />
Schwingtüren, rechts und links<br />
davon zwei aufsteigende Zuschauerblöcke,<br />
von denen man<br />
wie in einen Boxring blickt. Ein<br />
fantastisches Bühnenbild hat<br />
Bernhard Ott da für die neue<br />
Produktion im Theater im Marienbad<br />
entwickelt: Fröhlich und<br />
wild, intim, aber auch klaustrophobisch<br />
eng. So wie das Leben<br />
im Mädcheninternat St. Helens,<br />
das hier exemplarisch steht für<br />
eine weibliche Gemeinschaft<br />
mit gnadenloser Hackordnung.<br />
„Girls like that – Mädchen wie<br />
die“, so der doppeldeutige Titel<br />
des international und 2016 mit<br />
dem Baden-Württembergischen<br />
Jugendtheaterpreis ausgezeichneten<br />
Stücks des kanadischbritischen<br />
Dramatikers Evan<br />
Placey, das sich um Cybermobbing<br />
und Bodyshaming dreht,<br />
beides ausgesprochen fiese Varianten<br />
des pubertären Wahnsinns<br />
im digitalen Zeitalter.<br />
Dazwischen puzzeln sich Retrospektiven<br />
in den feministischen<br />
Kampf für mehr Gleichberechtigung<br />
und Solidarität. Schon das<br />
impliziert einen gewissen aufklärerischen<br />
und moralischen<br />
Impetus, für Jugendtheater ein<br />
gefährliches Pflaster. Ob diese<br />
Cybermobbing und Bodyshaming<br />
„Girls like that – Mädchen wie die“ von Evan Placey im Theater im Marienbad<br />
„Girls like that“: Die Hexenjagd ist eröffnet<br />
beiden Erzählstränge zusammenkommen?<br />
In der Inszenierung<br />
von Tom Schneider (Regie<br />
und Musik) und Alice Gartenschläger<br />
(Choreografie) eher<br />
schlecht.<br />
Der Einstieg ist lahm: Daniela<br />
Mohr sitzt als erwachsene Scarlett<br />
in goldgelbem Patina-Licht<br />
am Beckenrand und sinniert<br />
über ihre damalige Rolle in St.<br />
Helens: Von Anfang an war<br />
sie ganz unten und da blieb sie<br />
auch. Nie war sie auf Geburtstagsfeiern<br />
eingeladen, doch die<br />
Jungs wedelten trotzdem mit<br />
den Schwänzen hinter ihr her.<br />
Mit diesen Worten jedenfalls<br />
erzählen es später ihre Mitschülerinnen.<br />
Die man auch gleich<br />
live erlebt: Zu lautem Sound<br />
entern fünf junge Frauen mit<br />
geballter Zickenpower den Ring<br />
(Ensemblegäste der Freiburger<br />
Schauspielschule: Leah Abele,<br />
Lena Boiral Lieuthier, Malena<br />
Mauch, Julia Schulze, Veronika<br />
Wider): Sie tragen Kniestrümpfe,<br />
Schuluniformen und Zöpfe,<br />
zeigen rotzfreche Gesichter und<br />
Foto: Minz und Kunst<br />
provokante Posen samt Headbanging<br />
und Parkour-Sprüngen.<br />
Eine aufgekratzte Meute, die<br />
dann abwechselnd erzählt, wie<br />
alles begann: Mit einem Summ,<br />
Klick, Plopp und Bing – so platzt<br />
das Nacktfoto von Scarlett mitten<br />
in die Geschichtsstunde.<br />
Dreieinhalb Minuten später hat<br />
es jede in der Schule auf ihrem<br />
Smartphone. Wer dieses Foto<br />
gemacht oder ins Netz gestellt<br />
hat – interessiert nicht, nur der<br />
Skandal. Klar, verreißen sich die<br />
fünf nun die Mäuler, lästern und<br />
kreischen. „Fette, kleine Schlampe!“<br />
so das Kollektivurteil. Im<br />
Marienbad erinnert das an amerikanische<br />
High School-Soaps und<br />
nervt durch hochtourige Schrillheit.<br />
Sofort ist klar, wer hier die<br />
Bösen sind: Verschlagen, eitel,<br />
eifersüchtig oder dumm – keine<br />
der fünf ist eine Sympathie-Trägerin.<br />
Selbst wenn diese Figuren<br />
als Karikaturen gedacht sind,<br />
wird das Stück nun absehbar<br />
und langweilig. Auch wenn dazwischen<br />
immer wieder poetisch<br />
und stark choreografiert erzählt<br />
wird, wie der Himmel in dieser<br />
Mädchenhölle aussieht: Spaß und<br />
Momente tiefster Zusammengehörigkeit<br />
als Meerjungfrauen<br />
oder Synchronschwimmerinnen.<br />
Unvermittelt sind die Einzelszenen:<br />
Schauspielerin Lena<br />
Müller gibt eine junge Frau bei<br />
einer Schwimmbadparty 1928,<br />
eine taffe Rettungspilotin 1945<br />
oder eine Schwangere 1968, die<br />
abtreiben will. Alle lehnen sich<br />
auf gegen Rollenzuweisungen<br />
und Patriarchat, beides haben die<br />
Mädchen von St. Helens trotz zunehmender,<br />
leiser Zweifel längst<br />
internalisiert. Die Hexenjagd<br />
auf Scarlett ist eröffnet. Bei aller<br />
spürbaren Ambition und viel<br />
Dynamik ein moralinsaures und<br />
ödes Stück, bleibt zu hoffen, dass<br />
die jugendlichen Zuschauer das<br />
ganz anders sehen. Ab 14 Jahren.<br />
Termine unter www.marienbad.org<br />
Marion Klötzer<br />
„Eine vernünftige Frau genügt,<br />
damit die Verrücktheit der<br />
ganzen Welt sich an ihr die Zähne<br />
ausbeißt“ ist auf dem Monitor in<br />
der Tiefe der Experimentalbühne<br />
im E-Werk zu lesen – schon das<br />
ein Absurdum, wird hier doch<br />
die märchenhafte Satire „Die Irre<br />
von Chaillot“ von Jean Giraudoux<br />
gespielt, deren Heldin alles andere<br />
als vernünftig ist. Oder doch?<br />
Jedenfalls macht diese Aurelie<br />
(Moira Pawellek) mit skrupellosen<br />
Kapitalisten kurzen Prozess<br />
– und hat dann jede Menge<br />
Leichen im Keller.<br />
Um 1943, im besetzten Paris<br />
geschrieben und 1945 postum uraufgeführt,<br />
bietet dieses groteske<br />
und in mehreren Lesarten schillernde<br />
Stück besten Stoff für das<br />
junge Ensemble der Freiburger<br />
Schauspielschule, das hier in rasenden<br />
Rollenwechseln Gute wie<br />
Böse mimt. Regisseurin Grete<br />
Linz setzt dabei ganz auf den<br />
berühmten Pariser Charme: Aus<br />
dem Off hört man Akkordeon-<br />
Rasante Zickzackwendungen<br />
„Die Irre von Chaillot“ von Jean Giraudoux auf der Experimentalbühne im E-Werk<br />
Musik (Artur Grenz), im Hintergrund<br />
ist ein stimmungsvoller<br />
Straßenausschnitt zu sehen, dazu<br />
blau illuminierte Wände und das<br />
Café-Schild „chez francis“. Hier<br />
baldowern vier zwielichtige Gestalten<br />
am Untergang einer ganzen<br />
Stadt: Mit Strumpfmasken, Anzügen<br />
und expressiver Körpersprache<br />
verkörpern Francesco Riera,<br />
Nils Jensen, Zoë Knapp und Lion<br />
Koch eine Bande von Invasoren<br />
und Ausbeutern, die für Erdöl<br />
das Viertel sofort dem Erdboden<br />
gleichmachen wollen. Immer<br />
wieder gestört vom schrill-bunten<br />
Gauklervolk tritt einer nach dem<br />
anderen ans altertümliche Mikro<br />
am Bühnenrand und stellt sich<br />
vor: Kriminelle und Glücksritter<br />
sind sie, die sich über die „ungeheuerliche<br />
Zusammengehörigkeit<br />
des Abschaums“ beschweren und<br />
das hier „alles nach der Leidenschaft<br />
Lebender riecht“.<br />
Sprachlich verschraubt, etwas<br />
wirr und doch eindrucksvoll<br />
ist der Auftritt dieser „grauen<br />
Herren“, die an Michael Endes<br />
Figuren aus „Momo“ erinnern.<br />
Ihnen gegenüber trubelt, lacht<br />
und lebt eine Gemeinschaft von<br />
Originalen: Geschirrwäscherin<br />
Irma (Jana Ludwig), Blumenmädchen,<br />
Jongleur, Taubstummer<br />
(sowie Polizist und Retter:<br />
Artur Grenz), Chasseur, Lumpensammler<br />
oder Kloakenreinigerin,<br />
sie alle lieben und achten<br />
ihre verrückte Madame Aurelie,<br />
die im Reifrock täglich durch das<br />
Viertel spaziert und aufpasst.<br />
Das ist auch gut so, werden ihr<br />
doch dabei mysteriöse Beobachtungen<br />
zugetragen: Plötzlich<br />
gibt es überall nur noch Macker,<br />
die alles kontrollieren, Macht<br />
und Gold haben und gierig sind.<br />
Schon fliegen die Tauben nicht<br />
mehr, also muss schnell ein Rettungsplan<br />
her um dieses Übel<br />
zu stoppen. Also beruft Aurelie<br />
ein geheimes Treffen mit ihren<br />
Kolleginnen Constance (Jeanine<br />
Amacher). Gabrielle (Selina Farine)<br />
und Joséphine (Aileen Rohde)<br />
ein. Dass dieses durchgeknallte<br />
Kaffeekränzchen es wirklich mit<br />
dem Bösen aufnehmen kann,<br />
bezweifelt man bis zum Schluss.<br />
Aber schließlich ist das Ganze als<br />
Märchen angelegt und dazu gehört<br />
ein Happy End, sei es auch<br />
noch so schräg.<br />
Tempo, Wortwitz, viel Körpertheater,<br />
enorme Wandelbarkeit<br />
und Intensität – diese Inszenierung<br />
mit ihren wilden Zickzackwendungen<br />
macht Spaß, bleibt<br />
kurzweilig und fesselnd, auch<br />
wenn sie als Kapitalismus-Kritik<br />
wenig Biss und der dramaturgische<br />
Bogen einige Hoppler<br />
hat. Fantasievoll sind auch die<br />
Kostüme: Fast durchgängig in<br />
Dunkelrot, Schwarz und Weiß<br />
gehalten, gibt es schwingende<br />
Röcke, viele Punkte und für die<br />
Irren Lichterketten an den Hüten.<br />
Ein guter Plan mit dieser<br />
Inszenierung 2019 wieder zum<br />
Internationalen Theaterfestival<br />
ins rumänische Sibiu zu reisen.<br />
Marion Klötzer