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8 KULTUR JOKER THEATER<br />
Alles in allem, ein stilles Tal<br />
Thom Lutz inszeniert am Theater Basel Frischs Prosatext „Der Mensch erscheint im Holozän“<br />
Zwischen Rossinischer Leichtigkeit<br />
und der Dramatik Giuseppe<br />
Verdis – da siedelt der italienische<br />
Dirigent Giampaolo Bisanti am<br />
Theater Basel Donizettis „Lucia<br />
di Lammermoor“ an. Mal schlägt<br />
das Pendel zum einen, mal zum<br />
anderen aus. Aber meistens hält es<br />
Bisanti in der Schwebe – wie überhaupt<br />
der Dirigent genau das richtige<br />
Händchen für diese Belcanto-<br />
Oper hat. Das Sinfonieorchester<br />
Basel klingt an diesem Abend wie<br />
aus einem Guss. Vor allem aber ist<br />
Ziemlich viel Nebel in diesem<br />
Dorf, das nicht das Ende der<br />
Welt ist, wie Elsbeth gesagt hätte.<br />
Fünf Stunden nach Basel, wo<br />
die Tochter lebt und Herr Geiser<br />
ein Unternehmen geführt hat,<br />
dessen Umsätze der Schwiegersohn<br />
nun verdreifacht hat. Drei<br />
Stunden nach Mailand und eine<br />
halbe Stunde zur nächsten Apotheke.<br />
Aber welche Medizin<br />
soll schon helfen, wenn einem<br />
die Welt entgleitet – denn die<br />
Frau ist längst tot und mit den<br />
Gefäßen ist auch etwas nicht<br />
in Ordnung. Und dann das, in<br />
diesem Dorf rutscht der Hang,<br />
die Dorfbewohner sind auf sich<br />
selbst zurückgeworfen,<br />
„Der Mensch erscheint im<br />
Holozän“ ist eine für Max<br />
Frischs Verhältnisse beinahe<br />
schon demütige Erzählung.<br />
Der alternde Mann ist kein<br />
Alleskönner mehr, eher schon<br />
ein bisschen hinfällig und der<br />
Mensch nichts anderes als eine<br />
Randerscheinung in der Erdgeschichte.<br />
Was für ein Aufheben<br />
soll man also machen, wenn<br />
man zwischen Erinnerungen<br />
und absonderlich wirkenden<br />
Handlungen aus der Welt geht?<br />
Dieser Text, in dem sich ein<br />
Ich abhandenkommt, ist konsequent<br />
aus der Perspektive eines<br />
Er-Erzählers geschrieben. „Der<br />
Mensch erscheint im Holozän“<br />
drängt sich nicht zur Dramatisierung<br />
auf. Und ist damit<br />
wohl statisch genug für einen<br />
Regisseur wie Thom Luz, der<br />
bislang noch aus jedem Text<br />
den Spannungsbogen gekickt<br />
hat. Ein Kreis mit erheblichen<br />
Fliehkräften ist die Grundstruktur<br />
von Luz‘ 90-minütiger<br />
Inszenierung, die vor gut zwei<br />
Jahren im Deutschen Theater<br />
Berlin Premiere hatte und nun<br />
auch beim Koproduktionspartner<br />
im Theater Basel zu sehen<br />
ist. Natürlich auf der Drehbühne.<br />
Im Schauspielhaus lichtet sich<br />
der Nebel nur langsam. Bevor<br />
Mehr Opfer als Mörderin<br />
Das Theater Basel begeistert mit einer musikalisch herausragenden „Lucia di Lammermoor“<br />
Rosa Feola & Fabián Lara in „Lucia di Lammermoor“<br />
Foto: Sandra Then<br />
Franziska Machens und Ulrich Matthes in „Der Mensch erscheint im Holozän“<br />
Fotos: Sandra Then<br />
sich überhaupt erst der Vorhang<br />
hebt, ist Daniele Pintaudi<br />
nicht nur von einem Klavier<br />
zum anderen gewandert – sie<br />
stehen vor der ersten Reihe<br />
(auf der Bühne wird es noch<br />
weitere sechs geben) – um die<br />
gedämpften Beethoven-Klänge<br />
von der Bühne aufzunehmen<br />
(Musikalische Leitung: Mathias<br />
Weibel). Er hat auch die<br />
Menschheitsgeschichte in Innovationsschüben<br />
überliefert.<br />
Da ist er wieder der Homo Faber.<br />
An Geiser geht das alles<br />
vorbei. Ulrich Matthes sitzt mit<br />
entspannter Aufmerksamkeit<br />
Giampaolo Bisanti ein Meister des<br />
Rubatos – dieses Dehnens der Zeit<br />
bei Ausdruckshöhepunkten. Immer<br />
wieder staut er das Geschehen, um<br />
dem Gesang die notwendige Freiheit<br />
zu ermöglichen, ohne dabei je<br />
die Orientierung zu verlieren. Auch<br />
die Beschleunigungen und Steigerungen<br />
gelingen organisch, so dass<br />
der Abend am Basler Theater zu<br />
einem musikalischen Fest wird.<br />
Das zweite, vielleicht noch größere<br />
Ereignis ist Rosa Feola als Lucia.<br />
Sie hat in ihrer Stimme jene enorme<br />
Bandbreite, die dem ganzen<br />
Abend zugrunde liegt – von zartem<br />
Mezzavoce bis zu kernigen, traumwandlerisch<br />
sicheren Spitzentönen,<br />
von feinen Legatobögen bis zu<br />
perfekt gestoßenen Koloraturen.<br />
Regisseur Olivier Py stellt sie von<br />
Beginn an auf der Bühne aus. Lucia<br />
sitzt im Krankenbett und ist Gegenstand<br />
einer wissenschaftlichen Vorlesung.<br />
Der Kaplan Raimondo (mit<br />
mächtigem, aber nie rohem Bassbariton:<br />
Tassos Apostolou) ist hier<br />
ein Arzt, der sich um die scheinbar<br />
hysterische Patientin kümmert.<br />
Lucias Liebe zu Edgardo wird von<br />
dieser Männergesellschaft pathologisch<br />
abgewertet, weil sie den<br />
Interessen ihres Bruders Enrico<br />
zuwider läuft. Staatsraison zählt<br />
mehr als das private Glück. Die<br />
Verzweiflung darüber treibt Lucia<br />
in den Wahnsinn. Diese Geschichte<br />
erzählen Olivier Py und sein<br />
Ausstatter Pierre-André Weitz mit<br />
starken Bildern in einer Schwarz-<br />
Weiß-Ästhetik, die den Zuschauer<br />
mit ins 19. Jahrhundert nimmt. Ein<br />
Schattenkarussell mit Menschen,<br />
Tieren und Dämonen verbreitet<br />
düstere Vorahnungen. Selbst der<br />
auf einem Hocker mit dem Rücken<br />
zum Publikum, die Hände<br />
auf die Oberschenkel gestützt.<br />
Der Kopf neigt sich nach rechts,<br />
wenn dort seine verstorbene<br />
Frau Elsbeth (Judith Hofmann)<br />
eine Touristengruppe über die<br />
Bühne führt, die kahl wie ein<br />
Arbeitsraum ist. Er neigt sich<br />
nach links, wenn seine Tochter<br />
Corinne (Franziska Machens)<br />
und Wolfang Menardi mit weißen<br />
Wänden hantieren, aus<br />
denen irgendwann einmal eine<br />
Art Bungalow auf Stelzen entstehen<br />
soll (Bühne: Wolfgang<br />
Menardi, Thom Luz).<br />
Mond verfinstert sich. Das stärkste<br />
Bild gelingt dem Regieteam kurz<br />
vor der Wahnsinns-Arie, wenn<br />
vom Theaterhimmel ein schwarzer<br />
Regen auf die Bühne stürzt und die<br />
Schnipsel am weißen Brautkleid<br />
haften bleiben. Diese Lucia, die<br />
gerade den mit ihr zwangsverheirateten<br />
Gatten (mit leichtem Tenor:<br />
Hyunjai Marco Lee) getötet hat, ist<br />
nicht mehr ganz von dieser Welt.<br />
Rosa Feola lässt sie entschweben<br />
mit lange gehaltenen Tönen und<br />
weichem Stimmansatz. Diese Mörderin<br />
ist Opfer – ihre feinen Koloraturen<br />
erzählen vom Himmel, nicht<br />
von der Hölle. Dass sie dabei von<br />
In Luz‘ Inszenierung wird der<br />
Dialog nicht zwischen den Figuren<br />
geführt, obwohl der Regisseur<br />
zusammen mit David Heiligers<br />
aus der Erzählung diese herauskristallisiert<br />
hat, er entsteht<br />
zwischen Text und Musik. Geiser<br />
berichtet von seinem Tageswerk,<br />
das in Warten übergegangen ist,<br />
er hält sich fest, indem er Lexikonartikel<br />
an die Wände pinnt.<br />
Luz‘ Inszenierung hat ihre Stärken<br />
in den Bildern, ein Darsteller<br />
wie Ulrich Matthes gibt ihr einen<br />
melancholischen Unterton, zögerlich<br />
und zaudernd setzt er<br />
zum Sprechen an, alles sehr zurückgenommen.<br />
Die Inszenierung<br />
greift Geisers Nachdenken<br />
über das All und die Sterne auf,<br />
indem er einen Scheinwerfer auf<br />
mehrere Spiegel richtet, so dass<br />
der Bühnenraum plötzlich durch<br />
fünf Lichtbündel durchschnitten<br />
wird, hält einer der Darsteller<br />
einen von Geisers Zetteln ins<br />
Licht, verschwinden vier, senkt<br />
er das Blatt, sind sie wieder da<br />
(Licht: Matthias Vogel, Tobias<br />
Voegelin). Und wenn am Ende<br />
sich zwischen Geiser, der starr<br />
oben in seinem Haus steht, und<br />
seine Tochter mehrere transparente<br />
Gazen schieben, verblasst<br />
sein Gesicht zu einem Schemen.<br />
Weitere Vorstellungen: 4./9./24.<br />
und 25. November Schauspielhaus,<br />
Theater Basel.<br />
Annette Hoffmann<br />
Tänzern in schwarzen Morphsuits<br />
bedrängt wird, beeinträchtigt ein<br />
wenig die Fokussierung der Szene.<br />
Diese Figuren, die immer wieder<br />
auftauchen, sind Dämonen und<br />
Todesengel, auch mal Edgardo und<br />
Lucia (Mirjam Karvat) als Schattenspiel.<br />
Musikalisch ist diese „Lucia di<br />
Lammermoor“ jedenfalls beglückend.<br />
Ernesto Petti gibt Lucias<br />
intriganten, verschuldeten Bruder<br />
Enrico mit virilem Bariton, ohne<br />
dabei die Gesangslinie zu verlieren.<br />
Fabián Laras Edgardo hat italienisches<br />
Timbre, Strahlkraft und<br />
auch große Wärme – besonders in<br />
„Verrano a te sull‘ aure“, dem Duett<br />
mit Lucia im ersten Akt. Aber auch<br />
die kleineren Rollen wie Normanno<br />
als übergriffiger Hauptmann (Karl-<br />
Heinz Brandt) oder Alisa als beflissene<br />
Krankenschwester (Ena Pongrac)<br />
sind sehr gut besetzt. Und auch<br />
der Chor (Leitung: Michael Clark)<br />
bietet gewohnt hohe Qualität.<br />
Die nächsten Vorstellungen:<br />
2./6./10./16./19./24. Nov., 1./9./15./29.<br />
Dez. <strong>2018</strong>., Tickets unter www.theater-basel.ch<br />
oder tel. unter 0041 61<br />
295 <strong>11</strong> 33. Georg Rudiger