Berliner Kurier 30.10.2018
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SERIE 19<br />
Die Unterwelt der blinden Tunnel und toten Gleise<br />
Vom Tunnelstutzen bis zum<br />
Bahnhof: Bis zu siebzig Verkehrsbauwerksrelikte<br />
befinden<br />
sich nach Schätzung des<br />
Vereins <strong>Berliner</strong> Unterwelten<br />
im <strong>Berliner</strong> Untergrund.<br />
Vier besondereBeispiele.<br />
Blick aus dem Waisentunnel. Die BVGnutzt ihn nur fürBetriebsfahrten.<br />
Eisackstraße. Im Jahr<br />
1910 ging die „Schöneberger<br />
Bahn“ (heute U4) zwischen<br />
Nollendorfplatz und Innsbrucker<br />
Platz in Betrieb. Eine<br />
Verlängerung der Strecke<br />
nach Süden blieb in der Planung<br />
stecken. Aber unter der<br />
Eisackstraße liegt dafür ein<br />
200 Meter langes Anschlussstück,<br />
von dem eine<br />
weitere Tunnelverzweigung<br />
zur Betriebswerkstattander<br />
Otzenstraße führte, die 1935<br />
aufgegeben wurde. DerTunnelstutzen<br />
diente im Zweiten<br />
Weltkrieg als Luftschutzraum.<br />
Beim Bau des Stadtautobahntunnels<br />
unter dem<br />
Innsbrucker Platz wurde das<br />
letzte Stück des Tunnels<br />
vom U-Bahnnetz getrennt.<br />
Es ist 190 Meter lang.<br />
Klosterstraße. Beim Bau<br />
der U-Bahnlinie A(heute U2)<br />
1913 dachten die Verkehrsplaner<br />
auch an eine Abzweigstrecke<br />
nach Friedrichsfelde.<br />
Dafür entstand<br />
hinter dem Bahnhof Klosterstraße<br />
ein Ausfädelbauwerk<br />
mit einem 100 Meter langen<br />
Tunnelstutzen. Nach 1918<br />
entschied man sich, die Strecke<br />
als eigenständige Großprofillinie<br />
zu bauen; so entstand<br />
die Linie E(heute U5).<br />
Waisentunnel. Die AEG<br />
wollte von1913 bis 1918 eine<br />
U-Bahnstrecke von Gesundbrunnen<br />
nach Neukölln anlegen.<br />
Wegen des Kriegs konnte<br />
sie nur Abschnitte fertigstellen,<br />
auch einen Tunnel<br />
unter der Neuen Friedrichstraße<br />
(heute Littenstraße)<br />
mit einem Bahnhofsrohbau<br />
(Stralauer Straße).<br />
Der 865 Meter lange Tunnel,<br />
der auch einen Abschnitt<br />
der Waisenstraße und der<br />
Spree unterquert, erhielt in<br />
den 20ern ein Gleisanschluss;<br />
er verbindet die Linien<br />
U5 und U8 zwischen<br />
den Bahnhöfen Alexanderplatz<br />
und Jannowitzbrücke.<br />
Im Bahnhofsrohbau befindet<br />
sich seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg ein Luftschutzbunker<br />
mit einer Nutzfläche<br />
von1200 Quadratmetern.<br />
Moritzplatz. Eine U-Bahnlinie<br />
zwischen Treptow und<br />
Moabit sollte ab Mitte der<br />
20er gezogen werden. Dafür<br />
entstand beim Bau der Linie<br />
D(heute U8)unter der Station<br />
Moritzplatz ein 1140 Quadratmeter<br />
großer künftiger<br />
Umsteigebahnhof. <strong>Berliner</strong><br />
fanden in dem Rohbau während<br />
des Zweiten Weltkriegs<br />
Schutz vor Luftangriffen.<br />
Noch heute liegt die Anlage,<br />
in deren westliches Zwischengeschoss<br />
die BVG<br />
1984 ein Umformerwerk einbaute,<br />
brach.<br />
Fotos: Sabine Gudath (5), imago (1)<br />
Axel Mauruszat findet,der Bahnhofsrohbau habe etwas voneiner Kathedrale.<br />
Das Wasser muss von der Decke<br />
getropft sein; es ist aber<br />
dort nichts zu sehen.<br />
Von 2015 bis 2017 hat sich<br />
die Bausubstanz von Ipu verschlechtert:<br />
von Note 2,0 auf<br />
3,0, von „Schäden, die aber die<br />
Standsicherheit nicht beeinträchtigen“<br />
auf „Standsicherheit<br />
gefährdet, umfangreiche<br />
Instandsetzungsarbeiten sind<br />
erforderlich“. So steht es in<br />
der Antwort auf eine Anfrage<br />
im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus<br />
zu ungenutzten U-Bahnhöfen<br />
und -Strecken.<br />
Anlass zu Sorge sieht Axel<br />
Mauruszat nicht, denn: „Die<br />
Formulie-<br />
Ein Experiment<br />
zur Manipulation<br />
der Zeitachse<br />
rung ist sehr<br />
weich.“ Unabhängig<br />
davon<br />
gebe es<br />
alle zwei Jahre<br />
eine kleine und alle fünf<br />
Jahre eine große Bauwerksprüfung.<br />
Bauvorleistungen wie Ipu<br />
sind keine Seltenheit in Berlin.<br />
Zwischen 21 und 70 schwankt<br />
ihre Zahl. „Beides stimmt“,<br />
sagt Mauruszat. „Es kommt<br />
darauf an, was<br />
man zählt: nur<br />
Bahnhofsrohbauten<br />
und<br />
Tunnelstutzen<br />
oder auch eine<br />
Stahlbetonplatte im Boden?“<br />
Alle Vorratsbauten hält die<br />
BVG instand;sie investiert dafür<br />
jährlich 44000 Euro; Ipu<br />
schlägt mit 2000 Euro zu Buche.<br />
Eine Zeit lang stellten die<br />
Verkehrsbetriebe einige ihrer<br />
Einrichtungen für Veranstaltungen<br />
zur Verfügung. Der<br />
Geisterbahnhof der Phantomlinie<br />
U10 war im November<br />
2009 Schauplatz für die Präsentation<br />
des Kronos-Projekts<br />
(steht für Chronos, in der griechischen<br />
Mythologie Gott der<br />
Zeit), verbunden mit dem Versuch,<br />
akustisch Kontakt aufzunehmen<br />
zu Probanden eines<br />
wissenschaftlichen Versuchs<br />
aus den 20er-Jahren.<br />
Dem Veranstalter zufolge ist<br />
dieses Projekt „ein 1926 begonnenes<br />
Experiment zur Manipulation<br />
der Zeitachse“. Dazu<br />
sei „ein modifizierter U-<br />
Bahnwagen A1, besetzt mit<br />
acht Freiwilligen“, auf Höhe<br />
des heutigen U-Bahnhofs Rathaus<br />
Steglitz unterirdisch<br />
nordwärts in Bewegung gesetzt<br />
worden. Bis 2009 sei der<br />
Wagen „etwas mehr als 317<br />
Meter vorangekommen“, dabei<br />
seien für die Versuchspersonen<br />
„etwas weniger als sieben<br />
Stunden vergangen“.<br />
„Es war ein reines Kunstprojekt“,<br />
sagt Axel Mauruszat,<br />
„aber ein überzeugend gemachtes.“<br />
Er schmunzelt.<br />
Bei der Wand, hinter der es<br />
Richtung Potsdamer Platz<br />
geht, führt eine sechsstufige<br />
Steintreppe in den Gleistrog.<br />
Mauruszat leuchtet in die<br />
Hohlräume unter dem Bahnsteig.<br />
Sogleich mulmt das Gefühl,<br />
in irgendeiner finsteren<br />
Ecke könnte sich etwas sehr<br />
Unschönes befinden. Es finden<br />
sich Spraydosen, eine Tüte<br />
Schimmel, Spraydosen, eine<br />
Flasche Brennspiritus –wozu<br />
denn das? –und Spraydosen.<br />
Schritt für Schritt geht es zu<br />
auf den schwarzen Schlund<br />
am anderen Ende des Gleistrogs,<br />
vorbei an dem Schacht,<br />
durch den die Verkehrskulisse<br />
fällt. Da oben hetzt der Geist<br />
der Zeit, hier unten schläft er.<br />
Der Bahnsteig endet. Aus<br />
dem Schwarz wird ein Grau,<br />
und in dem Grau liegt ein<br />
ebenerdiger Raum; rechts eine<br />
Wand, links Pfeiler, dahinter<br />
der andere Gleistrog und eine<br />
Wand, geradezu wieder eine<br />
Wand –esist eine Sackgasse.<br />
Ein Bahnhof, gefangen in<br />
Raum und Zeit.<br />
Pläne, den Zustand des<br />
Bleiernen aufzuheben, hat die<br />
BVG nicht. Eine Nutzung als<br />
Was-auch-immer ist nicht in<br />
Sicht, ein Abriss nicht denkbar,<br />
allein schon wegen des<br />
Autobahntunnels. „Es wird<br />
wieder eine Zeit kommen, in<br />
der wir wieder U-Bahn-Linien<br />
bauen“, orakelt Axel Mauruszat,<br />
„und dann wird man sich<br />
der U10 erinnern.“<br />
Ein Blick zurück auf den tiefschwarz<br />
gähnenden Schlund,<br />
bevor es wieder nach oben<br />
geht. Die Bahn, jeden Augenblick<br />
muss sie doch kommen...<br />
Lesen Sie am nächsten<br />
Dienstag, 6. November:<br />
Dasunsichtbare Herz–<br />
der Keller des Naturkundemuseums