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Alle Kulturen und Religionen kennen einen Mittelpunkt der Welt, der üblicherweise<br />
„Nabel der Welt“ genannt wird. Denn wie „der Nabel die Mitte des menschlichen<br />
Körpers ist, so nennt man den Ort, der die Mitte der Welt ist, den Nabel<br />
der Welt“. So hat es bereits R. Dawid Qimḥi (1160–1236) in seinem hebräischen<br />
Wörterbuch erklärt. Und dieser „Nabel der Welt“ war für Christen ein klar identifizierbarer<br />
geografischer Ort.<br />
Von Stefan Schreiner<br />
Um nur einige Beispiele dafür zu nennen:<br />
Die alten Griechen betrachteten als „Nabel<br />
der Welt“ den phallischen Stein im<br />
Adyton, im Allerheiligsten des Tempels des Apollon<br />
in Delphi. Ihrer Überlieferung nach soll dieser<br />
Stein als Meteor vom Himmel gefallen sein, und<br />
zwar an eben jener Stelle, an der sich die beiden<br />
Adler getroffen haben, die Zeus, den einen nach<br />
Osten, den anderen nach Westen, ausgesandt<br />
hatte, um dort, wo sie sich begegnen, die Mitte<br />
der Welt zu markieren. Den Römern galt der umbilicus<br />
urbis („Nabel der Stadt“) genannte kleine<br />
Tempel auf dem Forum Romanum als die Stelle,<br />
an der sich Obere und Untere Welt berühren, die<br />
daher den Mittelpunkt nicht nur des Imperium<br />
Romanum, sondern der ganzen Welt markiert.<br />
Aus diesem Grunde<br />
wurden von dieser<br />
Stelle aus auch die<br />
Längen (Meilen) aller<br />
römischen Heerstraßen<br />
gerechnet.<br />
Während nach altrussischer<br />
Überlieferung<br />
der Spiralberg am Südausläufer des Urals<br />
der „Nabel der Welt“ ist, ist es für Buddhisten und<br />
Hindus der Mount Kailash im tibetischen Himalaya.<br />
Und wie für Japaner Fuji-, Haku- und Tate-<br />
Berg die drei heiligen Berge verkörpern, so bilden<br />
nach chinesisch-taoistischer Tradition die fünf,<br />
nach chinesisch-buddhistischer Auffassung die<br />
vier heiligen Berge den Mittelpunkt der Welt.<br />
Nicht anders ist in biblischer und darauf<br />
aufbauender jüdischer, christlicher und islamischer<br />
Überlieferung der „Nabel der Welt“ ein<br />
konkreter, auf der Landkarte zu findender Ort.<br />
Und nicht nur das. Er ist zudem ein Ort, an dem<br />
Menschen wohnen, wie Richter 9,37 und Ezechiel<br />
38,12 zu entnehmen ist. In Ezechiel 5,5 wird<br />
dieser bewohnte Ort expressis verbis als Jerusalem<br />
identifiziert: „So spricht der Herr, der Ewige:<br />
Das ist Jerusalem, in die Mitte der Völker habe<br />
Ich es gesetzt, seine Umgebung sind die Länder.“<br />
In seiner lateinischen Version: Ista est Jerusalem,<br />
in medio gentium posui eam, et in circuitu<br />
eius terras, wurde dieser Bibelvers denn auch<br />
zum Leitmotiv mancher aus Mittelalter oder früher<br />
Neuzeit stammender Pilgerfahrt ins Heilige<br />
Land.<br />
Dagegen war Rabbi Jirmejahu nach bMegilla<br />
6a der Meinung, dass nicht Jerusalem sondern –<br />
der Ähnlichkeit seines Namens wegen – Tiberias<br />
die Mitte des Landes und der Nabel (tabbur) der<br />
Welt ist. Derselben Meinung war am Beginn des<br />
20. Jahrhunderts R. Moshe Kliers (1874–<strong>19</strong>34),<br />
der damalige Oberrabbiner von Tiberias. Doch<br />
beide konnten sich mit ihrer Idee nicht durchsetzen.<br />
So ist es dabei geblieben, dass in jüdischer,<br />
christlicher und<br />
islamischer Überlieferung<br />
nicht<br />
Tiberias, sondern<br />
Jerusalem Mittelpunkt<br />
und „Nabel<br />
der Welt“ ist. Sind<br />
sich jüdische,<br />
christliche und islamische Überlieferung auch<br />
darin einig, so sind sie uneins indessen, wenn es<br />
um die Frage der Festlegung des innerhalb des<br />
„Nabels der Welt“ befindlichen „Grundsteins<br />
der Welt“ geht, von dem aus die Welt geschaffen<br />
worden ist. In zahllosen Büchern und Aufsätzen<br />
wurde über diese Frage bereits diskutiert.<br />
Der Nabel der Welt ist nach<br />
jüdischer, christlicher und muslimischer<br />
Tradition ein konkreter, auf der<br />
Karte zu findender Ort<br />
Die jüdische Sicht<br />
Zur jüdischen Sicht der Dinge heißt es geradezu<br />
programmatisch im Buch der Jubiläen: „Und er<br />
(Noach) erkannte auch, dass der Garten Eden<br />
das Allerheiligste und die Wohnstatt des Ewigen<br />
war, der Berg Sinai die Mitte der Wüste und der<br />
Berg Zion die Mitte des Nabels der Welt. Diese<br />
drei sind als heilige Stätten einander gegenüber<br />
erschaffen worden“ (Jub 8,<strong>19</strong>).<br />
36<br />
welt und umwelt der bibel 1/20<strong>19</strong>