Berliner Zeitung 12.03.2019
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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 59 · D ienstag, 12. März 2019<br />
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Feuilleton<br />
Augen öffnen<br />
Die US-amerikanische und russische Welterklärerin Masha Gessen erhält den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“<br />
VonArnoWidmann<br />
Masha Gessen wurde<br />
am 13. Januar 1967 in<br />
Moskau in eine aschkenasisch-jüdische<br />
Familie hineingeboren. 1981 zog sie<br />
mit ihrer Familie in die USA. 1991<br />
ging sie als Russlandkorrespondentin<br />
wieder nach Moskau. Gessen hat<br />
die russische Staatsbürgerschaft und<br />
die der USA. 2013 floh sie aus Moskau<br />
nach NewYork. Es wurde immer<br />
lauter damit gedroht, homosexuellen<br />
Paaren die Kinder wegzunehmen.<br />
Masha Gessen schreibt für die<br />
wichtigsten amerikanischen Tageszeitungen<br />
und Magazine. Masha<br />
Gessen ist Autorin von neun Büchern.<br />
Ihr jüngstes,„Die Zukunft ist<br />
Geschichte. Wie Russland die Freiheit<br />
gewann und verlor“ (Suhrkamp),<br />
erhielt 2017 den National<br />
Book Award. Am 20. Märzwirdsie im<br />
Gewandhaus für dieses Buch mit<br />
dem „Leipziger Buchpreis zur Europäischen<br />
Verständigung“ ausgezeichnet.<br />
Die Leipziger Buchmesse<br />
zeigt mit der Auszeichnung Masha<br />
Gessens wieder einmal, dass es ihr<br />
bei der Verständigung ganz wesentlich<br />
ums Verstehen geht. Gessens<br />
große Begabung ist es,uns verständlich<br />
zu machen, was uns fremd ist.<br />
Es gibt einen winzigen, wunderbaren<br />
Artikel von ihr aus dem Jahre<br />
2004. Darin beschreibt sie ihre jüdische<br />
lesbische Hochzeit. Sie erzählt<br />
darin auch, wie die Kinder und die<br />
Ehe ihr Leben veränderten. Sie zieht<br />
nicht mehr nächtelang durch die<br />
Bars auf der Suche nach dem nächsten<br />
Flirt. Siegenießt die Vertrautheit,<br />
die Beständigkeit, wie sie zuvor das<br />
Fremde und den Wechsel genoss.<br />
Sieund ihreGattin kümmernsich<br />
um die Kinder,treiben sich auf Spielplätzen<br />
herum, gehen ins Kindertheater.<br />
„Wir waren keine Lesben<br />
mehr“, schreibt sie.Sie meint damit,<br />
dass sie sich jetzt als „husband“ und<br />
„wife“ betrachten. Früher zuckte sie<br />
zusammen, wenn das gleichgeschlechtliche<br />
Partner voneinander<br />
sagten.<br />
Gessen nimmt das Politische persönlich,<br />
und das Persönliche nimmt<br />
sie politisch. Das ist ihre große<br />
Stärke. Die Entschlossenheit, die<br />
Kompromisslosigkeit, mit der sie es<br />
tut, macht sie zu einer der großen<br />
Autorinnen unserer Zeit.<br />
Eines ihrer leider noch nicht ins<br />
Deutsche übersetzten Bücher heißt<br />
„Blood matters: From Inherited Illness<br />
to Designer Babies. How the<br />
World and Ifound Ourselves in the<br />
Futureofthe Gene“. Ausgangspunkt<br />
des Buches ist ein Gendefekt, den sie<br />
Masha Gessen nimmt als Erzählerin das Politische persönlich, aber sie verzichtet deshalb nicht auf saubere Begriffsarbeit.<br />
von ihrer Mutter geerbt hat. Er führt<br />
zu Brustkrebs. Gessen schildert ihr<br />
gespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter,ihr<br />
Gefühl, dass sie nichts mit ihr<br />
gemein hatte, und dann das. Aber<br />
das ist nur –nein nicht „nur“ –der<br />
Ausgangspunkt. Dann geht es, ohne<br />
ihn jemals aus den Augen zu verlieren,<br />
über Reproduktionstechniken,<br />
über Leiber und Liebe,über Zugehörigkeits-<br />
und Fremdheitsgefühle.<br />
Über die Notwendigkeit vonDistanz<br />
und Nähe. Esgibt keine Verständigung<br />
ohne Verstehen.<br />
„Wie die Welt und ich uns fanden...“<br />
darum geht es. Und es geht<br />
nur zusammen. Die Reise nach innen<br />
muss eins werden mit der in die<br />
Welt. Die Welt lässt sich auch nicht<br />
begreifen, wenn man seinen eigenen<br />
Ortinihr nicht erkennt.<br />
Das ist die Botschaft eines jeden<br />
Buches von Masha Gessen, eines jeden<br />
noch so kleinen Artikels. Ich<br />
weiß nicht, ob es eine Bekenntnisschrift<br />
vonihr gibt, in der sie das ausführt.<br />
Ich weiß nur, dass das Prinzip<br />
ist, die Triebfeder, der Treibstoff, der<br />
jeden ihrer Sätzebeflügelt.<br />
Merkwürdige Metaphern? Eine<br />
der zentralen Figuren ihres„Non-fiction“-Romans<br />
„Die Zukunft ist Geschichte“<br />
ist die 1984 geborene<br />
Masha. Ihre Großmutter war Raketenspezialistin.<br />
Sie arbeitete an dem<br />
sowjetischen Raumschiff „Buran“<br />
(Schneesturm). Ihre Aufgabe war die<br />
Entwicklung des Mechanismus, mit<br />
Die Reise nach innen<br />
muss eins werden mit der in die Welt.<br />
Die Welt lässt sich nicht begreifen,<br />
wenn man seinen eigenen Ort inihr<br />
nicht erkennt.<br />
dessen Hilfe die Crew die Tür des<br />
Raumschiffs nach der Landung hätte<br />
öffnen können. So weit kam es nie.<br />
Das Programm wurde nach einem<br />
einzigen unbemannten Flug abgebrochen.<br />
DerSowjetunion waren die<br />
Mittel ausgegangen.<br />
In „Die Zukunft ist Geschichte“<br />
analysiert sie die letzten Jahrzehnte<br />
der russischen Geschichte, inder es<br />
ein paar sehr kurze Jahrelang so aussah,<br />
als habe Russland –endlich –die<br />
LAIF/POLARIS/MURDO MACLEOD<br />
Geschichte hinter sich und eine Zukunft<br />
vor sich. Eine Illusion. Eine Illusion<br />
vorallem der russischen Intelligenzija,<br />
deren Lage die unglaublich<br />
scharfsichtige Masha Gessen bereits<br />
1997 mit brutaler Lakonie als „dead<br />
again“ (wieder mal tot) beschrieben<br />
hatte. Das Buch erschien auch auf<br />
Deutsch. Allerdings mit dem weniger<br />
treffgenauen Titel„Auf den Erfolg<br />
unserer hoffnungslosen Mission“.<br />
Überhaupt die Übersetzungen.<br />
Auch der Titel ihres neuesten Buches<br />
wurde für die deutsche Fassung entschärft.<br />
Derenglische lautet:„The Future<br />
isHistory. How Totalitarianism<br />
Reclaimed Russia.“ Aufder Überfahrt<br />
nach Deutschland ging der Totalitarismus<br />
verloren. Das ist ein Zugeständnis<br />
an ein Publikum, das voreinem<br />
halben Jahrhundert beschloss,<br />
Totalitarismus habe es niemals gegeben,<br />
der Begriff sei nichts als eine Erfindung<br />
eiskalter Krieger,die dem Sozialismus<br />
am Zeug flicken wollten.<br />
Das ist das eine. Das andere ist,„wie<br />
Russland die Freiheit gewann und<br />
verlor“. Das ist schön gesagt. So wird<br />
eine Erzählung angekündigt.„Die Zukunft<br />
ist Geschichte“ ist eine Erzählung.<br />
Alles, was Masha Gessen anfasst,<br />
wird eine Erzählung. Aber niemals<br />
verzichtet sie auf Begriffe. Die<br />
harten, die widerspenstigen, die sperrigen<br />
sind ihr die liebsten. „Totalitarismus“<br />
ist so einer.Erist das Leitfossil<br />
einer Epoche, die wir inder Vergangenheit<br />
wähnen.<br />
Masha Gessens Buch zeigt, dass,<br />
wie die Zukunft ein kurzer, längst<br />
vergangener Moment war, die Vergangenheit<br />
mit all ihren Gespenstern–wären<br />
es doch nurGespenster!<br />
–danach drängt, die Zukunft zu sein.<br />
Wladimir Putin ist der Agent dieser<br />
Vergangenheit. Er will aus Russland<br />
wieder eine Großmacht machen.<br />
Dafür richtet er es und seine Menschenzugrunde.<br />
Donald Trump,der„Amerika wieder<br />
groß“ machen möchte, ist das<br />
transatlantische Echo dieser<br />
Stimme, dieser Stimmung. Masha<br />
Gessen hat das in einer Reihevon Artikeln<br />
über dasVerhältnis der beiden<br />
Lügner, die sich darin völlig einig<br />
sind, dass dieZukunft in derVergangenheit<br />
liegt unddass dieGegenwart<br />
betrogen gehört,beschrieben.<br />
Wasist derBeitrag derUS-Amerikanerin<br />
und Russin Masha Gessen<br />
zureuropäischenVerständigung? Sie<br />
hat sich nicht darum gekümmert,<br />
dass Deutsche und Franzosen oder<br />
gar Polen und Russen mehr Verständnis<br />
füreinander haben. Sieversteht<br />
Putin–sie hatein großartig wütendes<br />
Buch über ihn geschrieben –,<br />
aber gerade darum bringt sie kein<br />
Verständnis für ihn auf.<br />
Wer Verständnis für Putins<br />
Trauer um den verlorenen Weltmachtstatus<br />
aufbringt, wer bereit<br />
ist, mit ihm den Zusammenbruch<br />
der Sowjetunion als größte geopolitische<br />
Katastrophe des 20. Jahrhunderts<br />
zu empfinden, der hat die<br />
Lage nicht nur nicht verstanden. Er<br />
weigert sich, die Augen zu öffnen,<br />
um die Welt zu sehen wie sie ist.<br />
Masha Gessen öffnet uns die Augen.<br />
Nicht uns Russen, nicht uns<br />
Amerikanern, auch nicht uns Europäern.<br />
Sie öffnet sie uns Menschen,<br />
die wir eingebettet sind in unsere<br />
Umgebung, in unsere Körper. Wir<br />
haben nur eine Chance, wenn wir<br />
uns das klarmachen. Dabei hilft uns<br />
Masha Gessen.<br />
Arno Widmann<br />
unterscheidet zwischen<br />
Verständnis und Verstehen.<br />
Die Museumsinsel ist gewachsen<br />
Ein Schlüssel zur kulturellen Bildung: Die <strong>Berliner</strong> Kunstsammlerfamilie Bastian übergibt ihr Chipperfield-Haus am Kupfergraben gänzlich den Staatlichen Museen<br />
VonIngeborg Ruthe<br />
Kleine Geschenke erhalten die<br />
Freundschaft, so sagt man. Das<br />
gilt fürs Private. Und wie ist das mit<br />
großen Geschenken, die der Gesellschaft<br />
zugute kommen? Die gehen<br />
zu Recht in die Geschichte ein. In<br />
diesem Falle in die Geschichte der<br />
Staatlichen Museen zu Berlin und in<br />
die der Dahlemer Kunstsammler-Familie<br />
Bastian.<br />
Vorzwölf Jahren hatte der britische<br />
Architekt David Chipperfield<br />
für die Bastians das edle Galerienhaus<br />
am Kupfergraben 10 fertiggebaut,<br />
architektonisch bereits wohlabgestimmt<br />
auf die damals noch nur<br />
auf Plänen existierende James-Simon-Galerie<br />
an der Spreeseite des<br />
Neuen Museums.Wir staunten nicht<br />
schlecht, als bekannt wurde,dass die<br />
Familie dieses Kleinod moderner<br />
Baukunst mit mäzenatischer Großmut<br />
der Allgemeinheit spendieren<br />
wollte. Ein Verkauf an privat komme<br />
nicht infrage, so die Familie. Zwei<br />
Jahre lang nahmen die Bastians Abschied<br />
vom Haus, es gab Irritationen,<br />
denn zwischenzeitlich hatte<br />
Heiner Bastian, der Senior, die<br />
Schenkung aus nicht näher erklärten<br />
Gründen zurückgenommen, aber<br />
bald darauf doch wieder bestätigt.<br />
Jetzt scheint der Trennungsschmerz<br />
überwunden. Am heutigen Tagist es<br />
endgültig: Mittags ist Schlüsselübergabe.<br />
Das Haus Bastian, in Sichtachse<br />
zu den Ägyptischen Sammlungen,<br />
denen der Ur- und Frühgeschichte<br />
und zum Pergamonmuseum,<br />
gehört nun unwiderruflich<br />
zur Museumsinsel −als Zentrum für<br />
kulturelle Bildung vornehmlich für<br />
Jugendliche, die Museumsbesucher<br />
vonmorgen.<br />
Teilhabe als oberstes Gebot<br />
Kunstfachleute und Museumspädagogen<br />
würden, das versichert die<br />
Preußenstiftung, in den vormaligen<br />
hohen, lichten, weitläufigen und<br />
funktionalen Galerieräumen Kinder,<br />
Jugendliche,Familien an die Schätze<br />
der Weltkulturen heranführen, die in<br />
Berlins Museen zu sehen sind oder<br />
Haus Bastian am Kupfergraben, entworfen von David Chipperfield, ist ab heute ein museumspädagogisches<br />
Zentrum der Staatlichen Museen.<br />
J.PRATSCHKE<br />
erforscht werden. Es soll Ausstellungen<br />
und Programme mit Workshops<br />
und Projekten dazu geben, Angebote,<br />
die eine breite kulturelle Teilhabe<br />
–das ist oberstes Gebot –er-<br />
möglichen, gerade für jene, für die<br />
der Zugang zu kultureller Bildung<br />
aus sozialen und finanziellen Gründen<br />
nicht eben alltäglich ist, auch für<br />
Kinder aus zugewanderten Familien.<br />
Heiner Bastian, einst enger Assistent<br />
von Joseph Beuys, Sammler,<br />
jahrelang Kurator am Hamburger<br />
Bahnhof und Galerist, hatte das<br />
2000-Quadratmeter-Haus als eigenen<br />
Ausstellungsort für Klassische<br />
und Gegenwartskunst begründet,<br />
durch einen Architekturwettbewerb,<br />
den Chippenfield gewann, bauen<br />
lassen. Sein Sohn Aeneas betrieb unterm<br />
Dach eine Zeitlang die junge<br />
Galerie upstair, und zwei Etagen<br />
hatte die renommierte Galerie CFA<br />
gemietet für durchweg spektakuläre<br />
Ausstellungen nationaler und internationaler<br />
Kunst. Am Kupfergraben<br />
schrieb sich somit eine Kunst-Wohngemeinschaft<br />
in die <strong>Berliner</strong> Ausstellungsszene<br />
ein, die sich gegenseitig<br />
glücklich ergänzte. Aber das ist nun<br />
auch schon wieder Geschichte.<br />
Pläne für Dahlem und London<br />
Zuletzt hatten Bastian Junior und<br />
dessen Frau Céline in den lichten<br />
Räumen am Kupfergraben noch einmal<br />
einen fulminanten Kunstreigen<br />
der Gegenwartentfaltet, so mit Werken<br />
des Turner-Preisträgers Damien<br />
Hirst und mit den Bildern des Düsseldorfer<br />
Farbfeld-Malers Ulrich Erben,<br />
was fürs Publikum in Berlin<br />
weitestgehend ein Novum war. Dieser<br />
rheinische Beitrag aus dem Bereich<br />
der „Konkreten Kunst“ war<br />
denn auch der Abschied in Mitte.<br />
Parallel richtete das Paar einen<br />
privaten Showroom in seinem Dahlemer<br />
Mietshaus ein und wiederbelebte<br />
dortmit großem Publikumszuspruch<br />
die Tradition der <strong>Berliner</strong><br />
Kunst-, Literatur- und Wissenschaftssalons<br />
der 1920er Jahre. Zuletzt<br />
ging es um die Keramiken Picassos<br />
und um die Malerei sowie das bewegte<br />
Leben MaxLiebermanns.<br />
Zudem betreibt das Paar seit Februar<br />
auch noch eine kleine Galerie<br />
im Londoner Bezirk Mayfair. Sie eröffnete<br />
mit Andy Warhols Polaroids.<br />
Nunhat Aeneas Bastianvor,den Ort<br />
als Schaufenster für deutsche Kunst<br />
des frühen 20. Jahrhunderts bis in<br />
die Gegenwart zuentwickeln –trotz<br />
oder gerade wegen der Brexit-Situation.<br />
Europäisch, nun gerade.