18.04.2019 Aufrufe

Berliner Zeitung 17.04.2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

4 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 90 · M ittwoch, 17. April 2019<br />

·························································································································································································································································································<br />

§ 1. 2.<br />

2. Das Problem sind also die Direktmandate?<br />

Im Prinzip ja, denn die Schieflage entsteht<br />

durch die zunehmende Diskrepanz zwischen<br />

Erst- und Zweitstimmen. Es liegt aber<br />

auch am Wahlrecht selbst. Daswurde 2011<br />

reformiertund sieht nun vor, dass den Bundesländerneine<br />

Mindestanzahl vonSitzen<br />

zugestanden wird. Davorwurden Stimmen<br />

nämlich über Ländergrenzen hinweg verrechnet.<br />

Dasbedeutete,dass die vielen Direktmandate<br />

für die Unionsparteien im Süden<br />

den Verlust vonPlätzen auf der Landesliste<br />

in anderen Bundesländernbedeuten<br />

konnten. Dasmag ungerecht klingen, hatte<br />

aber in früheren Wahlen eine größereZahl<br />

vonÜberhang- bzw.Ausgleichsmandaten<br />

verhindert.<br />

1. Warumbrauchen wir ein neues Wahlrecht?<br />

DerBundestag platzt aus allen Nähten. Mit<br />

709 Abgeordneten ist er so groß wie noch nie.<br />

Findet die nächste Bundestagswahl unter den<br />

gleichen Bedingungen statt wie die letzte im<br />

Jahr 2017, könnten es sogar mehr als 800 Abgeordnete<br />

werden. Dabei ging man ursprünglich<br />

voneiner Richtgröße von598 Bundestagsabgeordneten<br />

aus: 299 direkt gewählte Abgeordnete<br />

aus den Wahlkreisen und 299 Abgeordnete,die<br />

auf Landeslisten ihrer Parteien kandidieren.<br />

Diese Mischung klappt jedoch nicht mehr:Vor<br />

allem CDU und CSU gewinnen viele Direktmandate.Weil<br />

sie aber gleichzeitig weniger Zweitstimmen<br />

erhalten, entstehen Überhangmandate<br />

(siehe Grafik), die wiederum Ausgleichsmandate<br />

für die anderen Parteien nach sich ziehen. 2017<br />

gab es 46 Überhangmandate,die wiederum 65<br />

Ausgleichsmandate erforderten.<br />

Hauptstadt<br />

Sitzverteilung<br />

im 19. Deutschen Bundestag<br />

Stand Januar 2019<br />

4Fraktionslose<br />

So entstehen Überhangmandate<br />

CDU/CSU<br />

246<br />

SPD<br />

152<br />

709<br />

Sitze<br />

Grüne<br />

67<br />

FDP<br />

80<br />

Linke<br />

69<br />

Die Richtzahl der Abgeodneten im<br />

Deutschen Bundestag sind 598 Sitze,<br />

der jetzige Bundestag hat 709 Sitze<br />

Bundestagswahl: Jeder Wähler hat 2Stimmen<br />

Die Anzahl der Direktmandate (Erststimmen) ist höher als die Anzahl der gewonnenen Sitze (Zweitstimmen)<br />

AfD<br />

91<br />

Die Qual der Wahl<br />

Wirbrauchen ein neues Wahlrecht,<br />

damit das Parlament künftig nicht noch größer wird.<br />

So lautete der Auftrag an eine Parlamentskommission des<br />

Bundestages unter Vorsitzdes Bundestagspräsidenten<br />

Wolfgang Schäuble. Ein Jahr lang tagte sie –ohne Ergebnis.<br />

Dabei geht es um die wichtigste Frage der Demokratie:<br />

Wiewählen wir die Volksvertreter?<br />

Erststimme<br />

Mit der Erststimme wird der Kandidat<br />

eines Wahlkreises direkt gewählt.<br />

Gewonnen hat der Kandidat mit den<br />

meisten Stimmen<br />

14 Wahlkreise gewonnen,<br />

14 Direktmandate<br />

Beispiel<br />

Zweitstimme<br />

Legt die Anzahl der Sitze im Parlament<br />

fest, die einer Partei zusteht<br />

(Zusammensetzung des Bundestages<br />

nach Parteien)<br />

Nach Auszählung der Zweitstimmen<br />

stehen der Partei nur 10 Sitze zu<br />

VonChristine Dankbar<br />

3. Wie<br />

?<br />

soll nun die Lösung aussehen?<br />

Nachdem die Wahlrechtskommission des<br />

Bundestages keinen gemeinsamen Kompromiss<br />

finden konnte,präsentierte zunächst<br />

Bundestagspräsident Wolfgang<br />

Schäuble (CDU) einen eigenen Vorschlag.<br />

Danach soll die Zahl derWahlkreise von299<br />

auf 270 reduziertwerden. Überhangmandate<br />

sollen bis zu einer Zahl von15nicht<br />

ausgeglichen werden. Dasprovozierte sofortWiderspruch.<br />

Grüne,SPD,Linke und<br />

FDP warfen Schäuble vor, dasWahlrecht zugunsten<br />

der Union verändernzuwollen, weil<br />

diese die meisten Direktmandate und damit<br />

Überhangmandate erringt. CDU und CSU<br />

lehnen denVorschlag aber auch ab.Sie wollen<br />

keine Reduzierung derWahlkreise.<br />

4. Wasschlägt die Opposition vor?<br />

Grüne,Linke und FDP präsentieren einen<br />

eigenen Vorschlag. Er sieht eine<br />

Reduzierung der Wahlkreise und<br />

gleichzeitig eine Anhebung der Sollgröße<br />

des Bundestages auf 630 Mandate<br />

vor. DasVerhältnis vonDirektkandidaten<br />

und Listenplätzen soll nicht<br />

mehr 50:50 betragen, sonderneher<br />

40:60 zugunsten der Listenkandidaten.<br />

Außerdem sollen die zugesicherten Sitzkontingente<br />

für die Bundesländer abgeschafft<br />

werden. Statt Überhangmandate<br />

zu schaffen, die ausgeglichen werden<br />

müssen, könnte man so die Wahlergebnisse<br />

zwischen den Ländernwieder<br />

verrechnen.<br />

4Überhangmandate<br />

10 Sitze aus der Anzahl der Zweitstimmen<br />

Die Gesamtzahl der Sitze im Parlament erhöht sich um die Anzahl der Überhangmandate<br />

65 Sitze<br />

+4<br />

endgültige<br />

Sitzverteilung<br />

65 Sitze<br />

Verteilung der Sitze<br />

nach Zweitstimmenergebnis<br />

BLZ/GALANTY; QUELLE: AFP<br />

5. Wie waren die Reaktionen auf die Vorschläge?<br />

DieUnion lehnt bisher die Reduzierung von<br />

Wahlkreisen kategorisch ab.Stattdessen<br />

brachte sie einen alten Vorschlag des früheren<br />

Bundestagspräsidenten NorbertLammert<br />

(CDU) ein. Er sieht ebenfalls vor, bis zu 15<br />

Überhangmandate nicht mehr auszugleichen<br />

und außerdem die Mandate im Bundestag auf<br />

maximal 630 zu deckeln. Diese Kombination<br />

würde das Gewicht der Direktmandate weiter<br />

verstärken. „Dieser Vorschlag findet keine Unterstützung.<br />

Er würde das Wahlergebnis völlig<br />

zugunsten der Union verzerren“, sagt die Parlamentarische<br />

Geschäftsführerin der Grünen,<br />

Britta Haßelmann. Lege man dasWahlergebnis<br />

von2017 zugrunde,hätte die Union 27 Sitze<br />

mehr als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis<br />

zustehen würden.<br />

6. Wasist eigentlich mit der Frauenquote?<br />

Über sie zu sprechen, war nicht Teil des Auftrags<br />

der Wahlrechtskommission. DerLinken-Abgeordnete<br />

Friedrich Straetmanns<br />

sprach das Thema gleich in der ersten Sitzung<br />

an, die Grünen-Abgeordnete brachte<br />

es Anfang des Jahres erneut ein. Es wurde<br />

mit Verweis auf den ohnehin schwierigen<br />

Auftrag der Kommission ausgeklammert.<br />

Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann<br />

(SPD) brachte im Januar einen eigenen<br />

Vorschlag dazu ein. Er umfasst die Reduzierung<br />

der Wahlkreise auf 120. Dafür sollten<br />

aber in jedem künftig ein Mann und eine<br />

Frau direkt gewählt werden. Jeder Wähler<br />

hätte dann insgesamt drei Stimmen. DieReaktion<br />

auf den Vorstoß war verhalten.<br />

?<br />

7. Wie soll es weitergehen?<br />

Bisher ist nicht abzusehen, wie eine Einigung<br />

aussehen könnte.Die Vorschläge von<br />

Union und Opposition liegen dafür zu weit<br />

auseinander.Unklar ist das Verhalten der<br />

SPD.Inder Kommission hatte sie noch den<br />

Eindruck erweckt, dem Vorschlag vonGrünen,<br />

Linken und FDP zuzuneigen. Nunhört<br />

man allerdings nur noch Allgemeinplätze,<br />

wonach man optimistisch sei und mit allen<br />

noch einmal reden wolle.Diskussionsbereitschaft<br />

signalisieren auch alle anderen Beteiligten.<br />

Da dieWahlrechtskommission ihreArbeit<br />

offiziell, wenn auch ohne Ergebnis,beendet<br />

hat, sollen nun die Fraktionsvorsitzenden<br />

miteinander reden.<br />

PLATZ DER REPUBLIK<br />

Der Spion, der<br />

an die Türe kam<br />

Markus Decker<br />

über eine Recherche mit Hindernissen<br />

Kürzlich war ich im Bundestag<br />

unterwegs. Und da war mir ein<br />

bisschen unbehaglich. Ich geriet<br />

nämlich in den Verdacht, ein Spion<br />

der AfD zu sein.<br />

Ich war bei einer Recherche darauf<br />

gestoßen, dass die Hausordnung<br />

des Bundestages geändert werden<br />

sollte.Waffen aller Art, so erfuhr ich,<br />

sollten künftig verboten sein. Auslöser<br />

war der Mitarbeiter eines AfD-<br />

Bundestagsabgeordneten, der bei einem<br />

Besuch der EU-Kommission in<br />

Brüssel mit einem Messer aufkreuzte<br />

und später behauptete, dieses Messer<br />

gebe er im Bundestag immer an<br />

der Pforte ab – was kein Mensch<br />

glaubt.<br />

Das mit dem Messer war die eine<br />

Geschichte. Die andere Geschichte<br />

war, dass die Hausordnung Ende<br />

vergangenen Jahres schon an einer<br />

anderen Stelle geändertwurde.Esist<br />

seither untersagt, Plakate oder Ähnliches<br />

an den Außentüren der Abgeordnetenbüros<br />

anzubringen. Mir<br />

waren derlei Plakate vorallem in den<br />

Fluren der Linksfraktion immer mal<br />

wieder aufgefallen.<br />

Undsomachte ich mich zu einer<br />

kleinen Recherche auf den Wegdorthin.<br />

In der Tatentdeckte ich noch das<br />

eine oder andere. Auf einem Plakat<br />

wurde für Proteste gegen die Abholzung<br />

des Hambacher Forsts geworben,<br />

auf einem zweiten für Solidarität<br />

mit dem einst streikenden Personal<br />

der <strong>Berliner</strong> Charité und auf einem<br />

dritten für Proteste gegen den<br />

„Mietenwahnsinn“. Auf einem vierten<br />

Plakat stand:„8. Mai1945: Befreiung<br />

–Was sonst!?“<br />

Ichzückte mein iPhone und fotografierte.<br />

Allerdings war ich nicht<br />

lange allein. Bald näherten sich diverse<br />

Linken-Mitarbeiter, uminErfahrung<br />

zu bringen, was ich da täte.<br />

Erst nach und nach wurde mir klar,<br />

warum. Demnach sind zuweilen<br />

Emissäreder AfD auf den Fluren der<br />

Linken unterwegs, umzusehen, ob<br />

dort die Hausordnung eingehalten<br />

wird.<br />

Auch sonst steigt die Nervosität im<br />

Hohen Haus. Der Linken-Abgeordnete<br />

Michel Brandt hat soeben Klage<br />

beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.<br />

Die Bundestagspolizei war<br />

während des Besuches des türkischen<br />

Präsidenten Recep Tayyip Erdogan<br />

im September letzten Jahres<br />

ohne seinWissen in Brandts Büroeingedrungen,<br />

um eine Kurdistan-Fahne<br />

und eine Fahne der kurdischen Miliz<br />

YPG zu entfernen. Erdogan sind die<br />

Kurden ein Dorn imAuge. Auch findet<br />

er, dass die deutschen Sicherheitsbehörden<br />

zu wenig gegen ihre<br />

Sympathisanten unternehmen.<br />

Und dann ist da die Episode mit<br />

der SPD-Abgeordneten Daniela De<br />

Ridder, die nach einer Parlamentsdebatte<br />

von Angehörigen des in Venezuela<br />

inhaftierten und später wieder<br />

freigelassenen Journalisten Billy<br />

Six von dessen Eltern und Großeltern<br />

verbal attackiert wurde. Die<br />

Debatte war von der AfD beantragt<br />

worden. Mansieht einmal mehr:Die<br />

Spannungen, die in der Gesellschaft<br />

existieren, finden sich auch im Bundestag<br />

selbst.<br />

Nachdem ich meinen Presseausweis<br />

gezeigt und so meine Identität<br />

als Journalist unter Beweis gestellt<br />

hatte, wich das Misstrauen der Linken-Mitarbeiter<br />

übrigens. Mich hat<br />

das erleichtert. Ichkomme mir doch<br />

sehr ungernwie ein Einbrecher vor.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!