Berliner Kurier 23.06.2019
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BERLINER KURIER, Sonntag, 23. Juni 2019<br />
Orientierungshilfe<br />
im Ortskern:<br />
Der Haus Seein<br />
Herzsprung ist<br />
leider zu<br />
verschlammt<br />
zum Baden.<br />
Es gab früher einen Konsum,<br />
heute nicht mal mehr einen<br />
Arzt.<br />
Am Abend auf dem Dorffest,<br />
bei Lübzervom Fass, aus<br />
Plastikbechern ohne Pfand,<br />
kam ich mit den Dorfbewohnern<br />
ins Gespräch: wie<br />
schwer es ist, mit dem Rauchen<br />
aufzuhören oder ständig<br />
auf Montage zu sein, wer<br />
zurückkommt nach Herzsprung,<br />
welche Erben sich<br />
über welche Haushälfte<br />
streiten. Herr Albrecht, der<br />
Ortsvorsteher, der immer nur<br />
„Mädchenalster“ bestellte,<br />
hat Probleme, ein bezahlbares<br />
Zimmer in Berlin für seinen<br />
Sohn zu finden. Vom<br />
Mindestlohn kann man nicht<br />
leben, hörte ich die Leute sagen;<br />
auch dass die Diebe über<br />
die Autobahn kommen, mit<br />
der Beute nach Polen verschwinden.<br />
Und dass man<br />
auf seine Kinder aufpassen<br />
muss, es passiere so viel<br />
Scheiße zurzeit. Die Sorgen<br />
verstand ich, die Ängste teilte<br />
ich nicht.<br />
Ich kaufe die Tickets am Ostbahnhof,<br />
RE6, der Prignitz-<br />
Express, die Satteltasche<br />
hängt am Leihrad, das Zelt<br />
klemmt hinten drauf. Das ist<br />
der erste Teil unserer Sommerserie,<br />
in den nächsten<br />
Wochen werden wir Berlins<br />
nahen Osten bereisen, über<br />
Nacht bleiben, Gespräche suchen,<br />
besondere Menschen<br />
finden. Im Gepäck ist Neugier<br />
und die Lust auf ein mittelgroßes<br />
Abenteuer.<br />
Zwei Stunden soll die Fahrt<br />
nach Wittstock dauern, dann<br />
zwölf Kilometer über die<br />
Landstraße 14 nach Herzsprung,<br />
das ist der Plan; Biker<br />
haben dafür einen Route Captain.<br />
Bald stellt sich heraus,<br />
dass ich das DB-Zusatzpaket<br />
„heute außerplanmäßig“ gebucht<br />
habe. Die Fahrt endet<br />
vorerst in Neuruppin West,<br />
zwischen Fliesen Glantz und<br />
Netto.<br />
Ich werde mit einer Stunde<br />
Verspätung in Wittstock ankommen,<br />
zur gleichen Zeit<br />
wird Ortsvorsteher Albrecht<br />
in Herzsprung das Sommerfest<br />
eröffnen. Er hätte mich<br />
auf die Bühne geholt, wird er<br />
später sagen, wenn ich pünktlich<br />
gewesen wäre –ummich<br />
vorzustellen. Jetzt schreibt<br />
er: „Hallo Herr Linke, Weg<br />
verpasst?“<br />
Es sind noch zehn Kilometer,<br />
und ich fühle mich wie ein<br />
Ausreißer bei der Tour de<br />
France. Einer, der die L14 verflucht<br />
und den Kopf über sich<br />
selbst schüttelt, weil es so naiv<br />
war, auf Rückenwind zu hoffen;<br />
dann einer, der erleichtert<br />
feststellt, dass der Ortsname<br />
Scharfenberg keine außerplanmäßige<br />
Besonderheit<br />
aufweist. Im Nacken sitzt mir<br />
nicht das Peloton, es sind die<br />
Vorboten eines<br />
Sonnenbrands.<br />
Ich frage mich oft,<br />
was Menschen fühlen,<br />
wenn sie auf einer Autobahnbrücke<br />
stehen, ihre Blicke<br />
auf die Fahrspuren in der<br />
Tiefe heften. Ich fühle nichts,<br />
als ich vier Kilometer vor<br />
Herzsprung auf die A24<br />
schaue. Da sind Autos, Lkws,<br />
eine Baustelle, in der Sonne<br />
flirrender Asphalt, gesäumt<br />
von Bäumen. Ich bin zwar in<br />
Polen geboren, aber ich suche<br />
keinen Fluchtweg.<br />
Ich brauche mehr Wasser,<br />
dann fällt mir ein, dass ich die<br />
Badehose vergessen habe. Der<br />
See in Herzsprung ist zu verschlammt,<br />
werde ich nach<br />
meiner Ankunft vom Ortsvorsteher<br />
Albrecht erfahren.<br />
Bagger müssten kommen, dafür<br />
gibt es kein Geld. Der letzte<br />
Versuch kurz nach dem<br />
Mauerfall ist irgendwie missglückt.<br />
Die Straße ist abschüssig,<br />
ich rolle insDorf. Keine Menschen,<br />
kein Müll, einem<br />
Kreuzberger fällt das auf. Ich<br />
finde einen Wegweiser: Haus<br />
See, Dorfgemeinschaftshaus,<br />
Kindergarten, Motorradclub.<br />
Beim Rundgang entdecke ich<br />
einen Briefkasten, der einmal<br />
täglich um neun Uhr morgens<br />
geleert wird, das Haus der<br />
Freiwilligen Feuerwehr, eine<br />
Rettungsstelle, Gedenksteine<br />
für die Gefallenen aus zwei<br />
Weltkriegen,<br />
eine Tafel,<br />
die an die Todesmärsche<br />
im April 1945 erinnert: „Ihr<br />
Vermächtnis lebt in unseren<br />
Taten fort.“ Sachsenhausen<br />
ist siebzig Kilometer entfernt.<br />
Wer von der A24 kommt, liest<br />
am Ortseingang von Herzsprung<br />
ein Wahlplakat der<br />
Linkspartei: „Aufstehen gegen<br />
Rassismus“.<br />
Auf dem Dorfwappen<br />
prangt eine Kirche –darunter<br />
ein gebrochenes Herz. Der<br />
Legende nach soll ein Burgfräulein<br />
um ihren Liebsten getrauert<br />
haben, jeden Tag nach<br />
der Todesnachricht, auf einem<br />
Hügel, wo sie sich verabschiedet<br />
hatten, bevor er in<br />
den Krieg zog. In einem Gedicht<br />
heißt es: „Die Jahre –sie<br />
vergingen. Ihr blieb nur Einsamkeit.<br />
Die hat sie nicht bezwungen;<br />
ihr ist das Herz zersprungen<br />
vor lauter Herzeleid.“<br />
Auf dem Hügel wurde<br />
eine Felssteinkirche errichtet<br />
Hier oben sitzt die Kirchenoberste<br />
oft mit ihren Enkeln,<br />
auf einer<br />
Holzbank,<br />
sie mag den<br />
Ort, den Blick<br />
nach Fretzdorf, sagt<br />
sie nach der Führung,<br />
wenn die Blätter nicht die<br />
Sicht versperren im Winter.<br />
Manchmal erzählt sie ihren<br />
Enkeln von der Legende, aber<br />
die Enkel mögen lieber die<br />
Schnecken im Gras. „InHerzsprung<br />
ticken die Uhren anders“,<br />
sagt die Kirchenoberste.<br />
Ich bin der Fremde mit dem<br />
Fahrrad, denke ich nach ein<br />
paar Stunden im Dorf, der<br />
verschwitzte Typ, der sein<br />
Zelt aufschlagen will und sich<br />
immer noch nicht traut, die<br />
Lederkuttenträger am Bierstand<br />
anzusprechen.<br />
Für die Dorfbewohner bin<br />
ich einer aus der großen Stadt.<br />
Aber eben keiner wie die Zugezogenen,<br />
die in Herzsprung<br />
heimisch geworden sind. <strong>Berliner</strong><br />
werden Buletten genannt.<br />
Die Wildschweinleberwurst<br />
ist würzig, kühl sind die dicken<br />
Margarinescheiben darunter.<br />
Ich bekomme Kaffee,<br />
türkisch aufgegossen, das Pulver<br />
schwimmt noch. So stelle<br />
ich mir den Haus See vor.<br />
„Die Absicht war,“ sagt Eggi<br />
zwischen zwei Bissen und beginnt<br />
die Geschichtsstunde,<br />
„der Stasi und dem Staat aus<br />
dem Weg zu gehen. Es waren