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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 161 · M ontag, 15. Juli 2019 11 *<br />
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Berlin<br />
Martin Hikels Schreibtisch<br />
sieht nach Arbeit<br />
aus: Gelbe Notizzettel,<br />
Mappen, Papiere, Ordner<br />
stapeln sich. Zum Interview<br />
kommt der 33-jährige SPD-Politiker<br />
direkt vonder Einweihung des ersten<br />
geschützten Radwegs in Neukölln.<br />
Das ist Chefsache. Jetzt hat der Bezirksbürgermeister<br />
eine Stunde Zeit,<br />
dann geht es schon wieder weiter.Ein<br />
Gespräch über Clanstrukturen, das<br />
Tempelhofer Feld und warum sich<br />
Hikel lieber Milch beim Nachbarn<br />
leiht als sonntags zum Späti zu gehen.<br />
Herr Hikel, Siesind jetzt seit mehr als<br />
einem Jahr Bezirksbürgermeister von<br />
Neukölln. EinBezirk, der gegensätzlicher<br />
nicht sein könnte. Hier die hippen<br />
Bars, da Armut und Clankriminalität.<br />
Istdas immer nur Herausforderung<br />
oder manchmal auch Überforderung?<br />
Zu dem Schluss könnte man<br />
kommen. Aber mir ist es nicht zu<br />
viel, ich wusste ja, worauf ich mich<br />
eingelassen habe. Ich habe hier<br />
schon lange Politik gemacht, bin hier<br />
groß geworden und weiß daher, wie<br />
divers der Bezirk ist: der bürgerliche<br />
Süden, der Probleme mit Rechtsradikalismus<br />
und Neonazis hat, und<br />
der Norden mit seinen sozialen<br />
Brennpunkten. Es ist eine Herausforderung,<br />
jeden Tag. Aber es macht<br />
Spaß.<br />
Wie würden Sie einem Ortsunkundigen<br />
Neukölln in drei Wörtern beschreiben?<br />
Ich brauche nur zwei. Bienenstich<br />
und Baklava.<br />
Ihre beiden Vorgänger, Heinz Buschkowsky<br />
und Franziska Giffey,sind inzwischen<br />
berühmt. Jeder auf seine eigene<br />
Weise. Große Fußstapfen. Können<br />
Siesich davon frei machen?<br />
Ich bin mir bewusst, warum man<br />
hier im Bezirk schon große Erfolge<br />
feiern konnte. Das ist auf eine lange<br />
Tradition zurückzuführen. Das<br />
bringt natürlich für mich eine große<br />
Verantwortung mit sich. Man muss<br />
sich aber davon frei machen, genau<br />
dasselbe machen zu wollen. Ich verfolge<br />
die gleiche Richtung. Ich habe<br />
aber eine andereSchuhgröße.<br />
„Neukölln ist<br />
Bienenstich und Baklava“<br />
Martin Hikel (SPD)<br />
hat 2018 das Amt des<br />
Bezirksbürgermeisters<br />
übernommen –von<br />
Franziska Giffey.<br />
Ein Gespräch über die<br />
Gegensätzlichkeiten<br />
des Bezirks zwischen<br />
Bars, Clans und<br />
Wohnungsnot<br />
kurrenten gegenüber nur gerecht,<br />
wenn Verstöße am Sonntag auch geahndet<br />
werden.<br />
Hand aufs Herz, wann haben Sie zuletzt<br />
am Sonntag beim Späti eingekauft?<br />
Ich kann mich nicht daran erinnern.<br />
Die Supermärkte haben Sonnabend<br />
bis 23.30 Uhrauf.Wirhaben in<br />
Berlin eines der liberalsten Ladenöffnungsgesetze.<br />
Und wenn mir am<br />
Sonntag eine Milch fehlt, dann frage<br />
ich meinen Nachbarn. Ich verstehe<br />
diese aufgeregte Debatte nicht, die<br />
Sonntagsöffnung bis aufs Blut forcieren<br />
zuwollen. Aber wenn man das<br />
will, dann muss man die Rechtslage<br />
ändern.<br />
Apropos Rechtslage. Inzwischen werden<br />
die Rufe nach einer Randbebauung<br />
auf dem Tempelhofer Feld wieder<br />
lauter,obwohl das durch das THF-Gesetz<br />
verboten ist. Das Feld wird auch<br />
vonNeuköllnern starkgenutzt.Wiesehen<br />
Siedas?<br />
Der Volksentscheid von 2014 ist<br />
bindend und hat eine breite Mehrheit<br />
gefunden. Ichpersönlich halte es für<br />
sinnvoll, diese Debatte noch mal zu<br />
führen und die <strong>Berliner</strong> zu fragen, unter<br />
welchen Bedingungen sie sich<br />
eine Bebauung auf dem Feld vorstellen<br />
können.<br />
Wiekönnte ein Konzept aussehen?<br />
Der soziale Wohnungsbau muss<br />
eine große Rolle spielen und zugleich<br />
muss die Freiheit des Feldes sichergestellt<br />
werden. Es dürfen keine<br />
Wohnblocks entstehen, es muss luftig<br />
sein. Manmuss bei allen Planungen<br />
sicherstellen, dass das Feld auch<br />
weiterhin den <strong>Berliner</strong>innen und<br />
<strong>Berliner</strong>n zur Verfügung steht. Das<br />
Feld ist riesig, man kann daraus viel<br />
machen. Es müssten Bäume gepflanzt<br />
werden. Das alles muss aber<br />
gemeinsam mit der Stadtgesellschaft<br />
diskutiertwerden. Wenn die <strong>Berliner</strong><br />
das Feld trotzdem nicht anrühren<br />
wollen, muss man das akzeptieren.<br />
Ich würde es aber bedauern. Der<br />
Druck auf dem Wohnungsmarkt ist<br />
derart hoch, dass man da die Luft<br />
rauslassen muss. Nur durch Nachverdichtung<br />
in Wohnquartieren wird<br />
das nicht passieren.<br />
Wasunterscheidet Siedenn vonFranziska<br />
Giffey?<br />
Die neuen Wege ergeben sich ab<br />
dem Zeitpunkt, wo neue Herausforderungen<br />
anstehen. Das konsequente<br />
Durchgreifen bei Ordnungswidrigkeiten<br />
und Straftaten auf der<br />
einen Seite und die Schwerpunktsetzung<br />
auf Bildung und Integration auf<br />
der anderen ist eine Linie,die wir seit<br />
2001 fahren. Undindiese Linie füge<br />
ich mich gernein. Davonmöchte ich<br />
mich gar nicht frei machen. Ich will<br />
hier in Neukölln Demokratie und<br />
friedliches Zusammenleben fördern.<br />
Deshalb bin ich hier. Ich will keinen<br />
ausschließen, deshalb ist Integration<br />
und Teilhabe so wichtig. Bildung<br />
heißt für mich, dass keiner ausgeschlossen<br />
wird und dass klar wird:<br />
Die Neuköllner Schüler sind nicht<br />
dümmer als in Steglitz-Zehlendorf.<br />
Es schlummern die gleichen Potenziale<br />
in den Jugendlichen, aber sie<br />
brauchen auch die gleichen Chancen.<br />
Und das verstehe ich als meine<br />
Aufgabe.<br />
Sind Sie ineinem guten Austausch<br />
mit der Bundesfamilienministerin?<br />
Als Franziska Giffey noch Bürgermeisterin<br />
und ich Fraktionsvorsitzender<br />
war,standen wir in einem engen<br />
Dialog. Unsere Terminkalender<br />
sind aber heute so voll, dass wir uns<br />
jetzt nicht mehr jeden Tagaustauschen<br />
können. Aber bei wichtigen<br />
Dingen schreiben wir uns.<br />
Neukölln verbindet man über die<br />
Landesgrenzen hinweg mit Clankriminalität.Wieso<br />
bekommt Berlin, bekommt<br />
Neukölln, das Problem nicht<br />
in den Griff?<br />
Zunächst einmal:Wirhaben Neukölln<br />
im Griff, weil wir hier seit Jahrenschon<br />
einen Schwerpunkt in der<br />
Bekämpfung der Clankriminalität<br />
setzen. Wirhaben aber ein Integrationsproblem,<br />
weil jahrzehntelang<br />
nichts gemacht wurde und man einfach<br />
weggeguckt hat. Wenn Menschen<br />
in die Stadt kommen und man<br />
ihnen die Teilhabe verwehrt, ihnen<br />
Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) in seinem Büro im Rathaus in der Karl-Marx-Straße.<br />
keine klaren Grenzen setzt, Kinder<br />
zeitweise nicht zur Schule gehen<br />
durften und die Eltern nicht ausreichend<br />
verdienen, dann muss man<br />
sich nicht wundern. In den 80ern<br />
und 90ernhat man damit eine Parallelstruktur<br />
geschaffen. Das ist nicht<br />
nur einVerschulden der Politik. Jeder<br />
Einzelne muss sich da an die Nase<br />
fassen. Der Druck kam ja in den<br />
90er-Jahren aus Teilen der Bevölkerung,<br />
laute Stimmen wehrten sich<br />
gegen Asylbewerber. Und die Politik<br />
hat daraufhin die Gesetzeverschärft.<br />
Und das war natürlich der falsche<br />
Umgang. Man betrieb Ausgrenzung<br />
statt Integration. Seit 2001 wurde das<br />
offen in Neukölln angemahnt, und<br />
es begann ein Umdenken und Umlenken.Wirhaben<br />
in Sachen Integration<br />
seitdem sehr viel erreicht.<br />
Trotzdem ist es schwer,die Clanstrukturen<br />
aufzubrechen.<br />
DerTeil, den man dazu zählt, lebt<br />
in Familienstrukturen, die sich untereinander<br />
Loyalität zusichern und<br />
die zudem nach eigenen Gesetzen<br />
funktionieren. Diese Familien schützen<br />
sich so nicht nur vor anderen,<br />
sondern sie schützen sich auch untereinander<br />
vordem Staat. DerStaat<br />
ist für diese Familien der Feind.<br />
Diese Denke ist in einigen Familien<br />
kultiviert worden, da kommt man<br />
auch nur schwer ran. Das betrifft<br />
aber nur einige, manchmal sehr wenige<br />
Familienmitglieder. Doch diese<br />
wenigen versauen den Ruf von vielen.<br />
Wastun Siedenn konkret?<br />
Wirfahren viele Einsätze, machen<br />
Kontrollen in Spielhallen oder<br />
Shisha-Bars. Die Zusammenarbeit<br />
zwischen Ordnungsamt und Polizei<br />
ist mittlerweile sehr eng.Wirsind viel<br />
präsenter.Die großen Fische,mit denen<br />
wir es früher immer häufig zu<br />
tun hatten, treffen wir mittlerweile<br />
seltener an. Das ist ein Indiz dafür,<br />
dass diese Leute vorsichtiger geworden<br />
sind –und unser Wegfunktioniert.<br />
Jeder Einsatz ist ein Erfolg, weil<br />
wir Recht und Gesetz durchsetzen.<br />
Das fängt beim Zweite-Reihe-Parker<br />
an und hört bei illegalen Spielautomaten,<br />
Drogenverkäufen und Verstößen<br />
gegen das Kriegswaffengesetz<br />
auf. Jede Anzeige, jede Festnahme<br />
ist ein Erfolg, weil dadurch<br />
Schaden von der Allgemeinheit abgewehrt<br />
wird. Das ist keine Zeitverschwendung.<br />
Unddie andereSeite? Sind die Strafen<br />
nicht oftmals viel zu milde?<br />
Sicherlich gibt es einige, die sagen:<br />
„Eine vierstellige Geldstrafe<br />
juckt mich nicht.“ Langfristig macht<br />
das in der Community aber schon<br />
Eindruck.<br />
„ “<br />
Lassen<br />
Sie uns<br />
über Berlin<br />
reden<br />
Bürgermeister<br />
spezial<br />
Martin Hikel ist seit März 2018 Bezirksbürgermeister vonNeukölln. Er hat das Amt als Nachfolger<br />
vonFranziska Giffeyübernommen, nachdem diese Bundesfamilienministerin geworden<br />
war.Der 33-Jährigeist in Berlin-Friedrichshain geboren und trat 2005 in die SPD ein. Vier<br />
Jahre später wurde er Vorsitzender der Jusos in Neukölln. Hikel ist vonBeruf Lehrer für Politikwissenschaften<br />
und Mathematik.<br />
Fraktionsvorsitzender der SPD in Neukölln in der Bezirksverordnetenversammlung wurde Hikel2016.<br />
Hikel ist verheiratet. Er ist der jüngste Bezirksbürgermeister Berlins.<br />
Auch in Neukölln gibt es zum Beispiel<br />
am Hermannplatz seit dem vergangenen<br />
Jahr mobile Wachen. Washaben<br />
die bisher gebracht?<br />
Man muss sich davon lösen, dass<br />
die mobilen Wachen einen Kriminalitätsschwerpunkt<br />
nachhaltig beseitigen.<br />
Viele Bürgerinnen und Bürger<br />
sind durchaus erfreut, dass dortjetzt<br />
etwas getan und genauer hingesehen<br />
wird. Der Mehrwert dieser Wachen<br />
ist, dass sie einen bürgernahen<br />
und barrierefreien Zugang zur Polizeiermöglichen.<br />
GERD ENGELSMANN<br />
Gleichzeitig zu diesen Problemen wird<br />
Neukölln immer hipper,vor allem im<br />
Norden rund um denWeserkiez reihen<br />
sich Bars und Restaurants aneinander.Wie<br />
wirkt sich die neue Mischung<br />
aus?<br />
Die soziale Durchmischung, die<br />
im Norden stattfindet, finde ich gut.<br />
Ichfreue mich, wenn junge Familien<br />
nach Neukölln ziehen und bleiben<br />
wollen. Aber wir haben dort inzwischen<br />
eine punktuelle Übernutzung.<br />
DieWeserstraße ist nachts eine Partymeile.<br />
Davon hat der Kiez nichts. Es<br />
gibt auch immer mehr Anwohnerbeschwerden<br />
wegen hoher Lärmbelastung.<br />
Droht Neukölln ein Schicksal wie<br />
Prenzlauer Berg?<br />
Die Gefahr besteht insofern, als<br />
auch dort schon erste Clubs schließen<br />
mussten. So etwas finde ich<br />
kleinstädtisch. Dorfidylle kann man<br />
nicht nach Nord-Neukölln importieren.<br />
Mich aber stört, dass das gastronomische<br />
Angebot etwa im Reuterkiez<br />
deutlich über eine normale Versorgung<br />
hinausgeht, und das bringt<br />
natürlich Probleme mit sich. In anderen<br />
Kiezen gibt es schon erste Tendenzen<br />
in diese Richtung. Das müssen<br />
wir mäßigen.<br />
Wie?<br />
Wir müssen uns systematisch anschauen,<br />
wie die Situation real aussieht,<br />
welches Gewerbe und welche<br />
Gaststätte wo und wie angemeldet ist<br />
–oder auch nicht angemeldet ist. Das<br />
tun wir gerade.Und dann prüfen wir,<br />
über stadtplanerische Mittel einzugreifen.<br />
Dasist aber Sisyphos-Arbeit.<br />
Vonder Barzum Späti. Gerade hat ein<br />
Urteil noch mal den Rechtsrahmen<br />
bestätigt, dass Spätis am Sonntag<br />
nicht öffnen dürfen. Die Umsetzung<br />
des Gesetzes ist Sache der Bezirke. Was<br />
ist IhreLinie?<br />
Wirgehen Beschwerden nach und<br />
wir kontrollieren regelmäßig. Daswar<br />
vor dem Urteil gängige Praxis und ist<br />
es auch weiterhin. Eine besondere<br />
Ahndung oder Konzentration wirdes<br />
aber nicht geben, dazu haben wir ein<br />
viel zu breites Aufgabenspektrum.<br />
Wirhaben eine eindeutige Rechtslage<br />
und ich erwarte,dass die Bezirke das<br />
auch durchsetzen. Erstens kann ich<br />
mir die Rechtslage nicht aussuchen,<br />
und zweitens finde ich es den Kon-<br />
Der Mietenanstieg trifft Neukölln besonders<br />
hart. Dort sind die Mieten in<br />
den vergangenen Jahren um rund<br />
150 Prozent gestiegen.<br />
Dasist in Neukölln eine große Herausforderung.<br />
Daher begrüße ich den<br />
Mietendeckel. Aber diese fünf Jahre,<br />
in denen die Mieten eingefroren werden<br />
sollen, müssen dazu genutzt werden,<br />
neue Wohnungen zu bauen.<br />
Sonst wird sich die Situation danach<br />
nicht verändert haben. Wenn sich<br />
nichts ändert, ist der Norden bald<br />
durchgentrifiziert. Der Mittelstand<br />
wirdsich das nicht mehr leisten können.<br />
Dann leben da Menschen, die<br />
mit der Stadt nicht viel zu tun haben.<br />
Dann würde Neukölln nicht mehr<br />
Neukölln sein.<br />
Wasist die Folge?<br />
Die Menschen ziehen in die Peripherie.<br />
Dann entwickeln sich dort<br />
Communitys, die immer weiter isoliert<br />
werden. Deshalb müssen wir<br />
auch das Umland, die wachsenden<br />
brandenburgischen Gemeinden,<br />
besser und attraktiv erschließen, damit<br />
es zu keinen Satellitenstädten<br />
kommt und diese Gegenden nicht<br />
abgeschnitten, sondern indie Stadt<br />
integriert werden. Dazu gehören<br />
Taktverdichtungen und die S- und U-<br />
Bahnverlängerungen. Undich werde<br />
mich weiterhin vehement dafür einsetzen,<br />
dass der Senat sich dazu<br />
durchringt, die U7 zu verlängern. Das<br />
symbolisiertnicht nur den Anschluss<br />
an den BER, der hoffentlich im nächsten<br />
Jahr öffnet, sondern vor allem<br />
auch die Erschließung der Wohnquartiere,<br />
die direkt vorBerlin entstehen.<br />
Wir wollen, dass die Menschen<br />
auf die Bahn ausweichen und nicht<br />
mit dem Auto in die Stadt fahren.<br />
Dazu müssen wir ihnen eine Alternativeanbieten.<br />
Sind Sie infünf Jahren noch Bezirksbürgermeister<br />
vonNeukölln?<br />
Ja.<br />
DasInterviewführte<br />
Melanie Reinsch.