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8* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 161 · M ontag, 15. Juli 2019<br />
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Meinung<br />
Nahverkehr<br />
ZITAT<br />
Warnung vor der<br />
365-Euro-Falle<br />
Peter Neumann<br />
sieht Michael Müllers Vorschlag<br />
weiterhin skeptisch.<br />
Was die Wirkung in der Öffentlichkeit<br />
anbelangt, kann Michael Müller einen<br />
Erfolg für sich verbuchen. Als der Regierende<br />
Bürgermeister den Beschluss<br />
des SPD-Landesparteitags vom November<br />
bekräftigte, dass Berlin wie Wien ein<br />
Jahresticket für 365 Euro bekommen soll,<br />
löste er damit eine breite Diskussion aus.<br />
Zunächst einmal: Dass der Fahrpreis<br />
eine Rolle spielt, wenn sich jemand für ein<br />
Verkehrsmittel entscheidet, ist klar. Aber<br />
selbst bei einem Nulltarif gäbe es weiterhin<br />
viele Menschen, die keine Lust darauf<br />
haben, sich mit anderen in vollen Bahnen<br />
zu drängen –und lieber Auto fahren, sofern<br />
dies in ihrer Stadt halbwegs möglich<br />
ist. In der DDR war es billig, den Nahverkehr<br />
zu nutzen. Trotzdem ließen viele<br />
Menschen die unattraktiven Fahrzeuge<br />
und das unfreundliche Personal hinter<br />
sich, als sie ihr Auto geliefertbekamen. So<br />
viel steht fest: DerFahrpreis ist nicht alles.<br />
Sicher, beim Angebot bleibt weiter einiges<br />
zu wünschen übrig. Dennoch kann<br />
sich Berlins Nahverkehr sehen lassen. Es<br />
ist eine große Leistung, dieses Räderwerk<br />
am Laufen zu halten. Darum verdient es<br />
auch, von den Nutzern angemessen bezahlt<br />
zu werden. Wiedie Zahl von658 000<br />
Abokunden zeigt, sind viele dazu bereit.<br />
Statt Geld zu verschenken, sollte der<br />
Senat lieber daran arbeiten, dass das Strecken-<br />
und Busspurennetz zügiger wächst<br />
als im jetzigen Schneckentempo.Ersollte<br />
mit höheren Parkgebühren und mehr<br />
Parkzonen dazu anregen, umweltfreundliche<br />
Fortbewegungsarten zu nutzen.<br />
Doch er sollte sich nicht in die 365-Euro-<br />
Falle begeben. Die Tarifstabilität in Wien<br />
seit 2012 zeigt, wie schwierig es würde,<br />
diesen Marketingpreis zu erhöhen, wenn<br />
dies nötig wird. Ein Euro pro Tag: Davon<br />
käme kein Politiker wieder herunter.<br />
Studentenwohnheime<br />
Der Studienort wird<br />
zur sozialen Frage<br />
Tobias Peter<br />
findet, dass Geld, das in Wohnheimplätze<br />
fließt, gut investiertist.<br />
Gemeinsames Kochen mit dem Kommilitonen<br />
aus Taiwan, zu fünft auf einer<br />
Couch für zwei Fußball gucken: Die<br />
meisten, die mal im Studentenwohnheim<br />
gelebt haben, blicken auf solche Erinnerungen<br />
zurück. Erstmals außerhalb des<br />
Elternhauses zu leben, ist ein wichtiger<br />
Schritt. Ihn gemeinsam mit anderen jungen<br />
Menschen zu erleben, kann ihn zu einer<br />
besonders guten Erfahrung machen.<br />
Das allein müsste ausreichen, um die<br />
Politik zu motivieren, wieder mehr für<br />
den Bau von Studentenwohnheimen zu<br />
tun. Die Zahl der Studierenden hat stark<br />
zugenommen, die der Wohnheimplätze<br />
nur leicht. Die drastisch steigenden Mieten<br />
sorgen zugleich dafür, dass die Wahl<br />
des Studienortes zu einer sozialen Frage<br />
wird. Kann die Tochter oder der Sohn einer<br />
Kassiererin aus Bottrop sich den<br />
Wunschstudienplatz auch leisten, wenn<br />
er in München liegt? Oder muss auf eine<br />
nahe liegende Uni ausgewichen werden,<br />
um zu Hause wohnen bleiben zu können?<br />
„Alle Deutschen haben das Recht, Beruf,<br />
Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte<br />
frei zu wählen“, heißt es in Artikel 12 des<br />
Grundgesetzes. Ineiner Hochschullandschaft,<br />
in der die Studiengänge immer<br />
spezieller geworden sind, gibt es das gewünschte<br />
Studium womöglich nur an einem<br />
Ort. Zudem besteht die Gefahr, dass<br />
die hohen Mieten in Universitätsstädten<br />
bis in die Mittelschicht hinein junge Menschen<br />
ganz vomStudium abschrecken.<br />
DieZeit des Fachkräftemangels hat bereits<br />
begonnen. Wir können es uns nicht<br />
leisten, dass junge Menschen ihre Bildungschancen<br />
nicht ausschöpfen. Jeder<br />
Euro,der inWohnheimplätzefließt, ist gut<br />
investiertes Geld. Bund und Länder sollten<br />
jetzt handeln. Gemeinsam.<br />
So weit ist es gekommen: Handelsschiffe<br />
auf dem Mittelmeer machen<br />
einen Bogen um die Routen der<br />
Schlauchboote, mit denen sich Migranten<br />
auf den Wegnach Europa machen.<br />
Zu groß sei die Angst, berichtet die Deutsche<br />
Seemannsmission, dass man auf Flüchtlinge<br />
in Seenot trifft, sie rettet –und die Seeleute<br />
dann in Italien eine Anklage wegen Beihilfe<br />
zur Schlepperei erwartet. Also nehmen die<br />
Reedereien zusätzlicheWege in Kauf, um das<br />
Problem im Wortsinn zu umschiffen.<br />
Genauso agiert die Europäische Union<br />
inzwischen in der Flüchtlingspolitik im Ganzen<br />
wie in der Seenotrettung im Speziellen:<br />
Augen zu und ausweichen. Es ist und bleibt<br />
einer selbst erklärten Wertegemeinschaft<br />
unwürdig – und einem Staatenbund, der<br />
auch für gegenseitige Hilfe gedacht war.<br />
Natürlich ist Europa nicht alleiniger,<br />
schon gar nicht primärer Schuldiger an den<br />
Zehntausenden Toten im Mittelmeer.Flucht<br />
und Migration haben ihre Ursachen in den<br />
Heimatländern –auch wenn die hiesige Debatte<br />
wirkt, als löse eine menschenwürdige<br />
Seenotrettung den Wunsch aus,Heimat und<br />
Familie zu verlassen.<br />
Immerhin ist es die offizielle Sicht nicht<br />
nur der italienischen Regierung, dass Migranten<br />
sich nicht mehr aufs Boot nach Europa<br />
setzen, wenn sie wissen, dass ihnen im<br />
Notfall keiner hilft. Dabei zeigen zahlreiche<br />
Studien, dass es keinen direkten Zusammenhang<br />
zwischen Seenotrettung und Zahl der<br />
Bootsflüchtlinge gibt. So ist es ein Lichtblick,<br />
dass sich Europa in der Frage der Mittelmeer-Rettung<br />
und der Verteilung der Geretteten<br />
einer ersten kleinen Lösung nähern<br />
könnte: Außenminister Heiko Maas hatte zugesagt,<br />
Deutschland wäre bei einer „Koalition<br />
der Willigen“ dabei, die die Geretteten<br />
Unter den großen Bäumen im Garten bereiten<br />
sich die Musiker auf ihrenächste<br />
Session vor. Im Garten stehen Bänke,das Publikum<br />
besorgt sich noch Getränke und etwas<br />
von den duftenden Speisen aus Westafrika,<br />
die gerade frisch zubereitet werden. Das<br />
Wetter ist gut, die Leute sind entspannt und<br />
neugierig. Dann geht es los mit einem Tribut<br />
an Miles Davis. Großartige Musiker erfüllen<br />
den Raum unter den Bäumen mit dem zentralen<br />
Gedanken des Jazz. Es ist dieser Musikforminhärent,<br />
demokratisch zu sein. Jazz<br />
bedeutet Freiheit der Interpretation, Raum<br />
für jeden der Künstler und ein gemeinsamer<br />
Groove, weil jeder auf den anderen achtet.<br />
Jazz ist global. Unter den Bäumen treffen<br />
sich Afrikaner, Amerikaner, Araber und<br />
Deutsche.It’sJazz, Honey!<br />
Der Garten gehört zur Werkstatt der Kulturen<br />
in Berlin. Hier braucht es keine Worthülsen<br />
wie Dekolonisierung oder Postmigration.<br />
Hier werden Kultur und Kunst einfach<br />
gemacht. Sieschöpfen aus einer globalen<br />
Sicht und geben den Stimmen der<br />
Einwanderungsgesellschaft Raum. Und<br />
zwar nicht als sozialpädagogisches Projekt,<br />
durch das der weißen Mehrheitsbevölkerung<br />
klargemacht werden soll, dass<br />
schwarze Menschen auch nett sind und sogar<br />
trommeln können. Es ist auch kein Ort,<br />
an dem „Gastarbeiter“ und deren Frauen<br />
mal ganz ungestört –aber angeleitet –ihre<br />
Folklore üben oder töpfern können. Ganz<br />
im Gegenteil, hier gilt die Kunst für sich. Sie<br />
präsentiert den Reichtum der globalen, der<br />
Flüchtlinge<br />
Alles, was<br />
Leben rettet<br />
Steven Geyer<br />
erwartet vonder europäischen Politik<br />
pragmatische Hilfe im Mittelmeer.<br />
KOLUMNE<br />
Wasplant Berlin<br />
mit der Werkstatt<br />
der Kulturen?<br />
Anetta Kahane<br />
Amadeu-Antonio-Stiftung<br />
BERLINER ZEITUNG/HEIKO SAKURAI<br />
vonjedem Boot freiwillig aufnimmt. Undtatsächlich<br />
kann man neben der reflexartigen<br />
Ablehnung mit der Offenheit von Frankreich,<br />
aus Skandinavien und, wie sich nun<br />
zeigte,sogar aus Italien rechnen.<br />
Nur darf man nicht vergessen: Das Gezerreumdie<br />
Verteilung voneinigen Hundert<br />
Flüchtlingen, die private Retter geborgen haben,<br />
ist nur ein winziger Teil des Problems.<br />
Dahinter steckt ja zunächst die größere<br />
Frage,wie Europa wieder eine staatliche Seenotrettung<br />
in Gang bekommt. Unddas wird<br />
nicht funktionieren, solange einzelne Staaten<br />
sich einer festen Verteilung der Geretteten<br />
verweigern, weil sie dahinter den ersten<br />
Schritt zu einem EU-weiten Verteilschlüssel<br />
aller Asylbewerber befürchten. Diese Abwehr<br />
hatte ja erst zur heutigen Blockade geführt.<br />
Deshalb ist es nicht nur die pragmatischste<br />
Lösung, die Heiko Maas nun vorschlägt.<br />
Es ist vorerst auch die einzige. Solange<br />
rechte Regierungen wie in Polen,<br />
Ungarn oder Italien einen großen Wurf verhindern,<br />
kann der Rest Europas nur nach<br />
dem Machbaren suchen.<br />
Das ist ohnehin die bessere Einstellung<br />
für die Asyldebatte, auch in Deutschland:<br />
Statt jede Detailfrage für ideologischen<br />
Grundsatzstreit zu nutzen, sollten sich die<br />
konstruktiven Kräfte auf pragmatische Lösungen<br />
einlassen. So ist es unredlich, wenn<br />
nun einige Politiker im In- und Ausland ein<br />
„Bündnis der Hilfsbereiten“ ablehnen, weil<br />
das ja gar keine langfristige Lösung bringe:<br />
Da betont FDP-Chef Christian Lindner, besser<br />
als die Rettung nach Europa seien sichere<br />
Unterkünfte in afrikanischen Drittstaaten,<br />
von woaus Migranten reguläre Asylanträge<br />
stellen könnten. Undnur noch zynisch wirkt<br />
es, wenn Österreichs ehemaliger und wohl<br />
auch künftiger Regierungschef Sebastian<br />
Kurz der EU-Seenotrettung eine wirksame<br />
Förderung für Afrikas Wirtschaft entgegenstellt.<br />
Als würde der Norden nicht seit Jahrzehnten<br />
genau darin versagen. Undnun soll<br />
Europa den Ertrinkenden zurufen, Entwicklungshilfe<br />
für die Heimat sei unterwegs?<br />
Natürlich ist es wichtig, noch stärker ganz<br />
grundsätzlich und nachhaltig gegen die Ursachen<br />
von Flucht, Vertreibung und Armut<br />
vorzugehen. Jetzt aber kommt es darauf an,<br />
schnell zu einer Einigung zu finden. Die Misere<br />
hat unendlich viele Gründe. Der<br />
Wunsch, es möge eine simple Lösung geben,<br />
ist verständlich, aber unrealistisch. Europa<br />
muss alle Schritte zugleich gehen, die großen<br />
und die kleinen, die langsamen und die<br />
schnellen.<br />
europäischen und der deutschen Gesellschaft.<br />
Das Haus ist rappelvoll, die Menschen<br />
wollen die Programme sehen. Arab Song Jam,<br />
Romnja Jazz, Creole –global Music, Shtettl<br />
Neukölln, Gnaoua Festival, Black Music Renaissance<br />
–umnur einige zu nennen. Eine<br />
klaffende Lücke im Kulturbetrieb wird hier<br />
gefüllt. Freilich schlecht ausgestattet, also<br />
ohne besondere Mittel für Programme. Dennoch<br />
–das Haus ist einmalig in Deutschland,<br />
wirdinternational hoch gelobt und vomGoethe-Institut<br />
als bestes Beispiel für Transkulturalität<br />
gepriesen. DieIntendantin des Hauses,<br />
Philippa Ebéné, eine schwarze deutsche Intellektuelle,<br />
achtet darauf, dass keine Klischees<br />
wiederholt, keine Grobheit gegenüber<br />
außer-europäischen Künstlern geduldet<br />
wird. Obwohl sie ungernimZentrum öffentlicher<br />
Aufmerksamkeit steht, ist sie doch die<br />
Wegbereiterin eines neuen Ansatzes künstlerischer<br />
Dekolonisierung. Undsie ist die einzige<br />
Schwarze in Deutschland in einer solchen<br />
Funktion. Mit der Werkstatt, geleitet<br />
von Frau Ebéné, hat Berlin hier eine Perle<br />
vonunschätzbarem Wert hervorgebracht.<br />
Umso irritierender ist, dass der <strong>Berliner</strong><br />
Senat diesen Ort jetzt schließen will. Der<br />
Grund? Unverständlich. Das Verfahren? Intransparent.<br />
Der Plan? Es gibt keinen. Vielleicht<br />
will der Senator für Kultur Klaus Lederer,<br />
der öffentlich so sehr von Dekolonisierung<br />
schwärmt, jetzt endlich mal –jawas?<br />
Will er ein weiteres gentrifiziertes Kunsthaus,<br />
in dem auch mal schwarze Künstler berücksichtigt<br />
werden? Oder wieder dieses Modell<br />
Sozio-Kultur, woauf „Migranten“ am Ende<br />
herabgeschaut wird, weil sie Beschäftigung<br />
brauchen und eben doch nicht so ganz Teil<br />
der Gesellschaft sind. Oder ist es am Ende ein<br />
Ressentiment, verbunden mit der Hoffnung,<br />
dass es keiner merkt?<br />
In der Werkstatt der Kulturen spielt die<br />
Musik der Zukunft. Der Senat sollte hinhören.<br />
It’s Jazz, Honey!<br />
„Ich sehe das mit<br />
großer Verzweiflung und<br />
auch wachsendem Zorn,<br />
wie der Vorsitz der SPD fast<br />
schon wie ein infektiöses<br />
Kleidungsstück behandelt<br />
wird, das sich niemand<br />
ins Haus holen will.“<br />
Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel beklagt<br />
in der Bild am Sonntag die seiner Meinung nach<br />
schleppende Suche nach einer neuen Parteispitze.<br />
AUSLESE<br />
Die Türkei und die<br />
russischen Raketen<br />
Trotz desWiderstandes der USA hat am<br />
Freitag die Lieferung russischer S-<br />
400-Raketen an die Türkei begonnen. Habertürk<br />
aus Istanbul blickt gelassen auf<br />
die Stationierung: „Jetzt warten alle gespannt<br />
auf die angedrohten US-Sanktionen.<br />
Wirwissen nicht, wie weit die Amerikaner<br />
gehen werden. Aber es ist nicht davon<br />
auszugehen, dass die Beziehungen<br />
zwischen beiden Ländernirreparabel beschädigt<br />
werden. Denn beide wollen etwa<br />
in Sachen Syrien und Iran weiter zusammenarbeiten.“<br />
Die Gulf News aus Dubai<br />
analysieren: „Erdogan kann nicht behaupten,<br />
dass ihn die Regierung in Washington<br />
nicht vor dem Geschäft mit<br />
Russland gewarnt hätte.Esgibt eine Reihe<br />
vonMaßnahmen, die die USA nun ergreifen<br />
könnten: zum Beispiel Visa-Erleichterungen<br />
einschränken oder Gelder einfrieren.“<br />
Für den Kommersant aus Moskau<br />
geht es vor allem darum, dass sich die<br />
Türkei nichts vonden USA diktieren lässt.<br />
„Ankara hat erklärt, das Abwehrsystem<br />
nur zu Verteidigungszwecken zu nutzen.<br />
Und das steht in keinem Widerspruch zu<br />
den Nato-Verträgen. DieUSA haben lange<br />
nach einem Anlass für Wirtschaftssanktionen<br />
gegen die Türkei gesucht. Sollten<br />
sie diese nun verhängen, könnte das Ankaraeinen<br />
Impuls geben, sich in eine ganz<br />
andereRichtung zu entwickeln, und zwar:<br />
weit wegvon den USA.“ Matthias Roch<br />
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