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TOUR OF CALIFORNIA<br />
ETAPPE 1: STADT DES RENNENS<br />
Das California State Capitol in Sacramento, ein pompöses neoklassizistisches<br />
Gebäude, in Weiß gestrichen und Sitz des Gouverneurs von<br />
Kalifornien, ist an große Persönlichkeiten gewöhnt. Zwei berühmte<br />
Bewohner waren Arnold Schwarzenegger und Ronald Reagan. Als der Start<br />
der 1. Etappe der Kalifornien-Rundfahrt bevorsteht und die prominentesten<br />
Fahrer dem Publikum unter strahlend blauem Himmel vorgestellt werden, ist<br />
vorstellbar, dass die Einheimischen nicht leicht zu beeindrucken sind. Gleiches<br />
gilt für die meisten anderen Radsportfans: Mehrere Zeitzonen weiter<br />
weg ist der Giro d’Italia zwei Tage alt, und die Radsportwelt redet von Primož<br />
Roglič’ Zeitfahrsieg auf der 1. Etappe.<br />
Einer der Sprecher des Rennens, Brad Sohner, wird mir im Laufe der Woche<br />
erklären: Wenn die europäischen Rennen eine Symphonie sind, ist die<br />
Tour of California ein Rock’n’Roll-Konzert, und den Zuschauern wird von<br />
Sohners Sprecherkollegen Dave Towle eingeheizt. Towle ist eine Institution,<br />
die erregte, übertriebene und heisere Stimme, die die akustische Kulisse<br />
vieler Rennen in den USA bildet. Seine Technik ist, der Menge Auftrieb zu<br />
geben, sie dort zu halten, ihr wieder Auftrieb zu geben, sie dort zu halten,<br />
wieder und wieder, durch die schiere Kraft seines stimmlichen Willens.<br />
Towle zieht den Namen des einheimischen Sprinters Travis McCabe gute<br />
acht Sekunden in die Länge. Er bezeichnet den neuseeländischen Sprinter<br />
George Bennett als von „Down Under“, aber mit einem solchen Enthusiasmus,<br />
dass selbst Bennett nicht allzu pikiert aussieht. Nacer Bouhanni: „Dieser<br />
Mann ist wild!“ Und als Mark Cavendish und Peter Sagan, die es zusammen<br />
auf 25 Etappensiege bringen, vorgestellt werden, bereitet Towle die<br />
Menge auf den Grand Depart vor. „Wir sind zum Angriff bereit“, brüllt er.<br />
Die Fahrer verlassen Sacramento Richtung Westen, überqueren die legendä -<br />
re, gelb gestrichene Tower Bridge, das eiserne Eingangstor zur Stadt, wo das<br />
Geschnatter brütender Gänse über dem Sacramento River hallt, dann, viele<br />
Meilen breite und schnurgerade Straßen später, zurück nach Sacramento zu<br />
drei Runden um das Capitol. Am Ende des Tages wird Sagan seine 16. Etappe<br />
geholt haben.<br />
James Raia, ein altgedienter Radsportjournalist und früherer Angestellter<br />
der Zeitung Sacramento Bee, erzählt mir von der Stadt. Sie richtet seit 2014<br />
die erste oder letzte Etappe des Rennens aus – wenn es eine Stadt gibt, die<br />
dem Rennen derzeit Gestalt verleiht, ist es Sacramento. Die „Stadt der Kamelien“<br />
wurde während des Goldrausches 1849 gegründet, das alte Eisenbahndepot<br />
und ein paar gewaltige Kraftwerke stehen gut erhalten unweit von Downtown.<br />
Die Stadt wirkt sowohl alt als auch neu; sie ist zudem sowohl reich als<br />
auch arm: Technikfreaks pendeln von hier nach San Francisco und in Downtown<br />
wimmelt es von kleinen Coffeeshops, aber abseits des Zentrums überrascht<br />
die Anzahl von Obdachlosen und Menschen, die auf der Straße schlafen.<br />
Raia erzählt mir von Sacramentos Minderwertigkeitskomplex. „Sacramento<br />
spielt die zweite Geige hinter San Francisco“, sagt er. „Wir sind Regierungssitz,<br />
aber wie kann man mit San Francisco konkurrieren, einer der großartigsten<br />
Städte der Welt?“<br />
Die Kalifornien-Rundfahrt hat viele Reize. Eine atemberaubende Landschaft,<br />
einen prominenten Sieger – zumindest auf der 1. Etappe – und eine<br />
lebhafte Atmosphäre. Aber da sie zeitgleich mit dem Giro d’Italia stattfindet,<br />
steht sie vor der Herausforderung, von der Radsportwelt wahrgenommen<br />
zu werden.<br />
62 PROCYCLING | AUGUST <strong>2019</strong>