84 PROCYCLING | AUGUST <strong>2019</strong>
RETRO PATRICK SERCU SENSATIONELLES SOLO 1977 war Sercu entschlossen, zur Tour de France zurückzukehren, aber Brooklyn war immer noch unentschlossen; ihre Priorität war der italienische Markt, und sie wollten nur zur Tour, wenn Roger De Vlaeminck sie fahren wollte. The Gypsy hatte keine Lust – er hatte sich nie wirklich von seinem Versuch erholt, Merckx 1969 zu schlagen –, daher schloss sich Sercu seinem alten Freund, dem Kannibalen, beim Fiat-Team an, das der explo - sive und kämpferische Raphaël Géminiani managte. („Ein lustiger Sportlicher Leiter“, reflektierte Sercu, „aber es war nicht schwer, Rennen zu gewinnen, wenn du Merckx unter deinen Fittichen hattest.“) Merckx hatte mittlerweile seinen Zenit überschritten – er sollte seine Karriere im folgenden Frühjahr beenden, ein Schatten seiner selbst –, aber Sercu holte in der Saison 18 Siege, darunter Kuurne–Brüssel–Kuurne und weitere drei Etappen der Tour. Zwei davon waren Massensprints; der erste Teil der 7. Etappe nach Angers, wo Fiat das Mannschaftszeitfahren am Nachmittag gewann, und die 46-Kilometer-Schleife von und nach Freiburg im Breisgau am Vormittag des französischen Nationalfeiertags. Aber es war der Etappensieg in Charleroi 36 Stunden vor Freiburg, der für Aufsehen sorgte: ein 175-Kilometer-Solo durch Belgien, das er kurz vor der Grenze in Roubaix gestartet hatte. Wie Sercu sagte, war es überhaupt nicht geplant und komplett verrückt. Er hatte den Massensprint im Velodrom von Roubaix gewonnen und strebte wieder das Grüne Trikot an. Am folgenden Morgen ging er in eine sechsköpfige Ausreißergruppe (in der das Gelbe Trikot Didi Thurau war), um die Punkte am ersten „Hotspot“-Sprint des Tages ab zuräumen. Nach dem Sprint nahmen seine Begleiter die Beine hoch, er aber fuhr weiter. „Es war nur aus Spaß, weil sie mich alle anschrien, nur um mich aufzuziehen“, sagte er. Er fuhr sofort eine Minute heraus. „Ich war wütend auf mich selbst, es war nicht meine Idee, weiterzufahren, aber ich wollte nicht die Beine hochnehmen, weil ich dachte, sie würden mich alle auslachen.“ Sein erstes Ziel war die Muur van Geraardsbergen; nachdem er sie überwunden hatte, wartete eine Prämie von 100.000 belgischen Francs vor der Aktienbörse in Brüssel. „Dort hatten sie ein Photofinish eingerichtet, aber das war gar nicht nötig, ich hatte einen Vorsprung von drei Minuten. Ich spürte die Pedale nicht richtig; da war eine riesige Menge, es waren alles Belgier, sie kannten mich alle und ich kannte 88 Sixday- Siege die meisten von ihnen. Raleigh leistete mittlerweile Nachführarbeit, aber sie konnten nichts ausrichten; Jan Raas fuhr zu Eddy Merckx auf und fragte ihn, ob ich in einem Auto sei.“ Nach Brüssel war das nächste Ziel die Verpflegungszone; hier betrug sein Vorsprung sechs Minuten. „Ich dachte: Ich mache ein 100-Kilometer-Zeitfahren und nehme dann raus; dann dachte ich: Ich kann auch einfach weiter durchziehen. Ich hatte genug Zeit, um etwas zu essen und mir den Massensprint anzuschauen.“ Doch Sercu litt noch unter den Nachwirkungen des Sturzes in Ozegnia; sein Rücken war so steif, dass er kaum die Trophäe hochheben konnte. Es war ein Sieg mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 42 km/h, der, wie der Journalist Geoffrey Nicholson damals schrieb, „zeigte, wie weit er sich als Allrounder entwickelt hatte“. Er brachte ihm auch 40 lukrative Verträge bei Kriterien für die Zeit nach der Tour ein. Wie bei vielen anderen in jener Tour, bei der nur 53 Fahrer Paris erreichten, endete sein Rennen vorzeitig – in Alpe d’Huez nach der 17. Etappe. Merckx eröffnete das Rennen an dem Tag früh; das 30-köpfige Gruppetto bildete sich am ersten Berg und erreichte den Fuß der Alpe ungefähr zu der Zeit, als Hennie Kuiper oben die Ziellinie überquer - te. Sie wurden alle eliminiert. „An dem Abend schaute ich mich im Spiegel an“, sagte mir Ser - cu. „Ich war dünn und fertig. Ich kam zu dem Schluss, dass es nicht möglich war, eine Straßen-Saison und die Sechstagerennen zu absolvieren.“ Von da an fuhr er nur noch für kleine belgische Teams, sodass er seine Saison genau so planen konnte, wie er wollte. Für Sercu waren die Sechstagerennen eine lukrative Sache. „Ich Winter verdiente ich doppelt so viel wie im Sommer; es ging alles ums Startgeld, nicht den Vertrag mit dem Team. Die Teams hatten ein kleines Budget, die Gehälter waren niedrig; ein Fahrer wie Van Looy gewann die Straßen-Weltmeisterschaft und fuhr dann zehn Sechstagerennen, um sein Geld zu verdienen. Die Sixdays waren genauso wie die Kriterien auf der Straße; je besser dein Palmarès, desto höher deine Gage.“ Das Aufkommen großer Team-Budgets und hoher Gehälter in den 1980ern änderte das komplett, killte sowohl Kriterien als auch Sechstagerennen und schnitt nach Meinung vieler, auch Sercus, die Stars der Straße vom Publikum ab. Sercu im belgischen Nationaltrikot bei der Bahn-WM in München 1978. AUGUST <strong>2019</strong> | PROCYCLING 85