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RETRO<br />

PATRICK SERCU<br />

SENSATIONELLES SOLO<br />

1977 war Sercu entschlossen, zur Tour de France<br />

zurückzukehren, aber Brooklyn war immer noch<br />

unentschlossen; ihre Priorität war der italienische<br />

Markt, und sie wollten nur zur Tour, wenn Roger<br />

De Vlaeminck sie fahren wollte. The Gypsy hatte<br />

keine Lust – er hatte sich nie wirklich von seinem<br />

Versuch erholt, Merckx 1969 zu schlagen –, daher<br />

schloss sich Sercu seinem alten Freund, dem<br />

Kannibalen, beim Fiat-Team an, das der explo -<br />

sive und kämpferische Raphaël Géminiani managte.<br />

(„Ein lustiger Sportlicher Leiter“, reflektierte<br />

Sercu, „aber es war nicht schwer, Rennen zu<br />

gewinnen, wenn du Merckx unter deinen Fittichen<br />

hattest.“)<br />

Merckx hatte mittlerweile seinen Zenit überschritten<br />

– er sollte seine Karriere im folgenden<br />

Frühjahr beenden, ein Schatten seiner selbst –,<br />

aber Sercu holte in der Saison 18 Siege, darunter<br />

Kuurne–Brüssel–Kuurne und weitere drei Etappen<br />

der Tour. Zwei davon waren Massensprints;<br />

der erste Teil der 7. Etappe nach Angers, wo Fiat<br />

das Mannschaftszeitfahren am Nachmittag gewann,<br />

und die 46-Kilometer-Schleife von und<br />

nach Freiburg im Breisgau am Vormittag des französischen<br />

Nationalfeiertags. Aber es war der<br />

Etappensieg in Charleroi 36 Stunden vor Freiburg,<br />

der für Aufsehen sorgte: ein 175-Kilometer-Solo<br />

durch Belgien, das er kurz vor der Grenze in Roubaix<br />

gestartet hatte.<br />

Wie Sercu sagte, war es überhaupt nicht geplant<br />

und komplett verrückt. Er hatte den Massensprint<br />

im Velodrom von Roubaix gewonnen<br />

und strebte wieder das Grüne Trikot an. Am folgenden<br />

Morgen ging er in eine sechsköpfige Ausreißergruppe<br />

(in der das Gelbe Trikot Didi Thurau<br />

war), um die Punkte am ersten „Hotspot“-Sprint<br />

des Tages ab zuräumen. Nach dem<br />

Sprint nahmen seine Begleiter die<br />

Beine hoch, er aber fuhr weiter.<br />

„Es war nur aus Spaß, weil sie<br />

mich alle anschrien, nur um mich<br />

aufzuziehen“, sagte er.<br />

Er fuhr sofort eine Minute heraus.<br />

„Ich war wütend auf mich<br />

selbst, es war nicht meine Idee,<br />

weiterzufahren, aber ich wollte<br />

nicht die Beine hochnehmen, weil<br />

ich dachte, sie würden mich alle<br />

auslachen.“ Sein erstes Ziel war die<br />

Muur van Geraardsbergen; nachdem<br />

er sie überwunden hatte, wartete<br />

eine Prämie von 100.000 belgischen<br />

Francs vor der Aktienbörse<br />

in Brüssel. „Dort hatten sie ein Photofinish eingerichtet,<br />

aber das war gar nicht nötig, ich hatte einen<br />

Vorsprung von drei Minuten. Ich spürte die Pedale<br />

nicht richtig; da war eine riesige Menge, es waren<br />

alles Belgier, sie kannten mich alle und ich kannte<br />

88<br />

Sixday-<br />

Siege<br />

die meisten von ihnen. Raleigh leistete mittlerweile<br />

Nachführarbeit, aber sie konnten nichts ausrichten;<br />

Jan Raas fuhr zu Eddy Merckx auf und fragte<br />

ihn, ob ich in einem Auto sei.“<br />

Nach Brüssel war das nächste Ziel die Verpflegungszone;<br />

hier betrug sein Vorsprung sechs Minuten.<br />

„Ich dachte: Ich mache ein 100-Kilometer-Zeitfahren<br />

und nehme dann raus; dann dachte<br />

ich: Ich kann auch einfach weiter durchziehen. Ich<br />

hatte genug Zeit, um etwas zu essen<br />

und mir den Massensprint anzuschauen.“<br />

Doch Sercu litt noch<br />

unter den Nachwirkungen des<br />

Sturzes in Ozegnia; sein Rücken<br />

war so steif, dass er kaum die Trophäe<br />

hochheben konnte. Es war<br />

ein Sieg mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit<br />

von 42 km/h,<br />

der, wie der Journalist Geoffrey<br />

Nicholson damals schrieb, „zeigte,<br />

wie weit er sich als Allrounder entwickelt<br />

hatte“. Er brachte ihm auch<br />

40 lukrative Verträge bei Kriterien<br />

für die Zeit nach der Tour ein.<br />

Wie bei vielen anderen in jener<br />

Tour, bei der nur 53 Fahrer Paris<br />

erreichten, endete sein Rennen vorzeitig – in<br />

Alpe d’Huez nach der 17. Etappe. Merckx eröffnete<br />

das Rennen an dem Tag früh; das 30-köpfige<br />

Gruppetto bildete sich am ersten Berg und<br />

erreichte den Fuß der Alpe ungefähr zu der Zeit,<br />

als Hennie Kuiper oben die Ziellinie überquer -<br />

te. Sie wurden alle eliminiert. „An dem Abend<br />

schaute ich mich im Spiegel an“, sagte mir Ser -<br />

cu. „Ich war dünn und fertig. Ich kam zu dem<br />

Schluss, dass es nicht möglich war, eine Straßen-Saison<br />

und die Sechstagerennen zu absolvieren.“<br />

Von da an fuhr er nur noch für kleine<br />

belgische Teams, sodass er seine Saison genau<br />

so planen konnte, wie er wollte.<br />

Für Sercu waren die Sechstagerennen eine<br />

lukrative Sache. „Ich Winter verdiente ich doppelt<br />

so viel wie im Sommer; es ging alles ums Startgeld,<br />

nicht den Vertrag mit dem Team. Die Teams<br />

hatten ein kleines Budget, die Gehälter waren<br />

niedrig; ein Fahrer wie Van Looy gewann die Straßen-Weltmeisterschaft<br />

und fuhr dann zehn<br />

Sechstagerennen, um sein Geld zu verdienen. Die<br />

Sixdays waren genauso wie die Kriterien auf der<br />

Straße; je besser dein Palmarès, desto höher deine<br />

Gage.“ Das Aufkommen großer Team-Budgets<br />

und hoher Gehälter in den 1980ern änderte das<br />

komplett, killte sowohl Kriterien als auch Sechstagerennen<br />

und schnitt nach Meinung vieler, auch<br />

Sercus, die Stars der Straße vom Publikum ab.<br />

Sercu im belgischen Nationaltrikot<br />

bei der Bahn-WM in München 1978.<br />

AUGUST <strong>2019</strong> | PROCYCLING 85

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